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Im Februar 2022 ploppten die Ereignisse von 2020 wieder hoch. Auf Kommissar Bauer wurde ein Attentat verübt, seine Kollegin getötet. Es ging wohl um Rache für die Aufdeckung des Verbrechens vor zwei Jahren. Damals standen Personen aus Justiz und Polizei auf der Lohnliste der kalabrischen Mafia und ließen sich erst aushalten, dann erpressen. Die Ehefrau von Kommissar Bauer bat Dr. Hofmann, Psychoanalytiker in Frankfurt, ihren Mann im Unfallkrankenhaus aufzusuchen, weil sie sich große Sorgen um seinen seelischen Zustand machte. Am gleichen Tag meldete sich bei Hofmann die ehemalige Patientin und Escort-Dame A, die ihn 2020 beinahe um Herz und Verstand gebracht hatte. Wegen ihr wurde Hofmann in seiner Praxis überfallen und krankenhausreif geschlagen. So wurde er erneut wider Willen in die Gewaltverbrechen hineingezogen. Im Folgenden überschlagen sich die Ereignisse, privat und gesellschaftlich. Bauer und Hofmann erweisen sich wieder als kongeniale Partner, allerdings in umgekehrten Rollen. Dieser Kriminalroman legt wenig Wert auf bluttriefende Gewalt als vielmehr auf die Beziehungen der Protagonisten zueinander. So ergeben sich Einblicke in das Leben von Menschen und ihre Krisen. Die individuellen Schicksale spielen sich vor den globalen gesell-schaftlichen Herausforderungen 2022 ab: Corona-Pandemie, Klimakrise, organisiertes Verbrechen und aktuell der Krieg in der Ukraine. Der Krimi knüpft an den Roman "Freud & Leid" von 2023 an.
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Handlung: Im Februar 2022 ploppten die Ereignisse von 2020 wieder hoch: Auf Kommissar Bauer wurde ein Attentat verübt, seine Kollegin Henninger getötet. Es ging wohl um Rache für die Aufdeckung des Verbrechens vor zwei Jahren. Damals standen Personen aus Justiz und Polizei auf der Lohnliste der kalabrischen Mafia und ließen sich erpressen.
Die Ehefrau von Kommissar Bauer bat Dr. Hofmann, Psychoanalytiker in Frankfurt, ihren Mann im Unfallkrankenhaus aufzusuchen, weil sie sich große Sorgen um seinen seelischen Zustand machte. Am gleichen Tag meldete sich bei Hofmann die ehemalige Patientin und Escort-Dame A., die ihn 2020 beinahe um Herz und Verstand gebracht hatte. Wegen ihr wurde Hofmann in seiner Praxis überfallen und krankenhausreif geschlagen. So wurde Hofmann erneut wider Willen in die Gewaltverbrechen hineingezogen, nachdem er ein zweites Attentat auf Bauer abwenden konnte.
Im Folgenden überschlugen sich die Ereignisse mit tragischen Folgen - privat und gesellschaftlich. Bauer und Hofmann erwiesen sich wieder als kongeniales Paar, allerdings in umgekehrten Rollen. Schuldgefühle belasten alle Akteure.
Dieser Kriminalroman legt weniger Wert auf bluttriefende Gewalt als vielmehr auf die Beziehungen der Protagonisten zueinander. So ergeben sich Einblicke in das Leben von Menschen und ihre Krisen. Die individuellen Schicksale spielen sich vor den globalen gesellschaftlichen Herausforderungen im Winter und Frühjahr 2022 ab: Corona-Pandemie, Klimakrise, organisiertes Verbrechen und aktuell der Krieg in der Ukraine.
„Schuld & Schuldgefühle“ knüpft an den Kriminalroman „Freud & Leid“ von 2021/2023 an.
Der Autor arbeitet als Psychoanalytiker in eigener Praxis. Sigg Battenberger ist sein Pseudonym.
Hofmann, Franz Xaver, Dr. med.: 61 Jahre, Psychoanalytiker und Psychiater in Frankfurt am Main. Co-Kommissar wider Willen, ist diesmal kein Opfer
Bauer, Hans-Georg: 52 Jahre, Kriminalhauptkommissar, Leiter des Kommissariats 11 („Mordkommission“) in Frankfurt, war vor jetzt sieben Jahren Patient bei Dr. Hofmann; überlebt mehrere Mordanschläge, ist in einer tiefen Krise; mag Rosinenschnecken
Bauer, Annette: 52 Jahre, Sozialarbeiterin, Bauers EhefrauBen: 5 Jahre, kritischer Nachbar in der Gruberstr. 17, lauert gerne Patienten auf
Caravallo, Claudia, Rechtsanwältin in Offenbach
Hofmann, Constanze, Dr. rer. nat.: 58 Jahre, Meeresbiologin, Ehefrau von Dr. Hofmann, erleidet einen schweren Unfall
Hofmann, Justus: 25 Jahre, Stadtplaner, Sohn von Hofmann
Hofmann, Marie: 27 Jahre, Ärztin, Tochter von Hofmann
Homburger, Alfons, Dr. phil.: 56 Jahre, auch Anatol genannt, Psychologe und Psychoanalytiker, Freund von Hofmann, hilfreicher Gesprächspartner
Malzahn, Jutta: 63 Jahre, Sekretariat des Kommissariats 11
Melchior, Siri: Anfang 50, Psychologin, Psychoanalytikerin in großen Turbulenzen
Saleh, Dr. Oberärztin auf der Intensivstation im Vincenz-Krankenhaus Limburg
Siefert, Diana: 33 Jahre, Kriminaloberkommissarin
Strehlitz, Dr. Rechtsanwältin in Frankfurt-Sachsenhausen
Werner, Aaron: 44 Jahre, Kriminalhauptkommissar und Vertreter von Bauer
Müller, Susi: ca. 50 Jahre, handelt mit sog. Nahrungsergänzungsmitteln, sucht einen Mann
Ruschke, Anna Amalia: alias Miller, Anna, kurz: AR, später AM: 31 Jahre, ehemaliges Escort-Girl und Patientin von Dr. Hofmann
Patienten von Dr. Hofmann werden mit Initialen abgekürzt
***
Kapitel 1: Unerwartete Anrufe
Kapitel 2: Ein unerwartetes Wiedersehen
Kapitel 3: Ein öder Samstag im Februar
Kapitel 4: Zweiter Besuch bei Bauer
Kapitel 5: Mordversuch
Kapitel 6: Ein befremdlicher Sonntagabend
Kapitel 7: Zurück im Alltag
Kapitel 8: Dritter Besuch bei Bauer
Kapitel 9: Ben
Kapitel 10: Politische und private Fronten
Kapitel 11: Montag, 14. Februar 2022
Kapitel 12: Ein gewöhnlicher Dienstag
Kapitel 13: Mittwoch, 16. Februar
Kapitel 14: Im Größenwahn
Kapitel 15: Donnerstag 17. Februar
Kapitel 16: Kommissarin Siebert
Kapitel 17: Ankündigung einer Vorladung
Kapitel 18: Frau AR alias AM
Kapitel 19: Ein Wochenende in Ungewissheit
Kapitel 20: Die Vorladung
Kapitel 21: Bleierne, närrische Zeiten
Kapitel 22: Butter bei die Fische
Kapitel 23: Observation
Kapitel 24: Samstag I
Kapitel 25: Samstag II
Kapitel 26: Museumskonzert und anderes
Kapitel 27: Die OK, Corona, Russland und vieles mehr
Kapitel 28: Praxismontag
Kapitel 29: Carol
Kapitel 30: Bauer is back
Kapitel 31: Ein neuer Angriff
Kapitel 32: Was tun?
