Schuld und Schuldgefühl - Mathias Hirsch - E-Book

Schuld und Schuldgefühl E-Book

Mathias Hirsch

4,6

Beschreibung

Schuld und das Gefühl von Schuld sind zentrale Topoi der menschlichen Existenz. In der Mythologie, in der Dramatik, im täglichen Umgang zwischen Menschen – überall gilt Schuld wie ein Kompass für das Verhalten. Selbstverständlich hat sich Sigmund Freud beim Entwurf seiner Tiefenpsychologie von Anfang an der Schuld und des Schuldgefühls angenommen und in dieser Differenzierung bereits die Dialektik von Schuld und Schuldgefühl deutlich gemacht: Schuldgefühl ist nicht nur ein Problem des Täters, sondern, im Ödipus-Konflikt etwa, das untätige Fühlen und Wünschen allein bringt das Gefühl von Schuld hervor. Das Gewissen, bei Freud das Über-Ich, konstituiert sich aus Schuldgefühlen und macht so den Menschen erst schuldfähig, aber dadurch auch fähig zu reifen. In der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie kann die Schuld des Täters als eine Seite des Traumas gesehen werden, das durch Gewalttätigkeit gegen das Opfer, ihrer Annahme und Introjektion und schließlich Identifikation zum Schuldgefühl des Opfers geworden ist. Wenn die Psychoanalyse die so beschaffene Schuld des einstigen Opfers erkennt, muss sie in der Therapie zwischen Schuld und Schuldgefühl sorgfältig unterscheiden. Mathias Hirsch stellt in diesem grundlegenden Werk eine Systematik des Schuldgefühls vor, die ein differenziertes Feld erschließt: ein Basisschuldgefühl (aufgrund der bloßen unerwünschten Existenz), – ein Vitalitätsschuldgefühl (aufgrund behinderter vitaler Bedürfnisse), – ein Trennungsschuldgefühl (wegen verspäteter Autonomiebestrebungen), – ein traumatisches Schuldgefühl (aufgrund der Internalisierung traumatischer Gewalt).

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Mathias Hirsch

Schuld und Schuldgefühl

Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt

Mit 5 Abbildungen

7., überarbeitete Auflage

Umschlagabbildung: Masaccio »Die Vertreibung aus dem Paradies«, Science Photo Library / akg-images

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99868-8

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2017, 2002, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf dervorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Karo Creativ Süd | KCS GmbH, StelleEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Einleitung

I.Schuld

Schuld fängt »bei Adam und Eva« an

Schöpfungsmythen als Bild für die Phylogenese der Menschen

Die Schöpfungsgeschichte als Bild für die Ontogenese

Überblick über den Schuldbegriff

Schuld und Gewissen

Kritik des psychoanalytischen Gewissensbegriffs

Der Schuldbegriff der Daseinsanalyse

Schuld und Gewissen im Kontext von Beziehung

Kollektivschuld und Generationenhaftung

Christliche Religion

Schulddialektik und Schulddilemma

Schuldbewältigung

Schuldbewusstsein und Reue

Schuldanerkennung, Umkehr und Vergebung

Juristische Schuldbewältigung

Schuldabwehr

Schuldzuweisung

»Schuld der Mütter«

Psychoanalyse und Schuld

II.Schuldgefühl

Überblick

Über-Ich

»Frühes« Über-Ich

»Reifes« Über-Ich

Abwehr von Schuldgefühl

Regression

Identifikation

»Verbrechen aus Schuldgefühl«

Introjektion

Unbewusstes, entlehntes Schuldgefühl (FREUD 1923)

Das Introjekt

FERENCZI: »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind« (1933)

Identifikation mit dem Introjekt

Identifikation mit dem Aggressor

Subtile Traumata

Sexualisierung

Wiederholungszwang

Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl

Die Existenz des Kindes ist nicht gewollt

Rollenumkehr

Die Existenz ist gewollt, aber das Kind ist nicht »richtig«

Die »tote Mutter« als eigenes basales Falsch-Sein erlebt

Adoption

Familiengeheimnisse

Zweite Gruppe der Schuldgefühle: Schuldgefühl aus Vitalität

Ödipales Schuldgefühl

Sexualität und Schuldgefühl I

Scheitern am Erfolg I – Erfolg bedeutet Übertreffen

»Terrorismus des Leidens«

Geschwisterrivalität

Überlebendenschuldgefühl

Dritte Gruppe der Schuldgefühle: Trennungsschuldgefühl

Trennungsschuldgefühl

Sexualität und Schuldgefühl II – Sexualität bedeutet Trennung

Scheitern am Erfolg II – Erfolg bedeutet Trennung

Vierte Gruppe der Schuldgefühle: Traumatisches Schuldgefühl

Familiäre Traumata

Verluste

Folter und KZ-Haft

Transgenerationale Weitergabe

III. Schuld und Schuldgefühl

Das Schuldgefühl ist mehrfach determiniert

Die Schuld des Opfers

Überschneidung von Schuld und Schuldgefühl

Abwehr von Schuld durch Schuldgefühl

Zur Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl in der analytischen Psychotherapie

»Unschuldsvermutung«

Durcharbeiten

Trennung

Literatur

Filme

Register

Einleitung

Schuld ist ein Grundphänomen menschlicher Existenz, das Schuldthema durchzieht das menschliche Leben, es ist unerschöpflich und findet sich überall in Mythologie, Kunst und Dichtung sowie im Alltag. Insofern ist jeder Mensch sein eigener Experte auf diesem Gebiet, jeder hat seine persönliche Auffassung, was Schuld bedeutet und von wann an sie beginnt. Auch Schuldgefühl ist ein ubiquitäres Phänomen, unentbehrlich für die Regulation menschlichen Zusammenlebens, bei jeder psychischen Störung ins Pathologische gesteigert anzutreffen.

Die Domäne der Psychoanalyse ist das Intrapsychische, die Dynamik der inneren Instanzen; im Zusammenhang mit dem Schulderleben eines Menschen geht es der Psychoanalyse um die Einwirkungen des Über-Ich auf das Ich, die sich als Schuldgefühl bemerkbar machen. Es wird sich hier in der Regel um ein irrationales, unrealistisches oder neurotisches Schuldgefühl handeln, eher verborgenen Wünschen und insbesondere latenten Aggressionen entsprungen. Aber auch reale Taten, die ein Böses, eine tatsächliche Verletzung bewirken, hinterlassen ein Schuldgefühl, dessen Qualität jedoch von ersterem unterschiedlich ist, da das Bewusstsein einer schuldhaften Handlung mit ihm verbunden ist. FREUD (1930a, S. 491) zufolge sollte dieses letztere Schuldgefühl gar nicht Gegenstand der Psychoanalyse sein, da es sich ja um eine Reaktion auf ein reales zwischenmenschliches Geschehen handelt; ihn interessierte vielmehr, was in der Psyche des Individuums vor sich geht: »Die Psychoanalyse tut also recht daran, den Fall des Schuldgefühls aus Reue von diesen Erörterungen auszuschließen, so häufig er auch vorkommt und so groß seine praktische Bedeutung auch ist.« Ich plädiere für eine strenge begriffliche Trennung von unrealistischem Schuldgefühl und Schuldbewusstsein, das heißt Anerkennung einer realen Schuld, auf die der Affekt der Reue folgen kann.

Längst aber hat sich die Psychoanalyse fortbewegt von einer »Ein-Personen-Psychologie«, wie BALINT (1969) es ausdrückte, in der die den einzelnen umgebenden Menschen bestenfalls Objekte der Libido sind, nicht aber als interagierende, handelnde Personen in Erscheinung treten, hin zu einer »Zwei- und Mehr-Personen-Psychologie«; Verhalten, Gestaltung von Beziehungen, eventuelle pathologische Symptomatik hängen sowohl ab von den realen Erfahrungen in Beziehungen der Vergangenheit als auch von dem, was das »Ich daraus gemacht hat« (A. FREUD 1976) und was aus Anlagen (im Sinne von Entwicklungspotenzial) und affektiven Bedürfnissen sowie Impulsen (Triebe) entstanden ist. Wenn sich aber der Gegenstand der Psychoanalyse von den ausschließlich inneren Prozessen hin zu den Objektbeziehungen (der Vergangenheit und Gegenwart) und besonders ihren intrapsychischen Niederschlägen (Objektbildern, Objektrepräsentanzen) verlagert hat, kann sie das Handeln der Menschen untereinander nicht verleugnen. Dann darf sie nicht bei der Beschäftigung mit den aufgrund von innerpsychischen Konflikten entstandenen Schuldgefühlen stehenbleiben, sondern muss sich auch der durch konkretes Handeln anderen oder sich selbst gegenüber entstandenen realen Schuld annehmen. Denn nicht nur unrealistische Schuldgefühle, auch schuldhafte reale Grenzverletzungen werden von unbewussten Motiven und Triebschicksalen mitbestimmt, also von ureigenen Bereichen der Psychoanalyse. Wenn sich auch Schuld im äußeren zwischenmenschlichen, Schuldgefühl dagegen im intrapsychischen Bereich ereignet, so sind sie doch miteinander verwoben, wie HAYNAL (1989, S. 326) es ausdrückt, allerdings auf das Doppelte von Traumatisierung (entspricht Schuld) und Phantasie (entspricht Schuldgefühl) bezogen: »Die Verbindung zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit, dem Ereignis und seinem Einfluß auf die innere Welt des Menschen [ist] ein schwieriges und komplexes Problem.«

Darüber hinaus betrifft die Anerkennung realer äußerer Einflüsse und damit die einer Verantwortungs- oder Schulddimension auch die therapeutische Beziehung. Diese kann heute nicht mehr als von »Indifferenz« (FREUD 1915a) oder Neutralität bestimmt angesehen werden, der Anteil des Analytikers auch nicht mehr als bloß auf die Übertragung reagierend, er muss vielmehr bei aller Asymmetrie als eigener originärer Beitrag zur Gestaltung und Entwicklung der Beziehung verstanden werden. Dabei gehen durchaus unvermeidlich Haltungen, Werte, sogar Charakterzüge und persönliche Vorlieben sowie Abneigungen des Analytikers in die Beziehung ein, und da man sie nicht unterdrücken kann, muss man für sie die Verantwortung übernehmen, sie als Realität sogar benennen, wenn der Analysand sie nicht klar als Äußeres von seinem Inneren unterscheiden kann (vgl. LICHTENBERG, LACHMANN u. FOSSHAGE 1992). Das bedeutet keineswegs, eine immer notwendige Abstinenz aufzugeben oder gar mutuelle Analyse zu betreiben. Weiterhin hat die analytische Arbeit mit Extremtraumatisierten, auch mit Opfern familiärer Gewalt gezeigt, dass sehr wohl das, was »dem Ich angetan« wurde (A. FREUD 1976), als reales Trauma vom Analytiker anerkannt und gegebenenfalls benannt und bestätigt werden muss, bevor eine Analyse des Intrapsychischen beginnen kann (vgl. AMATI 1990; HIRSCH 1993b; OLINER 1995, S. 299; GRUBRICH-SIMITIS 1995, S. 358).

