Schrott und Gold und Zeug und Schluss - David Schönherr - E-Book

Schrott und Gold und Zeug und Schluss E-Book

David Schönherr

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Beschreibung

Michael Berger hat das große Los gezogen - nicht. Anfang 50, arbeitslos, geschieden, übergewichtig, unattraktiv, quasi die Mensch gewordene Kombination aus Sackgasse und Einbahnstraße in einem. Doch eine gnadenlose Teppichkante, eine unüberschaubare Menge an Billig-Porzellan und eine In-meinem-früheren-Leben-war-ich-eine-Mikrowelle halten Michaels Depressionen gehörig auf Trab und bringen einige Teile von Leipzig auf unerklärliche Weise zum Schweben. Ohne Happy-End und mit ordentlich INYOURFACE. Let's get this party started, hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein. Schrott und Gold und Zeug und Schluss - ein Roman übers Ausblenden und Ausrasten, übers Davonkommen und Durchrutschen und über das-Wetter-in-Zeiten-des-gesellschaftlichen-Klimawandels und die Frage, wie man eine überraschende Hausdurchsuchung schadlos übersteht.

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Loch, das:

runde oder längliche Öffnung, die im Laufe der Zeit oder versehentlich entstanden oder von jmdm. geschaffen worden ist.

salopp

dunkler, enger Raum

Tierbau, Höhle

(dwds.de)

Loch steht für:

Loch (Familienname)

Loch (Einheit), ein Volumenmaß

Loch (Flurname), in Ortsnamen Wald oder Sumpfwiese

in der Festkörperphysik ein Quasiteilchen

das genormte Ziel beim Golf

Loch (bzw. irisch Lough: Gewässer) ein See oder Fjord

(https://de.wikipedia.org/wiki/Loch)

It has been noted that holes occupy an unusual ontological position in human psychology, as people tend to refer to them as tangible and countable objects, when in fact they are the absence of something in another object.

(https://en.wikipedia.org/wiki/Hole#Philosophy_and_psychology_of_holes)

Inhaltsverzeichnis

intro

eins / dreiundzwanzig

zwei / dreiundzwanzig

drei / dreiundzwanzig

vier / dreiundzwanzig

fünf / dreiundzwanzig

sechs / dreiundzwanzig

sieben / dreiundzwanzig

acht / dreiundzwanzig

neun / dreiundzwanzig

zehn / dreiundzwanzig

elf / dreiundzwanzig

zwölf / dreiundzwanzig

dreizehn / dreiundzwanzig

vierzehn / dreiundzwanzig

fünfzehn / dreiundzwanzig

sechzehn / dreiundzwanzig

siebzehn / dreiundzwanzig

achtzehn / dreiundzwanzig

neunzehn / dreiundzwanzig

zwanzig / dreiundzwanzig

einundzwanzig / dreiundzwanzig

zweiundzwanzig / dreiundzwanzig

dreiundzwanzig / dreiundzwanzig

outro

intro

Irgendwann steht ganz plötzlich die Polizei auch vor deiner Tür. Irgendjemand ruft.

„Wir haben einen Durchsuchungsbefehl, Herr Matthäus. Machen Sie auf, sonst müssen wir uns gewaltsam Zutritt verschaffen.“

Die letzten Gedanken in deinem Kopf, bevor das Schloss nachgibt und dir ein energischer Beamte sein Knie in den Rücken rammt: Wo verdammt noch mal ist Jason? Hat er das Zeug wirklich gut versteckt? Von wem haben die Cops nur den Tipp gekriegt? Und natürlich: Ich heiße nicht Matthäus, ihr Opfer. Mein Name ist Kevin-Lee Matthaus. Kein Vorname dabei, auf den man stolz sein müsste, aber dein Nachname hat nichts mit Religion oder Fußball zu tun.

Um dich herum strömen uniformierte Vollidioten in die Wohnung herein. Handschellen ketten deine Arme auf den Rücken, eine Pranke reißt dich an der Schulter hoch.

„Kevin Matthäus? Sie sind vorläufig festgenommen.“

Nicht, dass du nicht hättest ahnen können, dass so eine Chose passieren wird. Anzeichen für diesen Verlauf der Geschichte gab es mehr als genug. Das Ganze erinnert doch sehr stark an einen Klischee-Leitfaden für verkackte Existenzen, quasi Stationen-wie-aus-dem-Lehrbuch.

Der Anfang dieser Karriere beginnt zuhause. Sind deine Eltern reich, liebevoll, großzügig, intelligent oder zumindest gutmütig – gratuliere, deine Chancen auf ein tolles Leben sind relativ hoch. Situationen wie die oben wirst du lediglich im Fernsehen kennen lernen – es sei denn, du organisierst später mal eine Koks&Nutten-Party und hast die Show zuvor nicht mit dem Polizeipräsidenten persönlich abgesprochen (der ein alter Schulfreund deines Vaters ist) und ihn bestenfalls mitsamt seinen Kollegen eingeladen, natürlich inoffiziell.

