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Beschreibung

Die Musiktherapie "boomt" und ist zunehmend Pflichtwissen für zahlreiche Gesundheitsberufe. Denn Rhythmus, Dynamik, Form, Klang und Melodie eröffnen auf inzwischen nachgewiesene Weise den Zugang zum seelischen und körperlichen Befinden des Menschen. Dabei läßt sich Musik in Medizin und Therapie vielfältig einsetzen. Die Ansätze spiegeln die gesamte Palette (psycho-)therapeutischer und analytischer Verfahren wider. Sie erwachsen aus medizinischem und psychologischem Fachwissen oder nehmen Anleihen aus der Philosophie und aus anderen Kulturen. In diesem Standardwerk beschreiben führende MusiktherapeutInnen ihre Konzepte. Sie zeichnen die Entwicklung des jeweiligen Ansatzes nach, führen in die spezifische Methode ein und zeigen ihre praktische Anwendung.

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Schulen der Musiktherapie

Herausgegeben von Hans-Helmut Decker-Voigt

Mit Beiträgen von

Sabine Bach, Monica Bissegger, Claudine Calvet-Kruppa, Hans-Helmut Decker-Voigt, Isabelle Frohne-Hagemann, Dagmar Gustorff, Fritz Hegi, Karl Hörmann, Susanne Metzner, Karin Schumacher, Ralph Spintge, Gerhard Tucek, Rosemarie Tüpker, Eckhard Weymann, Thomas Wosch, Melanie Voigt

Mit 18 Abbildungen und 9 Tabellen

Ernst Reinhardt Verlag München Basel

Der Herausgeber: Prof. Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt, Psychologe, Musiktherapeut, Ausdruckstherapeut und Schriftsteller, Lehrstuhlinhaber für Musiktherapie und Direktor des Instituts für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, sowie ehrenamtlicher Präsident der Herbert von Karajan-Stiftung, Berlin

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Schulen der Musiktherapie : mit 9 Tabellen / hrsg. von Hans-Helmut Decker-Voigt. Mit Beitr. von Sabine Bach … – München ; Basel : E. Reinhardt, 2001 ISBN 3-497-01574-1

© 2001 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Ernst Reinhardt Verlag, Postfach 38 02 80, D-80615 München Net: www.reinhardt-verlag.de Mail: [email protected]

Inhalt

An-Sprache

Geschichtlicher Abriss der Musiktherapie in der BRD – aus höchst subjektiver Sicht

von Hans-Helmut Decker-Voigt

Musiktherapie – ein Orchideenfach zwischen den Stühlen der Gesundheitswissenschaften? Ein präludierender Essay in die „Schulen der Musiktherapie“

von Hans-Helmut Decker-Voigt

Psychoanalytische Musiktherapie

von Susanne Metzner

Morphologisch orientierte Musiktherapie

von Rosemarie Tüpker

Warte auf nichts Zur Ausbildung in Improvisation als Verfahren der Musiktherapie

von Eckhard Weymann

Die Relevanz entwicklungspsychologischer Erkenntnisse für die Musiktherapie

von Karin Schumacher und Claudine Calvet-Kruppa

Gestalt-Musiktherapie

von Fritz Hegi

Musiktherapie vor dem Hintergrund integrativer Theorie und Therapie

von Isabelle Frohne-Hagemann

Psychiatrische Einzelmusiktherapie als Modifikation von Leipziger Schule und Verstehender Psychiatrie

von Thomas Wosch

Schöpferische Musiktherapie nach Nordoff-Robbins

von Dagmar Gustorff

Musiktherapie nach Gertrud Orff – eine entwicklungsorientierte Musiktherapie

von Melanie Voigt

Multimodale Musik- und Tanztherapie

von Karl Hörmann

Musik in der Ausdruckstherapie

von Sabine Bach

Altorientalische Musiktherapie (AM) in Praxis, Forschung und Lehre

von Gerhard Tucek

Anthroposophische Musiktherapie

von Monica Bissegger

Aspekte zum Fach MusikMedizin

von Ralph Spintge

„So kämpfet nun, Ihr munt’ren Töne …“ Ein postludierender Essay zum therapeutischen Erleben von damals bis morgen

von Hans-Helmut Decker-Voigt

Die Autorinnen und Autoren

An-Sprache

Liebe Leserin, lieber Leser,liebe LeserInnen,liebe(r) Leser(in) …

… Sie merken: Es geht um weibliche und männliche Anredeformen, wie sie in diesem Buch verwendet werden. Autorinnen und Autoren sowie Herausgeber verwenden die Anredeform unterschiedlich, teilweise aus inhaltlichen Gründen auch innerhalb einzelner Beiträge.

Wir alle zusammen legen Wert darauf, dass die jeweils benutzte Anredeform intergeschlechtlich adressiert ist und beide Geschlechter einbezieht.

„Metageschlechtlich“ treffen wir uns vielleicht in folgenden Gedanken von Frauenpersönlichkeiten, die die Therapieentwicklungen wesentlich mitprägten. Ich stelle sie diesem Buch voran im Bewusstsein, dass ich – als Mann – in einem Beruf des weiblichen Prinzips arbeite.

Was ist Musiktherapie? Die Frage zieht sich durch alle Gedanken, die die englische Musiktherapeutin Mary Priestley in ihren beiden Büchern durcharbeitet, die – in das Deutsche übersetzt – inzwischen den Rang von Primärliteratur und Quellentext einnehmen („Analytische Musiktherapie“, 1983 und „Musiktherapeutische Erfahrungen“, 1982). Die Substrate ihrer Arbeit: Musiktherapie ist mehr als ein Beruf, jedoch ein spärlicher Broterwerb. Musiktherapie ist eine Existenzweise darin, die Schranken im Verbum durch das Praeverbum Musik zu öffnen und Wege freizumachen … Mary Priestley als Mutter wichtiger Musiktherapie-Strömungen in England wurde quasi zur Großmutter der deutschen Musiktherapie-Entwicklung.

Entwicklungen von Kindern wie Fächern werden jedoch von mehreren Großeltern-Teilen geprägt. Von Gertrud Katja Loos (gestorben 2000), einer deutschen Großmutter unserer Fachentwicklung, ein relativ aktuelles Zitat (aus dem Begleitheft zur Videokassette „Meine Seele hört im Sehen – Spielarten der Musiktherapie“, 1996):

„Musik ist Urbild und Abbild von Raum (im Klang) und Zeit (im Rhythmus).“ (S. 1)

„Kann man mutmaßen, daß die musikalischen Grundstoffe wortlos das bewirken können, was jeder Mensch in seinem jeweiligen Zustand braucht?“ (S. 11)

„Der erste Dialog des Menschen mit der Welt kann als eine Art musikalischen Zusammenspiels betrachtet werden und konstituiert die Fähigkeit zweier Menschen, in Beziehung zu treten.“

Karin Schumacher

„Kunst ist aber ‚kein freies Spiel der Möglichkeiten‘ sondern ein ‚befreiendes Spiel der Wirklichkeiten‘.“

Heide Göttner-Abendroth

Dank sage ich für wichtige Hilfestellungen bei diesem „Musiktherapie-Schul(en)buch“:

der Lektorin Dipl.-Psych. Ulrike Landersdorfer für die Erstmotivierung zu diesem Buch und die Begleitung desselben als Lektorin des Reinhardt Verlages.

Wie immer: Meiner Frau Christine als Erstleserin und redaktionell engster Mitarbeiterin.

Jens Küster als beruhigend souveränem Behandler und Einrichter unserer PC-Anlagen anlässlich der Standardisierung der Disketten unserer AutorInnen, die eben alles möglich machen und alles Mögliche machen (die AutorInnen) – nur keine Standardisierung …

Hans-Helmut Decker-Voigt

Hamburg und Allenbostel/Lüneburger Heide Im März 2001

Geschichtlicher Abriss der Musiktherapie in der BRD – aus höchst subjektiver Sicht

von Hans-Helmut Decker-Voigt

Als mich der Reinhardt Verlag um die Realisierung eines „Lehrbuches der Musiktherapie“ bat, befragte ich einige Kolleginnen und Kollegen nach ihrer Meinung. Ist der Zeitpunkt für ein Lehrbuch richtig oder zu früh? Ist „Musiktherapie“, sind Musiktherapien und sind damit auch wir, die wir sie in Lehre, Praxis und Forschung repräsentieren, nicht noch zu sehr in der Profilierungsphase befangen – zeitlich also weit vor der Unbefangenheit, die ein „gültiges“ Wissenschaftsprofil inmitten anderer Wissenschaftsprofile kennzeichnet? Oder: Ist Musiktherapie insgesamt nicht viel zu komplex geworden, als dass sie beschreibbar wäre?

Unter den weiterführenden Fragen gab es auch die gegenteilige Frage, ob es nicht schon zu viele Übersichts- und Grundlagenwerke gäbe.

Die Antwort auf diese Fragen halten Sie in Händen und die erwähnten Kolleginnen und Kollegen sind unter den AutorInnen dieses neuen Kompendiums.