Trotzdem trifft man eine grobe Unterscheidung zwischen Schuldgefühl und Schuld ebenso wie eine von intrapsychisch und interpersonell. Schuldig wird man am anderen, am Gegenüber (vgl. besonders BUBER 1958 und JASPERS 1946) oder an sich selbst als Objekt des Handelns (das geht besonders auf HEIDEGGER zurück). Deshalb ist Schuld vornehmlich eine Sache von Religion und Philosophie; schließlich geht es um sittliche Maßstäbe des Verhaltens im (Zusammen-) Leben der Menschen und um ihr Sein und die Verantwortung dafür.

Sicher hat das Phänomen Schuld ein Doppelgesicht, es existiert sozusagen gar nicht, ohne dass eine (ethisch-moralische) Instanz Schuld definiert. Andererseits gibt es diese Instanzen; notfalls, wenn die menschlichen Maßstäbe nicht ausreichen, verlegt man sie ins Metaphysische. Will die Psychoanalyse die (traumatische) Realität berücksichtigen, muss sie auch reale Schuld anerkennen; auch wenn sie sich nicht selbst zum Richter machen darf, muss sie die existierenden Kriterien, die Schuld definieren, einbeziehen.

Eine Trennung der beiden Bereiche des Schulderlebens ist für ein Verständnis ihrer Verschiedenheit, für ein begriffliches und schließlich therapeutisches Arbeiten nützlich und notwendig, andererseits fallen sie oft im immer vielfach determinierten Schulderleben partiell wieder zusammen. Ihre Trennung im Einzelfall wirkt dann künstlich und verlangt nach Synthese, um die Komplexität der mannigfaltigen Komponenten von Schuld und Schuldgefühl in der Schulderfahrung des Einzelnen zu achten. Deshalb ist die vorliegende Untersuchung in drei Teile gegliedert: Schuld und Schuldgefühl werden zunächst in je einem Abschnitt getrennt behandelt, um dann in einem dritten ihre vielfältigen Überschneidungen und Untrennbarkeiten aufzuzeigen.

Am Anfang des ersten Abschnitts werden die Schöpfungsmythen als Geschichte der Menschwerdung verstanden, hier liegt der Anfang aller Schuld, entsteht Schuldfähigkeit durch den Austritt des Menschen aus dem instinktgesteuerten Tierreich. Man kann die Schöpfungsgeschichte aber auch als Erzählung der ontogenetischen Individuation eines jeden, anfangs »unschuldigen« Menschen verstehen. Daran anschließend wird die Auseinandersetzung der Daseinsanalyse und auch der christlichen Theologie mit dem Schuldgefühlskonzept der Psychoanalyse thematisiert, wobei oft genug eine erstaunliche Ignoranz der Psychoanalyse unterstellt, dass sie alle, auch reale und existenzielle Schuld »weganalysieren« wolle und zu können vorgebe. Der Determinismus der Psychoanalyse – das Über-Ich ist stets durch Umwelterfahrung geprägt – erregt den Argwohn derjenigen, die ein »autochthones« Gewissen des Menschen annehmen. Für die christliche Theologie, die auf der Annahme der frei gewählten Tat, die schuldig macht, besteht, ist das Konzept des Unbewussten der Psychoanalyse, das den Menschen in seiner Entscheidung oft genug unfrei macht, anscheinend bedrohlich.

Das Schuldgefühl wird der psychoanalytischen Theorie zufolge vom Über-Ich erzeugt, dessen Entstehung und verschiedene Qualitäten diskutiert werden. Schuldgefühl setzt Ambivalenz voraus; nur die Liebe zum gleichzeitig gehassten Objekt lässt Reue und Wiedergutmachungswunsch entstehen. Der Urgrund des Schuldgefühls lässt sich deshalb in der Ambivalenz der Brust gegenüber, in der oral-kannibalistischen Phase, sehen; nicht zufällig nimmt die orale Thematik einen breiten Raum ein, Beispiele aus Mythologie und Dichtung illustrieren die Grundambivalenz des Menschen von Abhängigkeits- und Autonomiebestrebung: Beides lässt Schuldgefühle entstehen, das Begehren und Vereinnahmen des Liebesobjekts ebenso wie das Zurücklassen-Wollen des Objekts aus Freiheitsbedürfnis.

Lange hat die Psychoanalyse Schuldgefühl ausschließlich auf die ödipalen Regungen zurückgeführt (die Kleinianer auf den Todestrieb), bis MODELL (1965; 1971) sozusagen in einem Quantensprung die Möglichkeit eines Schuldgefühlskonflikts aufgrund nicht triebbedingter Bestrebungen wie Erfolgsstreben, das Streben nach Autonomie, verstanden als Wunsch, ein »eigenes Leben« führen zu wollen, beschrieb. MODELL konzipierte so ein Trennungsschuldgefühl sowie ein Schuldgefühl aufgrund vitaler Bedürfnisse. Einen weiteren Bereich beschrieb NIEDERLAND (1961; 1981) mit dem Überlebendenschuldgefühl aufgrund seiner Erfahrungen mit Überlebenden des Nazi-Terrors.

Die moderne psychoanalytische Traumaforschung ist mit dem Schuldthema untrennbar verbunden, denn das Opfer verschiedenster familiärer und außerfamiliärer Gewalt entwickelt immer eine schwere Schuldgefühlsymptomatik. Meines Erachtens hat FERENCZI (1933) das Fundament für ein Verständnis der Internalisierungsvorgänge traumatischer Gewalt gelegt, Introjektbildung und Identifikation mit dem Aggressor gehen auf ihn zurück. Gewalt-, aber auch Verlusterfahrungen schlagen sich als Introjekt im Selbst nieder und wirken selbstzerstörerisch weiter, Symptomatik und Selbstwerterniedrigung verursachend. Hier ergibt sich nun ein direkter Zusammenhang zwischen Schuld und Schuldgefühl: Die reale Schuld des Täters (die jener nicht anerkennt) wird zum Schuldgefühl des Opfers (das unschuldig ist), weil das Introjekt wie ein feindlich verfolgendes Über-Ich Schuldgefühle macht. Und es sind keineswegs nur massive Traumatisierungen, die eine oft lebenslange Schuldgefühlsproblematik verursachen, sondern gerade auch subtile Beziehungstraumata innerhalb der Familie des sich entwickelnden Kindes. Über das Schuldgefühl des Opfers hinaus muss man noch einen Anteil realer Schuld im Sinne von Mitschuld oder Mitverantwortung auch des Opfers annehmen, da aufgrund von, wenn auch tragischen, Identifikationen im Sinne von Unterwerfung unter das Gewaltsystem oder seiner Billigung die schuldhafte Tat begünstigt oder auch vom Opfer Schwächeren gegenüber wiederholt wird.

Eine differenzierte, psychoanalytisch fundierte Systematisierung des Schuldgefühls gibt es bisher nicht. Lediglich WEISS und SAMPSON (1986) hatten die erwähnten Arbeiten von MODELL und NIEDERLAND ihrem Konzept eines Trennungs- oder Autonomie- und eines Überlebendenschuldgefühls (dessen Definition sie sehr weit fassten) zugrunde gelegt. In diesem Buch möchte ich folgende Einteilung des Schuldgefühls vorschlagen:

1.Basisschuldgefühl, das heißt ein Schuldgefühl aufgrund der bloßen Existenz des Kindes oder seines So-Seins, insbesondere seines Geschlechts.

2.Schuldgefühl aus Vitalität, das heißt expansive Bestrebungen, das Begehren, Haben-Wollen, Erfolg-haben-Wollen, Andere-übertreffen-Wollen werden dadurch schuldhaft erlebt, dass sie von der familiären Umgebung nicht willkommen geheißen werden können.

3.Trennungsschuldgefühl. Hier sind die Autonomiebestrebungen des Kindes in allen Lebensaltern mit Schuldgefühl verbunden, da Trennung für die elterlichen Objekte eine Bedrohung darstellt.

4.Traumatisches Schuldgefühl: Schwere Gewalt- und Verlusterfahrungen hinterlassen einen Fremdkörper im Selbst, ein Introjekt, das Schuldgefühle verursacht.

Interessanterweise sind alle Qualitäten in der Schöpfungsgeschichte als Schuld der Menschen enthalten: Sowohl orale Gier (das Essen des Apfels, nicht umsonst rund wie eine Brust) als auch Sexualität, die erst nach der Vertreibung aus der Latenz ersteht, können als Schuld(gefühl) aus Vitalität gesehen werden. Der Drang nach Erkenntnis und die damit verbundene Übertretung des väterlichen Gebots entspricht einem schuldhaften Trennungs-, Autonomiebestreben. Auch ein traumatisches Schuldgefühl könnte im Mythos gesehen werden: Die Schuld am traumatischen Verlust des Paradieses müssen sich die Menschen selbst geben. Und einem Basisschuldgefühl entspricht die Auffassung von der Erbsünde, der basalen Schuld des Menschengeschlechts.