Mit einem beschissenen Elternhaus im Rücken hingegen landest du schon im Kindergarten und der Grundschule in solchen Einrichtungen, wo Sozialkompetenz aus finanziellen Gründen ziemlich kleingeschrieben werden muss. Spätestens danach hängst du mit der Art von Leuten rum, vor denen dich Mami und Papi immer gewarnt haben. Du hast eine Justin-Bieber-Frisur (oder was gerade angesagt ist), rauchst mit elf, hast dein erstes Mal mit zwölf (auf dem Schulklo, natürlich mit Janine, die schon jeden hatte, zwei Jahre älter ist als du und ganz genau weiß, wie das läuft, auch ohne Gummi). Zu deinem dreizehnten Geburtstag bekommst du endlich die Playstation drei (obwohl alle deine Freunde gerade nur x-box zocken – und nach zweieinhalb Jahren erscheint auf der PS III doch tatsächlich das gefürchtete Yellow Light of Death und die Kiste ist endgültig im Sack, obwohl du alles genau so repariert hast, wie in dem Youtube-Video beschrieben wurde). Mit vierzehn musst du verdammt aufpassen, dich im Konsum an der Ecke beim Klauen nicht mehr erwischen zu lassen und wenn du mit fünfzehn keine einzige Vorstrafe auf deinem Konto hast, kannst du dir da kurzzeitig was drauf einbilden – aber zum Legendenstatus reicht’s trotzdem nicht, weil du ja unbedingt mit Kiffen und Crystal anfangen musstest, da geraten solche Heldentaten ganz schnell in Vergessenheit. Deine Eltern gehen dir von morgens bis abends auf die Nerven (und umgekehrt), deine derzeitige Freundin (neunzehn) sieht ungeschminkt aus wie Gollums Mutter und überhaupt ist dein gesamter Freundeskreis das, was man als korrekter und langjährig ausgebildeter Sozialarbeiter eine sprichwörtliche Sackgasse nennt. Und daraus gibt es leider kein Entkommen. Nicht für dich, nicht für deine Eltern, also eigentlich für niemanden, der hier anfangen durfte.

Es sei denn, es passiert die folgende Geschichte und die beginnt mit Michael. Soweit ich weiß, letzten September.

eins / dreiundzwanzig

Der September hat grad sein erstes Drittel absolviert und plötzlich bricht harter Bodenfrost herein. Das ist für sämtliche Landwirte, Freisitzbesitzer und Outdoor-Sport-Anbieter der Leipziger Region natürlich ein herber Schlag ins Gesicht. Und die Wetteraussichten für die kommenden Tage, na, lassen wir das, es gibt ja kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung, blablabla.

Michael, Nachname Berger, hat den gesamten Vormittag lang nichts von der plötzlichen Kälte und den leergefegten Straßencafés mitgekriegt; dafür war sein Bett zu warm, Kissen und Bettdecke zu kuschelig und das Zimmer dank lichtdichter Vorhänge zu dunkel. Außerdem ist Sonntag, gestern Abend gab es im Plagwitzer Tempel diverse alkoholische Getränke und auch ansonsten halten sich die Gründe, warum Michael sonntags überhaupt vor die Tür treten sollte, schwer in Grenzen. Jetzt aber, wo pflichtbewusste Vorzeigeeltern ihre Vorzeigevorschulkinder vom viel zu kurzen Mittagsschlaf wecken und trotz der unerwarteten Kühle wie verabredet in Scharen zu öffentlichen Parks und Spielplätzen strömen (denn drinnen werden die Spielmöglichkeiten nicht größer), jetzt öffnet Michael die Balkontür, die zu seinem Schlafzimmer gehört, um draußen die erste Zigarette des vorangeschrittenen Tages zu rauchen und die Kälte ist wie ein unerwarteter und zu fester Griff zwischen seine Beine, weil Michael nur eine extrem weite aber kurze Schlafhose anhat, die die Kälte quasi automatisch an die besonders kälteempfindlichen Körperstellen hinleitet. Tür zu, schnellschnell, entsetztverschlafener Blick nach draußen (der Blick könnte weit gehen, denn der Balkon hängt vor einer efeu-überwucherten Weltkriegsbombenlücke, die seit Jahrzehnten auf einen risikofreundlichen Investor wartet – wo sich ein für die Region extrem seltenes glis glis aka Siebenschläfer in sein kälteresistentes Nest verkrümelt hat, um einen unfassbare-Monate-andauernden Winterschlaf zu halten – und dahinter erstreckt sich eine Hippie-Meile, zu der sich vor allem abends und nachts Studenten und andere Angeber die sprichwörtliche Klinke in die Hand geben, selbstgedrehte American-Spirit-Zigaretten rauchen, Fair-Trade-Kaffee aus Recycling-Pappbechern schlürfen und die leer getrunkene Bulmers- und Sternburg-Flaschen großzügig für die lokalen und überregionalen Flaschensammler beiseite stellen). Die tatsächlich vorhandenen Flaschen erkennt Michael nicht mal ansatzweise, dafür müsste er seine verhasste Brille aufsetzen, die in eine Keks-Krümel-überfüllte-Sofaritze gerutscht ist, allerdings nicht erst gestern.