Kapitel 33: Bauer in Offenbach
Kapitel 34: Ein dritter Versuch
Kapitel 35: AM zum Dritten
Kapitel 36: Presseartikel im Lokalteil der Frankfurter Rundschau
Kapitel 37: Sonntag, den 13. März
Kapitel 38: Sonntagabend
Kapitel 39: I don’t like Mondays
Kapitel 40: Attacke
Kapitel 41: Siri M
Kapitel 42: Wieder dieser Ben
Kapitel 43: Witze
Kapitel 44: Samstag, der 19. März
Kapitel 45: Sonntag, der 20. März
Kapitel 46: Szenen einer Ehe
Kapitel 47: Bleierne Tage
Kapitel 48: Bauer kann es nicht lassen
Kapitel 49: Limburg
Kapitel 50: Pläne schmieden
Kapitel 51: Im Taunus
Kapitel 52: Letzter Abend
Kapitel 53: Donnerstag, 24. März
Kapitel 54: Krisenmanagement
Kapitel 55: Siri, zum Zweiten
Kapitel 56: Übertragung
Kapitel 57: Wochenende
Kapitel 58: Bauer schwimmt
Kapitel 59: Airbag
Kapitel 60: Spurensuche
Kapitel 61: Ursachensuche
Kapitel 62: Keiler
Kapitel 63: Trauriges Wochenende
Kapitel 64: Vier Geißeln der Menschheit
Kapitel 65: How are you?
Kapitel 66: Constanze
Kapitel 67: Zwei Monate später
Nachdem er seinen Patienten zur Tür gebracht und verabschiedet hatte, schaltete er seine Espressomaschine an und ging zum blinkenden Anrufbeantworter. Er drückte auf die Abruftaste, statt einer Nummer stand nur „Anonym“: „Guten Tag, Dr. Hofmann. Ich war einmal Patientin bei Ihnen und möchte einen Termin vereinbaren. Ginge es am Montag, den 14. Februar? Die Uhrzeit wäre beliebig. Ich melde mich heute oder morgen wieder. Bis dann.“
Dr. Hofmann war von der Stimme dieser namenlosen Anruferin wie elektrisiert, er erkannte sie sofort wieder, obwohl sie heiser und matt klang. Die Ereignisse des August 2020 rollten wie eine mächtige Welle an ihn heran und fast über ihn hinweg. Er hörte den Anruf noch zweimal ab, so als wolle er ganz sicher gehen, dass es kein Flashback oder keine halluzinatorische Wunscherfüllung, sondern wirklich die Stimme seiner ehemaligen Patientin war, wegen der er so sehr gelitten hatte. In der vergangenen Zeit hatte er sich mehrfach gefragt, wie es ihr wohl gehen mag, nachdem sie so plötzlich verschwunden war. Er musste sich auf seinen Bürostuhl setzen und erst einmal seine Gedanken und Gefühle sortieren.
Da gab es keinen Zweifel, es war Amalia R., für die er beinahe gestorben wäre. Im August 2020 kam ein Schlägertyp in seine Praxis und wollte Informationen – wahrscheinlich über diese Patientin – aus ihm herausprügeln; so klar war das anfangs nicht. Hofmann wurde lebensgefährlich verletzt; seine Patientin Amalia R. war seitdem verschwunden. Ihn erreichte aber später ein Lebenszeichen von ihr aus dem Ausland in Form von drei Postkarten, die bedeutungsvolle Werke des Surrealisten Magritte zeigten.
Amalia R. kam Anfang 2020 in einer schweren psychischen und existenziellen Krise in seine Praxis. Sie arbeitete als „Escort-Dame“ zuletzt im Dienst der Ndrangheta und wurde als Lockvogel für reiche und einflussreiche Männer benutzt, die bei ihren sexuellen Aktivitäten gefilmt und dann erpresst wurden. Das alleine wäre nicht so gefährlich gewesen, wenn nicht eine osteuropäische Mafia diese Geschäftsidee gewaltsam übernehmen wollte. Als Frau zwischen zwei Mafiaorganisationen zu geraten, war mit dem Leben schlechthin unvereinbar. Aussteigen war offenbar auch nicht vorgesehen – außer im Zinksarg der Gerichtsmedizin.
Hofmann war von der verführerischen und erotischen Ausstrahlung seiner Patientin damals mehr angetan, als ihm beruflich lieb sein konnte. Das mehrfach traumatisierte Leben dieser Frau berührte ihn sehr; er war beeindruckt, wie sie trotz dieser schwierigen Biographie ihr Leben gemeistert hatte - allerdings vergleichbar einem Ritt auf einer Rasierklinge.
Die nächste Analysepatientin klingelte. In ihrer Stunde musste Hofmann immer wieder an seine ehemalige Patientin Amalia R. denken. In der Mitte der Therapiestunde fragte ihn seine Patientin, die auf der Couch lag und ihn nicht sehen konnte: „Dr. Hofmann, sind Sie noch da?“ Hofmann fühlte sich ertappt und sagte nur: „Ja, natürlich.“ Sie: „Ich hatte das Gefühl, Sie sind woanders gedanklich unterwegs. Sie haben lange keinen Mucks von sich gegeben.“
Hofmann hatte jetzt die Möglichkeiten, nichts dazu zu sagen, oder dieses Gefühl als ein Problem der Patientin zu interpretieren, dass sie sich alleine und getrennt von ihm fühlte. Er entschied sich für die dritte Variante: „Ja, Ihr Gefühl stimmt, ich war gedanklich abgedriftet und mit etwas anderem beschäftigt, was nichts mit Ihnen zu tun hat.“
Die Patientin schwieg eine Weile; dann sagte sie: „Ich danke Ihnen, dass Sie so ehrlich sind. Nicht selten habe ich die Erfahrung gemacht, dass mir jemand in solchen Situationen einredete, ich bilde mir so etwas nur ein.“
Hofmann: „Sie haben ein feines Gefühl für Irritationen in der zwischenmenschlichen Kommunikation, verbal und averbal.“
„Erst war ich etwas ärgerlich, dass Sie gedanklich und gefühlsmäßig nicht ganz bei mir sind – quasi fremdgehen.“ Sie lacht über ihre Worte. „Jetzt denke ich aber, dass Sie irgendwelche Sorgen haben, weil es einem anderen Menschen, der Ihnen viel bedeutet, vielleicht schlechter geht als mir.“ Hofmann dachte sich, dass sie gemäß ihrer depressiven Struktur auf ihre eigenen Interessen verzichtet und sich hintanstellt.
Im Laufe der Therapiestunde hörte Hofmann nebenan im Büro zweimal das Telefon klingeln und das Umschalten auf die Mailbox. Er dachte sofort, dass das der angekündigte Anruf von Amalia R. sein könnte; er konnte das Ende der Therapiestunde kaum abwarten. Nach der Sitzung hörte er den Anrufbeantworter ab: „Hier ist Annette Bauer. Ich möchte Sie bitten, mich zurückzurufen; es geht um meinen Mann, Hans-Georg Bauer, der vor Jahren bei Ihnen Patient war. Es ist sehr wichtig. Ich erwarte Ihren Rückruf.“ Sie rief ein zweites Mal an, weil sie vergessen hatte, die Telefonnummer aufzusagen.
Hofmann war wie bei dem Anruf von Amalia R. erschrocken und beunruhigt. Bauer war zwar ein ehemaliger Patient, aber er war 2020 auch der ermittelnde Kommissar, der den Überfall auf ihn, die Tötung seiner Vermieterin, das Verschwinden von Amalia R. und einiges mehr untersucht hatte. Dieses Verbrechen schlug noch weiter große Wellen in die Politik und Justiz hinein. Während dieser Ermittlungsarbeit hatten sich er und der Kommissar auch besser, das heißt von einer menschlichen Seite kennengelernt und viel voneinander profitiert. Bauer, der Ex-Patient, besuchte 2020 Dr. Hofmann, als er schwer verletzt im Flügelhemd in der Klinik lag, was nicht ohne Komik war; die Rollen von Arzt und Patient waren vertauscht.
Hofmann musste sich erst einmal mit seiner komplizierten Kaffeemaschine einen starken Espresso zubereiten, die Maschine war ja gut vorgeheizt. Er fragte sich, was denn heute los sei, dass sich sowohl Amalia und auch Bauer, beziehungsweise seine Ehefrau zeitgleich bei ihm meldeten. Nimmt denn dieser Terror vom Sommer 2020 kein Ende? Die psychoanalytische Erfahrung ist, dass das, was nicht verstanden und durchgearbeitet wurde, wiederholt werden muss. Hofmann hatte das Gefühl, irgendetwas passiert um ihn herum; er hat es aber noch nicht ganz mitbekommen.
