Schuld ist etwas für Anfänger - Gerd Zahner - E-Book

Schuld ist etwas für Anfänger E-Book

Gerd Zahner

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Beschreibung

Goster 1 wurde verfilmt und als Weltpremiere auf dem Filmfest München 2016 im Gloriapalast vorgestellt. "Schuld ist etwas für Anfänger" ist die Fortsetzung über die Kraft der Melancholie. Goster ist ein Kommissar Mitte 40, der letztlich die Sensibilität besitzt, die Zufälle des Lebens auf sich wirken zu lassen. Die Welt ist kontingent und böse. Sowohl das Verbrechen als auch die Aufklärung überschreiten die Grenze des Rationalen. Goster hat die Gabe ohne Resignation festzustellen, dass die Fälle, die er zu lösen hat, sich wie von selbst erklären, weil das Verbrechen für das konventionelle Denken nicht mehr fassbar ist. Die Stadt ist zur denkenden Kraft geworden.

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Gerd Zahner

Schuld ist etwas für Anfänger

Goster 2

www.tredition.de

© 2017 Gerd Zahner

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-1768-2

Hardcover:

978-3-7439-1769-9

e-Book:

978-3-7439-1770-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1

Wenn Flugzeuge Augen hätten und sie sähen hinab auf die Stadt, in der Nacht, sie sähen einen brennenden Schatten, am Tag eine riesige sich spreizende Leiterplatte, wie verschmiertes graues Licht, und Häuserzeilen, wie Lochkartenreihen, aus der Zeit, als die Computer denken lernten, so wie jetzt die Stadt das Denken lernt und sich selbst ansieht.

Wenn Flugzeuge Augen hätten und sie blickten aus großer Höhe hinab auf die Stadt, ein einzelnes Haus zu sehen wäre für ein Flugzeug unmöglich.

In diesem unmöglichen Haus saß eine Redakteurin und entschied, welches Bild online in die Zeitung kam.

Das Bild einer Nachricht ist so wichtig wie die Nachricht selbst, das Bild muss alles bereits Gesehene an Schrecken und Schönheit übertreffen und tut es dies nicht, ist die Nachricht nicht von Bedeutung.

Margot Herbot aus der OnlineRedaktion des TagTags sortierte die Bilder der Welt nach diesem Gewicht.

Das Feuer in einer Chemiefabrik in Zug (Schweiz) war endlich, nachdem die Laborräume sich mitentflammt hatten, niedergekämpft.

Den Anwohnern wurde nach einwöchiger giftiger Rauchdunkelheit wieder erlaubt, die Fenster zu öffnen, und ein Foto der ALPpress zeigte eine alte Schweizerin, Zugerin, mit gefurchtem Gesicht, die mit den Händen statt Quellwasser frische Luft ans Gesicht schöpfte, wie eine Durstige an der Quelle.

Das Bild war schön, aber ohne Interesse, das Feuer war ja gelöscht.

Ein anderes Bild zur gleichen Zeit wurde nie gezeigt.

Ein Mann in weißer Unterwäsche saß an einen Stuhl gefesselt und übergab sich. Die Kotze lief über das Gesicht, über die Brust, sammelte sich in Pfützen, zwischen den Schenkeln, auf dem Stuhlboden. Er kotzte auf den Boden, warf sich weit vor und zurück, versuchte mit dem Stuhl zu Boden zu krachen, um ihn zu zerbrechen. Der Stuhl war aus Holz.

Eine Stimme sagte: „Die Nummer.“

Der Gefesselte schrie vier Zahlen aus sich heraus.

Ein Koffer sprang auf, nachdem die Zahl in das Zahlenschloss eingegeben war.

„Danke.“

Ein Mensch hinter dem Gefesselten steckte eine Hand in einen schwarzen Handschuh. Diese Gestalt schob dem kotzenden Mann einen roten Knebel in den Mund, wie es zuvor schon geschehen war, als der Gefesselte sich weigerte die Zahl zu nennen.