Unbewusstes, aber ausgiebiges Bauch-Kratzen-und-Bauchnabel-von-Fuseln-befreien, im diffusen Spiegelbild der Glastür einen in die Jahre gekommenen, treu-doofen Grizzlybären à la bei Technik-Fragen Tech-Nick fragen erkennen, die Zigarette auf später verschieben und beim notgedrungenen Drüberziehen der gestrigen Kleidungsstücke in der Hosentasche das speckige Portemonnaie entdecken und feststellen, dass es leer ist und der Kühlschrank sowieso und, naja, der Bauch auch, also, was tun? Wenn mit Mitte-Ende Fünfzig weder regelmäßiges Gehalt, sprich Lohnarbeit, oder ausreichend angehäufte Ersparnisse noch großzügige Erbschaft die soziale Existenz rechtfertigen, bleiben nicht viele Optionen, wodurch derartige Leerzustände verändert werden können – und wenn man da ein wenig darüber nachdenkt, dann ist die reelle Chance, dass sich in diesen Zeiten des gesamtgesellschaftlichen Klimawandels daran irgendetwas großartig verändert, doch verschwindend gering, nicht wahr? Die Leistung vom Amt sichert die Miete plus die ersten Hälfte des Monats - und ja, ab und zu schwappt ein annehmbarer Minijob auf 450-Euro-Basis herein (Heimarbeit: etwa 50 Kartons BMW-Werbe-Kugelschreiber zusammen basteln, 10.000 Informationsschreiben der Techniker Krankenkasse eintüten und verkleben, gefühlte-eine-Milliarde Kaufland-Werbeprospekte in die Sächsische Sonntagszeitung einsortieren), aber eben nur ab und zu. Pfandhaus kommt nicht in Frage; den sauber getrennten Papiermüll der angrenzenden Stadtviertel Schleußig, Plagwitz und Lindenau per Sackkarre einzusammeln und für lediglich ein paar Cent pro Kilo dem stinkig-schwitzigen Altpapierhändler zu verkaufen ist ebenfalls viel zu anstrengend. Und all die anderen legalen und/oder halblegalen Möglichkeiten, sich ein zusätzliches akzeptables Taschengeld herbeizuzaubern, damit am Ende des Geldes nicht zu viel Monat übrig ist, die werden mit zunehmendem Alter nicht einfacher, sprich: Der Stress ist die Mühe nicht wert, oder so ähnlich – und selbst das Protest-wählen hat erstaunlicherweise auch bei Leuten wie Michael zu keiner spürbaren Verbesserung der eigenen Lebensumstände geführt. (Aber daran wird sich bald etwas ändern, denn darum geht es hier ja – Michael auf dem unverhofften Pfad des Erfolgs zu begleiten.)

Der Magen knurrt.

Und da wacht irgendwie irgendwo in Michaels Kopf die Idee auf: Hey – Mama! Denn Michaels liebe Mutter, sie hat nächste Woche Geburtstag; sie wird, nein, achtzig noch nicht, aber es ist kurz davor, da könnte man ihr einen Vorab-Besuch abstatten, quasi positive Einstimmung auf die bald folgende Feierlichkeit und vielleicht gibt es dort neben Kaffee und Kuchen ja zehn-zwanzig-fünfzig Euro und der Abend ist gerettet, wenn nicht sogar der komplette Rest der Woche, die morgen zwangsläufig starten wird. Und da Mama fußläufig entfernt wohnt und das Verhältnis der beiden nie arg gelitten hat, man kann’s ja mal probieren; Kaffee und Supermarkt-Kuchen sind ein prima Frühstück, vor allem, seit Mutter Berger auf den Rat ihres Arztes pfeift und nicht nur wieder richtigen Kaffee einkauft (nicht diese entkoffeinierte Plörre), sondern es gibt eine Espresso-Maschine, die hat im lebensgefährlichen (weil regelmäßig von Nazis heimgesuchten) Netto-Marken-Discounter um die Ecke unter siebzig Euro gekostet, inklusive einem ganzen Haufen dieser kleinen, bunten und ökologisch-bedenklichen Aluminiumkapseln; aber der Kaffee schmeckt wirklich großartig und Michaels Mutter hat sogar einen Design-Milchschäumer, der nicht nur dekorative Zwecke erfüllt. Also, auf zu Mama!

Draußen der wiederholte überraschende Kälteschock, aber wenn man schon mal draußen ist, geht man nicht wieder zurück, um die Kleidung der Witterung anzupassen, diese Blöße gibt man sich nicht, umdrehen und alleszurück-auf-Anfang, da geht die Motivation erdrutschartig den Bach runter und ein bisschen Bewegung schadet nicht, sprich, schnell laufen, schnell da sein, unangekündigt versteht sich und die Mutter ist zum Glück zuhause.

„Michael, das ist ja schön, komm rein. Mit dir hatte ich nun nicht gerechnet.“

Oh, du erwartest in nächster Zeit Besuch, Mutter? Na, dann wird’s wohl die kurze Ich-wollte-mal-eben-Hallo-sagen-Besuchsvariante.