In der nächsten kurzen Pause rief er Frau Bauer an. Sie teilte ihm mit, dass ihr Mann schwer verletzt in der BG-Unfallklinik liege. Bei einem Einsatz wurde er niedergeschossen, er sei schwer verletzt und eine Kollegin getötet worden. Vielleicht habe Hofmann das in der Presse gelesen. Sie mache sich große Sorgen, weil ihr Mann nicht nur physisch, sondern auch psychisch schwer verletzt sei. Er sei völlig passiv und wirke auf sie sehr depressiv; so kenne sie ihn nicht. Sie könne ihn nur per Telefon oder Skype sprechen; wegen Corona bestehe im BG wie in anderen Kliniken ein Besuchsverbot. Sie wollte Dr. Hofmann fragen, ob er als Arzt einen Besuch am Krankenbett machen könne, weil die Klinik sich offenbar nur für die körperlichen Wunden kümmere.
Hofmann fragte als erstes, ob ihr Mann überhaupt mit einem Besuch von ihm am Krankenbett einverstanden sei. Sie verneinte, er wolle niemanden sehen und hören; sie habe das Gefühl, er sei völlig resigniert; sie sei froh, dass er nicht seine Pistole zur Hand habe; er könnte auch aus dem Fenster springen, was auf das Gleiche hinauslaufe. Sie mache sich einfach nur große, große Sorgen; sie glaube, dass er auf ihren Mann positiv einwirken und ihm helfen könne.
Hofmann war überzeugt, dass er seinen ehemaligen Patienten und Kommissar, der sich als kongenialer analytischer Fahnder erwiesen hatte, besuchen müsse. Er bat Frau Bauer, durch den Stationsarzt ein externes psychiatrisch-psychotherapeutisches Konsil anzufordern, sonst komme er nicht in die Klinik hinein. Die Anforderung des Konsils könne er per Fax oder eMail schicken. Am Samstagvormittag könne er ihren Mann in der Klinik besuchen. Frau Bauer war überglücklich und wollte den Zugang zur Klinik und Station veranlassen.
Kaum hatte Hofmann aufgelegt, klingelte das Telefon wieder; das Display zeigte „Anonym“. Hofmann war ganz aufgeregt. „Doktor Hofmann? Hier ist Ihre ehemalige Patientin, die mit den Postkarten“, sagte eine heisere Stimme. Es entstand eine kleine Pause. Hofmann hatte sich nicht geirrt, es war A.R.
„Ja, das freut mich sehr, von Ihnen zu hören“, sagte er und vermied die Nennung von Namen; denn sofort lag ein Schleier von Bedrohung und Angst in der Luft.
„Ja, das ist ganz meinerseits.“ Pause. „Ich hätte gerne am 14. Februar eine Therapiestunde bei Ihnen. Wäre das möglich?“ Hofmann schaute in den Kalender und nannte ihr eine Zeit. Sie bedankte sich und legte auf. Das Ganze dauerte keine 30 Sekunden.
Er saß noch eine Weile wie betäubt in seinem Büro vor dem Telefon. Zu gerne hätte er erfahren, warum sie diesen Termin bei ihm haben wollte; auf die Antwort musste er aber noch warten. Erst jetzt realisierte er, dass der nächste Patient schon zwei Mal geklingelt hatte.
Am Samstag, den 5. Februar, betrat Dr. Hofmann um elf Uhr das Foyer der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik im Norden Frankfurts und legte dem Pförtner die Konsilanforderung für Hans-Georg Bauer unterzeichnet von einem Dr. Abbas vor. Der Pförtner wollte erst auf der Station nachfragen, Hofmann nahm das Schreiben und sagte, „Danke nicht nötig, ich kenne den Weg“, was schlicht gelogen war. Der Pförtner rief ihm ein energisches „Stopp!“ hinterher und erläuterte, dass er ohne einen aktuellen negativen Corona-Schnelltest die Station nicht betreten dürfe. Hofmann wurde innerlich wütend, er hasste es, ausgebremst zu werden. In solchen Momenten hatte er sich angewöhnt, erst einmal innezuhalten und durchzuatmen; er fragte den Pförtner, wo er sich testen lassen könne. Auf dem Parkplatz der Unfallklinik stand ein Testmobil vom Roten Kreuz. In der Schlange wartend kam er emotional langsam wieder runter und akzeptierte diese Bedingungen zum Schutz der Patienten vor dem Covid-Virus. Die Inzidenzwerte stiegen täglich, sie lagen in Frankfurt gestern über 1000; in Deutschland starben täglich Hunderte im Kontext von Corona. Diese Restriktionen haben einen Sinn, aber sie nerven total, dachte Hofmann.
Sein Test fiel erwartungsgemäß negativ aus. Auf der Station wurde er dennoch wie ein Eindringling behandelt; er ließ aber nicht locker und verlangte freundlich, aber entschieden, Herrn Bauer zu untersuchen. Eine ältere Schwester meinte, das ginge nicht, da könne ja jeder kommen und Zutritt zu einem Patienten verlangen. Erst jetzt dämmerte ihm, dass Bauer vielleicht nach der Schießerei bewacht und abgeschirmt werde. Hofmann legte das Schreiben mit der Konsilanforderung des Stationsarztes und seinen Arztausweis vor, was die Schwester zu besänftigen schien. Sie wollte Dr. Abbas informieren, der zwar heute Dienst habe, aber zurzeit im OP sei. Hofmann fragte, ob Bauer unter Personenschutz stehe; die Schwester verneinte, den habe er nur in den ersten Wochen gehabt. Er wies darauf hin, dass die Ehefrau des Patienten ihn angefordert hätte, weil sie sich um die seelische Verfassung ihres Mannes große Sorgen machte. Es gehe um die Einschätzung der Suizidalität und Compliance für die Therapie. Außerdem kenne er Bauer. Das verstand die Schwester sehr wohl; sie selbst teilte Hofmann ihren Eindruck mit, dass der Patient Bauer immer stiller und depressiver wurde. Sie dachte für sich, einen Suizid könnte sie jetzt aber überhaupt nicht gebrauchen.
Sie führte Hofmann in einen Raum, wo er seine Kleidung in einen Spind einschließen konnte, er musste die Hände desinfizieren und einen OP-Kittel, Haube, Überschuhe und einen neuen Mund-Nasen-Schutz anziehen, bevor er das Krankenzimmer betreten durfte. Das sei nicht nur wegen Corona, sondern vielmehr wegen der aseptischen Bedingungen im Behandlungszimmer erforderlich. Hofmann sagte, dass er das gut nachvollziehen könne und ging sich umziehen.
Bauer war alleine in diesem Zimmer, er schien zu schlafen. Hofmann bemerkte die Infusionen am Arm und Oberschenkel, Drainagen, Perfusoren und einen Monitor, die blinkten und leise piepsten; die Luft im Zimmer war schlecht, sie roch nach Fäulnis und Desinfektion.
Bauer öffnete langsam die Augen und ein gequältes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Das ist ja eine Überraschung“, sagte er leise und richtete sich im Bett etwas auf. Es entstand eine längere Pause. Hofmann, der noch kein Wort gesagt hatte, nahm sich einen Stuhl und setzte sich in die Nähe des Bettes. Er wollte ihn erst einmal begrüßen und fragen, ob ihm sein Besuch überhaupt recht sei; doch dazu kam er nicht.
Bauer: „Unser letztes Treffen in einem Krankenhaus war anders: Sie waren der Patient und ich Ihr Besucher.“
„Ja, das stimmt und danach trafen wir uns mehrfach in meiner Praxis und hatten äußerst interessante Gespräche.“
„Daran erinnere ich mich gerne, der Sommer 2020 ist noch gar nicht so lange her.“ Bauer rutschte in seinem Bett in eine für ihn angenehmere Position. „Sie waren ein zäher Bursche, der es mir bei der Fahndung nach den Tätern nicht leichtgemacht hatte. Sie bestanden auf ihrer ärztlichen Schweigepflicht. Angenehm fand ich die Erörterungen bei Cappuccino und Keksen. Und das bei meinem ehemaligen Analytiker.“ Bauer lächelte. „Sie waren damals beinahe totgeschlagen worden, jetzt hat es mich einmal erwischt. Auch beruflich. Warum das alles passiert ist, ist mir nicht klar – genau wie damals bei Ihnen.“
„Wie geht es Ihnen jetzt?“, wollte Hofmann wissen; er merkte, dass Bauer lieber über damals reden wollte.