Nicht nur auf Sigmund Freuds Nadelspitze der Gegenwart trafen sich Vergangenheit und Zukunft. Doch jetzt zur Vergangenheit und den Schichten der Geschichte der Vor-Läufer dieses Buches:

1983

1983 erschien das erste „Handbuch Musiktherapie“, das ich in Verbindung mit Johannes Th. Eschen, Stella Mayr und Klaus Finkel (gest. 1980) herausgab: In ihm gaben vierundzwanzig AutorInnen Einblicke in sechs Felder der Musiktherapie in Praxis, Forschung und Lehre. Die sechs Perspektiven waren:

  Musiktherapie in der Klinik,

  in der Sonderpädagogik,

  in der Sozialpädagogik,

  in multimedialen Therapieverfahren,

  Musiktherapie im Verbund mit Medizin und

  mit Psychologie.

Diese sechs Felder erscheinen mir aus heutiger Sicht geradezu anrührend zufällig und bescheiden bis dürftig in ihrer vordergründigen und wenig Zusammenhang ausweisenden Addition.

Und doch waren diese Perspektiven eine Abbildung der damaligen Entwicklungsprozesse der Musiktherapie nach dem Krieg bis Anfang der 80er Jahre.

Die im internationalen Vergleich relativ späte Ausprägung der Musiktherapie im deutschsprachigen Bereich als tiefenpsychologisch-phänomenologisch orientierte künstlerische Psychotherapieform hatte denselben Grund wie die späte Nachkriegs-Etablierung der Psychoanalyse in der BRD: Das tiefenpsychologische Denken war während des Nationalsozialismus mitsamt seinen Denkern emigriert und brauchte Zeit zurückzukehren.

Bekannt gewordene Praxisforschung gab es zu diesem Zeitpunkt (1983) in den folgenden Zusammenhängen: Musiktherapie

  im stationären Klinikbetrieb überwiegend in Psychiatrie und Psychosomatik (meist analytisch-explorative Musiktherapie von Mary Priestley, dann die Nordoff-Robbins-Methode sowie die beginnende Morphologische Musiktherapie von Rosemarie Tüpker/Eckhard Weymann et al.),

  in der Sonder- und Sozialpädagogik (z. B. Karl-Jürgen Kemmelmeyer, Werner Probst, Klaus Finkel, Almut Seidel und Hartmut Kapteina),

  in der Medizin (Gerhart Harrer, W. J. Revers),

  in der Anthroposophie (Rita Jacobs).

(Ich weiß, ich fasse mich für manche schmerzhaft kurz.)

Ausbildungsmäßig gab es zwei berufsqualifizierende Studiengänge im staatlichen Bereich (Heidelberg und Hamburg), daneben etliche private Ausbildungen.

Die verbandspolitische Landschaft der Bundesrepublik fünf Jahre vor der Auflösung der DDR war wie in einem Kleinstaatenverbund aufgesplittert in verschiedenste kleine und größere Gruppierungen: Von der anthroposophisch orientierten Musiktherapie-Arbeitsgemeinschaft über Berufsverbände (damals mindestens drei) bis zur Deutschen Gesellschaft für Musiktherapie (DGMT) als Interessenverband.

Von Westdeutschland und seinen Musiktherapie-Entwicklungen aus gab es zur Musiktherapie in der DDR und damit gegenüber Christoph Schwabes Forschungen die dankbar-würdigende Haltung, bis Anfang der 70er Jahre (auch für die westdeutschen Pionierjahre) die einzig nennenswerte systematische klinische Forschung für Musiktherapie vorangetrieben und veröffentlicht zu haben.

„Musiktherapie in Deutschland“ bedeutete für die ausländischen KollegInnen auf internationalen Tagungen entweder Christoph Schwabe – oder aber die Musikforschungen in der Medizin der Österreicher Harrer und Revers.

1996

Im zusammen mit Eckhard Weymann und Paolo J. Knill herausgegebenen „Lexikon Musiktherapie“ versammelten sich bereits 54 AutorInnen, die auf jeweils ca. fünf Druckseiten Einblicke in ihre Schwerpunktfelder mit Definition, Position, Wissenschaftskontext und weiterführender Literatur gaben. Ein Synthese-Versuch von Handbuch und Lexikon, der durch Übersetzungen bis nach China und Japan belohnt wurde.

Das Lexikon entstand vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich gegründeten mittlerweile fünf staatlichen bzw. staatlich anerkannten Studiengänge, die nun zusammen mit den in der Öffentlichkeitswahrnehmung eher zurücktretenden privaten Ausbildungen Lehre, Forschung und Praxisfelder zu repräsentieren begannen.

Das war vor sechs Jahren und die früher angegebenen sechs Musiktherapie-Praxisfelder hatten sich auf nahezu sämtliche Bereiche des Gesundheitswesens ausgeweitet: Mit Musiktherapie z. B. in der Inneren Medizin oder Musiktherapie in der Kardiologie oder Anästhesie in Normalkrankenhäusern, in Prävention und Rehabilitation u. v. m.

Gleichzeitig wurde auch in Deutschland bekannter, was international längst zum Musiktherapie-Spektrum gehörte: Musik in der Medizin, d. h. schulmedizinische Behandlungskonzepte mit Musik als erfolgreicher Medikation z. B. in der Schmerztherapie, der Geburtshilfe, dem perioperativen Bereich.

Abb. 1: Wirkungs- und Anwendungsfelder von Musiktherapie,therapeutisch orientierter Musikpädagogik und Musik in der Medizin im Lebenskreis (Decker-Voigt 2000, 231)

Musiktherapie hatte sich nun zum Ende des letzten Jahrtausends wie auch andere Psychotherapie- und Therapieverfahren differenzierter präsentiert

  als alleinige oder ergänzende Heilungsmethode,

  als palliative (Krankheitsfolgen mildernde) Hilfestellung,

  als Coping-Verfahren (Hilfe beim Umgang mit einer lebensbedrohenden oder lebenslang unheilbaren Krankheit),

  als Präventionsmöglichkeit.

In ihrer früheren Bedeutung war Musiktherapie als Fach der Sozialpädagogik nun fast verschwunden, obwohl an deren Fachhochschulen die ersten Lehrveranstaltungen für Musiktherapie ab 1971 stattfanden. Stattdessen entwickelten die sozialpädagogischen Fachbereiche in Siegen (Hartmut Kapteina) und in Frankfurt (Almut Seidel) Weiterbildungsmöglichkeiten in Musiktherapie für soziale Berufe.

„Musiktherapie in der Sonderpädagogik“ erschien vor fünf Jahren wieder deutlich mehr als „Musikunterricht an Sonderschulen“ – mit Ausnahme derjenigen in Musiktherapie berufsqualifizierten Sonderpädagogen, die ausdrücklich neben dem Lehrsoll bzw. darin integriert therapeutische Arbeit mit eindeutig therapeutischem Setting-Charakter anboten (z. B. in Hamburg, Hessen).

2001

Der hier vorgelegte Band „Schulen der Musiktherapie“ weist von den damals vierundzwanzig Handbuch-AutorInnen 1983 noch vier aus, von den vierundfünfzig Lexikon-AutorInnen neun. Zusammen mit den fünf weiteren AutorInnen beschreibt dieser Band nun elf „Schulen“:

  Psychoanalytische Musiktherapie (Susanne Metzner),

  Gestalttherapeutisch orientierte Musiktherapie (Isabelle Frohne-Hagemann, Fritz Hegi-Portmann),

  Morphologisch orientierte Musiktherapie (Rosemarie Tüpker, Eckhard Weymann),

  Entwicklungspsychologisch orientierte Musiktherapie (Karin Schumacher/Claudine Calvet-Kruppa),

  Medizinisch und tiefenpsychologisch orientierte Musiktherapie (Thomas Wosch über die Leipziger Schule/Christoph Schwabe),

  MusikMedizin (Ralph Spintge),

  unterschiedliche mehr künstlerisch orientierte Musiktherapie-Konzepte (Dagmar Gustorff über Nordoff-Robbins, Melanie Voigt über Orff-Musiktherapie),

  Mehrmediale Musiktherapie-Konzepte (Sabine Bach über Musik- und Ausdruckstherapie, Karl Hörmann über Musik- und Tanztherapie),

  Anthroposophische Musiktherapie (Monica Bissegger),

  Altorientalische Musiktherapie (Gerhard Tucek).

Also weniger Autoren und mehr „Schulen“ denn je?

Dieser Band „Schulen der Musiktherapie“ spiegelt – wie 1983 das erste Handbuch – die heutige Gegenwart, eine abermals andere als sie sich noch 1996 im Lexikon präsentierte. Die markantesten Änderungen sind n. m. M.:

1. Bei oder trotz oder wegen der zunehmenden Vernetzung sind wir seit einiger Zeit im Stande, diejenigen Musiktherapie-Strömungen deutlich unterscheiden und benennen zu können, die über die Jahre hinweg kontinuierliche Praxisforschung und Information und Diskussion mit der Fachöffentlichkeit pflegten und so ein Profil schärften, das wir hier als „Schule“ bezeichnen. „Schule“ i. S. jetzt ausreichend gewachsener Kontinuität, so dass dieses Buch und seine „Fest-Schreibung“ von Schulen auch länger als kurz gelten dürfte.