„Möchtest du eine Tasse Kaffee? Setz dich, warte, ich mach das Radio aus. Kommt sowieso nichts, nur diese so genannte Literatursendung, die kann allerdings leider niemand wirklich ernst nehmen. Die reden ausschließlich über Bücher, die man nicht lesen soll. Nun ja. Vor zwei Minuten, da wollte Erika, die Nachbarin, sie wollte zum Kaffee vorbeikommen. Aber ihr Mittagsschlaf, der dauert manchmal länger als erwartet. Sag mal, mein lieber Sohn. Kann es sein, dass du nicht unerheblich zugenommen hast?“

Es gibt nicht viele Menschen, die so erbarmungslos ehrlich zu Michael sind und ihm seinen desolaten Lebenswandel so unmittelbar vor Augen halten – aber wer wird seiner eigenen Mutter schon für eine unübersehbare Wahrheit wirklich böse sein? Na bitte.

„Ich mein ja nur. Du könntest ruhig mal was dagegen tun. Hier gibt es ein gut eingerichtetes Fitness-Studio, direkt um die Ecke. Da gibt es diesen BOB-Kurs, das steht für Bauch-Oberschenkel-Becken. Und gut für die Wirbelsäule ist so ein bisschen Bewegung auch. Dein Rücken sieht nicht besonders kräftig aus.“

Michael trinkt; aber seine Augenbraue zuckt blitzartig, was der Mutter als Antwort genügt.

„Ich hör schon auf. Du möchtest sicher Kuchen, hm?“

Die Mutter verschwindet in der Küche, redet weiter, nun mit lauter Stimme.

„Streuselkuchen. Ich schieb den kurz in den Ofen, wegen der Streusel. Da wird er zwar ein bisschen trocken, aber die ganzen Feuchthaltemittel … was ist denn los? Du siehst aus … Oh, ich verstehe.“

Wer, wenn nicht die eigene Mutter, kann Michael lesen wie ein Buch, dass nicht nur offen, sondern mit einer Vorleseautomatik versehen ist, sprich: Hörbuch. Überhaupt: Der erste Eindruck von Michaels Mutter könnte täuschen und auf ein tristes Witwen-Dasein verweisen, in dem der Kontakt zur Nachbarin vis-a-vis die einzige regelmäßige soziale Aktivität der letzten Jahrzehnte darstellt. Nichts könnte ferner liegen – das Gegenteil ist der Fall, trifft also auf die mittagsschlafende Nachbarin Erika zu (die selbst von ihren vier Töchtern und deren erwachsenen Kindern nie Besuch bekommt – was da wohl in der Erziehung falsch gelaufen ist?), jedoch nicht auf Mutter Berger, die ihren Lebensabend sehr lebendig und vielseitig zu gestalten versteht.

„Dafür musst du mir aber einen Gefallen tun. Das wollte ich dich ohnehin fragen.“

Michael hört zu, trinkt Kaffee, isst Kuchen, erhält einen Geldschein, der unbesehen in die Hosentasche wandert und trägt dafür einen wirklich schweren Koffer vom Dachboden ins mütterliche Schlafzimmer; und danach noch einen. Auftrag ausgeführt, zügige Verabschiedung beiderseits, bevor ein unnötiger Kontakt mit dem ursprünglich erwarteten Gast erfolgt.

Die Überraschung auf dem Nachhauseweg: der 20-Euro-Schein entpuppt sich als Hunderter – und Michael wird daraufhin vom Größenwahn gepackt und kurzerhand zur Planung und Durchführung eines zu großen Abendessens ermutigt, mit vielen Freunden und sonstigen Bekannten – was insgeheim und tatsächlich den Auftakt zu einem nicht enden wollenden Fiasko darstellt, in dessen Verlauf Michael zwar die Vorzüge von Reichtum, Ruhm und Recycling kennen- und schätzen lernt, dafür allerdings Mamas Nachbarin Erika und viele andere allein lebende Menschen in eine sehr große Gefahr bringt. Und er zerstört freiwillig seine eigene Wohnung (und indirekt sogar Leipzig und einige andere Großstädte). Schon sehr bald.

zwei / dreiundzwanzig

Der Einkauf verläuft anders als geplant. Eigentlich würde die folgende Episode eintreten.

Im Penny-Supermarkt in der Elsterpassage sieht es jeden Tag gleich aus. Die ausgefuchste Marketing-Strategie dahinter ist für Michael und die meisten Kunden irgendwie (also implizit) nachvollziehbar: Dieses Penny-soll-jeden-Tag-gleich-aussehen-Prinzip bewirkt ein Gefühl der Ruhe, ein Sich-auskennen, ein quasi-zuhause-sein, im begehbaren Kühlschrank um die Ecke, um dort das zu bekommen, was Werbung, Mundpropaganda, Kindheitserinnerungen und Vorgaben der Gattin dem Kunden fortwährend zuraunen. Nur selten, wie bei Michael, tritt das gute-alte-(Internet-)Kochbuch-Auswahlverfahren (via Smart-Phone) als Inspirationsquelle in Erscheinung und auf dem originellen Einkaufszettel finden sich so extraordinäre Produkte wie Bio-Hühnchen, Bio-Kartoffeln, Bio-Rosmarin, Bio-Zitronengras, Bio-Meersalz – also im Prinzip all die Dinge, die man beim sonst sparsam-pragmatischen Einkauf nur im Augenwinkel erblickt, um schnell weiter zu gehen zu den Dingen, die man kennt und wirklich braucht: Wurst und Käse (eingeschweißt), eine Palette H-Milch, Instant-Kaffee, abgepacktes Schnittbrot und so weiter – und obwohl bei diesen wenigen Artikeln der Wagen an der Kasse nahezu leer ist, das Geld im Portemonnaie ist dennoch weg.