In einem dritten Abschnitt wird der Grenzbereich des Zusammentreffens von Schuld und Schuldgefühl, etwa im Zusammenhang mit der Identifikation mit der Gewalt, bearbeitet. Schließlich wird auf die Notwendigkeit der Differenzierung der verschiedenen Schuldgefühlsqualitäten voneinander und dieser von den Anteilen realer Schuld in der psychoanalytischen Therapie hingewiesen. Irrationales Schuldgefühl sollte entweder in seiner Triebkonfliktbedingtheit verstanden oder bis auf seine tief verborgenen Wurzeln von traumatischer Erfahrung und ihrer phantasmatischen Verarbeitung zurückgeführt und schließlich aufgelöst werden. Reale Schuld, einmal als solche erkannt und abgegrenzt, soll anerkannt, benannt und mit Scham und Reue überwunden werden, wofür die Therapie letztlich nicht umhin können wird, Aufgaben der Bewertung und Entscheidung zu übernehmen, um Realität von Phantasie im Schulderleben trennen zu helfen. Jede psychische Erkrankung hat mit (auch unbewusstem) Schuldgefühl zu tun, wie es FREUD früh entdeckte, aber jeder Mensch, auch der psychisch Leidende, ist gleichzeitig sowohl an seinem Sein als auch an seinem Tun stets real schuldig.

I. Schuld

Schuld fängt »bei Adam und Eva« an

Alle Schöpfungsmythen erzählen vom Ursprung des Menschen in dem Sinne, dass sie die Entwicklung zum Mensch-Sein metaphorisch beschreiben und damit Eigenschaften und Bedingungen wiedergeben, die ihn von anderen Lebewesen unterscheiden. Wie die Sprache, auch das Lachen, das Reflexionsvermögen (über sich selbst), das Bewusstsein der Sterblichkeit und die Scham ist die Schuld – man spricht von Schuldfähigkeit – eine der Bedingungen des Mensch-Seins.

Eine vergleichende Betrachtung der Schöpfungsmythen der Menschheit kann hier nicht geleistet werden, aber ich möchte mich der Bemerkung von STORK (1988a, S. 35) anschließen, der meint, »es wäre nicht schwer, aufzuzeigen, daß sich in allen Schöpfungsmythen, ... in denen es um den Ursprung des Menschen geht, der Held, der diese Loslösung des Menschen vollzog, sich selbst und den Menschen für diese Tat den Tod einhandelt.« Nicht nur den Tod, sondern auch Schmerz, Mühe, Angst, Schuld und Scham, andererseits Kreativität, Freiheit der Entscheidung durch Fähigkeit zum Denken, zum Wissen und Wissen-Wollen, zur Reflexion zur vorausschauenden Planung und zur Kommunikation mit anderen. Über allen diesen Eigenschaften, Erfahrungen und Fähigkeiten, die den Menschen vom Tier unterscheiden, schwebt die Schuld – als Schuldfähigkeit, Schulderleben bis hin zum Schuldgefühl –, weil die Bestrebungen des Individuums, die mit Trennung, Loslösung, Autonomie – damit hängt auch Sexualität zusammen, worauf ich zurückkommen werde – verbunden sind, immer einwirken auf einen anderen, von dem man sich trennt, dessen Existenz und Identität verändert wird durch die Trennung, der nicht mehr so ist wie im Zustand des Zusammenseins. Schöpfungsmythen stellen Trennungsbewegungen dar, zum einen die der Entwicklung des Menschen aus der Tierwelt (phylogenetische Ebene), zum anderen die der Individuation eines jeden Menschen, seiner Loslösung aus der frühen Abhängigkeit (ontogenetische Ebene).

Schöpfungsmythen als Bild für die Phylogenese der Menschen

»Wer daher spräche, ich bin mir keiner Schuld bewußt, also habe ich nichts zu bereuen, der wäre entweder ein Gott oder ein Tier. Ist der Sprechende aber ein Mensch, so weiß er vom Wesen der Schuld noch nichts.« HÄFNER (1959/60, S. 671) gibt hier ein Wort SCHELERS wieder, das kurz und prägnant den Zusammenhang zwischen Schuld und Mensch-Sein bezeichnet. Für mich ist die Paradiesgeschichte vor allem eine Metapher für den Austritt des Menschen aus dem Reich der völlig instinktgesteuerten Tierwelt. Tiere, so denkt man, wissen nichts vom Tod und können Scham und Schuld nicht empfinden. Die Instinkte sind das Maß ihres Verhaltens, ein Maß, das nicht überschritten werden kann. Mit der Freiheit des Denkens und der Entscheidung haben die Menschen das naturgegebene Maß verloren, sie müssen es sich herstellen (sie schaffen sich Götter, Moral, Gesetze) und sind immer wieder vor die Entscheidung gestellt, es einzuhalten oder zu überschreiten. Das Überschreiten eines solchen Maßes, seiner Grenzen, bedeutet Schuld; ohne die Freiheit zur Grenzüberschreitung gibt es keine Schuld. »Schuld hat, wer gewählt hat« (PLATON, Politeia, zit. nach DORN 1976, S. 110).

An die eine Seite des menschlichen Bereichs grenzt also das Tierreich, an die andere das der Götter, die mit keiner Schuld jemals zu tun haben, wie aus SCHELERS Bemerkung hervorgeht. Eine Hauptschuld des Menschen wird ja auch damit in Verbindung gebracht, dass er wie Gott sein will. Die Schlange sagt dem Weib – noch nicht »Eva« – im Paradies: »Welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist« (1. MOSE 3,5). Auch wenn er es nicht erreichen wird, sein Wollen ist schon Schuld; Gott zieht anscheinend mit einem gewissen Bedauern die Konsequenz:

»Siehe, Adam ist geworden wie unser einer und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, daß er das Feld bebaute, davon er genommen ist, und trieb Adam aus ...« (1. MOSE 3, 22 f.).

Der Anfang aller Schuld liegt also im Austritt des Menschen aus der instinktgesteuerten Natur des Tieres, dargestellt im Bild vom Paradies; sein Wissen-Wollen, Tun-Wollen und Frei-entscheiden-Wollen wird mit der Umschreibung »Wie-Gott-sein-Wollen« ausgedrückt. FROMM (1947, S. 118) versteht die Geschichte vom Sündenfall als Prototyp des autoritären Systems:

Abbildung 1: Masaccio (1401–1429), Die Vertreibung aus dem Paradies, Florenz, Chiesa del Carmine

»Die Pflicht, eine Überlegenheit der Autorität anzuerkennen, schließt eine Reihe von Verboten ein. Das umfassendste ist das Tabu, sich der Autorität gegenüber als gleichwertig zu empfinden ... Adams und Evas Sünde bestand darin, daß sie Gott gleich zu werden versuchten.«

Gott gleich sein zu wollen verbindet FROMM mit dem Schöpferischen im Menschen, das aber wegen der Abhängigkeit von Gott als Ausdruck seines Willens Schuldgefühl hervorruft. Im Zusammenhang mit dem Schöpfungsmythos, der die Trennung aus der paradiesischen Einheit mit Gott (mit der Natur) beschreibt, ist es interessant, dass ein großer Bereich des ubiquitären, oft neurotisch-konflikthaften Schuldgefühls (also nicht der realen Schuld und ihres Bewusstseins, sondern das irrationale Gefühl, schuldig zu sein) als Trennungsschuldgefühl verstanden werden muss, wie wir sehen werden. Das individuelle Schuldgefühl, sich als Adoleszenter von den Eltern trennen zu wollen, fände sich auf phylogenetischer Ebene als Niederschlag allgemeiner menschlicher Erfahrung in der Schöpfungsgeschichte wieder.

Man kann den biblischen Schöpfungsmythos mit dem des Prometheus verbinden (vgl. FROMM 1947; STORK 1988b, S. 128). Prometheus wurde von den Göttern bestraft, weil er den Menschen das Feuer brachte. Aus freier Entscheidung übertrat er das Verbot des Zeus, der – ähnlich wie der jahwistische Gott – den Menschen Wissen und Erkenntnis vorenthalten wollte. Er bringt den Menschen Wissen und Kunstfertigkeit, das bedeutet Freiheit von der Abhängigkeit von Gott oder, wie ich stattdessen sagen würde, Lösung aus dem absoluten Eingebundensein in die Natur. Gleichzeitig aber wird Prometheus an den Felsen gekettet, also unfrei gemacht, als Zeichen des Beginns des Leidens, des Eingeschränkt- und Begrenztseins des Menschen, letztlich vor allem im Tode. Im Falle Adams ist es der Ackerboden, an den er gebunden ist; und übrigens musste Prometheus Schmerz erleiden, wie auch Adam und Eva und das folgende Menschengeschlecht. Auch Schmerz (seelischer und gegebenenfalls auch psychogener Körperschmerz) steht auf der ontogenetischen Ebene wie das Schuldgefühl sehr oft im Zusammenhang mit Trennungs- oder Loslösungsbestrebungen des Individuums.

Je mehr der Mensch sich von der selbstverständlichen Eingebundenheit in die Natur entfernt, desto mehr muss er offenbar versuchen, sie eigenmächtig zu gestalten und zu beherrschen. Und dieses Die-Naturverändern-Müssen ist der Schritt des Menschen aus dem instinktgeleiteten Tierreich, und dieser Schritt ist mit Schuld verbunden, der Basisschuld des Menschengeschlechts. Ich habe schon eine Metapher, die diesen Schritt bezeichnet, erwähnt: Der Mensch steht zwischen Tier und Gott, ist vielleicht gottähnlich, wird aber nie ein Gott oder so sein wie Gott. Anscheinend muss er aber immer mehr so sein wollen, und gerade das ist ihm stets als seine Schuld vorgehalten worden. Einssein mit der Natur entspricht vollkommen der Vorstellung des Einsseins mit Gott, das den Menschen abhanden gekommen ist. »Und die ganze jahwistische Urgeschichte liest sich also als der Versuch, den Verlust Gottes durch Selbstvergötterung auszugleichen« (DREWERMANN 1977b, S. 583). Ähnlich beschreibt RICHTER (1979, S. 23) den Austritt des Menschen aus der relativen Gott-Nähe des Mittelalters:

»Der einmal eingeleitete Prozeß der Ablösung aus der vollständigen Unmündigkeit und Passivität enthielt von vornherein die Tendenz zu einem rasanten Umschlag ins Gegenteil, in die Identifizierung mit der göttlichen Allwissenheit und Allmacht« (Hervorhebung original).