Es war dunkel in diesem Raum.

2

Der Regen trommelte jetzt seit Tagen mit irren Rhythmen auf die überdachten Fahrradständer an der Westseite des Breitenparks. Ein Spatz, so grau wie der Himmel, vielleicht sogar ein Stück aus ihm, duckte auf dem gelben Fahrradsattel den Kopf unter den Flügel. Und ein Rabe mit offenen Flügeln spazierte unter den Wellplatten, zwischen den Reifen der Räder, die so schwarz waren wie er, und blickte durch den Vorhang der senkrecht fallenden Regentropfen in den Park.

Es war Montag, hätte aber auch Dienstag sein können. So stark fiel der Regen seit Tagen, dass man aufhörte, die Tage zu unterscheiden, und dieses Gefühl, unter der Glocke des Regens zu leben, hatte alle müde gemacht und die Köpfe gesenkt und das Gefühl für Zeit genommen.

Eine Joggerin zog trotz des Regens ihre Bahnen im Park. Sie trug ein rotes Stirnband, ihr Gesicht war nass.

„Trennungen sind in dieser Stimmung unvermeidlich“, dachte Goster beim Rasieren, „aber für eine Trennung bräuchte man eine Beziehung.“

Es war MontagMorgenMontag, nach einem ereignislosen Wochenende begann die Woche mit der Rasur.

Er rasierte sich langsam. Sein Blick, wenn er das Gesicht seitlich drehte, suchte aus dem Badzimmerfenster die Bäume des Parks. Das Grün beruhigte. Regen und trübe Luft, ein großer unschuldiger Tag. Er sah in das Gesicht eines 45-jährigen Mannes im Spiegel. Ein Anzug mit Weste hing am Bügel an der Badtüre am roten Haken. Das Gesicht, so stellte er fest, war rascher alt geworden als erwartet, aber nicht traurig. Die Falten in den Mundwinkeln verschwanden, wenn er lachte. Der Spiegel lachte zurück.

„Traurigkeit“, so hatte er es H., die halb so alt war wie er, erklärt, „macht Menschen zu Holz und das Leben schreibt, wie in die Rinde der Bäume, fremde Namen hinein, die man dann mit sich trägt.“ Müde war so ein Name. Oder Überschätzung, oder jeden Sommer in Urlaub fliegen, nur weg. Dann sah Goster wieder zum Fenster.

Regen macht die Zeit langsamer und das Warten zur Gewohnheit und Goster hörte es plötzlich von draußen krachen, aber schnitt sich nicht.

Zuerst dachte er, ein Baulaster habe irgendwo da unten in der Stadt, in der Nähe des Parks, seine Ladung ausgekippt.

Nichts Besonderes war zu sehen.

Nur sein Gesicht in den Scheiben. Eine Gesichtshälfte mit Rasierschaum bedeckt, sah aus wie durch den Beton gezogen, die andere Hälfte glatt und schon im Handtuch abgetupft, als wäre sie nie rasiert geworden.

So stand er am Fenster. Ein Mensch.

Er sah auf diese versteinerte Stadt, die nach dem Krachen für einen AugenBlick lautlos nach innen lauschte, ängstlich vor sich selbst. Das Schweigen unterstrich, dass etwas beginnen könnte, was nicht endet.

Als würde ein Rechner hochgefahren, belebten sich die Straßen erneut.

Diese Stadt erinnerte ihn immer mehr an einen Computer, der das Denken und das Fühlen lernt. Eine Sekunde lang, so schien es Goster, blickte diese Stadt erschreckt zu ihm hinauf.