„Früher war das anders. Also, ganz früher.“

Niemand hört Michael. Der Markt ist nie besonders voll – heute ist er völlig leer. Vielleicht, weil die Flure zu eng sind, die Produkte zu schlecht beleuchtet oder der freundliche EDEKA-Markt (10 Meter Luftlinie) einen cooleren Werbeclip produziert hat.

So wäre der Einkauf unter normalen Bedingungen abgelaufen. Aber das alles ist nie passiert. Denn es ist doch Sonntag! Penny hat zu. Edeka hat zu. Selbst Aldi im Hauptbahnhof schließt bald (Um fünf? Oder doch erst um sechs?). Die Elster-Einkaufs-Passage: menschenleer. Was nun? Michaels Magen zehrt noch vom Kuchen – aber dummerweise hat er auf dem Weg von seiner Mutter zum Supermarkt eine Masseneinladung per SMS und Facebook verschickt, so dass nun schnellschnell eine Lösung her muss, wie all die spontanen hungrigen Gäste satt werden sollen (eine genauso spontane Absage kommt nicht infrage!). Los, Michael, streng dein Hirn an. Wo kriegst du sonst etwas zu essen her, wenn die nicht-existenten Öffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen den regulären Einkauf behindern? Der Späti! Na klar! Ja! Nein! Das Hausverbot! Die nicht bezahlte Zeche! Diese verfluchten Punk-Hipster-Spießer-Kapitalisten-Schweine, die keinen Spaß verstehen! Aber, ihm bleibt keine Wahl. Beschämt schleicht er an den Laden heran, lungert am Schaufenster herum, riskiert einen unauffälligen Blick, wer hinter der Theke steht, … puh, eine Neue: Dreadlocks, Nasenring und jung und naiv und vermutlich über beide Ohren zugedröhnt, Glück gehabt. Los geht’s!

Das einzig Gute an den Öko-Hippies ist, dass sie nur die Dinge anbieten, die sie selbst konsumieren würden (quasi Bier, Bio, vegan und glutenfrei), mit Späti-Zuschlag. Im Prinzip kann Michael das egal sein. Das Geld war geschenkt, nicht eingeplant und der Späti bietet frisches Tiefkühl-Gemüse an (gekauft bei Penny), ein niedliches Gewürzregal (vom spießigen Späti-Besitzer-himself selbstgebaut – aber es gibt kein grobkörniges Meersalz!) und im halb-defekten Frostfach (nur knapp unter Null) befindet sich unter Tonnen von unsortierten Eissorten (überwiegend vom fiesen Ausbeuter-Konzern Nestlé!) doch tatsächlich ein letztes Bio-Tiefkühl-Hühnchen (750g), das Michael nun nicht ewig auftauen muss und so scheinbar alles seinen guten Gang gehen kann. Einkauf zur Theke schleppen, Tüte erbetteln, bezahlen, einpacken, raus.

Wieder zuhause bleibt kaum Zeit, um die erstandenen Dinge genau unter die Lupe zu nehmen und auf Vollständigkeit zu überprüfen (aber es ist wider Erwarten alles da). Denn das Essen ist für 20 Uhr angekündigt; jetzt ist es fünf durch und das Zitronen-Rosmarin-Hähnchen braucht locker zwei Stunden im Ofen – der Ofen, der es mit Michael oft nicht gut meint und die Temperatur per Zufallsverfahren auswählt, was zu angebrannter Fertig-Pizza und wabbeligen Aufbackbrötchen führt, aber sonst eben nur für Michael allein. Heute verlässt sich voraussichtlich ein großer Ansturm von Leuten auf diesen Ofen (der mit den Herdplatten ein ähnliches An-und-Aus-Spiel veranstaltet) und sie alle werden später mehr oder weniger überrascht sein, wenn man das so sagen kann.

Michael schwitzt, die Kartoffelspalten suhlen sich in einer Öl-Knoblauch-Rosmarin-Tunke, der geplante Nachtisch (selbst gemachte Mousse au Chocolat, wow!) aus den Zutaten Schokolade, Sahne und Eier (die getrennt werden wollen, was Michael nie gut konnte) wartet vergeblich auf seine Zubereitung, vergessen auf einem Stuhl, der unter den Küchentisch geschoben wurde, um Platz zum Manövrieren zu schaffen. Es klingelt.

Alles fällt, Michael stürmt zum Summer, für seine Verhältnisse richtig sportlich, muss man schon sagen. Im Augenwinkel wird mit Entsetzen wahrgenommen: der Zustand des Wohnzimmers (im wahrsten Sinne des Wortes: unaufgeräumt) und überhaupt, ein-zwei Handgriffe, um die gröbsten Schnitzer zu verbergen (Taschentücher neben der Couch, Krümel auf sämtlichen Sitzflächen, Berge schmutziger Wäsche, wohin? – ins Schlafzimmer, Tür zu!), Haustür angelehnt, keine Begrüßung, schnell!, zurück in die Küche.