Für FREUD (1930a, S. 450 f.) steht Gott nicht für Natur, vielmehr schafft sich der Mensch seine Götter als Projektionen der eigenen Ideale:

Er »hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar erschien – oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. Freilich nur so, wie man nach allgemein menschlichem Urteil Ideale zu erreichen pflegt. Nicht vollkommen, in einigen Stücken gar nicht, in anderen nur so halbwegs. Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.«

Dem Zwischenbereich der menschlichen Existenz entspricht auch der seltsam doppelwertige Charakter der menschlichen Freiheit. Der Mensch ist frei zu denken, sich zu entscheiden, mithilfe von Kreativität und Produktivität sich auf den Weg zu machen, die Natur zu beherrschen und gar gottähnlich sein zu wollen. Aber ist er wirklich frei? Er ist frei und ziemlich erfinderisch, Krankheiten zu heilen, steht aber Krankheit, Hunger und Armut von Milliarden Menschen hilflos gegenüber. Er kann die Umwelt gestaltend verändern; aber ist er Herr über die von ihm – einem Zauberlehrling gleich – hervorgerufenen »Natur«-Katastrophen? Der Mensch ist frei zu töten – aber er erscheint unfähig, Kriege zu verhindern oder zu beenden, wie wir noch heute jeden Tag erfahren. Sicher tötet auch das Tier, aber nur in dem Maße, wie es für das eigene Leben notwendig ist. Dieses »natürliche« Maß ist den Menschen abhanden gekommen. Anders als im allgemeinen das Tier macht er übrigens auch keineswegs halt vor der Tötung seiner Artgenossen, wie es die Genesis auch gleich vom Menschen, kaum dass er das Paradies verloren hat, am Beispiel des Brudermords berichtet.

In der Schöpfungsgeschichte kann man die »Illusion subjektiver Freiheit bei wachsender objektiver Unfreiheit« (DREWERMANN 1977b, S. 582) entdecken, die Freiheit, Grenzen zu überschreiten (die verbotene Frucht zu essen), untrennbar verbunden mit der Unfreiheit, wirklich Herr über sein Handeln zu bleiben. Auch hier dürfte es sich um zwei Dimensionen menschlicher Schuld handeln, um eine unvermeidlich existenzielle – immer töten zu müssen, um leben zu können (DREWERMANN 1977b, S. 613) –, dann aber auch um eine andere, nämlich die des verlorenen Maßes, der Grenzüberschreitung. Natürlich kann die Frage K.s aus KAFKAS »Prozeß« auch an dieser Stelle wieder gestellt werden: »Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein?« (1935, S. 180). Denn er ist doch unausweichlich seiner menschlichen Natur verhaftet, hat eben nicht die Freiheit, sie zu verlassen, anders zu sein, als er ist, wenn er »naturhaft« lebt, wenn sein »Verhalten aus seiner biologischen und psychologischen Anlage selbst resultiert« (DREWERMANN 1977b, S. 356).

Hält man sich an den Schöpfungsmythos, könnte man den Menschen auch von jeder Schuld freisprechen. Man darf nicht vergessen, dass es »Zwei Bäume im Garten«1 Eden gab, nämlich den Lebensbaum, den »Baum im Hintergrund« (BLUMENBERG 1988, S. 95), und den Baum der Erkenntnis.

BLUMENBERG (1988, S. 95) macht auf einen Satz KAFKAS in dessen dritten »Oktavheft« aufmerksam: »Warum klagen wir wegen des Sündenfalles? Nicht seinetwegen sind wir aus dem Paradiese vertrieben worden, sondern wegen des Baumes des Lebens, damit wir nicht von ihm essen« (Hervorhebung original). Das ist die »Substanz, die das Geheimnis des ›Prozeß‹ ausmacht«. Ein personifizierter Gott konnte es BLUMENBERG zufolge nicht ertragen, dass er nicht einzig bleiben könnte. Es gibt also keine »Urschuld« des Menschen, denn die Früchte des Lebensbaums waren doch erlaubt.

»Der Mensch, der keinen Grund gegeben hatte, ihm diesen Baum zu verbieten, ... wurde in eine Affäre verstrickt, die den Vorwand gab, ihm die Göttergleichheit zu entziehen, nach der zu begehren es gar keiner Versuchung bedurfte, denn dort stand er, der Baum des Lebens. So kam es zur Fiktion einer Schuld, die der Vertreibung den Schein des Rechts gab. Die Vertreibung überlieferte das Leben dem Tod ... Der Tod war es, der aus der fiktiven Schuld die reelle werden ließ: Das sterbliche Wesen kann nicht leben ohne die Schuld, wegen seiner endlichen Lebenszeit den Nächsten als den Rivalen um jedes Lebensgut nicht lieben zu können« (BLUMENBERG 1988, S. 95).

Der Tod also als Begrenzung der Lebenszeit macht den – primär unschuldigen – Menschen schuldig. Weil Gott keinen Rivalen duldete, »machte er sein Ebenbild zu Rivalen untereinander« (S. 95), und folgerichtig ist der erste Tod ein unnatürlicher: »Der erste Mord, der aussieht wie Neid auf den Erfolg um die Gottesgunst, ist ein Akt der Rivalität um die ›Technik‹ der Naturherrschaft als Ersatz für den Lebensbaumbesitz« (S. 96; alle Hervorhebungen original).

Es geht hier offenbar um nichts weniger als um den Ursprung der Schuld, denn folgt man KAFKAS und BLUMENBERGS Gedanken, liegt sie bei Gott, der schuldhaft handelte, weil er zuerst »sein Ebenbild« als Rivalen fürchtete. Bei genauerem Hinsehen mussten also Adam und Eva schon vor dem Sündenfall zwischen »gut« und »böse« unterscheiden lernen, da ihnen von verbotenen und erlaubten, guten und bösen Früchten also, gesagt wurde. Diese erste Unterscheidung aber traf Gott; es war also nicht alles gleichermaßen »gut«.

Wenn Parallelen gezogen werden sollen zwischen Mythologie und kindlicher Entwicklung bzw. ihrer psychoanalytischen Theorie, kommt man kaum umhin, an die Wechselfälle der Schuldzuschreibung für die Ursache der Neurose zu denken, die mit der Geschichte der Psychoanalyse verbunden sind. Anfangs nämlich war sich FREUD sicher, dass der Schuldige der Erwachsene war, der dem Kind höchst eigennützig ein (sexuelles) Trauma zufügte (»Verführungstheorie«; vgl. HIRSCH 1987). In einer solchen Auffassung entspräche der Erwachsene einem primär handelnden Gott, der seine Schöpfung fürchtet, wie der pseudo-ödipale Vater, der den Sohn nur als Rivalen sieht und die Tochter allein besitzen muss. Der Schöpfungsmythos als Gebilde einer schon patriarchalischen Kultur gibt aber dem Geschöpf die Schuld, das Verbot wird gar nicht hinterfragt (erst von KAFKA), allein seine Übertretung zählt und macht schuldig. Ebenso gibt der Ödipus-Komplex, den FREUD nach dem Aufgeben der Verführungstheorie an deren Stelle gesetzt hat, dem Kind und seinen Trieben die Initiative für das ödipale Geschehen1. GROTSTEIN (1990, S. 20) drückt das folgendermaßen aus:

»Zu den Vermächtnissen, die FREUD mit seiner zweiten Theorie der Psychoanalyse (im Anschluß an die Theorie eines verdrängten sexuellen Traumas) hinterließ, gehört das Postulat des inhärenten Schuldgefühls, das der Mensch von Geburt an aufgrund jener unvermeidlichen und unerbittlichen Phantasien erwirbt, in denen er von dem einen Elternteil vollständig Besitz ergreift und eine mörderische Aggression gegen den andern Elternteil richtet, d. h. aufgrund des Ödipus-Komplexes.«

FREUD ist in den letzten Jahren vehement, allerdings in unzulässiger Simplifizierung, zum Vorwurf gemacht worden, dass er den Ursprung des Traumas von der schuldhaften Tat des Erwachsenen, mit der er das Kind missbraucht, in die triebhaften Wünsche des (»unschuldigen«) Kindes verlegt habe (z. B. MASSON 1984; vgl. HIRSCH 1987). Und zwar aus Identifikation mit eben den patriarchalischen Machtverhältnissen, so der Vorwurf, die man auch bei einem Gott Jahwe, folgt man KAFKA, vermuten muss.

Wo immer man nun den Ursprung der Schuld finden mag und wie immer man den Widerspruch zwischen nur Mensch-sein-Können und als Mensch Schuldig-sein-Müssen auch zu lösen versucht, ich denke, der Schuldbegriff sollte erhalten bleiben als Erinnerung an die Unfreiheit der menschlichen Existenz, der Notwendigkeit zu entkommen, zu töten und zu leben, und als fortwährende Mahnung, die Hybris aller möglichen Grenzüberschreitungen zu bedenken und ihr Ausufern zu begrenzen, soweit es nur möglich ist. Denn die Überschreitung vernünftiger Grenzen verursacht jeden Tag Beeinträchtigung oder Zerstörung der menschlichen und ökologischen Umwelt und bedeutet damit besondere Schuld. Übrigens hat FREUD (1930a, S. 506) schon seinerzeit die Möglichkeit der allerletzten Grenzüberschreitung durch die Menschheit ins Auge gefasst: »Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten.«

Die Schöpfungsgeschichte als Bild für die Ontogenese

Man kann die Schöpfungsgeschichte auch ontologisch, also als Metapher für den Austritt aus der »unschuldigen« Gebundenheit innerhalb der psychischen Entwicklung des Kleinkindes in eine eigene Identität verstehen, als Metapher für Individuation (vgl. DREWERMANN 1977b; STORK 1988a, 1988b; KIND 1992). Und tatsächlich, viele Bereiche der Kindesentwicklung werden im Schöpfungsmythos behandelt. Da ist die Erkenntnis von Gut und Böse und der Erwerb der Schuldfähigkeit (bzw. des Schuldgefühls), die Entstehung von Scham wegen der Nacktheit und der sexuellen Wünsche, die Namensgebung, schließlich auch der Erwerb eines Begriffs vom Tode. Nur die Sprache scheint sich im Schöpfungsmythos nicht entwickeln zu müssen, obwohl wir sie in der Entwicklung des Kindes als einen wichtigen Meilenstein der Abgrenzungsfähigkeit kennen, man denke an das erste »Nein!« eines kleinen Kindes.