„Ich weiß, ich habe von Ihnen gelernt, dass Patient vom Lateinischen patiere oder pateo: erleiden, erdulden kommt. Wie geht es mir also, wollen Sie wissen?“ Bauer machte eine Pause. „Ich glaube: Mehr als beschissen.“ Er schaute an Hofmann vorbei und fuhr nach einer Pause fort: „Ich bin bei einem Einsatz unter Beschuss genommen worden, habe einen Lungendurchschuss, einen Steckschuss im Becken und ein Schuss hat meinen rechten Oberschenkelknochen zerfetzt. Die Verletzung dort hat sich entzündet. Die Heilung ist langwierig und war mit mehreren Operationen verbunden. So sieht’s aus.“ Schweigen.
Hofmann dachte an die körperlichen und auch seelischen Wunden. „Das heißt, Sie hätten auch tot sein können?“
„Ja. Wie Sie damals.“ Und weiter: „Geht’s Ihnen heute gut? Sie sehen jedenfalls gut aus.“
„Danke, danke. Sie möchten lieber über damals und am besten über mich sprechen?“
Bauer dachte nach: „Sie meinen, ich vermeide, über mich, mein Befinden und meinen beschissenen Zustand zu sprechen?“
„Ich glaube schon, dass Sie das tun und ungern darüber sprechen wollen, was war und wie es Ihnen jetzt damit geht.“ Nach einer kurzen Pause ergänzte Hofmann: „Das habe ich damals auch in einer gewissen Weise versucht – wie Sie vielleicht noch wissen.“ Bauer lächelte. Es entstand ein längeres Schweigen, dann gab er sich einen Ruck: „Es kommt mir alles wie in einem Film vor, einen Film über Wahnsinn, wie ein Albtraum; nur dass er nach dem Aufwachen nicht vorbei ist.“ Bauer starrte traurig ins Leere.
“Das kann ich gut nachfühlen. Möchten Sie mir schildern, was genau passiert ist?“
„Nein, ich glaube nicht. Ich will da nicht hingucken, obwohl es ständig in meinem Kopf herumkreiselt.“ Er trank aus einem Wasserglas. „Vielmehr möchte ich erst einmal wissen, wie es dazu kommt, dass Sie mich hier im Krankenhaus besuchen“, und schaute Hofmann ungehalten an.
Hofmann zögerte erst, dann sagte er ganz direkt: „Ganz einfach: Ihre Frau rief mich an. Sie macht sich große Sorgen um Sie. Sie bat mich, Sie hier zu besuchen. Dem komme ich gerne nach.“ Pause. „Ich wusste nichts von dem tragischen Ereignis, dass Sie so schwer verletzt wurden.“ Er wusste von Frau Bauer, dass eine Kollegin von Bauer bei diesem Angriff auf die Polizei ums Leben kam. Er fragte sich, ob sie ihm damals auch begegnet war. Er vermutete, dass der Tod dieser Kollegin seinem ehemaligen Patienten sehr naheging; vielleicht fühlte er sich sogar schuldig an ihrem Tod. Manchmal haben Menschen Schuldgefühle, weil sie überlebt haben oder andere nicht schützen konnten.
Bauer reagierte nicht; er schien gedanklich woanders unterwegs zu sein. Wo genau, würde Hofmann gerne wissen; er war aber mit Bauer nicht in einer analytischen Therapiesitzung, in der er seinen Patienten fragen könnte: „Woran denken Sie gerade?“ Es entstand ein Schweigen; 30 Sekunden können in einem Gespräch wie eine Ewigkeit vorkommen.
Bauer: „Sie wollen bestimmt wissen, was mir gerade durch den Kopf geht.“
Hofmann musste etwas lachen: „Ja, genau, daran habe ich gerade gedacht.“
„Sind wir hier in einer Therapiesitzung? Wie damals vor sieben Jahren?“ Bauer war leicht amüsiert.
„Nun, eine Therapiesitzung ist es hier nicht. Aber wir beide haben eine therapeutische Vorgeschichte, die uns auch jetzt helfen könnte. Was meinen Sie?“
„Sie meinen meine Therapie vor sieben Jahren? Und die Gespräche nach dem Überfall auf Sie und den Tod Ihrer Vermieterin vor fast zwei Jahren.“ Hofmann hatte lange nicht mehr an den Tod seiner Vermieterin im Zuge des Überfalls gedacht. Er nickte, es entstand eine Pause. „Ich schlage vor, Sie erzählen mir von dem schrecklichen Erlebnis, das Sie hier ins Unfallkrankenhaus gebracht hat.“
Die Tür ging auf und ein Krankenpfleger kam mit dem Mittagessen für Patient Bauer herein. Damit war das Gespräch unterbrochen. Er fragte Bauer, ob er etwas zu trinken haben möchte. Er bat um eine Flasche Mineralwasser mit Sprudel und zwei Gläser. Beides wurde ihm gebracht.
„2020 gab es bei Ihnen wohlschmeckenden Cappuccino. Haben Sie Ihre Maschine noch?“
„Ja, natürlich, sie läuft weiterhin einwandfrei.“
Bauer lachte: „Die haben ja die Idioten beim zweiten Einbruch geklaut, zusammen mit Ihrem Archiv! Und wir von der Frankfurter Kripo haben Ihnen das Archiv und die Espressomaschine am gleichen Tag wieder zurückgebracht. Schneller geht’s nicht. Oder?“ Auch Hofmann musste lachen: „Nein, schneller geht’s wirklich nicht. Die Kripo hat den Räubern am gleichen Tag das Patientenarchiv und die Espressomaschine abgejagt, musste aber die zurückeroberte Beute erst einmal inventarisieren und gab sie einige Tage später wohlbehalten an mich zurück, wenn ich das richtigstellen darf.“
„Meinetwegen! Und vergessen Sie nicht den geklauten James-Eams-Chair Aluminium-Touch-Pad von Vitra, dieses edle Teil!“ Bauer musste richtig lachen, Hofmann lachte auch: „Soft pad, nicht touch pad. Interessanter Gedanke.“
Es entstand eine Pause. Sie beide tranken Mineralwasser der Marke Rhönsprudel, Bauer ließ das Mittagessen stehen. Hofmann wusste, dass Bauer in der Rhön und in Fulda aufgewachsen war. Er erinnerte sich an einen Satz Bauers aus der Psychotherapie: „Die Rhön ist schön – ohne Rhöner ist sie schöner.“ Der Spruch kam zwar aus lokalen Karnevalveranstaltungen, passte aber zu Bauers kritischer Haltung seiner Heimat und seine Familie gegenüber.
Dr. Hofmann wollte seinen Konsilauftrag erfüllen, aber auch seinen persönlichen Krankenbesuch fortsetzen, als die ihm bekannte Krankenschwester das Zimmer betrat und feststellte, dass der Herr Bauer jetzt Ruhe bräuchte; außerdem habe er sein Mittagessen nicht gegessen. Es sei eine längere Wundversorgung nötig, wo der Konsil-Doktor im Wege wäre.
Hofmann verstand dies als Rauswurf. Er verabredete mit Bauer, ihn morgen am Sonntagnachmittag noch einmal zu besuchen. „Zweiter Teil unseres Gesprächs.“
Bauer stimmte zu: „Ja, das machen wir.“
Hofmann hätte gerne den Dr. Abbas gesprochen; der war aber noch im OP zugange. Offenbar hatte dieser Unfallchirurg auch ein Gefühl für seelische Traumata, sonst hätte er nicht dieses externe Konsil auf Wunsch von Frau Bauer veranlasst.