Die Besucher, in der Reihenfolge ihres Erscheinens sowie einige erwähnenswerte Daten und ihre Verbindung zu Michael.

Andreas Lehmann (37): groß, dürr, nerdig, ruhig; man könnte sagen, Michaels bester Freund. Sie sehen sich ab und zu, lachen beide über jeden noch so flachen Wort-Witz und verfallen bei Smalltalk mit fremden Personen nach wenigen Sätzen in unangenehmes Schweigen, vorzugsweise mit Menschen des anderen Geschlechts – nein, anders: es kommt überhaupt nicht erst zu Smalltalk. Für Andreas ist es ok, dass Michael ihn nicht begrüßt. Er ist beschäftigt, mit einem Notizbuch; der Bleistift kritzelt herum und ab und zu hört man Andreas Unverständliches murmeln. Nebenbei schaltet er Michaels Hifi-Anlage an und lauscht unbewusst Pink Martinis Cover-Version von je ne veux pas travailler – während er nach und nach all die auf dem Weg verfassten und skizzierten Seiten erst einklammert, dann zart durchstreicht und letztlich alles komplett verwirft.

Sven (56) – nennt sich auf Facebook Viktor S.: kalte Augen, harte Gesichtszüge, aschgraue, rissige Haut, etwas Clint Eastwood, aber eher die real-gewordene Version von Bricktop (siehe unten) –, ein uralter Klassenkamerad von Michael und mehr zufällig eingeladen worden, weil sie laut Facebook befreundet sind und Michael einfach alle paarundvierzig seiner dortigen Bekanntschaften angeklickt und so eingeladen hat. Die letzte Begegnung zwischen beiden, in der (mittlerweile für immer geschlossenen) Innenstadt-Dorfdiskothek Schauhaus, vor dem Herrenklo, eine Singleparty, bei der man sich Aufkleber mit Nummern ans Oberteil heftet, ewig her. Sven kommt raus aus der Toilette, Michael will rein. Das kurze Gespräch erklärt ziemlich gut, was bei Sven seit dem Schulabschluss anders gelaufen ist als bei ihm.

„Du, wenn du nichts vorhast, fahr mit mir. Wir nehmen ein paar von den Girls mit, bisschen Näschen pudern, das macht geil, ich sag’s dir, den Ständer behältst du die ganze Nacht. Halbe Stunde, ich muss eben. Ach, der Idiot. Hat mich um 200 angeschnorrt, ewig her, aber, du, wenn ich eins nicht leiden kann: Unzuverlässigkeit. Das hätt er sich vorher überlegen müssen, sollen. Jetzt, aus, finito, capisci? Michael, du bist korrekt. Also, halbe Stunde, hab ein Taxi bestellt, such du die Mädels aus, ich verlass mich auf dich.“

Weder Sven noch Taxi noch Mädels: Michael kotzt sich zwanzig Sekunden nach dem Treffen auf dem Klo die Seele aus dem Leib, wird vom Rettungsdienst abgeholt, pöbelt ein bisschen zuviel – und wacht erst in der Ausnüchterungszelle auf, der diensthabende Beamte ist Uli.

„Michael, guten Morgen. Hab kurz überlegt, dein Name ist ja doch nicht so selten. Mensch, was machst du denn hier? Hast du’s krachen lassen, gestern, was? Warte, ich hol uns Kaffee.“

In Erinnerung schwelgen mit schlechtem Filterkaffee. Uli ist Ulrich Nachname-irgendwas-mit-B und er und Sven und Michael waren zu Schulzeiten in einer Klasse. Das morgendliche Gespräch verdrängt Michaels Kopfweh, der starke Kaffee hilft gegen den ekligen Geschmack im Mund. Uli schenkt nach, dazu ein pralles Wurstbrötchen der Gattin, Elke, ja wirklich die Elke, die sieht aus wie damals – na ja, Schluss mit dieser langweiligen Erinnerung. Jedenfalls: Michael verbindet Sven seitdem mit einen kruden Abend plus 24-Stunden-Katerstimmung.

Ina Arndt (19), durch ihre Unscheinbarkeit fast unsichtbar, hat zusammen mit Michaels Tochter Hanna Abitur gemacht, vor wenigen Wochen. Michael hat sie (und einige andere junge Menschen) auf Facebook als Freundin hinzugefügt, als er die Profil-Seite seiner Tochter inspiziert, quasi Kontrolle, ob nicht zu viele zu große Jungs sich da rumtummeln und zu viele Likes auf Fotos setzen, wo Hanna nur spärlich angezogen ist. Geschrieben oder gesehen haben sie sich nie.