Wenn auch die Vorstellung der Psychoanalyse von einem objektlosen primärnarzisstischen Anfangsstadium der Entwicklung aufgrund der neueren Säuglingsforschungen aufgegeben werden muss, lässt sich wohl noch immer ein Ablauf der zunehmenden Differenzierung der Bewertung und Einordnung von Erfahrungen des Säuglings, ihrer Affektqualitäten und ihrer Herkunft annehmen (vgl. besonders STERN 1985; DORNES 1993; FONAGY, GERGELY, JURIST u. TARGET 2004). MELANIE KLEIN (1946) hat Spaltungsvorgänge, welche Erfahrungen des Säuglings mit sich selbst und den umgebenden Objekten in »nur gute« und »nur böse« Teilerfahrungen trennen (deren Repräsentanzen »nur gute« und »nur böse« Teilobjekte sind), für ein sehr frühes Alter angenommen. Die Annahme eines derart frühen Zeitpunkts lässt sich zwar nicht mehr halten, aber gute und schlechte Erfahrungen werden STERN (1985, S. 351) zufolge vom Säugling durchaus in »hedonische Gruppen« eingeordnet, wenn auch anfängliche Qualitäten von »gut und böse« erst später aufgrund reiferer Symbolisierungsmöglichkeiten mit zwischenmenschlichen Erfahrungen verbunden werden können. Man kann annehmen, dass die Zuflucht in eine saubere Trennung von Gut und Böse einem anfänglichen Differenzierungsvermögen entspricht, das durch die Erkenntnis von Gut und Böse im Schöpfungsmythos dargestellt wird. Und das Wissen-Wollen ist eine der Grundmotivationen schon des ganz jungen Menschen; auch hier hat die Psychoanalyse ein einseitiges Konzept der triebhaften Lust-Unlust-Vermeidungs-Motivation revidieren müssen. Eines der fünf von LICHTENBERG (1988) aufgestellten motivational-funktionalen Systeme ist das Bedürfnis nach Selbstbehauptung und Exploration; beide bezeichnen ein Autonomiestreben, das in der Schöpfungsgeschichte gut wiedergefunden werden kann, wenn man sie als Metapher für Individuation und für das Heraustreten des Menschen aus einer Unmündigkeit verstehen will. Den Zusammenhang von Wissen-Wollen und Fähigkeit der Differenzierung von Eigenschaften und Erfahrungsqualitäten beschreibt auch KIND (1992, S. 32; Hervorhebung original) in bezug auf die Schöpfungsgeschichte: »Die Prägung von gut und schlecht als Kategorie wird erst dadurch möglich, daß der Mensch wissen will ... Der Mensch erschafft seine erste eigene kognitive Kategorie, die Antithese von Gut und Böse.«

Folgt man MELANIE KLEIN (1946), so entsteht ein erstes Schuldgefühl aus der Aufhebung der Spaltung, zu der der etwas ältere Säugling fähig ist. Er muss realisieren, dass die Aggression zu ihm gehört, mit der er ein geliebtes Objekt gleichzeitig hasst und bekämpft, da es gleichermaßen »gut« ist wie auch versagend. Die Entwicklung des Schuldgefühls ist an die Fähigkeit, Ambivalenz auszuhalten, geknüpft (»depressive Position« bei M. KLEIN). Den Zusammenhang zwischen Oralität und Ambivalenz hat zuerst ABRAHAM (1924) entwickelt, indem er auf eine präambivalente Stufe des reinen lustvollen Saugens eine oral-sadistische, kannibalistische der Ambivalenz folgen lässt. Der Säugling verspürt Impulse, aggressiv bemächtigend in die Brust zu beißen, die ihm doch die Nahrung spendet. »Die Libido droht dem Objekt Vernichtung durch Auffressen« (ABRAHAM 1924, S. 141). Nahrungsbedürfnis, also Leben, ist mit der kannibalistischen Aggression, dem Töten, also dem Tod, eng verbunden.

FREUD (1912–13) hat mit seiner spekulativen Studie »Totem und Tabu« die Wurzel des Schuldgefühls in dem Mord der Urhorde an dem Urvater gesehen, eine Tat, die der ödipalen Situation des männlichen Kindes entspricht; ein Motiv der Urhorde ist dementsprechend, die Frauen, die der Vater allein beansprucht, zu besitzen. Hier entsteht das Schuldgefühl ebenfalls aus der Ambivalenz. Aber wie die Psychoanalyse sich insgesamt von der Zentralität des Ödipus-Komplexes zugunsten einer Aufeinanderfolge früherer und späterer Entwicklungsstadien und der zugehörigen Objektbeziehungsqualitäten abgewandt hat, kann man mit der Schöpfungsgeschichte die orale Ambivalenz2 als Grundlage des Schuldgefühls ansehen. DREWERMANN (1977b, S. 597) vermutet sie in der Notwendigkeit der prähistorischen Menschen, die als Jäger die Tiere töten mussten, die sie doch als Götter verehrten:

»Die erste prähistorische Erfahrung von Schuld wird wirklich in einem Mord bestanden haben, aber nicht in einem Mord aus sexuellen Motiven, sondern in dem furchtbaren Tötenmüssen um des eigenen Lebens willen ... ein Gedanke, der mit einschließt, daß man schuldig werden muß, um das Dasein zu gewährleisten.«

Die anderen Bereiche der Übereinstimmung von Genesis und kindlicher Entwicklung sind Scham, Sexualität und Namensgebung. Während die Schuld sowohl eine des Tuns, des Handelns als auch eine des Seins, der Existenz sein kann, bezieht sich das Schuldgefühl vorwiegend auf eine Tat, der man sich schuldig fühlt. Ebenso ist Scham ein Affekt, ein Gefühl, bezieht sich aber vorwiegend auf das Sein, das So-Sein. Die Nacktheit bedeutet unverhülltes Sein, dessen man sich bewusst wird, indem man sieht, etwa in einem Spiegel, oder vor allem, indem man gesehen wird. Dadurch kommt man nicht umhin anzuerkennen, dass man so ist, wie man ist; Verleugnung und Beschönigung versagen, und da man nicht einverstanden ist mit seinem So-Sein, schämt man sich. (Wäre man es, so wäre der Affekt: Stolz.) Augenfällig ist die Parallele des Übergangs eines Stadiums der »unschuldigen«, vorbewussten Akzeptanz der eigenen Nacktheit im Kleinkindalter und im Paradies vor dem Sündenfall (»Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht« [1. MOSE 2, 25]). Die Nacktheit besteht jeweils schon vorher, aber das Erkennen, das Kennen, das Wissen um sie gibt ihr eine neue Qualität. Die Scham hängt mit dem Verlust des Einsseins mit sich (mit der Natur, mit Gott) zusammen, und die ersten Menschen nach dem Sündenfall »schämten sich dessen, was sie ohne Gott sind, ihres geschöpflichen Mangels« (DREWERMANN 1977b, S. 209). Interessant, dass MASACCIO (Abbildung 1) Eva ihre »Scham« bedecken lässt, während Adam die Hand vor die Augen hält: nicht gesehen werden und nicht sehen wollen. Ich denke, auch das Kleinkind verliert zunehmend die Übereinstimmung mit sich durch die zunehmende Individualität, die zunehmende Trennung aus der Einheit mit der mütterlichen Umgebung.

Nacktheit hat über das allgemeine Sein hinaus wohl immer etwas mit dem geschlechtlichen Sein zu tun. Denn die Körperteile, die unsere geschlechtliche Identität zu erkennen geben (»Geschlechtsmerkmale«), sind sowohl in der Kindheit als auch in der Schöpfungsgeschichte bevorzugte Objekte des Schamgefühls; Adam und Eva bedecken ihre »Scham« mit den Blättern des Baumes, dessen Frucht ihnen zur »Erkenntnis« verholfen hatte. Auch Sexualität bedeutet immer Trennung aus den Beziehungen der Familie wegen des Inzest-Verbots, und selbst die masturbatorische Sexualität ist mit einem Rückzug von ihnen verbunden.

Dass Sexualität mit dem Verlassen der Eltern und der Beziehung zu neuen Menschen zu tun hat, geht bereits aus 1. MOSE 2, 24 hervor: »Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch«; das klingt wie eine Ahnung des nach dem Sündenfall Kommenden.

Folgerichtig treten in der Adoleszenz die genannten Bereiche der Scham wieder in den Vordergrund. Auch hier sind es der nackte Körper, besonders die Geschlechtsteile, an denen der Hader mit dem (geschlechtlichen) So-Sein festgemacht wird, oft wahnhaft ins Pathologische gesteigert in Form von Dysmorphophobie und Hypochondrie (vgl. HIRSCH 1989a). Und die Sexualität ist schließlich der Schauplatz der Identitätskämpfe des Jugendlichen (auch die Wahl bestimmter Objekte seines sexuellen Begehrens kann mit heftiger Scham verbunden sein), wie sie auch der kräftigste Motor ist, ihn exogamisch aus der Familie hinauszutreiben. Die Aufgabe der individuellen Entwicklung wäre, sich in seinem Selbstbewusstsein derart neu zu ordnen und zu finden, dass man (überwiegend) wieder einverstanden sein kann mit seinem So-Sein, auch ohne die ursprüngliche Sicherheit der umgebenden Familie; wenn die menschliche Existenz auch nicht ohne Schuld denkbar ist, so bleibt doch immerhin die Möglichkeit, weitgehend Schuldgefühl und Scham(gefühl) zu überwinden.

Neben der sexuellen Identität, mit welchem Begriff man das geschlechtliche So-Sein bezeichnet, kann man sich aber auch des sexuellen Tun-Wollens und Tuns schämen (und Schuldgefühle bekommen). Vielleicht gibt es wenig Gelegenheiten, bei denen man soviel von sich zu erkennen gibt, wie beim sexuellen Handeln, das ja auch in aller Regel vom öffentlichen Einblick abgeschlossen ist. Wie immer es auch etymologisch hergeleitet werden kann, jedenfalls »erkannte« Adam sein Weib Eva, und sie wurde schwanger (1. MOSE 4, 1), das heißt, es scheint von alters her bekannt zu sein, dass in der sexuellen Begegnung ein Erkennen stattfindet.