Die Zeit und das Lebensgefühl vom August und September 2020 wurde wieder lebendig. Hofmann war damals nach seinem Krankenhausaufenthalt in einem körperlich und seelisch angeschlagenen Zustand: Trauer, Angst, ein Gefühl von Unwirklichkeit, das man Derealisation und Depersonalisation nennt. Seine heile Welt war durch den Überfall auf ihn persönlich in seiner Praxis zusammengebrochen, er wurde lebensgefährlich verletzt und hätte sterben können, wenn er nicht durch Zufall von seiner Putzfrau befreit und gerettet worden wäre. Sein Schicksal war durch den gewaltsamen Tod der hochbetagten Vermieterin Frau Sandberg überschattet; hinzu kam das Verschwinden seiner Patientin, um die er sich große Sorgen machte.
Damals war Hofmann alleine und auf sich gestellt; seine Frau, die als Meeresbiologin in der Antarktis auf einer Forschungsstation im Einsatz war, und seine Kinder waren im Ausland unterwegs; Kontakte im Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreis waren wegen der Coronarestriktionen ausgedünnt. Es wurde viel telefoniert, aber wenig live gesprochen und persönlich kommuniziert. In dieser Situation war sein ehemaliger Patient und für die Gewalttat zuständiger Kommissar Bauer ein wichtiger Gesprächspartner. Diese Gespräche waren schwierig, aber produktiv für beide.
Das Leben schien damals wie heute leer und öde, den Unterschied machte das Wetter: Heute nasskalter Februar, damals sommerliche Extremtemperaturen mit 40°C. Die Klimakrise war allgegenwärtig genauso wie die Corona-Pandemie, die aber im Vergleich zu heute recht harmlos mit Inzidenzzahlen von 20 das gesellschaftliche Leben lahmgelegt hatte. Heute ging die Inzidenzzahl auf 1000 hoch. In dieser zweiten Pandemiewelle starben täglich bis zu 300 Menschen an Covid-19-Infektionen, meist ältere und chronisch kranke Menschen - nur in Deutschland.
Hinzu kam für Hofmann damals die unheimliche Bedrohung durch das organisierte Verbrechen, das wie eine gefährliche, nicht sichtbare Seuche in der Luft lag. Durch die beiden Anrufe war bei ihm diese gefährliche Trias von Klimakatastrophe, Corona und organisiertes Verbrechen wieder sehr präsent.
Hofmann fuhr mit dem Auto vom Unfallkrankenhaus in die Innenstadt; er wollte einige Besorgungen erledigen. In der Telemannstraße fand er einen Parkplatz und ging zum Manufactum-Laden im neuen Zürich-Haus. Dort kaufte er sich ein neues Gemüsemesser, eine Möbelpolitur, die es nur dort gab, und probierte eine Schirmmütze aus, die ihm aber ziemlich affig vorkam. Eigentlich suchte er eine mit Fellfutter, bei der er einen Ohrenschutz herausklappen konnte, wenn es klirrend kalt war. So etwas gab es aber nicht. So kaufte er sich eine Batschkapp, wie man in Frankfurt sagt, aus Harris-Tweet und setzte sie gleich auf.
Auf dem Platz vor der Alten Oper hielten sich einige Hundert Demonstranten, die sich Spaziergänger nannten, auf und skandierten Parolen wie „Deutschland: Corona-Diktatur“, „Keine Impflicht!“. Zahlreiche Polizisten umgaben sie und ließen sie gewähren, obwohl sie eng zusammenstanden und keine Masken trugen. In einer Entfernung stand eine kleinere Gruppe, die gegen die Impfgegner demonstrierten mit Plakaten wie: „Lasst Euch impfen“ und „Infiziert Euch. Dann wisst ihr Bescheid, ihr Dummköpfe!“
In der Gruppe der Impfgegner entdeckte Hofmann eine seiner Patientinnen, von der er wusste, dass sie sich nicht impfen lassen wollte; sie hatte eine Reihe von Ängsten, gefüttert von bizarren Pseudoargumenten und Verschwörungstheorien, die ihr durch ihre Therapie allmählich immer lächerlicher vorkamen. Sie hatte ihn offenbar nicht wahrgenommen, die Batschkapp tarnte ihn. Er fragte sich, wie die nächste Therapiestunde laufen würde.
In einer Bäckerei in der Fressgass kaufte er zwei Rosinenschnecken und ein Roggenbrot. Viel brauchte er dieser Tage nicht, weil er alleine zuhause war. Dann schlenderte er noch durch die Innenstadt und trank einen Cappuccino; er sah sowohl Bekannte, Kollegen und einen Patienten von Ferne an sich vorbeilaufen, die meisten hatten FFP2-Masken auf. Es war einfach eine verrückte Atmosphäre.
Mit den Rosinenschnecken in einer Tüte und weiteren Unterlagen betrat Dr. Hofmann gegen 15 Uhr das Foyer der BG-Unfallklinik. Heute am Sonntagnachmittag war ein anderer Zerberus in der Pförtnerloge; er legte seinen Booster-Impfnachweis, den negativen Corona-Schnelltest von gestern und die Konsilanforderung von Dr. Abbas vor. Der Mann warf einen kurzen Blick darauf und winkte Hofmann kommentarlos mit einer wischenden Handbewegung durch. Freundlichkeit war hier ein Fremdwort. Am Aufzug wartend war er fast etwas enttäuscht, dass er die erste Hürde so widerstandlos nehmen konnte. Gleiches geschah auf der Station, er musste sich wie gestern umziehen, bevor er das Krankenzimmer von Kommissar Bauer betreten durfte.
„Guten Tag, Herr Kommissar.“ Bauer lag im Bett und fuhr mit der elektrischen Bedienung das Kopfende hoch.
„Guten Tag, Herr Dr. Hofmann.“
„Ich habe uns Rosinenschneckchen mitgebracht.“
„Wunderbar. Dann besorgen Sie uns bitte auch zwei Cappuccini, draußen gibt es einen Kaffeeautomat; der Cappuccino schmeckt gar nicht so schlecht.“
Hofmann kam mit zwei Bechern zurück und nahm am Krankenbett in einer Distanz zu Bauer Platz; die Tüte mit den zwei Rosinenschnecken riss er auf und legte sie auf den Nachttisch.
„Das gefällt mir! Das ist ja fast wie damals in Ihrer Praxis, wo Sie mir feinen Kaffee und Mineralwasser anboten und ich die Rosinenschnecken mitbrachte. Wir hatten zähe, aber interessante Gespräche über Schweigepflicht, Bellingcat, Rousseau, Hobbes und andere, wenn ich mich recht entsinne.“
„Das stimmt. Nicht nur über die, sondern auch über das organisierte Verbrechen. Ich vermute, die sind der Grund für Ihre missliche Lage heute?“ Hofmann merkte an Bauers Mimik, dass dieser Satz die initiale Stimmung trübte; er wollte das Gespräch auf die offenbar traumatischen Ereignisse lenken und verstehen, was genau vorgefallen war. Bauer hatte schöne Erinnerungen an die Gespräche im Sommer 2020, da war er kein Patient, Hofmann war der Leidende. Etwas gequält sagte der Kommissar: „Ich weiß bis heute nicht, was damals Anfang Januar genau los war, wer uns beschossen hat und so weiter.“ Hofmann zeigt darüber sein Erstaunen. „Ja, die Kollegen haben mir jedenfalls noch nichts Näheres gesagt, was mich persönlich sehr ärgert. Vielleicht wollen sie mich schonen. So ein Quatsch! Es war ganz klar ein Hinterhalt, eine Falle; jemand wollte sich an der Polizei oder gar an mir persönlich rächen. Es gab vorab Drohungen, plumpe Drohungen, nicht so symbolträchtige, wie sie die Mafia zu versenden pflegt: eine Gewehrpatrone oder abgeschnittenen Finger oder ähnliches.“ Bauer biss in die Rosinenschnecke.