Während Michael in der Küche kocht und rumhantiert, lernen sich Andreas, Sven und Ina mehr oder weniger kennen und warten auf weitere Gäste (die nicht kommen). Sven telefoniert eine Zeit lang, Andreas kann mit Ina nicht sprechen und Ina findet Michaels Musiksammlung erst öde, dann retro (was im Prinzip öde meint, die mitschwingende Note ist allerdings nicht ganz so abwertend), aber kurz vor dem Küchentüröffnen hat sie eine CD gefunden, deren Cover (großer weißer Vogel vor schwarz-blauem Hintergrund) sie kennt, weil sie ein T-Shirt davon besitzt, bei H&M gekauft, aber nie wusste, dass das eine Band oder was für Musik das ist. Aber bereits nach den ersten eingängigen Takten ist sie sicher.

„Kenn ich.“

Woher, oder von wem, kann sie nicht verraten, denn jetzt geht die Tür auf und Michael serviert, beziehungsweise will servieren. Aus der Küche ziehen Rauchschwaden ins Wohnzimmer, die Musik wird durch das ohrenbetäubende Rauschen der Dunstabzugshaube übertönt. Michael schwitzt, seine Hände umklammern zwei große Schüsseln, bis obenhin gefüllt mit dampfenden, kross-gebackenen Rosmarin-Kartoffel-Spalten. Der Duft löst anerkennende Blicke in den Gästen aus, die nur einen winzigen Augenblick von Michael registriert werden, lang genug, um zu erkennen, dass seine Gäste nur drei Personen sind und nicht die gewünscht-erhofften (wer das sein soll, weiß Michael selbst nicht), aber es bleibt keine Zeit, um sich über diesen Umstand zu ärgern, denn schon stolpert Michael über eine verhasste Teppichkante, gerät ins Fallen, die Schüsseln entgleiten seinen Händen, sein Blick, seine Bewegungen, seine Atmung, alles wird hektisch und panisch, der Gleichgewichtssinn versagt, Michael fällt, stolpert, fällt, stolpert vorwärts, die Kartoffeln lösen sich vom sicheren Halt der Schüsseln, gleiten durch die Luft: Rosmarin, gewöhnliches Jod-Salz, Knoblauch und Öl verteilen sich exponentiell um die Schüsseln und Michael herum, benetzen seine Finger, lösen in den Gästen in Sekundenbruchteilen abwehrende Haltungen aus. Michael fällt weiter, findet erst Halt auf seinem selbstgebauten CD-Regal, das bis heute ein Provisorium geblieben ist und Michaels Gewicht nicht standhalten wird, auch nicht seine CDs und wo wir schon dabei sein, der CD-Player ist Teil dieses Regals und alles wird gleich, gleich, ja, gleich wird alles zerstört sein, ein ölig-glitschiger Haufen aus Kartoffelmatsch, berstendem Holz, Elektroschrott, zersplitterten CDs, zerbrochenen Plastikhüllen und zerrissenen Booklets, sogar die Limited-Edition-Abteilung (inklusive der unbezahlbaren, weil von Billy-Corgan-himself signierten Smashing-Pumpkins-Single ZERO) wird mit in den Abgrund gerissen. Michael landet darauf, nahezu unverletzt, nur etwas gepiekt und vom heißen Öl verbrannt und aufgeschrammt, aber keine Knochenbrüche oder blutenden Wunden, Gott sei Dank. Mit dem vorhandenen Schwung stößt sein Kopf jedoch gegen die hinter dem Regal – den Überresten des Regals – befindliche Wand und er verliert daraufhin das Bewusstsein. Nicht lange, aber lange genug, um seinen Gästen die Möglichkeit zu geben, sich um Michael, die Zerstörung und die fast vergessene Katastrophe in der Küche zu kümmern. Als Michael zu sich kommt, sitzt Ina neben ihm, drückt ein feucht-kühles Tuch gegen seine Stirn. Andreas kauert auf einem Stuhl daneben, bleich und zitternd, als wäre er gestürzt. Dahinter steht Sven, in der linken Hand ein Zitronenhähnchenhühnerbein, beißt hinein, kaut, spuckt einen Knorpel aus (einfach so, auf den Teppich!) und nickt Michael zu.

„Nicht schlecht, Amigo, gar nicht mal schlecht. Aber mit Salz, also echtem grobkörnigen Atlantikmeersalz, da wird’s der Knaller.“

Michael starrt Ina an, fasst mit einer Hand an den Kopf, stemmt sich mit der anderen hoch.