2. Die Konsolidierung der in diesem Sinne aufgenommenen „Schulen“ basiert auf zwischenzeitlich klar profiliertem Menschenbild (das „Warum?“ einer Musiktherapie), auf den daraus resultierenden Handlungsaufträgen und ihren Forschungsinstrumentarien (das „Wie?“ einer Musiktherapie–Methode) und dem sich daraus und dahinter entwickelnden Theorie(n)-Modell, das den Kreis schließt zum Menschenbild und dessen Hintergrund. Voraussetzung solcher Konsolidierung ist Profilierung und diese ist notabene verbunden mit oft schmerzhafter Reibung verschiedener methodischer „Ansätze“ untereinander, oft genug gegeneinander. Wir sind zwar mitten in neuen Reibungen und werden uns immer reiben, aber eben von gefestigteren Positionen aus, die die Autoren dieses Buches schildern.

3. Die tiefenpsychologisch-phänomenologisch orientierten Schulen sind zwischenzeitlich nicht mehr nur „orientiert“ (was ebenso wie „methodischer Ansatz“ eher die Suche nach Profil kennzeichnet als dessen Sichtbarkeit), sondern diese Schulen erscheinen nun auch ausreichend etabliert, um andere gewachsene Musiktherapie-Strömungen mit sich gemeinsam nennen lassen zu können: Etwa mit der von Gerhard Tucek beschriebenen Altorientalischen Musiktherapie. Sie – als ein Beispiel – zeigt sich hier erstmals in Nachbarschaft mit den in unseren deutschen Ausbildungen und Studiengängen gelehrten Schulen.

Weiteres Beispiel: Die Orff-Musiktherapie wird geschildert durch Melanie Voigt, die die didaktische Nachfolgegeneration von Gertrud Orff repräsentiert.

Auch die Musik- und Tanztherapie von Karl Hörmann wurde bisher n. m. M. zu wenig in den früheren Kompendien i. S. von Gesamtansichten gesichtet.

Alle waren einmal Ansätze, Konzepte, die jetzt Schulen wurden und in diesem Band in integraler Nachbarschaft ein neues Übersichtswerk bilden, eine Sicht über das, was Musiktherapie im deutschsprachigen Bereich heute ausmacht. Gemeinsam ist den meisten die Anerkennung des Unbewussten und die Arbeit mit der Übertragungsbeziehung – wenn auch unterschiedlich betont in den mal strenger tiefenpsychologischen Schulen (Bsp. psychoanalytische Musiktherapie, Morphologische Musiktherapie) oder den mehr künstlerischen Schulen (Bsp. Nordoff-Robbins, Gertrud Orff).

Unterschiede werden besonders in den Zeitrichtungen deutlich: Betont die Musiktherapie eher vergangenheitsorientiertes Arbeiten oder gegenwartsbetontes oder zukunftsorientiertes? Auch die Rolle der Musik unterscheidet sich in den verschiedenen Schulen, sodann ihre Bedeutung als mehr künstlerisches oder mehr kommunikatives Medium, als eher rezeptives, also eindrucksorientiertes (Altorientalische Musiktherapie) oder ausdrucksorientiertes Mittel (Musik- und Ausdruckstherapie).

Abgrenzung zu anderen Grundlagenwerken

Im letzten Jahrfünft des letzten Jahrtausends erschienen gleich mehrere Übersichtswerke und Grundlagenschilderungen der Musiktherapie aus jeweils einer Autorenperspektive (die beiden umfassendsten von Henk Smeijsters und Herbert Bruhn). Daneben gab es in kurzer Folge „Einführungsbücher“ in Musiktherapie oder in „die“ Musiktherapie oder in Musiktherapien – von einzelnen Autoren oder Autorenkleingruppen. In Abgrenzung zu diesen Werken schreiben in diesem Buch die VertreterInnen der Schulen selbst. Teilweise sind es Autoren, die die Entwicklung ihrer eigenen Konzepte zu „Schulen“ hin begleiteten:

  Rosemarie Tüpker und Eckhard Weymann die morphologische Musiktherapie,

  Isabelle Frohne-Hagemann die Integrative Musiktherapie,

  Karl Hörmann die Musik- und Tanztherapie,

  Ralph Spintge die Musikmedizin (international als Teilbereich des Arbeitens mit Musik im Gesundheitswesen gesehen).

Dann sind es Autoren, die in zweiter bzw. dritter Generation vor ihnen entstandene Schulen beschreiben – in entsprechend von ihnen weitergeführten, ergänzten oder umakzentuierten Curricula:

  Thomas Wosch die Leipziger Schule nach Christoph Schwabe,

  Dagmar Gustorff die Nordoff-Robbins-Methode,

  Melanie Voigt die Orff-Musiktherapie,

  Monica Bissegger die Anthroposophische Musiktherapie.

Last but not least beschreiben Karin Schumacher und Claudine Calvet-Kruppa Musiktherapie vor dem Hintergrund der neuen Entwicklungspsychologie nach Daniel Stern und anderen „Babywatcher-Forschern“.

Diese Forschungsrichtung ist es n. m. M., die der Musiktherapie in den letzten 15 Jahren einen in fast allen anderen Wissenschaften mindestens respektierten, weitgehend akzeptierten Erklärungszusammenhang über die Bedeutung der Musik im Leben des Menschen gab.

Mein eigener hier nachfolgender erster Beitrag beschreibt meine Sicht der Grundströmungen, die zum heutigen Erscheinungsbild der Musiktherapie führten – und wie ich sie im internationalen Kontext sehe. Mein abschließender Beitrag versucht den Brückenschlag zwischen (Jean Gebserschen) Ursprüngen der Musik im früheren und sich abzeichnenden Gesundheitswesen – mit Blick auf die Rolle des Internet in der Therapie u. a.

Zum Schluss dieses Buchanfangs: Politisches

Indem die originären Autoren neuerer Schulen oder die Nachfolgeautoren älterer Schulen selbst schreiben (auf mehr „Platz“ als im Handbuch 1983 oder im Lexikon 1996) will dieses Buch auch Zeichen für den größer gewordenen Platz von Musiktherapie im heutigen deutschen Gesundheitswesen sein:

  Musiktherapie hat einen noch nie zuvor derart deutlichen Stellenwert als Gesundheitsberuf in der öffentlichen Aufmerksamkeit eingenommen (allg. Medien, Medien des Gesundheitswesens), was ich als Folge der Akzeptanz bei der Patienten-Klientel und zeitgleicher Öffentlichkeitsarbeit sehe.

  In Folge davon hat sich deutliches Interesse von Landesregierungen und einzelnen Bundespolitikern an der Entwicklung von Musiktherapie etabliert, die zwar (noch) nicht intervenierend handeln, aber mit zu folgenden öffentlichen Aktivitäten beitrugen:

  Es wurden trotz (noch) nicht erfolgter gesetzlicher Absicherung des berufspolitischen Profils (etwa im Rahmen des psychologischen Pschotherapeutengesetzes oder eines gesonderten Musiktherapie-Gesetzes analog dem für Logopädie) und trotz notorischer Geldinsuffizienz im Hochschulbereich und im Gesundheitswesen zwei weitere staatliche Studiengänge gebildet (Magdeburg realisiert und Augsburg in Planung).

  Es hat sich in der BRD die Öffnung und Neugier von Stiftungsinstitutionen bewährt, welche Musiktherapie-Entwicklung stützen und Kooperationen im Inland und Ausland finanzieren (vorwiegend in Ländern des früheren Ostblocks im Blick auf deren EU-Anwartschaft bzw. in Fernost, Bsp. Japan, Taiwan).

  Es hat sich nach den Ernüchterungen und Desillusionierungen in der Beziehung zwischen ost- und westdeutscher Musiktherapie durch Vertreter der jüngeren Generation Kooperationsfähigkeit gezeigt – etwa in der Vorreiterrolle der Fachhochschule Magdeburg für das übergreifende erste virtuelle Seminar für Musiktherapie.

  Es hat sich eine inzwischen zur Kooperation fähige Annäherung von Musiktherapie und Musik in der Medizin gezeigt – etwa durch die Schaffung der weltweit ersten Professur für Musikmedizin am Institut für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (Ralph Spintge).

  Regional sind einzelne Krankenkassen, die offiziell Musiktherapie seit der Gesundheitsstrukturreform II nicht einmal im Heilmittelkatalog finden, zu folgender Notlösung gelangt: Sie finanzieren Musiktherapie in Selbsthilfegruppen (z. B. im Bereich Kardiologie-, Psychoonkologie-, Rheuma- und Parkinson-Klientel) dadurch, dass sie zwar nicht Musiktherapeuten bezahlen, wohl aber die Selbsthilfegruppen – damit die sich ihrerseits Musiktherapeutinnen auf Honorarbasis ermöglichen können.

  Zwischenzeitlich (1993) hatte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ihren angeschlossenen Rehabilitations-Kliniken für Herzerkrankungen freigestellt, ob sie MusiktherapeutInnen oder PsychologInnen beschäftigen wollte. (Auch wenn diese Regelung dann nicht weitergeführt wurde aufgrund der neuen gesetzlichen Regelung, war dies ein Signum für eine beginnende Anerkennungs-Bewegung im Netzwerk Gesundheitswesen, das sich weiter bewegen wird.)

  Es hat sich unter dem Druck von EU-Netzwerkbildung und Globalisierung die internationale Kooperation einzelner Länder im Gesundheitsbereich als interdependent erwiesen, ablesbar an deutschen Übersetzungen bis nach Japan, China und Korea und etlichen Kooperationsverträgen (Bsp. Ungarn, Frankreich, Taiwan) in Folge von Aktivitäten des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD) und international operierender Stiftungen (wie z. B. die Hamburger Stiftung zur Entwicklung von Wissenschaft und Kunst von Prof. Dr. Helmut und Hannelore Greve oder die Herbert von Karajan-Stiftung Berlin).