„Verrückt.“

Weil das gleichmäßige Ticken der Regentropfen an die Fensterscheiben, im Nachgang dieses aufschlagenden und dann rasch verebbenden Lärms, wieder zurückgekehrt war, suchte Goster nicht weiter nach Ursachen für den Lärm und beendete die Rasur ruhig und gelassen. Vor dem Spiegel sagte er zu sich:

„Müllcontainer beim Verladen?“

Der Anzug saß wie maßgeschneidert und Goster knöpfte die Weste. Er trug schwarze Schuhe und dünne feine Socken. „Die einzige Freiheit, die es gibt“, so dachte Goster, als er die Haustüre hinter sich schloss, „ist, ein paar Grad von der Norm abzuweichen, indem man zum Beispiel in das Kommissariat zu Fuß schreitet, in schwarzen handgenähten Lederschuhen, auch bei Regen. Ohne Regen keine Freiheit.“

Goster erfuhr dann Stunden später beim dienstlichen Einsatz im westlichen Breitenpark den wahren Grund des plötzlichen Lärmsturzes, den er bei der Rasur aufschlagen hörte und wieder vergessen hatte.

Müllcontainer beim Verladen waren es nicht.

Vollgesogen vom Regen, hatte sich am Rande des Parks, im Rücken der SchnellStraße, die oberste Schicht Erde von einem 10 Meter hohen Schallamm, der den Park vor der Straße abschirmte, abgelöst und war in Richtung der Fahrradständer und der Spazierwege abgerutscht.

Eine Reihe Fahrräder lag im Handumdrehen umgestürzt.

Spatz und Rabe flogen rechtzeitig auf.

Was diese Sache aber so besonders machte, war ein anderes. Der ErdRutsch, der den Boden des Schalldamms aufwühlte, warf den Leichnam eines Mannes zusammen mit matschigen Brocken mitten auf den Spazierweg des Parks. Der Tote lag da, mit all seinem Tod, wie ein Steinschlag hingeworfen.

Die versteckte Leiche im Wall war nämlich nur mit fingerdicken Zweigen bedeckt und dadurch flach eingegraben. Der ErdRutsch grub sie wieder aus. Dort lag sie quer über dem Weg.

Der so auf den Weg gebrachte Leichnam trug noch einen grauen Anzug und die Augen waren halb geschlossen. Er war nicht verwest. Er sah tot aus. Aber noch nicht lange.

Angesichts der Leiche begann nun die Joggerin zu schreien, denn der Tote war ihr im Lauf genau vor die Füße gefallen und versperrte den Weg.

Endlich kam ihr ein älterer Spaziergänger zur Hilfe, mit Hund und Handy, und rief die Polizei, sagte aber immer wieder ins Telefon „weg weg, Hermann“, weil der Hund an dem Toten zu schnüffeln begann, sodass man am anderen Ende der Leitung, am polizeilichen Ende, glaubte, eine Auseinandersetzung mit Hermann sei im Gange.

Als die Polizei endlich eintraf, war der Hund mit der Leine aus Langeweile weggelaufen. Der Alte, hin und her gerissen, beim Toten auszuharren oder den Hund zu suchen, tippelte unruhig auf der Stelle und entfernte sich fünfzehn Schritte in den Park, wurde aber von der Polizei zurück gerufen.

„Hermann ist ab“, sagte er der Polizei.

Die Joggerin mit Lippen aus Gips starrte noch immer angstverwandelt auf den Toten, der Alte schüttelte den Kopf.

„Wer rief ‚weg, weg, Hermann’?“ fragte die Polizei.

"Ich.“

„Heißt der Tote Hermann?“

„Wie?“

Napoleon, Gosters Kollege, war der erste Kommissar am Fundort der Leiche und da er Fehler um jeden Preis vermeiden wollte, wurde die vorläufige Festnahme des Alten angeordnet.

„Ich wollte nur helfen.“

„Er hat gerade versucht sich zu entfernen“, ergänzte ein junger Polizist.

„Lesen Sie ihm seine Rechte.“

Mit den Händen geschlossen auf dem Rücken vernahm der Alte, fünf Meter von der Leiche entfernt, seine Rechte. Für ein vergessenes Kind im Urwald des Schreckens ist das kein Trost.