„Du bist gestürzt. Alles ok mit dir, kannst du aufstehen?“

Ina schaut Michael an, Michael schaut Ina an und Michael weiß nicht, was in Inas Kopf los ist, aber bei ihm prasseln Stichworte und Erinnerungsfetzen in unzusammenhängender Hochfrequenz auf seinen angeschlagenen Geist ein: Ich bin gestürzt, ich habe Essen gekocht, Ina ist eine Freundin von Hanna, Hanna habe ich seit… seit … sehr lange nicht gesehen oder gehört, Sven, Andreas sieht aus, als ob er kotzen müssten, Sven nagt an einem Hühnerbein, Ina wischt mir Ölreste aus dem Haar und dem Gesicht, Sven, was macht Sven hier? Warum schmerzen meine Hände und mein linkes Knie? Die letzte Erinnerung kurz vor dem Blackout setzt zur Landung an, Emotionen steigen hoch, tauchen auf, fügen sich zu einem kakophonischen Gesamteindruck. Michael lenkt seinen Blick zum CD-Regal – zu den Überresten – und bemerkt, dass keine Musik läuft, entdeckt Kartoffelreste an Tapete und Teppich, verspürt den Drang aufzustehen, zu schreien und auch Hunger ist irgendwie dabei (die oberflächliche Zerstörung des Essens konnte den Geruchspartikeln überhaupt nichts anhaben, im Gegenteil: Sie haben sich dadurch besser und weiter im Zimmer ausbreiten können. In absehbarer Zukunft wird sich dieses Aroma mit den Problemen von Zersetzungsprozessen auseinandersetzen müssen, so dass Michael wohl nicht umhin kommen wird, umfangreiche Renovierungsarbeiten zu beginnen, aber dazu kommt es nicht). Stattdessen steht Michael nun auf, stumm, ausdruckslos, obwohl es ohne Zweifel in ihm drin sehr stark arbeitet. Er geht auf die Überreste zu, hebt einige Stücke auf, betrachtet sie, wie man im Wald einen heruntergefallenen Tannenzapfen betrachtet, der einen haarscharf verfehlt hat. Michael sammelt Dinge ein, die zusammen gehören und trennt sie von anderen Dingen, die…

„Wenn du ne Hausrat hast, läuft das. Wenn nicht, wird’s Zeit, Abschied zu nehmen, Amigo.“

Sven. Sven kaut auf einem knusprigen Flügel herum, um seinen Mund verteilt sich eine feine Fettschicht, die er mit dem Handrücken abwischt und über seine Wange verteilt, die entweder schlecht rasiert ist oder dreckig. Sven hält einen Teller in der Hand, darauf das halbe Hähnchenteil, einige gerettete Kartoffelstücke, sogar der Spinat mit den Mandelstückchen (der sehr köstlich aussieht) ist dabei, obwohl Sven sonst keinen Spinat isst, zumindest kann er sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal welchen gegessen hat.

Sven. Ja, dieser Frage könnte Michael nachgehen, wie um alles in der Welt Sven hier hergekommen ist, seine nervigen Sprüche absondert und die zwielichtige Atmosphäre von Eisenbahnstraßenviertel, Nordplatz und Dessauer Straße ausdünstet (also jenen Gegenden, wohin sich die nicht-ins-Stadtbild-passenden Milieuschichten verkriechen durften, seitdem der Leipziger Hauptbahnhof mit seinen – auch sonntags geöffneten – Einkaufspromenaden grundsaniert und der komplette unmittelbare Bahnhofsbereich – sprich: vom Zoo über Finanzamt und Oper bis hin zur unendlichen Unikirchegroßbaustelle am Augustusplatz – per 24-h-Videoüberwachung touristensicher gemacht wurde). Oder, wieso Ina plötzlich hinter Michael steht und ihre Hand auf seine Schulter legt. Oder warum Andreas so bleich und zittrig ist, dass Ina, wenn sie Andreas genauer betrachten würde, sich eher um ihn kümmern würde als um Michael, der jetzt ausrastet.

Schwer zu sagen, was letztlich für diesen Ausraster gesorgt hat. Ob es Sven und seine Sprüche waren, die unfreiwillige Zerstörung seiner innig-geliebten Musiksammlung, die Küchenkatastrophe (die in der Küche selbst eigentlich gar nicht so schlimm war, vom Sturz und dem daraus folgenden Desaster einmal abgesehen) oder Ina, die zwar ganz nah, aber für Michael trotzdem immer ganz fern sein wird, weil sie ist immerhin jünger als seine eigene Tochter und darüber hinaus mit dieser befreundet, irgendwie (der Begriff Freundschaft ist zwischen den beiden allerdings nie konkret ausgesprochen worden, was bei Teenagern natürlich nichts heißen muss). Oder weil Michaels Leben in den letzten zwanzig Jahren eine unaufhaltbare Abwärtsbewegung vollzogen hat, sprich: wenig Geld, kein Job, kaum bis keine Freunde, kein Sex, keine Motivation/Perspektive/Ideen/Kontakte/usw., kein gar nichts (na ja, außer einer unverwüstlichen Mutter, die ihrem einzigen Sohn regelmäßig seine desolate Lage vor Augen hält). Oder die Kombination aus all diesen Faktoren. Spielt keine Rolle. Michael setzt die Zerstörung fort. Dabei schreit er und schmeißt Dinge gegen die Wände. Er trampelt und stampft auf bereits zerstörten Sachen herum. Er torkelt in die Küche und entleert dort sämtliche Schränke und Schubladen. Er wirft Töpfe, Teller, Gläser und noch mehr gegen das Küchenfenster, bis er es öffnet. Er schmeißt alles, was er in die Finger kriegen kann, aus dem Fenster. Seine Gäste nicht. Die sind fort, ohne dass Michael bemerkt, wie und wo und wann das passiert ist.

Dafür stand dann damals plötzlich die Polizei auch vor seiner Tür.

drei / dreiundzwanzig

Der Sommer ist also endgültig vorbei, aber natürlich will das keiner so richtig akzeptieren, ist doch so. Mitte September denkt niemand an Wollmützen, lange Unterhosen oder Fäustlinge, sondern an den herrlichen Indian Summer