Die Namensgebung, das Benennen, kann man als symbolischen Akt der Bezeichnung und Festschreibung einer Identität verstehen. Der Vorname, der einem Kind gegeben wird, bezeichnet übrigens auch sein Geschlecht. Der Familienname bezeichnet die Abstammung, zum Teil auch die geografische Herkunft (z. B. »... von Preußen«). Es erscheint nur logisch, dass die Sprache auch die genealogische Herkunft mit dem Wort »Geschlecht« bezeichnet, jemand ist »vom Geschlecht derer von ...«. Die Namensgebung wird wohl immer als Ritus begangen (vgl. HIRSCH 2004a); in unserer Kultur ist es die Taufe, die auch eine ritualisierte Aufnahme des Neugeborenen in die menschliche und familiäre Gemeinschaft bedeutet (vgl. BALLY 1960, S. 308). Auch die Initiationsriten mancher Naturvölker sind mit der Verleihung neuer Namen verbunden: »Eine andere weit verbreitete Sitte ist, den Initiierten neue Namen zu geben. Dies ist der intimen Verbindung zwischen einem Menschen und seinem Namen sowie magischer Funktionen wegen, die Namen oft zugeschrieben werden, ein besonders bedeutungsvoller Akt« (BETTELHEIM 1954, S. 159). Die Veränderung des Namens drückt immer einen Neubeginn aus; ein Patient LEBOVICIS (1988, S. 56) gab sich eines Tages einen neuen Namen, er »verweigerte ... die Identität, die ihm seine Eltern gegeben hatten.« Man denke auch an die Aufnahme neuer Mitglieder eines Ordens oder einer Sekte, die mit der Annahme eines neuen Namens einhergeht; bis vor kurzem war ja auch in unserer Kultur die Namensveränderung der Braut bei der Eheschließung dadurch obligatorisch, dass sie den Namen des Mannes annehmen musste, was man als Symbol für die Unterordnung der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft, für das Opfern ihrer eigenständigen Identität verstehen kann.

Interessant ist, die Benennung der »ersten Menschen« in der Genesis zu verfolgen. In der ersten Fassung (1. MOSE 1) werden sie als »Mann und Weib« (1. MOSE 1, 27) bezeichnet, und Gott spricht von »allerlei Kraut ... Bäume[n] ... Getier, Vögel[n] ... Gewürm« (29 f.). Diese allgemeinen Bezeichnungen werden auch im 2. Kapitel beibehalten. Der »Mensch« wird durch Einblasen des »lebendigen Odem[s]« (7) mit einer »lebendigen Seele« (7) ausgestattet, aber einen Namen bekommt er nicht. Die »Gehilfin« (18), die der Mensch bekommen soll, lässt sich nicht unter den Tieren finden; Gott bringt alle Tiere, die er gemacht hat, »zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nannte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen. (19) Und der Mensch gab einem jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre« (20). Daraufhin erst schuf Gott »ein Weib« aus der Rippe des Menschen (22), und der Mensch meint, »man wird sie Männin heißen, darum daß sie vom Manne genommen ist« (23). Auch die »Männin« hat noch keinen Eigen-Namen; lediglich die Tiere sind benannt worden, und zwar vom Menschen, als scheute sich Gott, die Aufgabe der Namensgebung selbst zu übernehmen. Auch noch während des Sündenfalls im 3. Kapitel treten keine Namen auf (»Das Weib ... aß und gab ihrem Mann auch davon ...« [6]). Erst danach, und zwar in dem Moment, in dem sie ihrer Nacktheit gewahr werden und sich schämen, wird erstmalig, völlig unvermittelt, der Mensch mit dem Namen »Adam«3 belegt (8), und fortan behält er ihn, während »das Weib« noch keinen bekommen hat. Das geschieht erst, nachdem Gott den Menschen ihre Hauptbestimmungen genannt hat – das Weib soll gebären, der Mann den Acker bestellen: »Und Adam hieß sein Weib Eva, darum daß sie eine Mutter ist aller Lebendigen« (20). Es scheint so, als ob in der paradiesischen Ureinheit eine individualisierende Benennung nicht nötig gewesen ist, als ob Gott gar nicht an eine solche Möglichkeit gedacht hätte und erst der Mensch die Tiere und nach seiner endgültigen Menschwerdung sich selbst benennen sollte4. Kain und Abel bereits werden ohne weiteres von Geburt an mit ihrem Namen benannt. Wenn es auch nicht explizit ausgesprochen wird, scheint doch der Autor der Vorlage der Übersetzung durch LUTHER nicht ohne Sinn den Namen Adams erstmalig nach dem Sündenfall erwähnt zu haben, vielleicht hat auch erst LUTHER diese Unterscheidung durch die Übersetzung getroffen.

Überblick über den Schuldbegriff

Je mehr man über Schuld nachdenkt, desto mehr kann es einem so vorkommen, als gäbe es sie gar nicht wirklich, als schwebe sie im Raum über den Köpfen der Menschen, die ratlos wie (nicht mehr unschuldige) Kinder mit etwas wie Äußerem und doch Eigenem konfrontiert sind, mit dem sie fertig werden müssen, schwankend zwischen Abwehr und Anerkennung von etwas Vagem, Unbestimmtem. Und in der Tat bedarf Schuld, um sich zu manifestieren, einer Instanz, die sie definiert und auch den Schuldigen selbst als solchen bezeichnet. Diese Instanz kann außerhalb des Individuums liegen oder in ihm selbst; im letzteren Fall denken wir an das Gewissen, im ersteren an das Gericht, das Normen überwacht und schuldig spricht, aber auch an eine übermenschliche, metaphysische Instanz, eine höhere Ordnung, der man sich verpflichtet fühlen und vor der man schuldig werden kann.

Eine anschauliche Gliederung der Schuldmöglichkeiten und ihrer Instanzen gibt JASPERS (1946, S. 17 f.; Hervorhebung original) in »Die Schuldfrage«. Unter dem Eindruck der Nazi-Herrschaft und ihrer Beendigung geschrieben, haben diese Sätze eine erstaunliche Gültigkeit bewahrt:

»1.Kriminelle Schuld: Verbrechen bestehen in objektiv nachweisbaren Handlungen, die gegen eindeutige Gesetze verstoßen. Instanz ist das Gericht, das ... die Gesetze anwendet.

»2.Politische Schuld: Sie besteht in den Handlungen der Staatsmänner und in der Staatsbürgerschaft eines Staates, infolge derer ich die Folgen der Handlungen dieses Staates tragen muß, dessen Gewalt ich unterstellt bin und durch dessen Ordnung ich mein Dasein habe (politische Haftung). Es ist jedes Menschen Mitverantwortung, wie er regiert wird. Instanz ist die Gewalt und der Wille des Siegers ...

»3.Moralische Schuld: Für Handlungen, die ich doch immer als dieser einzelne begehe, habe ich die moralische Verantwortung ... Niemals gilt schlechthin ›Befehl ist Befehl‹ ... Die Instanz ist das eigene Gewissen und die Kommunikation mit dem Freunde und dem Nächsten, dem Liebenden, an meiner Seele interessierten Mitmenschen.

»4.Metaphysische Schuld: Es gibt eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen, welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt ... Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich ist. Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich ... Instanz ist Gott allein.«

Zu ergänzen ist, dass im allgemeinen Sprachgebrauch die Schuld vor Gott mit Sünde bezeichnet wird.

Durch das Wirken der einen oder anderen dieser Instanzen führt das Faktum der Schuld zu einem Schulderleben, einer Schulderfahrung. Mit einer Ausnahme: Wenn der Schuldspruch eines Gerichts nicht auf ein empfängliches Gewissen fällt, der Täter also, verstockt, seine Schuld leugnet, bleibt es eben bei der Schulddefinition von außen ohne korrespondierendes Schulderleben. Dieses nun lässt sich weiter differenzieren in ein Schuldgefühl, dessen Bezeichnung schon die Nähe zum Affektiven enthält, das eher also das Irrationale, Unrealistische und das emotional Drückende bezeichnet, jedoch durchaus die Einsicht in einen Anteil realer Schuld enthalten kann. Die Alltagssprache enthält dementsprechend auch den Satz: »Ich fühle mich schuldig.« Überwiegt die Realität der Schuld, die man anerkennen muss, spricht man besser von Schuldbewusstsein, wie es der Sprachgebrauch auch bezeichnet: »Ich bin mir (k)einer Schuld bewusst!«

Mit dem Schuldbewusstsein kann auch der Affekt der Scham verbunden sein, der sich nicht so sehr auf das Handeln, sondern auf das Sein bezieht; ich war so, dass ich das getan habe. (Zur Diskussion der Differenz von Sein und Tun vgl. Teil I, S. 56.) Auch die Scham ist ein Affekt, der aus der Spannung zwischen der Idealvorstellung seiner Selbst (Ideal-Ich) und der Realität des Selbst, die diesem nicht entspricht und die anzuerkennen man nicht umhinkommt, resultiert. Scham kann aber auch durch das Vom-anderen-gesehen-Werden entstehen; ähnlich wie beim Schulderleben gibt es auch hier eine innere und äußere Instanz, nämlich das Ideal-Ich als innere, den »Blick des anderen« (SEIDLER 1995) als äußere. Schuldgefühl rührt also von der Spannung zwischen Über-Ich und Ich her und betrifft vorwiegend das Tun und damit überwiegend das, was man dem anderen antut, Scham dagegen betrifft eher das Sein und das, was man sich selbst schuldet, indem man nicht so ist, wie man sein könnte oder müsste. Aber die Bereiche von Schuldgefühl und Schuldbewusstsein bzw. Scham werden sich überschneiden; oft äußert sich das Sein am Tun und ist erst durch dieses zu erkennen.