  Es haben sich durch die skizzierten gesellschaftlichen Änderungen Interessen an der Musiktherapie, überhaupt künstlerischen Verfahren, in Beratungsberufen (Supervision, Coaching u. ä.) gezeigt, die teilweise in eigene Studiengänge und Praxenbildungen mündeten („Musiktherapeutische Methoden in Beratung und Coaching“ oder „Ressourcenorientiertes Musikerleben für Führungskräfte“, Bsp. European Graduate School in Leuk/Schweiz).

  Es sind Konzeptionen für holistisch orientierte Modellkliniken im Entstehen, die die mir bekannten Musiktherapie-Methoden der verschiedenen Schulen von vornherein in den allgemeinen Behandlungsverbund und in alle Teambehandlungen integrieren wollen.

Natürlich gibt es Rückschritte und schmerzhafte Einschnitte auch in der Entwicklung der Musiktherapie, die mitgeschoren wurde von den Messern der Gesundheitsstrukturreformen I und II. Die Gesundheitsstrukturreform III wird uns ab Ende 2002 auch nicht auf Rosen betten, sondern Betten und staatlich subventionierte Therapieplatz-Möglichkeiten weiter abbauen.

Gleichzeitig hat aber die Zukunft der neuen Kondratieff-Welle schon begonnen (siehe mein nachfolgender Beitrag „Musiktherapie zwischen den Stühlen?“), nach der und in der das Individiuum in den Industrieländern sein privates Geld in noch nie gekannter Dimension investieren wird in – seine Gesundheit.

Angesichts der Beiträge dieses Buches und angesichts des gesundheitspolitischen Kontextes, in dem dieser Band erscheint, mögen diejenigen, die mit diesem Buch arbeiten werden, sich motivieren lassen von dem, was in und für Musiktherapie gewachsen ist und was sich an weiterer Entwicklung hin zu einem etablierten Gesundheitsberuf abzeichnet, der zu den ältesten Heilkünsten der Menschheit gehört.

Literatur

Bruhn, H. (1999): Musiktherapie, Geschichte – Theorien – Methoden. Hogrefe, Göttingen

Decker-Voigt, H.-H. (2000): Mit Musik ins Leben – Klänge in Schwangerschaft und früher Kindheit. Ariston, Kreuzlingen

–, Knill, P. J., Weymann, E. (1996): Lexikon Musiktherapie. Hogrefe, Göttingen

–, Eschen, J. Th., Finkel, K. (1983): Handbuch Musiktherapie. Eres, Lilienthal/Bremen

Finkel, K. (1979): Handbuch Musik und Sozialpädagogik. Bosse, Regensburg

Gebser, J. (1973): Ursprung und Wirklichkeit. DTV, Stuttgart

Harrer, G. (1975): Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsychologie. Fischer, Stuttgart

Hörmann, K. (1988): Musik- und Tanztherapie. Hettgen, Münster

Kapteina, H. (1979): Musikpädagogik mit Familien. In: Finkel, K. (1979), 221–239

Kemmelmeyer, K.-J., Probst, W. (1981): Quellentexte zur Pädagogischen Musiktherapie, Bosse, Regensburg

Kondratieff, L. A. (1996): Der sechste Kondratieff. Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information. Rhein-Sieg, St. Augustin

Nordoff, P., Robbins, C. (1983): Musik als Therapie für behinderte Kinder. Klett-Cotta, Stuttgart

Priestley, M. (1982): Musiktherapeutische Erfahrungen. Fischer/Bärenreiter, Kassel

Revers, W. J. (1974): Neue Wege der Musiktherapie. Grundzüge einer alten und neuen Heilmethode. Econ, Düsseldorf

Schwabe, C. (1979): Regulative Musiktherapie. VEB Fischer, Jena

– (1977): Methodik der Musiktherapie und deren theoretische Grundlagen. Barth, Leipzig

Seidel, A. (1980): Soziale Kulturarbeit am Beispiel Musik. Bosse, Regensburg.

Smeijsters, H. (1999): Grundlagen der Musiktherapie. Hogrefe, Göttingen

Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett-Cotta, Stuttgart

Musiktherapie – ein Orchideenfach zwischen den Stühlen der Gesundheitswissenschaften?

Ein präludierender Essay in die „Schulen der Musiktherapie“

Von Hans-Helmut Decker-Voigt

Abb. 1: Hintergründe gegenwärtiger Musiktherapie-Richtungen

Perspektive auf Musik(therapie) vor dem Hintergrund der Medizin

Peter Petersen nennt drei Kriterien des medizinischen Profils von heute:

1. den Absolutheitsanspruch rationaler Logik, die sich

2. gegenwärtig zunehmend auf Massenstatistik stützt.

3. Das Ideal der Objektivität.

Weitere Positionsmerkmale in und für schulmedizinische Behandlungskonzepte:

1. Schulmedizinische Diagnose basiert überwiegend auf den Kausalitäten direkter Zusammenhänge zwischen einem überwiegend zunächst körperlich erscheinenden Symptom und einer dazugehörigen Leidensbefindlichkeit (die Denk- und Handlungswelt des „Wenn – dann“).

2. Solchermaßen symptomorientierte Kausal-Diagnosen erwachsen überwiegend aus der Perspektive des Behandlers für den Patienten. Dasselbe gilt für die Differenzierung der Therapiekonzeptionen in mittelbare Therapien (pharmazeutische Medikationen) bzw. funktionelle Therapien (organ- bzw. funktionsgesteuerte Therapien wie Krankengymnastik, Physiotherapie). Diese Therapien folgen dem allgemein naturwissenschaftlichen Denkprinzip, dass einer objektivierbaren Krankheit mit objektiven Mitteln und objektiven Kontrollinstrumenten dieser Mittel begegnet werden muss.

3. Solchermaßen entstandene Therapie-Konzeptionen und ihre dazugehörigen Zeitrahmen zielen möglichst auf das Aus-Heilen, das „Aus für die Symptome“, ab, und gleichzeitig auf den möglichst kürzesten Zeitrahmen medizinisch-therapeutischer Behandlung, auf minimale Rückfallquoten und maximale Lebenserwartung entsprechender Lebensqualität.

Ein „Zwischen-Bei-Spiel“ für die Konzepte der Musik in der Medizin

Stellen Sie sich vor, ein Patient improvisiert an seinem Instrument den berüchtigt-berühmten Vierer-Rhythmus, der auf der Drei unterteilt wird:

X – X – xx – X

„Berühmt-berüchtigt“ ist diese Unterteilung deshalb, weil – einmal in diesem Rhythmus – ein Herauskommen aus seinem zur Erde ziehenden, zentripetalen, kollektivierenden Sog schwer möglich ist. Denken wir an die Skandierungen dieser Welt, die ihn benutzen („Ho – ho – ho Chi – Minh“ u. v. a.).

Was den Mediziner jetzt an diesem Rhythmus interessiert: Wie sind die vegetativen, biophysischen Körperantworten des Patienten auf diesen Rhythmus, die der Patient improvisiert oder von einer CD als Grundrhythmus bevorzugt. Bewirken die musikalischen Parameter den vom Arzt erwarteten Zustand von Physis und Psyche und Emotio – etwa als anxiolytisch, also angstmindernden Faktor vor einer OP?

Musik in der Medizin steht überwiegend in der Tradition des Kausalitätsprinzips: „Wenn diese Musik – dann jene zu erwartende Wirkung“ und Auswirkung auf den Gesamthaushalt des Patienten.

Musik in der Medizin wird gegenwärtig durch die Medien und seitens der Medien manchmal mit einem unglücklichen Bild vermittelt. Es ist das Bild des Wettbewerbs, der mit Musik erfolgreicher sein will, das Bild, welches auch unter „Musiktherapie“ subsumiert wird. Musikmediziner wie Ralph Spintge hingegen arbeiten an sorgfältigen Definitionen verschiedener schulmedizinischer Richtungen, die in ihre Behandlungskonzepte die Musikrezeption einbeziehen und allgemein unter Musik in der Medizin gefasst werden, auch als Musikmedizin oder als MusikMedizin (spezifiziert auf die Anaesthesie-Konzeption Spintges) auftauchen, und an deren Abgrenzung voneinander bzw. Nähe zueinander. Letztere – Nähe – wird in der gegenwärtigen Musikmedizin gesucht zu den Musik(psycho)therapien, wie sie die AutorInnen dieses Buch beschreiben.

Nicht erst aus den bisherigen beiden Gesundheitsstrukturreformen erwuchsen die manchmal in den Medien sportiv wirkenden Wettbewerbe. In der die Majorität unserer Patienten-Klientel hauptsächlich prägenden Magazinwelt und Boulevardpresse, die in ihrer Meinungsbildung und Verbreitungsdichte in der Fachwelt des allgemeinen Gesundheitswesens zu unterschätzen dümmer wäre, als sie selbst ist, liest sich dies so: „Deutschlands berühmteste 30 Kardiologen“ (Focus), „Die 50 besten Kliniken“ (Spiegel-special), „Wo Sie am schnellsten gesund werden“ (Stern) usw.

Musikmedizin und die begrifflich bekanntere Musiktherapie wird dabei (leider) mitvermarktet im Sinne von „Dr. Mozart bitte in den OP – dann geht alles schneller, besser, ohne Nebenwirkungen“ (Bunte).