„Eine Falle? Ein Racheakt? Wofür?“
„Das weiß ich eben nicht. Es ist genauso gewesen, wie bei Ihnen damals. Wir hatten ja herausbekommen, wer Sie überfallen hatte, aber nicht wer der Auftraggeber war und was das Ganze eigentlich sollte. Es hing mit Ihrer Patientin, der Prostituierten, zusammen, deren prominente Kundschaft wurde ja von der OK erpresst.“ Bauer schob nach: „OK ist die organisierte Kriminalität, Verbrechersyndikate.“
Hofmann fiel der Anruf dieser Ex-Patientin ein, sagte aber kein Wort davon. Bauer erwähnte nicht, dass eine Kollegin dabei ums Leben kam. Hofmann entschied sich, dieses Faktum direkt anzusprechen. „Dabei wurde Ihre Kollegin getötet.“
Bauer hörte auf zu kauen und legte das Kaffeestückchen weg. Nach einer Weile sagte er: „Ja, furchtbar. Das geht mir ständig durch den Kopf.“ Und nach einer Pause: „Ich war irgendwie naiv, unvorsichtig, als wir durch einen anonymen Anrufer zu einem angeblichen Toten gerufen wurden. Da war kein Toter. Da wurde gleich das Feuer aus einem Hinterhalt eröffnet. Es sollte eine Hinrichtung werden.“
„Das ist wirklich brutal.“ Und nach einer kleinen Pause: “Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich Vorwürfe machen.“ Bauer schwieg. „Vorwürfe, dass Sie das Leben Ihrer Kollegin nicht schützen konnten?“ Bauer sagte nichts; es entstand ein längeres Schweigen.
„Ich hatte kurz vorher mit ihr noch einen richtigen Krach, weil ihre Art mit bestimmten Abläufen umzugehen, ungenau, ja unprofessionell war. Eigentlich waren es nur Kleinigkeiten. Die hatten mich geärgert. Sie war erst 32 Jahre alt.“ Bauer kämpfte mit den Tränen. „Unser Job ist bekanntermaßen immer gefährlich; man weiß ja nie, was einen erwartet, wenn man zu einem Tatort eilt oder um die Ecke kommt.“
„Machte Ihnen jemand Vorwürfe?“
„Offen hat das niemand ausgesprochen. Ich mache mir selber die meisten Vorhaltungen; ich bin ja der Chef und trage eine besondere Verantwortung für meine Leute.“
„Es hört sich so an, als belaste Sie zusätzlich, dass Sie beide in einem Streit quasi auseinandergingen.“
„Ja, jetzt kann nichts mehr mit ihr geklärt werden. Sie ist tot. Aus. Vorbei.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Meine Tochter Bettina hat übrigens bei der Kripo mit ihrer Ausbildung angefangen. Ich hatte ihr Interesse, eine Bullin zu werden, wie sie einmal sagte, sehr unterstützt und mich darüber gefreut. Aber jetzt? Ich hab‘ da große Zweifel.“
„Sie fühlen sich schuldig am Tod Ihrer jungen Kollegin?“
Bauer nickte und fluchte: „Ja natürlich, verdammte Scheiße!“
Nach einem längeren Schweigen fragte Hofmann, ob denn in der letzten Zeit noch andere unangenehme Dinge passiert seien. Er dachte sich, dass die depressive Reaktion noch tiefere Gründe haben könnte.
„Als Kripomann gibt es ständig unangenehme Dinge, Anlass für Ärger und ohnmächtige Wut. Wo wir auftauchen, freuen sich die wenigsten Leute. Wenn jemand nur beliebt sein will, dann ist das der falsche Job. Wir riskieren täglich unser Leben und stehen sogar gelegentlich mit einem Fuß im Knast, weil wir etwas tun oder auch nicht tun. Egal! Wir schützen das Gesetz, fangen Verbrecher und müssen uns vor Gericht dafür auch noch rechtfertigen. Dass Strafverteidiger alle Register ziehen und mit Scheiße nach uns werfen, ist deren Job. Wenn Gerichte uns aber nicht schützen, sondern eher die, die sie verurteilen sollten, dann kann man schon einmal in eine Sinnkrise kommen. Das ist unser Alltag, unsere Realität, wie Sie sagen würden. Wir sind ja die Exekutive; entscheiden über Schuld und Strafe müssen andere.“
„Und privat?“
„Was meinen Sie damit? Da läuft eigentlich alles im grünen Bereich.“
„Uneigentlich auch?“
Bauer lächelte. „Diesen Trick kenne ich ja aus meiner Therapie bei Ihnen.“ Nach einer Pause: „Ja, vor einem Jahr ist mein Vater unerwartet gestorben. Meinen Sie so etwas?“
„Das tut mir leid. Wie alte wurde er?“
„82. Er jammerte viel über sich und alles und war ständig unzufrieden. Dann war er plötzlich tot; einfach weg von heut‘ auf morgen. Das ist immer noch schwer zu fassen.“
„So ein plötzlicher Verlust kann sehr schmerzlich sein, weil nichts zu klären und kein Abschied möglich war. Wie bei Ihrer Kollegin.“
Bauer wischte sich Tränen aus den Augen und sagte, nachdem er sich wieder gefangen hatte: „Ja, das hätte ich gerne. Ich hätte gerne noch einiges über uns geklärt, wenngleich ich immer das Gefühl hatte, da gäbe es keine Klärung, kein Verständnis. Er war starr wie ein Panzer. Aber einiges wäre ich doch gerne noch losgeworden, auch wenn er nichts davon hätte annehmen könnte. Nun ja, das muss ich jetzt mit mir alleine ausmachen. Bei meiner Kollegin ist es was anderes.“
„Was wäre das zum Beispiel?“
„Bin ich hier wieder in einer Therapiesitzung?“
„Nennen Sie es, wie Sie wollen. Mein Eindruck ist, dass ein plötzlicher Tod und die Unmöglichkeit, noch einiges zu klären und weniger belastet auseinanderzugehen, immer einen großen Konflikt bedeutet. Ich denke, dass Sie sich wegen Ihres Vaters und Ihrer Kollegin deswegen schlecht und schuldig fühlen.“ Hofmann wartete eine Reaktion ab; es gab aber keine; Bauer schwieg, er schien nachzudenken.
„Es gibt aber einen Unterschied zwischen Schuld und Schuldgefühl. Für das Erste ist die Justitia zuständig.“
„Und das Zweite, die Schuldgefühle sind Ihr täglich‘ Brot.“
„Ja, damit habe ich bei meinen Patienten häufig zu tun. In der Fantasie können wir uns für alles Mögliche schuldig fühlen, ohne in Wirklichkeit schuldig zu sein.“
„Das kommt mir aus meiner Therapie sehr bekannt vor. Bei den Schuldgefühlen gibt es ja noch ein weiteres unangenehmes Gefühl.“
„Sie meinen die Schamgefühle.“
In diesem Moment kommt eine Schwester herein, fragt Bauer nach seinem Befinden und möchte einige Messungen vornehmen wie Sauerstoffsättigung, Temperatur, Puls und Blutdruck, außerdem eine Spritze in die Bauchdecke zur Thromboseprophylaxe. Sie wollte auch nach den Verbänden sehen. Dabei schaute sie Hofmann an, dass er jetzt nicht erwünscht sei.
„Der Besuch ist Arzt. Von mir aus kann er dabei zugucken.“
Hofmann dachte, dass es schön wäre, man könnte Scham- und Schuldgefühle auch einfach messen und normale und pathologische Werte definieren. Bevor die Schwester loslegte, verabschiedete sich Hofmann. „Ich komme irgendwann wieder, wenn es recht ist.“
„Immer“, sagte Bauer und hob die Hand und winkte.
Hofmann nahm die beiden Kaffeebecher und brachte sie zum Automaten zurück. Am Ende des Flures sah er am Fenster einen Mann im weißen Kittel, der sowohl in sein Handy schaute, als auch die Station und ihn beobachtete. Als sich Hofmann in dem Kabuff umzog, sah er durch die halboffene Tür, wie die Schwester mit ihrem Wagen aus Bauers Zimmer kam und in ein anderes Zimmer fuhr. Der Weißkittel ging langsam an der Tür des Kabuffs vorbei und bemerkte ihn nicht. Irgendwie passte da einiges nicht, dachte Hofmann: Er trug eine blaue OP-Maske und eine violette Kopfhaube trotz Glatze, der Kittel war zu eng für den breitschultrigen Schrank, die Schuhe waren klobige, schwarze Schnürschuhe; vor Bauers Zimmer zog er blaue Einmalhandschuhe an und trat ein.