Weniger erstaunt über den Leichnam auf dem Weg als über sein eigenes Schicksal, das ihn, wie der Damm den Toten, in ein großes kaltes MissVerständnis hineingeworfen hatte, geriet der Alte in große Verzweiflung.

War sein Leben nicht beendet, so doch seine Zuversicht in die Ordnung der Dinge.

Des Alten Augen blickten hektisch um sich, wie SchiffBrüchige nach Inseln, und bemerkten statt des Hundes ein rotes kleines Auto beim Herfahren.

Goster wurde darin von H. zum Fundort der Leiche gebracht.

Goster stieg fröhlich aus.

„Hermann ist ab...“, sagte der Alte in Handschellen zur Begrüßung, weil das Auto zufällig neben ihm hielt.

Goster atmete tief die gute Parkluft, sah den Alten ohne Hund, und die rotweißen Flatterleinen wurden von der Polizei ausgerollt und begannen sich im Wind zu drehen.

„Sehen Sie, da wohne ich“, sagte Goster zu H. und zeigte hinüber in das Viertel mit den alten Dächern, „7 Minuten von hier.“

H. nickte und, wie immer am Anfang eines Falles, sie schwieg.

Da niemand des Alten Blick und den Bittruf erwiderte, starrte ein vom AugenBlick Gebrochener zu Boden und weinte still.

„Sind Sie der Täter?“ Goster fragte höflich, ohne Neugier in der Stimme.

„Wie kommen Sie darauf?“

„Sie weinen.“

„Nein“, sagte der Alte, ohne die Stimme zu verstellen.

Goster schritt H. voraus und an dem Alten vorbei.

Goster hatte H., als H. vor einem Jahr in den Dienst seiner Abteilung getreten war, den Übernamen H. angedichtet, weil Hannelore ihm zu lang schien und mit dem Nachnamen Klost wollte er sich nicht anfreunden. Am liebsten wäre es ihm gewesen, alle Menschen dieser Welt wären ohne Namen geblieben und wenigstens darin gleich.

Goster hielt einen aufgespannten Schirm zwischen sich und dem Regen, H. zog die Kapuze einer violetten Steppjacke über den Kopf, obwohl ihr angeboten wurde, sich mit unterzustellen.

„Gewaltverbrechen?“ fragte sie Napoleon.

„Keine Papiere, ausgeräumt. Ohne äußere Verletzung.“

Goster trat nah zu dem toten Mann auf dem JoggerAsphalt, beinahe berührten ihn seine Füße, das Ergebnis der Spurensuche wurde laut gerufen, von Hämmerle, der seine Utensilien bereits wieder in der schwarzen Tasche verstaute: „Seit drei Tagen verscharrt.“

„Teure Schuhe“, sagte Goster zu sich selbst und zu H., was dasselbe für ihn war.

„Schuhe?“ fragte Napoleon.

Und Goster antwortete: „Das Feinste vom Leisten, 2000 aufwärts, so glatt, wie die Sohle noch ist, trägt er die noch nicht lange.“

Er sank neben dem Toten in die Knie und wischte den Dreck von der Sohle. Das Firmenemblem, in die Sohlen eingelassen, besaß noch die scharfen Konturen und war nicht von vielen Schritten ausgetreten.

„In solchen Geschäften begrüßt man die Kunden mit Namen, denn der Leisten bleibt im Geschäft.“

H. verstand sofort, was er bezweckte.

„Handgefertigt nach Maß.“

„Das ist mein Fall!“ Napoleon hob den Kopf gen Himmel, eifersüchtig wie immer.

„Das wissen die Schuhe nicht“, sagte Goster und befahl endlich, auf Grund der Zeitdifferenz zwischen der Eingrabung des Toten und der Weg-Weg-Rufe, den zitternden alten Mann wieder freizulassen. Er begann sogar, den Alten ein Stück durch den Park zu begleiten, rief „Hermann“, bis ein weißer Terrier mit roter Leine angehüpft kam, dreckverschmiert und offensichtlich glücklich.