TV-Ärzteserien sind in den letzten acht Jahren um ca. 35 % im Programmgesamt der ARD und in den Privatsenderketten erweitert worden – mit ihrem Anteil an melodramatischer Interaktion zwischen fürsorgenden und mehr verliebt gezeigten als liebenden Ärzten gegenüber ihrer Patienten-Klientel. Derlei Serienerfolge sind denn wohl auch kompensatorischer Ausdruck der sehr viel tieferen Sehnsucht ihrer Konsumenten für eine grund-setzendere, grundsätzlich andere Beziehung zwischen (ärztlichen) Behandlern und Behandelten als die Realität des Patientenseins dies bietet.

Auf dem Deutschen Hausärztetag in Bremen wurde während der Musiktherapie-Präsentationen und erst recht danach immer wieder die Hoffnung auch aus dem ärztlichen Behandlerkreis heraus formuliert: Ließe sich nicht mit der Einbeziehung von Musik in die Medizin eben diese kollektive Insuffizienz in der Arzt-Patient-Beziehung neu qualifizieren?

Aufgabe wird sein, hier falsche Hoffnungen von Medizinern in Musik – vom Wunsch als Vater des Gedankens auch Musiktherapie genannt – behutsam umzusteuern in das, was Musiktherapie im Verständnis der inzwischen sieben staatlichen akademischen sowie der fünf größeren privaten Ausbildungsstätten für MusiktherapeutInnen meint und ist: ein selbständiger Heilberuf.

Dessen Methodeninventar kann sehr wohl Adjuvans (i. S. von zuarbeitend, ergänzend) für die medizinische Therapie sein, aber es kann nicht possessiv integriert werden, weil die Psychodynamik des Menschen, wenn diese der Musik begegnet, keiner einzigen Kausalität folgt.

Methodeninventar in der Medizin und Methodeninventar in der Musiktherapie

Methoden entstehen aus der Forschung heraus und Forschungserkenntnisse münden wieder in Methodenverfeinerung und -erweiterung. Die Instrumentarien der Forschung in Medizin und Musiktherapie müssen sich zwangsläufig unterscheiden: Die eine – medizinische Forschung – basiert auf naturwissenschaftlich begründetem Denken und Handeln (Peter Petersen: „Massenstatistik“), die andere – musiktherapeutische Forschung – auf den Erkenntnissen, die die Begleitung der menschlichen Psychodynamik ergibt. An der menschlichen Psychodynamik orientierte Erkenntnisse bedeuten per se immer die Orientierung an der unverwechselbaren Dynamik der Psyche des Einzelnen und können gegenwärtig nur in „Mischform-Instrumentarien“ angenähert werden an naturwissenschaftliches Denken. Ein Beispiel ist die moderne Psychotherapieforschung, die qualitative Erkenntnisse aus einzelnen Fallbeispieldarstellungen auf einer Metaebene sammelt und von dieser Vergleiche mit anderen Fallbeispielanalysen anstellt.

Medizin forscht quantitativ, Musik(psycho)therapie qualitativ. Die gegenwärtigen Annäherungen sind möglich, weil das Forschungsobjekt ein gemeinsames ist: der Patient.

Die Wahl der Forschungsmethoden hängt letztlich von der genauen Zielklärung ab. „So sind qualitative, hermeneutische Verfahren zu bevorzugen, wenn es z. B. um die Erforschung psychogenetischer Zusammenhänge, um das Verstehen seelischer Prozesse oder des Erlebens von Musik geht. Die Frage nach der Häufigkeit des Musikhörens in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen erfordert die Anwendung quantifizierender Verfahren und statistischer Auswertungsmethoden“ veranschaulicht Rosemarie Tüpker (1996).

Insgesamt jedoch bleiben Patienten gegenwärtig mehr „Treffpunkte“ der quantitativen und qualitativen Forschung. Erstere folgt bei Instrumentarien der naturwissenschaftlichen Medizin immer noch der Sicht des „gelehrten Herrn (der Medizin)“, wie ihn Mephistopheles vor Kanzler und Kaiser beschreibt:

„Daran erkenn ich den gelehrten Herrn! Was Ihr nicht tastet, steht euch meilenfern,was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar, Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr, Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht, Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht“(Goethe, Faust 1. Teil).

Dagegen stand lange in einer Art Feindbildsicht der qualitative Blick derjenigen Forschung, die sich vom „Erbsenzählen“ mit seinen Kontrollgruppen abwandte und der Beziehungsgestaltung zum einzelnen Patienten zuwandte. Der Abstand ist heute verringert durch Annäherungen der klinischen Psychologie-Forschung an die Medizin und der Medizin an die zunehmend holistische Sicht von der Gesamtpersönlichkeit des Patienten.

Gelungen ist diese Annäherung überall dort, wo authentische Teambehandlung besteht. Etwa in der Onkologie verzichtet kaum ein Arzt mehr auf die psychologische und (kunst-,) musiktherapeutische Teambehandlung derselben Patienten.

Vor nun etwas mehr als 100 Jahren verdichtete sich mit den Großvätern der Psychoanalyse die Gegenströmung zu der naturwissenschaftlichen Kausalität der Schulmedizin.

Perspektive auf Musik(therapie) vor dem Hintergrund der Psychoanalyse

Tiefenpsychologie/Psychoanalyse ist eine Gegenbewegung zur Schulmedizin nicht nur und nicht erst in der freudschen Ära.

Geboren aus der damals deutlich überwiegenden einseitigen Orientierung der Schulmedizin am Somatischen, orientierte sich die Psychoanalyse nun an der Dynamik des Seelischen, am psychisch-emotionalen Erleben des Patienten und lenkte die bisherige Perspektive auf seh-, fühl- und erzählbare Symptome um – und zwar in die Perspektive auf die Phänomene im Rezipieren und im Ausdruck des Menschen und seiner Auswirkung auf die soziale Umgebung, die – wie er selbst – weitestgehend mehr un- als bewusst gesteuert ist.

Weitere Grundannahmen damals und heute: Nicht nur die Erkrankungen unserer Psyche und unseres Geistes, unseres emotionalen Haushalts und unseres Gemüts leiten sich aus Unbewältigtem, Unerledigtem, Verdrängtem, Abgespaltenem in diesem Unbewussten ab.

Bald nach den Anfängen der klassischen Psychoanalyse etablierten sich Lehrmeinungen, dass tiefenpsychologische Konzepte nicht nur für die aus psychischen Kränkungen heraus entstandenen Krankheiten nutzbar seien, sondern für ein weites Feld bisher somatisch betrachteter und behandelter Krankheiten. Diese Lehrmeinungen führten zur bis heute gültigen Sichtweise u. a. der Heidelberger Schule um Viktor von Weizsäcker: Körperliche Symptome nehmen in bestimmten Erkrankungszusammenhängen Stellvertretung für Seelisches ein.

Dies geschieht, wenn das psychisch-emotionale Energiepotential des Menschen über seine individuelle Belastbarkeitsgrenze hinaus strapaziert wird. Dies geschieht, wenn – zeitgestreckt oder plötzlich – eine Kränkung wirkt, die zur Krankheit wird, zur seelischen Verletztheit, zu einem Trauma.

Auch heute noch gilt für den mir bekannten größeren Teil der psychoanalytisch geprägten Schulen das „Erinnern-Wiederholen-Durcharbeiten“ als Formel, die eine psychoanalytische hieß, welche – jedenfalls von Freud – keineswegs an ausschließlich erkrankte Menschen adressiert war.

Etwas Patriarchales nahm die frühe Psychoanalyse trotz und wegen ihres Gegenströmungscharakters zur Schulmedizin aus eben dieser Schulmedizin mit: Die Abhängigkeit des Patienten von der Autorität des Behandlers. Die von einem Tobias Brocher oder Eugen Drewermann oder Brunnert oder Mitscherlich reich dokumentierte Fallbeispiel-Arbeit zeigt Diagnose und Therapiekonzeption entweder gänzlich oder überwiegend beim Arzt, beim Analytiker. Der Patient folgte eher der Kompetenz des Arztes bzw. Analytikers, als dieser dem Patienten, wie es später in der humanistischen Psychologie dann eine Forderung wurde bis zum: „Die Diagnose macht letztlich der Patient.“

Dennoch: Bei allen Erschwernissen durch beibehaltene Einseitigkeit, denen die Tiefenpsychologie durch die Spiegeleffektbildungen ausgesetzt war, setzte sie eines wieder durch, was der Medizin in ihrer mentalen und zunehmend apparativen Perfektionierung abhanden gekommen war: die Beziehung.

Sie – die Beziehung – zeigte sich jetzt – vor 100 Jahren – im zunächst eng verstandenen Kleid der Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehung und aus ihnen erwachsenden Assoziationsmaterialien sowie Deutungsangeboten unter dem Hut und dem vermeintlichen Behütetsein der Abstinenzregel als Ebene des Prozesses, der die seelischen Wendungen, die Veränderungen bergen kann, welche heilsam sind.

Das zentrale Medium, das der Beziehung zwischen Analytiker und Analysand/Patient diente, war das Wort.