Hofmann stand einige Sekunden wie paralysiert da und bekam dann einen heftigen Schreck: Ihm wurde plötzlich bewusst, dass gleich etwas Gewaltsames ablaufen und Bauer in Gefahr sein könnte. Er musste sich mit irgendwas wappnen und sah sich in dem Lagerraum um. Neben Schränken und Regalen mit Wäsche standen Infusionsgerätschaften, in der Ecke ein zerlegter Ständer; er zog das Rohr aus dem Fuß, ging zu Bauers Zimmer und trat ohne anzuklopfen ein.
Zu seinem Entsetzen sah er, wie sich der weiße Schrank über Bauer neigte und ihm ein Kissen ins Gesicht drückte. Er war im Begriff, Bauer zu ersticken, zu töten. Bauer strampelte mit einem Bein. Hofmann schrie den Mann an: „Hey, was machen Sie da?“ Der wandte sich rasch um und griff in seine Kitteltasche; in diesem Moment schlug Hofmann mit dem Metallrohr zu und traf den Täter an der Schläfe, der taumelte nur Richtung Bett; Hofmann schlug ein zweites Mal zu, diesmal kräftig auf dem Hinterkopf. Dann fiel der Mann quer auf Bauer, der vor Schmerzen aufschrie. Hofmann drückte die Klingel, er brauchte dringend Hilfe; er wälzte den bewusstlosen Koloss vom Bett und ließ ihn auf den Boden plumpsen, dabei schlug er mit dem Kopf auf den Fuß eines Infusionsständers; aus einer Kopfplatzwunde trat Blut aus. Hofmann fummelte aus der Kitteltasche des Angreifers eine Pistole, vor Schreck ließ er sie fallen und kickte sie Richtung Fenster unter den Vorhang. Zitternd rief er auf seinem Handy den Polizeinotruf an und schilderte etwas wirr den Vorgang. „Das Opfer ist Kommissar Bauer. Kommen Sie rasch; der Täter ist bewaffnet und nur vorübergehend bewusstlos.“
In seiner Not lief er auf den Flur und rief um Hilfe. Nichts passierte. Er fand in einem anderen Zimmer die Schwester und herrschte sie an, sie müsse sofort mitkommen. Beim Eintreten in Bauers Zimmer, ließ sie einen gellenden Schrei los und stand wie gelähmt vor dem am Boden liegenden und blutenden als Arzt verkleideten Schrank, der sich langsam zu rekeln begann. „Ich kann ihn doch nicht mehrfach bewusstlosschlagen“, fluchte Hofman; er hatte Angst, ihm ein Schädelhirntrauma zu verpassen oder ihn totzuschlagen.
Die junge Schwester war immer noch paralysiert und Hofmann sprach sie energisch an, er brauche sofort ein Seil, irgendwas, um den Mann zu fesseln - und zwar schnell! Das verstand sie und verschwand. Es dauerte eine kleine Ewigkeit. Bauer lag benommen und blass im Bett, war aber ansprechbar und stammelte irgendwas. Er wollte sich aufrichten, fiel aber wieder zurück. Hofmann konnte dazu nichts sagen, drückte Bauer nur kurz am Oberarm und sagte: „Keine Angst, das kriegen wir hin.“ Die Schwester kam mit zwei Infusionsbestecken und brachte Verstärkung mit, einen kräftigen älteren Pfleger. Hofmann zeigte auf Bauer und sagte, dass er Sauerstoff brauchte, und dann auf den am Boden liegenden Pseudoarzt: „Den müssen wir fesseln. Der ist gefährlich.“ Der Pfleger kniete sich auf den in seinem Blut liegenden Mann, der immer munterer wurde. Er versuchte, beide Arme nach hinten zu biegen, was wegen des Widerstands nicht gelang. Hofmann riss ein Infusionsbesteck auf, band den Schlauch um ein Handgelenk und der Pfleger zerrte energisch daran, bis er auch den anderen Arm fixieren konnte. Sie zogen ihn wie ein gefesseltes Tier weg von Bauers Bett; dabei gab es eine längere Blutspur. Sie wollten die Beine zusammenbinden, doch der Täter begann, um sich zu treten, ein Fesseln war unmöglich, er versuchte sogar aufzustehen.
Bauer sah dem Nahkampftreiben zu und sagte: „Den werden Sie so nicht bändigen. Der braucht noch eine Narkose.“ Hofmann überlegte, ob er noch ein drittes Mal mit dem Rohr zuschlagen müsste; wenn der Killer sich wirklich aufsetzen würde, wäre das unvermeidbar. Hofmann schrie den Mann an. „Bleiben Sie liegen, sonst schlage ich Ihnen den Schädel ein!“ Er war über seine eigenen Worte erschrocken. Der Gangster war von dieser Ankündigung nur beeindruckt und kämpfte weiter. Da nahm der Pfleger kurzerhand das Metallrohr aus Hofmanns Hand und schlug dem Tobenden erst ins Gesicht und dann zweimal kräftig auf das Schienbein, der schmerzhaft aufschrie: „Liegenbleiben, sonst krachts!“ Der Pfleger, den die Schwester mit Kurt ansprach, schlug zur Bekräftigung seiner Worte noch zweimal auf das andere Schienbein.
Die Schwester wandte sich dem Patienten Bauer zu; er war käseweiß vor Schreck, aufstehen durfte und konnte er nicht wegen der Drainagevorrichtung am Oberschenkel. Sie legte ihm eine Sauerstoffnasenbrille an.
In der Zwischenzeit traf der Sicherheitsdienst des Krankenhauses ein, ein Mann in der Uniform eines Wach- und Schließdienstes; er war der Einzige, der in diesem Raum noch einen Mundschutz trug. Drei Männer standen um den am Boden liegenden, gefesselten und blutenden Mann im weißen Kittel herum, dem dadurch klar war, dass die anderen in der Überzahl waren; ohne seine Knarre war er ein Nichts. Der Sicherheitsmann rief seine Zentrale an und fragte in einem sächsischen Akzent, was er tun solle. Abwarten auf neue Anweisungen, war die Antwort.
Im nächsten Moment erschienen zwei Polizisten im Zimmer. Hofmann schilderte kurz und knapp den Vorgang, der zu der aktuellen Situation geführt hatte. Einer der Polizisten begrüßte Kommissar Bauer wie einen alten Bekannten. In diesem Moment versuchte der Täter aufzustehen, sodass eine Rangelei und eine Schreierei entstanden; endlich wurden ihm Handschellen angelegt und er wurde sogar auf einen Stuhl gesetzt; Blut lief über sein Gesicht und den Arztkittel, er sah übel aus, er zog eine Fratze, teils vor Schmerzen, teils vor Verachtung. Einer der Polizisten fragte nach seinem Namen, er bekam aber keine Antwort. Auch die Durchsuchung seiner Kleidung ergab keine Hinweise auf seine Personalien. Es fand sich nur ein Autoschlüssel, Marke BMW.
Ein Mann, der sich als Kriminalkommissar Werner kurz vorstellte, betrat das Zimmer. Er begrüßte den Patienten Bauer geradezu herzlich und fragte ihn, was geschehen sei. Hofmann wusste, dass Bauer Werners Chef des Kommissariats 11 war. Die Mordkommission, wie in den Krimis immer gesagt wurde, gab es nicht mehr, sie hieß jetzt Kriminalkommission für Kapitaldelikte, worunter Morde, Tötungen und schwere Körperverletzung zählten. Bauer deutete auf Hofmann: „Fragen Sie den Dr. Hofmann, der hat mir eben das Leben gerettet.“
Weitere Personen trafen ein, ein Oberarzt der Traumatologie und eine Anästhesistin, wie sie beiläufig erwähnten. Hofmann erzählte zum dritten Mal, was sich hier ereignet hatte; ihm fiel jetzt erst die Pistole ein, die in der Ecke am Fenster lag. Der Kommissar hob sie vorsichtig auf und ließ sie in eine Plastiktüte gleiten. Zwei weitere Polizisten in Uniform und eine Kommissarin in Zivil kamen hinzu, das Patientenzimmer war ziemlich voll. Bauer, das Opfer, und der Mann, der ihn töten wollte, gingen in der Gruppe regelrecht unter.