Ein weiterer Affekt, der zur Schuldanerkennung gehört, ist der der Reue; auch die Reue ist erforderlich für eine Veränderung, eine Entwicklung (»Wandlung«) des schuldigen Menschen, mit der die Schuld zwar nicht aufgehoben wird (das kann in keinem Fall geschehen, Schuld bleibt immer bestehen), aber bewältigt werden kann. Überdies wird Trauer auftreten darüber, dass man so war und ist und nicht ein anderer. Ist man einem anderen gegenüber schuldig geworden, ist Reue die Voraussetzung der Wiedergutmachung und einer Versöhnung, zu der der andere mit Verzeihung beiträgt. Insofern kann der Bitte um Entschuldigung eigentlich nicht entsprochen werden, die Bitte um Verzeihung wäre angemessen, da sie erfüllbar ist. Trotzdem gibt es dieses Gegensatzpaar auch in anderen Sprachen: pardon – excuser; I’m sorry (hier ist – sprachlich jedenfalls – auch Reue enthalten) – excuse me; ebenso scheinen sich die beiden Qualitäten der Schuldbewältigung im Lateinischen »ignoscere«, das heißt »nicht wissen«, und im Griechischen syngignoskein (συγγιγνώσϰειν), das heißt auch »übereinstimmen«, eingestehen.

Bei der Beschäftigung mit realer Schuld fällt eine Zweiteilung auf: Reale Schuld erscheint einmal als Schuld der Tat und eine solche des Seins (HÄFNER [1959/60] nennt das »Tatschuld« versus »Existenzschuld«). Der Charakter des Doppelten oder Dialektischen der Schuld zeigt sich auch in der alten Unterscheidung von »culpa« (schuldig geworden sein) und »debitum« (jemandem etwas schulden). »Culpa« betrifft das Tun, das Handeln am anderen (aber auch an sich selbst), mit dem man sich schuldig gemacht hat, lässt sich also auch als Beziehungsgeschehen begreifen, während die Schuld am Sein von der Vernachlässigung der Verantwortung und Verpflichtung gegenüber der eigenen Identität herrührt, der nie umfassenden, nie vollkommenen eigenen Existenz des Menschen (dem entspricht die christliche Lehre von der Erbsünde als unausweichliche Gegebenheit); man schuldet sich (und den anderen), in gewisser Weise zu sein.

Nicht zuletzt gehört zum Wesen der Schuld die Freiheit des Menschen; schuldig werden kann nicht das instinktgesteuerte Tier, auch nicht ein Gott, nur der Mensch, der in einem Zwischenbereich zwischen beiden angesiedelt ist. Aber die Freiheit der Entscheidung zu handeln und das Sein zu bestimmen, ist wahrlich relativ und schließt längst nicht die Freiheit ein, Schuld gänzlich zu vermeiden. Im Gegenteil, Schuld gehört existenziell zum Mensch-Sein, nur der Mensch ist zur Schuld fähig. Die Schuldfähigkeit gehört zur Würde des Menschen (SÖLLE 1971), ebenso wie auch die Fähigkeit zur Anerkennung seiner Schuld.

BUBER (1958, S. 16 f.) sondert Schuld und Schuldgefühl:

»Ein Mensch steht vor uns, der handelnd oder Handlung unterlassend eine Schuld auf sich geladen ... hat ... Ihm ist von der Genese seines Übels nichts verhohlen ..., was ihn immer wieder antritt, hat mit keiner elterlichen oder gesellschaftlichen Rüge irgend zu tun ...«

Unter deutlicher Bezugnahme auf die Psychoanalyse stellt BUBER fest, dass das Schulderleben nicht unbewusst ist, auch nichts mit internalisierten elterlichen Geboten, dem Über-Ich also, zu tun hat. Vielmehr liege eine weitgehende Einsicht in die Schuld des Handelnden vor. Wenn man auch nicht annehmen kann, dass bei jeder schuldhaften Tat eines jeden Menschen eine derartige Einsicht bewusst vorhanden ist, kann man doch sehen, dass es BUBER auf eine Dimension der Tiefe ankommt, die er voraussetzt, um eine persönliche Schuld von beträchtlicher Tragweite zu definieren, die er Existenzialschuld nennt: »Existentialschuld, d. h. Schuld, die eine Pers on als solche und in einer persönlichen Situation auf sich geladen hat, ... geschieht, wenn jemand eine Ordnung der Menschenwelt verletzt ...« (BUBER 1958, S. 18 f.).

Es erscheint mir allerdings etwas problematisch, eine persönliche, durch eine Tat hervorgebrachte Schuld »Existentialschuld« zu nennen, erinnert dieser Begriff doch allzu sehr an die ganz andere »existentielle Schuld« der Daseinsanalyse, auf die wir im Folgenden zu sprechen kommen werden.

Schuld und Gewissen

»Ein Gesetz der Menschenordnung« (BUBER 1958, s. o.) zu verletzen, macht schuldig; aber welches Gesetz? Kennt es jedermann? Maßstäbe müssen her, an denen Schuld gemessen werden kann, Regeln, geschriebene und ungeschriebene, an denen sich der einzelne wie auch die Gemeinschaft orientieren können. Man kann die Regeln in ethischmoralische und juristische aufteilen, darüber hinaus noch Normen einer christlichen Ethik oder Moral setzen sowie mit JASPERS (1946) eine politische Haftung fordern.

Die einmal von außen gesetzten Normen, die das menschliche Miteinander regeln sollen und die aus den genannten Bereichen stammen, werden vom einzelnen Individuum verinnerlicht – sogar die juristischen zum Teil und soweit man mit ihnen bekannt geworden ist; das Ergebnis des Aufgenommenen ist das Gewissen. Hier kommt die Psychoanalyse zu Wort, wenn auch nicht von allen unwidersprochen: FREUD hat gezeigt, wie äußere Vorstellungen, Werte und Normen, Gebote und Verbote sich in einer inneren Instanz, dem Über-Ich, niederschlagen, dessen bewusster Teil er mit dem Gewissen identifiziert hat. In seinem späten Aufsatz »Das Unbehagen in der Kultur« entwirft FREUD (1930a, S. 484) das Konzept der Gewissensbildung von den Anfängen im Kleinkindalter:

»Das Böse ist also anfänglich dasjenige, wofür mit Liebesverlust bedroht wird; aus Angst vor diesem Verlust muß man es vermeiden ... Man heißt diesen Zustand ›schlechtes Gewissen‹, aber eigentlich verdient er diesen Namen nicht, denn auf dieser Stufe ist das Schuldbewußtsein offenbar nur Angst vor dem Liebesverlust, ›soziale‹ Angst.«

Die Verhältnisse ändern sich durch die Verinnerlichung der elterlichen Autorität, »durch die Aufrichtung eines Über-Ichs ... Damit werden die Gewissensphänomene auf eine neue Stufe gehoben, im Grunde sollte man erst jetzt von Gewissen und Schuldgefühl sprechen ...« (FREUD 1930a, S. 484 f.).

Wir sind von der realen Schuld und dem Gewissen als Instanz, einem verinnerlichten Maßstab, an dem Schuld gemessen werden kann, ausgegangen. Nun stellen wir fest, dass das Über-Ich Schuldgefühle macht, deren Qualität durchaus auch irrational sein kann, je nachdem nämlich, in welcher Weise welche Normen an das heranwachsende Kind durch die familiäre Umgebung herangetragen wurden. Ein solches Über-Ich mitsamt seinem bewussten Anteil, dem Gewissen, kann also durchaus sowohl realistische als auch irrationale, »neurotische« Inhalte enthalten, kann realistische Schuldgefühle machen, die das soziale Verhalten genügend regeln, aber auch unrealistischen Druck aufgrund innerer irrationaler Konflikte ausüben können, der eine konstruktive Entwicklung behindert.

Die psychoanalytische Sicht des Gewissens ist immer wieder heftig kritisiert worden. Das Über-Ich ist dabei allzu sehr nur als das Ergebnis oberflächlicher Anpassung an elterliche und gesellschaftliche Normen verstanden worden, angeblich, ohne eine Tiefendimension des Gewissens, ein im Mensch-Sein verankertes, sozusagen naturgegebenes Wissen um ethische und moralische Richtlinien zu berücksichtigen. Aus einer daseinsanalytischen Sicht akzeptiert HÄFNER (1959/60, S. 675) zwar die von der Psychoanalyse beschriebene Über-Ich- und also auch Gewissensbildung, meint aber, dass diese zu einer anfangs zwar notwendigen, später aber zu durchbrechenden Anpassung führe, und fordert ein darüber hinausgehendes Gewissen höherer Qualität: »Wenn man die Individualität der menschlichen Person bejaht, dann muß man auch zur Existenz eines personalen Gewissens jenseits der Über-Ich-Funktionen stehen.« Ebenso spricht BOSS (1962, S. 21) vom »eigenen Gewissen« im Gegensatz zu den »Dressurprodukten« der Gebote und Verbote der Eltern. FROMMS (1947) ähnliche Unterscheidung zwischen autoritärem Gewissen – das er mit dem Über-Ich gleichsetzt – und humanistischem Gewissen – das dem personalen Gewissen HÄFNERS entspricht – passt hier gut hinein. Ich denke, in diese Dichotomie der Gewissensarten gehören auch die Gedanken BALLYS (1960) über die zwei Möglichkeiten, schuldig zu werden: Angepasste Menschen halten sich streng an die Gebote, die sie vorfinden, tun ihre Pflicht, gehorchen der Obrigkeit und suchen sich »in der Verfestigung in ethischen Geboten und Gesetzen ..., was gut und böse ist«, abzusichern (BALLY 1960, S. 308). Die anderen schwingen sich »über jede solche Gesetzlichkeit hinaus« (S. 308), können dadurch zwar in der Hybris scheitern, andererseits aber einem höheren Gewissen folgen, als es die Normen der anderen verlangen. In den 1950er Jahren war wohl die Diskussion um das Dilemma zwischen Autoritätsgehorsam und Verantwortung vor sich selbst angesichts der kaum verblassten Greuel in Nazi-Deutschland (die andererseits bereits kräftig verdrängt waren) besonders aktuell. JASPERS (1946) hatte gleich nach dem Ende Nazi-Deutschlands eine Abwehr von Schuld durch die Berufung auf Staatsräson und hierarchische Abhängigkeiten (»Befehl ist Befehl«) als nun endgültig illegitim verworfen.