Zum ersten Mal wurde systematisch das bisherige Handwerkszeug der Schulmedizin (von der Zahnreißstange angefangen, auf den Bildern eines Pieter Brueghel zu fürchten, über die Virtuosität der klug geführten Feinmechanik chirurgischen Bestecks – zu bewundern in jedem Feature über Herz- u. a. OPs – bis zu den nicht mehr zählbaren pharmakalogisch begründeten Therapiekonzepten) ausgetauscht durch Beziehung. Das in ihr tragende und das sie pflegende und verlebendigende Medium war das gesprochene Wort.

Dieses Wort – ob in der Schilderung der Assoziationen durch den Patienten oder der Deutungsangebote des Analytikers – es geriet durch die Psychoanalyse und deren Arbeit mit Symbolen in eine Bedeutung, die ihm vorher nur aus der Verdichtung von gesprochener Sprache zu Literatur, Dichtung zuwuchs.

Zwischen-Bei-Spiel für Musik(therapie) vor dem Hintergrund der Psychoanalyse

Spielen wir, erinnern wir jenen zentripetalen Rhythmus:

X – X – xx – X

Improvisiert ein Patient diesen Rhythmus, dann wird er im psychoanalytisch orientierten Setting eingeladen werden zu Fragen, an was ihn dieser Rhythmus erinnere, wo er ihm möglicherweise begegnet sei? Situationen, Personen, Emotionen heute … damals … früher?

Mit dem Erinnern des Patienten wird geforscht, wieweit es sein eigener Rhythmus wohl ist. Oder ein aufgezwungener, zwangssozialisierter Rhythmus, der den eigenen Lebensrhythmus überlagert.

Perspektive auf Musik(therapie) vor dem Hintergrund der humanistischen Psychologie

Ich sehe die Strömung der humanistischen Psychologie (die mich am meisten prägte) aus heutiger Sicht ebenfalls gewachsen und erwachsen geworden auch und u. a. aus einem Motiv der Abgrenzung heraus, der Gegenströmung zu etwas: Gegenströmung zur Psychoanalyse, deren Abhängigkeit von der Deutungswelt, ihrer einseitigen Akzentuierung des Psychisch-Emotionalen und Ausgrenzung der dazugehörigen Körperlichkeit. Abgrenzend die Betonung der Vergangenheit und frühen Kindheit des Patienten, abgrenzend die Abstinenzregeln als Beziehungsbremse. Abgrenzend die überwiegend langzeitorientierten Behandlungskonzepte.

Positionen der humanistischen Psychologie und der von ihr geprägten Musiktherapie

Selbstfindung wird betont als Lebensziel. Ganze Methodenkulturen mit diesen Zielbegriffen wurden entwickelt. Erinnern wir die Inflation der Begriffe in den 70ern: Selbstausdruck, Selbstverwirklichung, Selbstdarstellung – unter dem Rahmenziel der Selbstfindung, abgestimmt mit den Zielen der sozialen Kohäsion und dem Respekt davor, dass jeder andere Mensch sich auch suchen und finden können müsse in seinem Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung.

Autoritäten wurden in sich selbst und nicht außerhalb gesucht. Das in den 70ern von Ruth Cohn für spezielle Settings in Pädagogik und Therapie entwickelte Postulat des „Be your own chairman“ wurde begeistert und längst vor Cohn durch die Väter und Mütter der Gestalttherapie (Fritz Perls, Carl Rogers u. a.) geradezu im positiven Sinne inflationär in andere Gesellschaftsbereiche getragen.

In der Klimatologie der Musiktherapie in humanistischen Therapie-Kontexten entstanden Formeln wie „be the artist of yourself“ oder „your life is your art“ auf Denk- und Handlungsebenen, die die Annäherung an die Nachbarkünste und später manche Integrierung derselben – etwa in der Expressive Therapy/Ausdruckstherapie (Paolo J. Knill) „diaphanieren“ ließ, um mit Jean Gebser zu sprechen.

Entsprechend wandelte sich die Beziehung im therapeutischen Setting, in dem nun die Diagnose mindestens „mit dem Patienten zusammen“ erfolgte – gewarnt von den leider unzähligen Schreckensgeschichten falsch diagnostizierter und fehlbehandelter Patienten aus dem psychiatrischen und psychosomatischen Krankheitsformenfeld.

Wir erleben heute Richtungen in der humanistischen Psychologie, die die Wichtigkeit der Fremdwahrnehmung der TherapeutInnen so weit herunterschrauben, dass „der Patient die Diagnose“ mache.

Der Abbau der Fremdautoritäten und die Akzentuierung der Selbstverwirklichung griff in die familialen, religiös-spirituellen und alle weiteren Bereiche des bisherigen Netzwerkes ein, in dem man bisher aufwuchs. Humanistische Psychologie kippte – wie alle anderen Strömungen, die starke Grundstromgeschwindigkeiten haben – auch manche Sicherheiten dieses Netzwerkes zu schnell mit dem Badewasser patriarchaler Behandlungssysteme weg.

Wir hatten deshalb in dieser Zeit auch Opfer zu beklagen: Opfer zu riskanter Experimente mit dieser neu erworbenen Freiheit, in der nicht jedes Therapeuten oder Klienten Kraft ausreichte, dem zu riesigen Entscheidungsraum im Spielraum des Settings eigene Struktur zu geben: Was ändere ich wie und wo und wann mit wem am besten, um es mir am besten sein zu lassen? Es gab gruppendynamische Leichen nicht erst in den Grau- und Schwarzzonen ausufernder Psycho-Märkte, sondern auch mitten in seriösen Zentren der Gurus auf Lehrstühlen für Gruppen-, Sozial- und klinische Psychologien.

Der Boom jener Therapien, die der jungen Tradition humanistischer Psychologie folgten oder zu folgen vorgaben, kreierte therapeutische Beziehungswelten, die in den letzten „communities“ eines Perls oder Rogers oder auch im Hamburg von Tausch und Tausch-Zirkeln lebten. Einerseits.

Andererseits blühten auf der Achse zwischen Tiefenpsychologie und aus ihr gewachsener humanistischer Psychologie alte Panzerknacker-Methoden in den Therapien unter neuen Deckmänteln auf – und es gingen viele in der „Mutter Gruppe“ auf – um darin unterzugehen.

Heute lichtet sich der Nebel und wir finden auf dieser Achse (siehe Abb. 1) klare Profile der endlich entwickelten Körpertherapien, der systemischen Therapien, der morphologischen Psychologie usw.

Um im Zwischen-Bei-Spiel zu bleiben: Stellen wir ihn uns wieder vor:

X – X – xx – X

Ein Patient, der in der Musiktherapie einer humanistisch-psychologisch geprägten Therapeutin diesen Rhythmus spielt oder bevorzugt hört, wird mit Hilfe der therapeutischen Begleitung an die Frage herangeführt: Wie geht es dir jetzt mit diesem Rhythmus, was sagt er dir – jetzt, wofür steht er – jetzt? Für welchen Freiheitswunsch? Für welches seelische Gefängnis … Der Patient macht den Rhythmus, die Diagnose und seine Therapiekonzepte wesentlicher – selbst.

Dennoch – den amerikanischen KollegInnen dauerten auch diese Denk- und vor allem Handlungswelten humanistisch psychologisch begründeter Therapien und damit auch Musiktherapien – zu lange.

Es entwickelte sich in den USA und damit in Westeuropa die behavioristisch-lerntheoretisch begründete Verhaltenstherapie, die bis heute die weitverbreitetste (weil am einfachsten zu finanzierende?) Form auch im deutschen Gesundheitswesen wurde – vor der psychologischen Psychotherapeuten-Gesetzgebung, mit der das Spektrum bunter wurde. Musiktherapie entwickelte sich in Europa am wenigsten vor diesem neuen-alten Hintergrund. Angesichts des Booms auch der Kurzzeittherapie-Formen in der Musiktherapie wird jedoch n. m. M. die Verhaltenstherapie in ihren moderneren, integrativeren Formen auch die Musiktherapie in Westeuropa prägen. Komponenten davon sehe ich in der Entwicklung der ostdeutschen Musiktherapie, etwa der Regulativen Musiktherapie nach Christoph Schwabe.

Perspektive auf Musik(therapie) vor dem Hintergrund des Behaviorismus, der Lerntheorien

Um im Denkmodell von Strömung und Gegenströmung, von Merkmalen und Gegenmerkmalen und ihren wechselseitigen Prägungen zu bleiben: Die aus dem Behaviorismus entstandenen Therapiewelten, die Verhaltenstherapien, sind die gegenwärtig verbreitetsten – „krankenkassenabrechnungstechnisch“ gesehen. Ein kurzes Dreierlei:

1. Diese Therapiewelt könnte auch gesehen werden als eine neuerliche Annäherung an Kausalitätsdenken. Diese oder jene Symptome mit einer durch ärztliche Abklärung (welch Wort!) abgesicherten Diagnose ziehen bestimmte Therapieschritte nach sich, die teilweise übende, einübende, trainerische Merkmale aufweisen. Bestimmte Krankheitsbilder – auch aus dem neurotischen Formenkreis, sofern sie nicht in den Bereich der Frühstörungen fallen, die überwiegend der Langzeittherapien bedürfen – sind z. T. besser bei der Verhaltenstherapie aufgehoben als in einer Tiefenpsychologie (Bsp. Phobien).

Das „Wenn-dann“ hat sich in der Diagnostik gegenwärtiger Verhaltenstherapien abgeschwächt, aber es war ihr Anfang. Eben aus der Lerntheorie geboren.