Kommissar Werner ordnete an, den Täter, der deutlich benommen und nicht voll ansprechbar war, ärztlich versorgen zu lassen; zwei Polizisten und die Kommissarin führten ihn in einem Rollstuhl sitzend in Handschellen und Fußfesseln ab in die chirurgische Ambulanz; danach solle er in polizeilichen Gewahrsam genommen werden; der Mann sei gefährlich und aggressiv. Bauer rief noch: „Lasst ihn nicht laufen! Ich kenne meine Pappenheimer.“ Und Werner sagte beiläufig, hoffentlich gibt es hier im Haus keine Komplizen, die ihn befreien wollen. Er forderte Verstärkung an.
Das ca. ein Meter lange Rohr wurde in eine viel zu kurze Plastiktüte gesteckt. Werner nahm die Personalien von Dr. Hofmann, Schwester Beate, Pfleger Kurt, dem Sachsen vom Sicherheitsdienst und beiden Ärzten auf. Er fragte, in welchem Raum er ein Protokoll aufnehmen lassen könnte.
Zu Hofmann sagte Kommissar Werner: „Wir kennen uns von den Überfällen im Sommer 2020 in der Gruberstraße hier im Dornbuschviertel.“ Hofmann konnte sich nicht an ihn erinnern, er war ihm bestimmt nicht begegnet.
Hofmann verabschiedete sich von Bauer, der wieder etwas mehr Farbe im Gesicht hatte mit den Worten, dass er sich wieder melden werde. Bauer bedankte sich bei ihm: „Ohne Sie wäre ich wahrscheinlich tot. Ich freue mich, wenn Sie wieder vorbeikommen. Rosinenschneckchen wären fein.“ Bauer war wohl wieder gut beieinander.
Schwester Beate, Pfleger Kurt und Hofmann wurden nacheinander in einem Arztzimmer befragt. Ein Polizist holte eine Art Scanner heraus und nahm Hofmanns Fingerabdrücke auf. Seine Abdrücke seien auf dem Rohr und vermutlich auf der Pistole. Er fühlte sich dadurch eher wie ein Täter und nicht wie ein Retter, der selbst in Lebensgefahr war. Immerhin musste er nicht zur erkennungsdienstlichen Behandlung ins Präsidium. Ein Dankeschön für seine geistesgegenwärtige Reaktion wäre eigentlich auch ganz nett gewesen, dachte er. Er wollte den Kommissar Bauer doch nur besuchen, den ersten Besuch von gestern abrunden. Jetzt wurde er zum Retter, Kämpfer, Gewalttäter und Zeuge wider Willen.
Hofmann saß noch eine Weile in seinem Auto auf dem Parkplatz der BG-Unfallklinik. Es war inzwischen nach 19 Uhr. Mehrere Polizeiautos standen kreuz und quer vor dem Haupteingang. Zwei Polizisten suchten offenbar einen bestimmten PKW oder irgendetwas anderes. Hofmann musste die Ereignisse erst noch verdauen: Beinahe wäre sein ehemaliger Patient und ermittelnder Kommissar ermordet worden; beinahe hätte er selbst einen Menschen totschlagen können; so starke Affekte von Angst, Wut und Aggression waren freigesetzt worden; ein einziger Albtraum.
Der ältere Polizist klopfte an Hofmanns Seitenfenster und sagte nur: „Saubere Arbeit. Vielen Dank für Ihre Courage. Sowas ist selten geworden.“ Hofmann war über diese Aussage berührt: „Danke, das ist sehr nett von Ihnen. Das war aber selbstverständlich. Mir kommt das Ganze aber noch total irreal und wahnwitzig vor.“ „Mir nicht. Das ist unsere Realität“, sagte der Beamte, ging weiter und leuchtete in parkende Autos.
Bevor Hofmann losfuhr, bestellte er bei seinem Italiener seine Lieblingspizza alla Chef und einen italienischen Salat. Er verspürte langsam großen Hunger in sich aufsteigen; offenbar hatte der Stress eine Menge Kalorien verbrannt. Er fuhr Richtung Friedberger Landstraße, ihm kam eine Polizeistreife und ein Mannschaftswagen mit Blaulicht entgegen.
Seit einigen Monaten lebte Dr. Hofmann alleine; er fragte sich, ob er seine Frau anrufen sollte. Er wollte den erlebten Wahnsinn gerne mit einer vertrauten Person teilen. Aber sie war nicht mehr seine Vertraute, sie hatte ihn wegen eines anderen Mannes vor einem halben Jahr verlassen und lebte in Norddeutschland; das musste sich Hofmann immer wieder neu bewusst machen. Daran wollte er jetzt nicht denken. Es kann auch sein, dass sie wieder in der Antarktis oder sonst wo unterwegs war. Er war nicht auf dem Laufenden, er war nicht mehr Teil ihres Lebens.
Auf dem Weg nach Ginnheim rief er daher seinen Freund und Kollegen Alfons an.
„Hier ist Franz Hofmann. Wie geht’s euch? Passt der Anruf?“
„Ja, er passt gut. Wir haben jetzt viel Zeit.“
„Ist ja toll, viel Zeit. Wie das?“
„Wir sind Corona positiv. Seit gestern, PCR bestätigt und amtlich. Wir sind laut Statistik damit nicht alleine. Schwacher Trost.“
„Oh, das tut mir leid. Habt ihr Beschwerden?“
„Ich habe komischerweise kaum Beschwerden, fühle mich nur schlapp, Hannelore hat Hals- und Gliederschmerzen, etwas Fieber und einen trockenen Husten. Daphne ist noch negativ, meine Schwiegermutter auch.“
Dann unterhielten sie sich über ihren Impfstatus, alle dreimal geimpft, zuletzt im November. Die Omikron-Variante soll ja sehr infektiös, aber weniger heftig sein. Die gesamte Familie müsste zehn Tage in Quarantäne bleiben; sie machten sich Sorgen um Hannelores betagte Mutter, sie darf nicht erkranken. Die Versorgung in der Familie wäre schwierig. Sie hätten beschlossen, die Räume des Hauses aufzuteilen, in einen positiven und einen negativen Bereich; die alte Dame werde von der Enkelin versorgt, täglicher Schnelltest inklusive. Alfons musste seine psychoanalytische Praxis für die nächste Zeit schließen; die Patienten seien seit Samstag informiert, zwei haben sich inzwischen auch positiv gemeldet. Eine grassierende Seuche eben.
„Oh Mann! Was das alles für Konsequenzen nach sich zieht. Die Hauptsache ist, dass es euch halbwegs gut geht. Ich kann euch Besorgungen machen, Lebensmittel zum Beispiel. Euer Weinkeller ist ja gut bestückt. Was gibt es denn heute bei euch zu essen?“
„Pizza, Lasagne und Salat. Ich glaube, eben kommt der Pizzalieferdienst.“
Hofmann musste lachen: „Bei mir auch Pizza und Salat. Gut, vielleicht melde ich mich heute noch einmal. Und wenn ihr etwas benötigt, meldet euch bitte; ich stelle es vor die Tür und verschwinde. Noch bin ich negativ.“
„Und wie geht es dir eigentlich?“ Hofmann wollte sich eigentlich nach dem schrecklichen Vorfall jemandem mitteilen, so als könnte er durch dieses Mitteilen das Erlebte leichter ertragen. „Danke der Nachfrage. Ich bin gesund. Heute habe ich einen Mann mit einer Infusionsständerstange krankenhausreif geschlagen. Naja, das Ganze fand schon im Krankenhaus statt, da hatte er es nicht weit.“
Am Telefon entstand eine Pause. „Habe ich das richtig gehört? Was? Du hast jemanden mit einer Stange verprügelt?“