Der Alte sagte: „Ich hab alles gesehn, der Wall hat absichtlich den Toten dieser Frau vor die Füße gespuckt.“

Die Joggerin, wieder zur Sprache gekommen, bestätigte dies.

„Der Hund ist nett, bellt nicht.“ Goster verabschiedete sich und blickte in die andere Richtung.

Für die OnlineRedaktion des TagTags wartete Margot Herbot im Regen und fotografierte dem Leichenwagen bei der Rückfahrt hinterher.

Goster dachte: „Was bringt ihr dieses Bild?“ Aber er dachte sich nichts weiter.

„Hat sich vielleicht schon die Bilder der Leiche auf anderm Weg besorgt“, sagte H., die seine Gedanken erahnte.

So war es auch. Der Fahrer des LeichenWagens, im geheimen NetzWerk und auf der Lohnliste der Redaktion, hatte mit seiner FotoBrille die Aufnahmen gemacht und per SMS versandt. Die Reporterin wahrte mit ihrer Anwesenheit nur den Anschein, damit niemand die wirklichen Abläufe durchschaute, denn den Fahrern der LeichenWagen war es dienstlich verboten, die anvertrauten Toten auf irgend eine Weise zu benutzen. Die Zeitungen verschlangen so viele Bilder von Leichen, dass nur über die LeichenFahrer der Bedarf gedeckt werden konnte.

Die Redaktion handelte dann rasch und stellte den Toten, für sein zweites Leben, sofort ins Netz.

Eine Leiche mit braunem Haar und der gelbweißen Gesichtshaut beginnender Verwesung blickte eine Stunde später von Millionen Bild-Schirmen dem Rest der Welt in die Augen.

Ja, man beeilte sich. Auch Nachrichten verwesen.

Für Goster war alles bislang nichts Besonderes. Die Welt war aus den Fugen, so war es nun mal.

Der Regen hatte aufgehört, schlagartig mit dem Abtransport der Leiche, als hätte auch der Regen damit seine Funktion erfüllt.

Goster sagte noch halb spaßend zu H.: „Jetzt laufen (kommen, purzeln, rutschen, fallen?) uns die Leichen schon entgegen.“

Mehr war nicht passiert. Eigentlich gar nichts.

Im Park war es wieder still. Die Joggerin wurde nach Hause gefahren und vor einem weißen Wohnblock abgesetzt.

Der Alte setzte sich auf eine Parkbank. Sein Hund spielte.

Irgendwie gab der Alte dem Hund die Schuld.

Er rollte die Leine zu einer Schnecke, legte sie sanft, wie einen AbschiedsBrief, auf der Parkbank ab und schlich sich davon.

Hermann machte sich auf die Suche nach seinem Herrn.

3

Eigentlich war Goster froh, dass dieser Fall an Napoleon abgeben war. Dieser verkündete mit wedelnder Zunge und Hundestimme seinem Staatsanwalt den Plan, das Schuhgeschäft Brauner auf Kunden von maßgefertigten Kalbslederschuhen abzuklopfen. Solche Schuhe, wie sie der Tote trug.

„Das erste Mal, dass ich Schuhe suche“, sagte Napoleon zu Goster, dem er auf dem Flur begegnete.

„Für eine Leiche, die aus dem Grab einer Läuferin auf die Füße fällt, ist es auch das erste Mal.“

Goster lächelte, als er dies Napoleon hinterher rief, der über den Flur rannte, wie immer eiligen Ermittlungen entgegen. Aber im Innern hatte Napoleon nur ein schlechtes Gewissen, die Idee, die Identität des Toten über die Schuhe festzustellen, war eben wieder mal von diesem Goster gekommen.

Es dauerte nur 2 Stunden, den Namen des Toten von der Leistenkarte abzulesen, die Kopie der Kreditkartenzahlung wurde zusätzlich per Mail versandt. Urs Beat Wächter aus Zug. Kreditkarten sind der Fingerabdruck des Geldes.