2. Verhaltenstherapien bedienen sich überschaubarster Zeitrahmen: Der Patient arbeitet von seinem Hier und Jetzt für die Zukunft, weniger denn je im Vergangenheitsraum, und begleitet seine eigenen therapeutischen Erfolge, sieht, überprüft, checkt sie. Die Arbeit an der Gestalt des Vordergrunds hat Vorrang vor deren Hintergrund (i. S. von Vergangenheit).

3. Verhaltenstherapien und vor diesen entwickelte Musiktherapien sind auch einzuordnen in den Kanon der Gesundheitsberufe und in den stationären bzw. rehabilitativen und ambulanten Folgebereich sowie die sonder- und heilpädagogischen und geriatrisch- geronto-logischen Bereiche mit therapeutischer Orientierung.

Kein Wunder, dass Verhaltenstherapien von jeher nicht nur von der Majorität der amerikanischen Psychologen-Kollegen im Repertoire-Rucksack mitgeschleppt werden, sondern auch von uns hier in der „gesundheitsstrukturreformierten Krankheit der Gesundheit und des Gesundheitswesens“.

Die TherapeutInnen besitzen eine Rollenstruktur, aus der der Patient möglichst rasches Lindern seiner Pein erwarten darf. Die Beziehung und das „Dritte“ in ihr, wie z. B. das Wachsen der Bedeutung des Wortes aus dem Erleben, Fühlen heraus ist natürlich in jeder Verhaltenstherapie und verhaltenstherapeutischen Musiktherapie möglich, aber dann eher eine persönliche Variable der TherapeutInnenpersönlichkeit.

Unser zugehöriges Zwischen-Bei-Spiel:

X – X – xx – X

In einem eher verhaltenstherapeutisch orientierten Setting mit übender Komponente oder in einem Bereich einer Sonderschule mit geistig behinderten Partnern könnte z. B. damit Konzentrationsvermögen trainiert werden: „Wir zeichnen solange Kreise mit dem Finger in die Luft, wie wir die Musik hören …“

Es sind Spiele mit Musik, die etwas Bestimmtes avisieren, eine Beeinträchtigung vermindern, eine Fähigkeit erweitern sollen. Auch dieser Bereich fällt unter „Musiktherapie“. Wenngleich mir am Beispiel Sonderschule und Begleitung geistig behinderter Partner wichtig ist: Die großen Erfolge der psychotherapeutischen Begleitung dieser früher als „nicht Psychotherapie-fähig“ angesehenen Klientel sind (noch) viel zu wenig bekannt. Protagonisten wie Dietmut Niedecken und Maria Becker sind immer noch Pioniere der Psychotherapie mit Menschen, die unter den Bedingungen geistiger Behinderung leben.

Eine mögliche Mitte: Musiktherapie im Verstehen der neuen Entwicklungspsychologie

Musikhören und -gestalten ist eine inzwischen von Daniel Stern und seinen ForscherInnen und Diadochen, zu denen ich mich zähle, entwicklungspsychologisch eindrucksvoll bewiesene Nahrung für die Individualität und Identität des einzelnen Menschen ebenso wie für seine sozialen Erfahrungen in Paaren, Kleingruppen-, Subgruppen- und Großgruppen.

Diese Bedeutung der Musik für die Entwicklung des Menschen ist nicht neu, nur ist sie durch die Forschungen unserer neuen „Babywatcher“ in der Entwicklungspsychologie inzwischen bewiesener denn je.

In den 70er Jahren sagte Rudolf Burkhardt, Arzt mit Kunst- und Musiktherapieaffinität, bereits: Die nonverbalen Methoden werden zunehmend intentional eingesetzt, weil die neurotischen Konflikte, die den psychosomatischen Störungen zugrunde liegen, in den Tiefenschichten der Persönlichkeit verankert sind, und dieser unbewusst-affektive Bereich nonverbal leichter erreichbar und anzustoßen ist als mit verbalen Mitteln.

Die entwicklungspsychologisch begründeten neueren Musiktherapie-Forschungen von Karin Schumacher, Fritz Hegi (und hoffentlich auch meine eigenen) bauten und bauen die Brücken zwischen Musiktherapie und Entwicklungspsychologie, auch die zwischen Medizin und Psychoanalyse sowie Verhaltenstherapie. Die Brücken werden zwar nicht durchgängig akzeptiert i. S. von „begangen“, aber sie werden respektiert als wachsender Konsens verschiedener Forschungsrichtungen.

Oder kürzer und generalisierender mit James Hillman (Hillman/Ventura 1993): Die verbalen Psychotherapien sind am Ende und bestenfalls ein Toastbrot, das drei Tage an der Luft lag. (Hillman sprach ausdrücklich von amerikanischem Weißbrot). Und weiter: Die Zukunft der Therapien liegt nicht in der Medizin, nicht in der Psychologie. Sie liegt in den Künsten, den Heil-Künsten. Der Mensch (Patient) braucht die Kunst, die Künste in seiner Therapie, um seine Symptome damit aktiv (um)gestalten zu können.

Inzwischen wissen wir durch Entwicklungspsychologie Genaueres darüber, warum die nonverbalen Medien und darin Musik als präverbales Medium besonders heilsame Anstöße geben können: Die Erfahrungsstufen des Säuglings in der Entwicklung vom auftauchenden Selbst zum verbalen Selbst und synchron im Bereich seiner Bezogenheit zur Mutter und anderen Bezugspersonen, bedeuten das Erlernen von Kompetenzen und Ausprägen erster Potentiale im auditiven, elementar-musikalischen Bereich.

Gelernt werden diese frühen eindrucksvollen Kompetenzen und Potentiale, die wir bereits mit in diese Welt aus der des Uterus bringen, über weitestgehend mediale Ebenen des Fühlens, Hörens, Bewegens, Sehens, Lautlallens, Singens, aktiv wie rezeptiv. Unsere lebenslange Dialogfähigkeit mit uns selbst und anderen wird im Uterus und in früher Kindheit im prä- und elementar musikalischen Ein- und Ausdruck disponiert und diese Disposition ist Basis für sämtliche verbalen und nonverbalen Kompetenzen des gesamten weiteren Lebens bis es uns verlässt.

Die Beweisführungen der Entwicklungspsychologie sind für Medizin wie Tiefenpsychologie wie humanistische Psychologie, Verhaltenstherapie und Erziehungswissenschaft ein neuer möglicher Konsens.

Wir können uns alle in der Neu- und Wiederentdeckung der Wirkung von Musik treffen – und Treffpunkte sind kein Ort, wo wir unsere Profile verwaschen, verlieren müssen. Im Gegenteil. Die verschiedenen Schulen der Musiktherapie sind ein Beispiel dafür, dass ihre Methoden sich viel mehr annähern und treffen – als manchmal ihre InitiatorInnen, KonzeptorInnen, Spiritus rectora und rectores.

Literatur

Becker, M.(2000): Musikpsychotherapie in der Arbeit mit einer geistig behinderten Partnerin. Hamburg

Buber, M. (1973): Das dialogische Prinzip. Gütersloher V. A., Heidelberg

Burckhardt, R. (1998): Einladungstext zur Tagung „Musiktherapie“ der Ev. Akademie in Goslar, Februar 1998

Cohn, R. (1975): Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Klett-Cotta, Stuttgart

Decker-Voigt, H.-H. (1999): Mit Musik ins Leben – Klänge in Schwangerschaft und früher Kindheit. Ariston, Kreuzlingen/München

– (2000): Aus der Seele gespielt. Einführung in Musiktherapie. Neuausgabe Goldmann, München

Hegi, F. (1998): Übergänge zwischen Sprache und Musik. Junfermann, Paderborn

Hillman, J., Ventura, M. (1993): Hundert Jahre Psychotherapie – und der Welt gehts immer schlechter. Walter, Solothurn

Knill, P. J. (1979): Ausdruckstherapie, Künstlerischer Ausdruck in Therapie und Erziehung als intermediale Methode. Eres, Bremen/Lilienthal

Niedecken, D. (1989): Namenlos, Geistig Behinderte verstehen. Luchterhand, München

Petersen, P. (1988): Retortenbefruchtung und Verantwortung. Urachhaus, Frankfurt/M.

Schumacher, K. (1999): Musiktherapie und Säuglingsforschung. Lang, Frankfurt/M.

Spintge, R., Droh, R. (1992): Musikmedizin. Urban & Fischer, Stuttgart

Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrungen des Säuglings. Klett-Cotta, Stuttgart 1992

Tüpker, R. (1996): Forschungsmethodik. In: Decker-Voigt, H.-H. et al.: Lexikon Musiktherapie. Hogrefe, Göttingen

Psychoanalytische Musiktherapie

Von Susanne Metzner

1 Zur Theorie und Konzeptentwicklung

Psychoanalytische Musiktherapie basiert auf der Psychoanalyse, der Lehre vom unbewusst Psychischen, die Sigmund Freud (1856–1939) begründet und als Erster ausgearbeitet hat. Ausgehend von Freuds umfangreichem Werk hat sich die Psychoanalyse zu einer geistigen Bewegung entfaltet, welche die Kultur des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat. Nicht nur in der Psychotherapie haben sich völlig neue Perspektiven eröffnet, sondern das psychoanalytische Denken hat auch der Literatur und Kunst wesentliche Impulse vermittelt.