Sicher beschreibt auch BUBER (1958, S. 38) eine solche Hierarchie der Gewissensqualitäten, wenn er vom »Vulgärgewissen, das ... unfähig ist, der Schuld auf ihren Grund und Abgrund zu kommen ...« spricht. »Dazu bedarf es eines größeren, eines ganz personhaft gewordenen Gewissens ... Denn es ist dem Gewissen des Menschen eingeboren, sich erheben zu können.« (Sich zu erheben wohl gegen die von Menschen gemachten Gesetze, um eine vorhergesehene größere Schuld zu vermeiden.)

Unverständlicherweise stellt sich FROMM (1947, S. 115) in Opposition zur Psychoanalyse FREUDS, wenn er das autoritäre Gewissen mit dem Über-Ich gleichsetzt, denn FREUD beschreibt ganz ähnlich wie FROMM die an die äußere Autorität angepasste Haltung, die gut oder böse lediglich nach der Anwesenheit der Autoritätsperson und nach der Wahrscheinlichkeit der zu erwartenden Strafe misst, als Vorstufe des Über-Ich. FREUD (1930a, S. 484) meint auch exakt wie FROMM den autoritären Charakter des Erwachsenen, wenn er hinzufügt:

»Beim kleinen Kind kann es niemals etwas anderes sein, aber auch bei vielen Erwachsenen ändert sich nicht mehr daran, als daß anstelle des Vaters oder beider Eltern die größere menschliche Gemeinschaft tritt. Darum gestatten sie sich regelmäßig, das Böse, das ihnen Annehmlichkeiten verspricht, auszuführen, wenn sie nur sicher sind, daß die Autorität nichts davon erfährt oder ihnen nichts anhaben kann, und ihre Angst gilt allein der Entdeckung. Mit diesem Zustand hat die Gesellschaft unserer Tage im allgemeinen zu rechnen.«

FROMM (1947, S. 125; Hervorhebung original) setzt dem autoritären Gewissen das »humanistische« entgegen, das heißt »nicht die nach innen verlegte Stimme einer Autorität ...; es ist die eigene Stimme, die in jedem Menschen gegenwärtig ist und die von keinen äußeren Strafen und Belohnungen abhängt ... Stimme unseres wahren Selbst, die uns auf uns selbst zurückruft, produktiv zu leben, uns ganz und harmonisch zu entwickeln – d. h. zu dem zu werden, was wir unserer Möglichkeit nach sind.« Das Ziel des »humanistischen Gewissens« ist FROMM zufolge Produktivität des Menschen (auch Kreativität, könnte man hinzufügen); HÄFNER spricht von Wandlung, auf die das »personale Gewissen« hinaus will, im Gegensatz zur Unterwerfung und Stagnation, die mit dem Über-Ich-Gewissen verbunden sind. Beide, FROMM und HÄFNER, sprechen von der Angst vor dem Tod (wie auch BUBER, s. o.):

»Das Gefühl, nicht gelebt zu haben, ist die Ursache dieser irrationalen Furcht vor dem Tode. Sie ist der Ausdruck unseres schlechten Gewissens, daß wir das Leben vergeudet und die Gelegenheit versäumt haben, von unseren Fähigkeiten produktiven Gebrauch zu machen« (FROMM 1947, S. 128).

HÄFNER führt die Todesangst auf das Anwachsen der »Existenzschuld« zurück, die beim Angepassten immer größer geworden ist.

Beide Autoren nehmen FREUD in seiner Konzeption des Über-Ich allzu wörtlich und bleiben dabei in der ersten Stufe der Über-Ich-Bildung stecken, in der das Über-Ich noch reine Strafangst war. AUCHTER (1996, S. 87 f.) spricht von »Über-Ich-Gehorsam« und »Über-Ich-Moral«, die zum Kadavergehorsam eines Befehlsempfängers führen, der die Art des Befehls nicht mit dem eigenen Gewissen abgleicht, ihn vielmehr blind befolgt. Denn FREUD beschreibt selbst verschiedene Reifegrade des Über-Ich; er rechnet pessimistischerweise »im allgemeinen« mit der Mehrzahl der Menschen, die auf der Stufe des autoritären Über-Ich steckengeblieben sind. Andere kommen darüber hinaus, indem im »Untergang des Ödipus-Komplexes« eine Identifikation mit ihren Werten stattfindet, die meines Erachtens viel eher eine Hineinnahme in die eigene selbstverantwortete Identität bedeutet als bloße Anpassung aus Unterwerfung. Im Grunde besteht die Aufgabe schon für das etwa sechsjährige Kind, die elterlichen Normen nicht nur introjektiv aufzunehmen, sondern sie zu integrieren, durch Assimilation sich zu eigen zu machen und – insbesondere in einer neuerlichen Bearbeitung in der Adoleszenz – sich durchaus von Teilen dieser elterlichen Angebote und Vorbilder auch wieder zu trennen, um eine Identität im eigenen Recht zu schaffen, etwa unter Einbeziehung anderer Identifikationsmuster außerhalb der Familie. Insofern wird der Mensch auch im psychoanalytischen Entwicklungskonzept nicht aus der Verantwortung entlassen, sich um die Entwicklung des eigenen authentischen Selbst zu kümmern, eine Aufgabe, an der er auch – schuldhaft – scheitern kann.

FROMM und HÄFNER sagen nichts über die Genese des nicht-autoritären Gewissens. Die Philosophie schafft anscheinend zuweilen die Dinge aus sich selbst heraus, wie es in der Formulierung von BRON (1990, S. 481) auch für KANT gilt: »Für KANT ist das Gewissen die ›Stimme des inneren Richters‹ ... KANT verzichtet auf inhaltliche Aussagen über dieses Bewußtsein und fragt nicht nach dem Einfluß psychosozialer Bedingungen und objektiver Ordnungen auf die Gewissensbildung.«

FREUD dagegen vertritt für die Über-Ich-Bildung eine rein psychologische Ansicht: »Ein ursprüngliches, sozusagen natürliches Unterscheidungsvermögen für gut und böse darf man ablehnen« (FREUD 1930a, S. 483), wie bereits erwähnt, denn »ein fremder Einfluß« (S. 483) bestimmt, was gut und böse ist. Heute nehmen wir an, dass es ein angeborenes Potenzial zur Entwicklung von Empathie, Mentalisierung und damit Gewissensbildung gibt, dass diese Entwicklung aber eine fördernde soziale Umgebung voraussetzt. Mentalisierung bedeutet, sich vorzustellen, was im Anderen vorgeht, sodass man in der Identifikation damit ihm nicht antun möchte, was man selbst nicht erleiden will.

Kritik des psychoanalytischen Gewissensbegriffs

Gegen einen solchen Determinismus der Gewissensbildung durch äußere Einflüsse bei FREUD wehrt sich BOSS (1962, S. 35) vehement:

»Ist andererseits ein reifes Sich-schuldig-fühlen-Können seinem Gotte oder seinem Geschicke oder seinem Mensch-Sein gegenüber nur deshalb unecht und etwas Abgeleitetes, Verschobenes, Projiziertes, weil ein Schuldigsein sich auch bei einem Kinde vor seinem Vater ereignen kann?«

Hier handelt es sich um ein drastisches Beispiel von unzulässiger Vermischung von Schuldgefühl und Schuld, noch dazu pathologischem Schuldgefühl (»unecht ... Verschobenes ... Projiziertes«) mit einem Schuldigsein und diesem folgenden Sich-schuldig-Fühlen, das heißt einem realistischen Schuldbewusstsein. Eine derartige Vermischung oder Verwechslung von Schuld und Schuldgefühl findet sich in der Literatur allenthalben (z. B. BALLY 1952, S. 228; BUBER 1958, S. 30; ZACHER 1987, S. 171; vgl. auch KÖRNER 2010, S. 18), erscheint oft unreflektiert und verhindert zu sehen, daß Schuld und Schuldgefühl tatsächlich (und nicht wegen ihrer unsauberen Definitionen) ineinander übergehen können. Als ginge es der Psychoanalyse tatsächlich darum, ein »psychotherapeutisches Gewissensabbauverfahren« (BOSS 1962, S. 22) zu installieren oder »einen Analysanden sich wirklich und grundsätzlich schuldlos fühlen zu lassen« (S. 36). Es scheint sich um ein grandioses Missverständnis zu handeln, über dessen Hintergründe hier nur spekuliert werden kann. Zum Beispiel könnte das Interesse an der Aufrechterhaltung irrationalen Schuldgefühls und die Befürchtung, die Psychoanalyse könnte allzu weitgehend von Schuldgefühl und damit von Abhängigkeit befreien, zu der Unterstellung geführt haben, sie wolle und sei fähig, jede Schuld »abzubauen«. Dass die Psychoanalyse sich mit den intrapsychischen Schuldgefühlsmechanismen beschäftigt, heißt doch keineswegs, dass sie die Existenz realer Schuld einfach negiert; sie beschäftigt sich eben nicht damit. Noch weniger bedeutet das aber, dass sie verspricht oder auch nur andeutet, je reale Schuld genauso wie irrationales Schuldgefühl »aus der Welt schaffen« zu wollen (BALLY 1952, S. 228).

Trotz aller Polemik unterscheidet BOSS (1962, S. 61) schließlich doch zwischen neurotischem Schuldgefühl und existenzieller Schuld. »Es kann einem Menschen von klein auf eine Moral andressiert worden sein, die sein Eigenwesen ... wesentlich behindert und verstümmelt ...« Genau dem wäre zuzustimmen, dass es nämlich gerade auf die Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl (letzteres kann durchaus erstere bewirken oder vergrößern!) ankommt, um beide differenziert würdigen zu können.

Die Sorge der daseinsanalytisch orientierten Autoren scheint zu sein, dass das, was sie als autochthones oder eigenes, auch personales Gewissen bezeichnen, von dem Über-Ich- bzw. Gewissensbegriff der Psychoanalyse absorbiert wird. HOLE (1989, S. 97) dagegen versteht die Über-Ich-Bildung als »stets notwendige[s] Durchgangsstadium«, in der eine Internalisierung von Werten und Normen stattfinde. Ohne eine Basis sei die »Bildung eines persönlichen Gewissens ... psychologisch nicht denkbar«.

Eine ähnliche Befürchtung, dass die Psychoanalyse sowohl Schuld als auch ein ursprüngliches Gewissen abschaffen wolle, scheint die christliche Theologie zu bewegen. BAUMANN und KUSCHEL