„Was noch?“ fragte Goster.

„Seit drei Tagen vermisst“, antwortete Napoleon, der sich für diese Information bei Goster telefonisch meldete. Seine Stimme blieb aufgeregt.

Sonst geschah nichts. Die Sonne wärmte den Tag.

4

Die Sonne wärmte den Tag. Am späten Nachmittag war der Regen vergessen.

Goster sah sich gegen 22 Uhr, weil er nicht schlafen wollte, eine Talkshow an.

Dieser Satz eines Journalisten –Schuld ist etwas für Anfänger– gefiel ihm sehr.

Der Journalist war an die 50, gestikulierte mit den Händen und besaß noch immer die Pose des Aufklärers. (gefiel sich?)

„Politiker“, die Talkshowstimme bebte vor Aufregung, „investieren die Hälfte der Zeit in das Knüpfen von NetzWerken und wenn etwas schief läuft, wechseln sie nur den Knoten.“

Als Beispiel nannte der Talkshowgast den in die Schlagzeilen geratenen ehemaligen Staatssekretär Kuhfuß aus dem Verteidigungsministerium, der den Totalverlust von 340 Millionen zu verantworten hatte, weil auf seine Anweisung für 50 fluguntaugliche Kampfhelikopter die vollen Entwicklungskosten und der volle Kaufpreis entrichtet worden waren, an eine dubiose Rüstungsfirma, die anschließend insolvent ging.

Als Reaktion wurde Kuhfuß von der Politik in die Wirtschaft befördert und übernahm den Vorstand einer Bausparkasse mit solider Geschäftsgrundlage, die für das Rüstungsgeschäft gebürgt hatte.

Das Sonderbare war, Kuhfuß saß dem Journalisten in der Sendung gegenüber.

Der Journalist argumentierte: „So ein Netz-Werk fängt wie ein Trampolin den stürzenden Politiker auf und wirft ihn zur selben Höhe seiner Macht wieder hinauf.“

Goster gab ihm Recht. Der Mann sprach schnell und wütend.

Was Goster nicht ganz verstand: „Warum regte er sich auf, wenn es sich immer wieder wiederholt?“

Politik ist ein Trampolin. Der Abstürzende holt sich nur den Schwung für neue Höhen.

Der Journalist hieß Herbot, war von Hause aus überzeugter Feuilletonist, aber weil die Kultur des Theaters ausgedünnt, in Zeitungen und Gesellschaft zum Fragment verkam, hatte er ins Wirtschaftsressort des TagTags wechseln müssen. Seine alte Leidenschaft für Inszenierungen tat dem Talkshowbesuch nicht gut. Er verletzte Grenzen mit Grenzen, sprach Kuhfuß, über den er sprach, der ihm gegenüber saß, nicht einmal direkt an.

Kuhfuß hörte mit gekreuzter Beinhaltung den Vorwürfen zu und spuckte nur mit den Augen, schließlich hob er seine Hand, wie ein Schiedsrichter die rote Karte.

Kuhfuß bestand auf seiner Richtigstellung der Vorwürfe, denn, so seine Verteidigung, dass die Rotoren bei Starkregen in Eigenschwingung geraten würden, war bei Rechnungslegung für das Ministerium für Verteidigung nicht offensichtlich.

„Aber, dass etwas nicht fliegt, ist doch offensichtlich!“

„Nicht immer.“

„Sie sind aufgeflogen.“

„Frechheit, ich wechselte aus beruflichen Gründen.“

Politiker beherrschen immer zwei Dinge. Wenn sie eine Talkshow betreten, passt die Krawatte zum Hintergrund und die Stimme zur telegenen Unschuld.

Herbots Frau, die bei der gleichen Zeitung arbeitete, saß hinter ihrem Mann im Publikum. Sie applaudierte bei seinen Beiträgen und schüttelte gegen Kuhfuß entsetzt den Kopf.

Eigentlich war sie die berühmtere Journalistin.

20 Jahre war sie bei der Zeitung nicht voran gekommen, bis sie, mehr aus Verzweiflung als aus Überlegung, in den Anfängen der Netz-Karriere ins Online wechselte und im Raum ohne Grenzen mit jedem Unfall oder Verbrechensbericht mehr Resonanz erzielte als alle Theater- und Wirtschaftsjournalisten dieser Zeitung zusammen.

Vor einer Stunde war ihr BerichtLeiche gräbt sich frei und wandert im Parkals Nr.1– Nachricht durchgegangen.

Das Foto der wandernden Leiche, vom LeichenFahrer gefertigt, von Margot Herbot ins Netz gestellt, verbündete sich mit 100 000 Klicks pro Stunde.

Der Tag war erfolgreich für die Herbots und diese Talkshow sollte so etwas wie die Tageskrönung für die Familie Herbot sein.

Gerade als Margot Herbot in der Talkshow wieder heftig gegen Kuhfuß den Kopf schüttelte, summte das Dienst–Handy in ihrer grauen Tasche mit dem DringendstDringendst-Ton, der verabredet war, jeden Journalisten der inneren Redaktion zu jeder Uhrzeit an jedem Ort ans Telefon zu rufen, für Rückmeldungen, für Sprach–, Bild– oder Wortmitteilungen von besonderer Bedeutung.

Unter keinen Umständen hätte Margot in Kameranähe ihr Handy benutzt, jetzt aber musste sie es und öffnete beschirmt in der Tasche den BildSchirm.

Beate Ruth, eine Kollegin, verschickte aus der Redaktion eine Nachricht von dieser äußersten Dringlichkeit.

Ruths Aufgabe in der Redaktion war es, für die Morgenausgabe des TagTags das Netz nach verwertbaren Nachrichten abzuklopfen, die die Zeitung dann kostenfrei als ScheinRecherche übernehmen konnte, eine stumpfe, verlogene Tätigkeit, die sie hasste, der Hass verstärkt durch Neid.

Margot Herbots Aufstieg war ihr im Besonderen nicht erklärbar und schien ihr ungerecht.

Die anderen Kollegen der Nachtredaktion saßen derweil vor den BildSchirmen im Großraumbüro in weichen Sesseln, Chips essend und mit Coladosen in den Händen.

Herbots Schlusswort –Verantwortungsdemenz der Politik– wurde laut bejubelt, weil der Sieger der Talkshow aus den eignen Reihen kam.

Kuhfuß im Fernsehen geriet in Eigenschwingungen, verlor die Kontrolle über seine Hände, verlor das Rededuell, die blaue abgeknickte Krawatte, wie ein kaputtes Rotorblatt, war ein Symbol des Absturzes, und zum dritten Mal sang seine Stimme viel zu hoch: „Eigenschwingungen sind nichtnichtnicht erkennbar!“

Alle lachten. Vor und im Fernsehen. Selbst der Kameramann. Ein menschlicher Helikopter schoss sich ab.

Einzig Frau Herbot lachte nicht.

In Hamburg war ein RaubMord geschehen und ÜberwachungsKameras hatten das Gesicht des mutmaßlichen Täters eingefangen. Die Bilder waren bereits im Netz eingespeist, ohne dass die Polizei dies veranlasste, noch hatte die Polizei Einfluss darauf.

Margot Herbot hielt ihr Handy mit zitternder Hand und ließ den gesendeten Mitschnitt, der im Netz kursierte, zum zweiten Male stumm ablaufen.

Die Aufzeichnung der ÜberwachungsKamera war der virale Netzhöhepunkt der Nacht.

„KENNST DU DEN MÖRDER, Margot?“ fragte die Kollegin per WhatsApp. Die Großbuchstaben schrieben sich in Margots Gedächtnis, als ewige Nachricht.