Auffallend zurückhaltend hingegen ist der Einfluss der Psychoanalyse in Bezug auf die Musik (Rauchfleisch 1990) – und vice versa. Die Vorstellung, diese gegenseitige Zurückhaltung durch die aus der psychoanalytischen Musiktherapie gewonnenen Einsichten aufheben zu können, ist verwegen. Immerhin ist es inzwischen gelungen, die für die psychoanalytische Musiktherapie relevante Schnittfläche zwischen Musik(-wissenschaft) und Psychoanalyse theoretisch so weit auszuarbeiten, um damit gut arbeiten zu können. Daraus lässt sich jedoch keine generelle Indikation für den Einsatz von Musik in der psychoanalytischen Therapie ableiten. Dies bedarf einer etwas differenzierteren Betrachtungsweise. Was ich mit meinen Bemerkungen zum Verhältnis Psychoanalyse und Musik jedoch andeuten will, ist, dass die Wortkombination „psychoanalytische Musik-Therapie“ (einschließlich ihrer Variationen „analytische“, „analytisch fundierte“, „analytisch orientierte“, „psychoanalytisch verstandene“ Musiktherapie) keinesfalls selbstverständlich ist.

Die Psychoanalyse ist eine ausdifferenzierte Theorie des psychischen Lebens und Erlebens und setzt sich im Wesentlichen aus den Theorien zur Dynamik unbewusster Vorgänge (Trieb- und Konflikttheorie), der Selbst- und Objektbeziehungspsychologie sowie der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie und Psychopathologie zusammen. Dabei handelt es sich keineswegs um in jeder Hinsicht aufeinander abgestimmte Teilbereiche, sondern vielmehr um verschiedene Perspektiven auf das Seelische, das als Gegenstand niemals konkret zu fassen ist, sondern sich stets nur in seinen Bewegungen und Wirkungen zeigt.

Gleichzeitig ist die Psychoanalyse eine Methode der Interpretation menschlichen Erlebens und Handelns. An diesem Punkt setzen einige Vorurteile gegenüber der Psychoanalyse an. Sie rühren vor allem daher, dass das Analysieren als ein Zergliedern bzw. Auseinandernehmen von Mitteilungen gesehen wird, nicht aber als eine Methode des Verstehens. Der häufig betonte, explorative Ansatz (Was wird wann, wie und in welchem Kontext mitgeteilt?) stellt nur einen Teilaspekt dieses Verstehens dar. Vielmehr geht es um das Verstehen einer Mitteilung, das aus dem emotionalen Nachvollzug durch einen Rezipienten einerseits und einer sich darauf beziehenden theoriegeleiteten Reflexion andererseits erwächst. Somit steht die Psychoanalyse im wissenschaftlichen Diskurs der Hermeneutik, der Auslegung von Texten, und der qualitativen Forschungsmethodik näher als den experimentellen Methoden der empirischen Psychologie.

Schließlich ist die Psychoanalyse eine Behandlungsmethode zur Verarbeitung psychischer Konflikte, die in der Übertragungsbeziehung der Patientin zur Analytikerin reaktiviert werden. Aus der klassischen, d. h. langdauernden und hochfrequenten Psychoanalyse, bei der die Patientin auf der Couch liegt, sind aufgrund der Notwendigkeit, sich auf unterschiedliche Klientel und variable äußere Bedingungen anzupassen, eine Vielzahl verschiedener psychoanalytischer Behandlungsansätze hervorgegangen, die ebenso wie die psychoanalytische Musiktherapie als Spezialformen der Psychoanalyse oder besser noch: als angewandte Psychoanalyse zu verstehen sind.

Wer sich mehr als nur einführend mit der psychoanalytischen Musiktherapie beschäftigen will, kommt nicht umhin, sich mit der Psychoanalyse auseinanderzusetzen. Als beste Einführung gilt nach wie vor Freuds Werk selber. Zudem gibt es gute Lehrbücher und Nachschlagewerke neueren Datums (Heigl-Evers et al. 1994; Mertens 1992/93; Müller-Pozzi 1995, Sandler et al. 1991; Thomä/Kächele 1985), in denen auch die Richtungen, in die sich die Psychoanalyse seit den gut hundert Jahren ihres Bestehens weiterentwickelt hat, zur Geltung kommen. Psychoanalytische Grundkenntnisse für Musiktherapeuten vermitteln auch die in Buchform veröffentlichten Vorlesungen von Mary Priestley (1983). Um Wiederholungen in Bezug auf dieses Basiswissen zu vermeiden, werde ich mich im Anhang mit einem Glossar des verwendeten psychoanalytischen Vokabulars behelfen. Nicht verzichten kann ich auf einige Erläuterungen vorab zur Funktion des Verstehens innerhalb der psychoanalytischen Therapie.

Wie bereits gesagt, beruht die Besonderheit des psychoanalytischen Verstehens auf der emotionalen Beteiligung, d. h. der Achtsamkeit der Analytikerin gegenüber den eigenen, durch die Mitteilung der Patientin ausgelösten Reaktionen, Gefühlen, Phantasien, Einfällen. Die daran anknüpfende, theoriegeleitete Reflexion sucht nach dem zugrunde liegenden Sinn von beidem, von Mitteilung und Reaktion. Die Toleranz gegenüber ungewöhnlichen, potentiell tabuisierten Einfällen und die Fähigkeit, damit adäquat, d. h. nicht unkontrolliert umzugehen, wird in einer umfangreichen Ausbildung, zu der insbesondere die Lehranalyse gehört, und einer engmaschig supervidierten Praxis erworben. In der Therapie bietet die Analytikerin der Patientin ihre Einfälle, Fragen, möglichen Klarifizierungen, Interpretationen oder Deutungen unter sorgfältiger Abwägung der Verträglichkeit in Bezug auf den Zeitpunkt, den Inhalt und die therapeutische Beziehung an. Diese tendenzielle Zurückhaltung beruht auf dem Wissen, dass der Wunsch der Patientin, verstanden zu werden, nicht immer stärker ist als die Angst vor dem Erkanntwerden oder der Veränderung und dass jedes Forcieren von Einsicht eine Gegenbewegung auslöst.

Verstehen und Verstandenwerden sind nicht unabhängig von der therapeutischen Beziehung zu sehen. Sie sind das Ergebnis einer meist längeren und in jedem Fall gemeinsamen Suchbewegung von Therapeutin und Patientin. Diese beständige und geduldige Suchbewegung ermöglicht der Patientin schrittweise, sich selbst zu verstehen. Gemeint ist weniger eine rationale als vielmehr eine emotionale Einsicht als Voraussetzung für eine Veränderung, für das Nachlassen des Leidens und für eine befriedigendere und so weit wie möglich selbstbestimmte Lebensgestaltung.

Die Definition der psychoanalytischen Musiktherapie als angewandte Psychoanalyse, einer der großen, im Gesundheitssystem fest verankerten, psychotherapeutischen Schulen, lässt m. E. den Umkehrschluss zu, auch von einer musiktherapeutischen „Schule“ zu sprechen. Die darunter subsumierten Konzepte, Methoden und Interventionstechniken beziehen sich auf psychoanalytische Paradigmen, d. h. die Anerkennung des Unbewussten einschließlich seiner Entstehung, seiner Funktion und seiner Wirkweisen, die therapeutische Arbeit mit dem Widerstand sowie das Eingehen und Auflösen einer Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung. Nicht die Wahl der musiktherapeutischen Methode – Musikhören oder -spielen, Improvisationen mit oder ohne Vorgabe, Gruppen- oder Einzeltherapie etc. – ist charakteristisch für die psychoanalytische Musiktherapie, sondern der psychoanalytische Umgang mit dem musikalischen Material und mit den interpersonellen und intrapsychischen Prozessen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Musik. Das musikalische und außermusikalische Geschehen wird, etwas vereinfacht ausgedrückt, im Hinblick auf eine tiefer liegende Bedeutung interpretiert.

Bedingt durch die Vielfalt psychoanalytischer Arbeits- und Denkstile gibt es auch innerhalb der psychoanalytischen Musiktherapie theoretische Unterschiede, die ich im Rahmen dieser Einführung jedoch vernachlässigen will, zumal diese anders als innerhalb der Psychoanalyse nicht so ausgeprägt und durch bestimmte Namen und/oder Institute repräsentiert sind.

Als Begründerin der analytischen bzw. explorativen Musiktherapie gilt die bereits erwähnte englische Musiktherapeutin Mary Priestley. Mit der weiteren Verbreitung und Entwicklung im deutschsprachigen Raum sind die Namen von Johannes Th. Eschen, Mechthild Langenberg, Ole Teichmann-Mackenroth und Dietmut Niedecken verbunden, deren vordenkerische Leistungen die Arbeiten von einer ganzen Reihe von Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten der darauf folgenden Generation stark beeinflusst haben, u. a. von Maria Becker im Bereich der Schwerstmehrfach-Behinderten-Therapie und von mir selbst im Bereich der Psychiatrie. Deutliche psychoanalytische Einflüsse sind in der regulativen Musiktherapie (Christoph Schwabe) zu bemerken sowie in der morphologischen Musiktherapie (Frank Grootaers, Rosemarie Tüpker, Tilman Weber, Eckhard Weymann). Einen guten Einblick in die Denkansätze der genannten Autoren und Autorinnen vermittelt das von Decker-Voigt et al. 1996 herausgegebene Lexikon Musiktherapie.

Um die psychoanalytische Musiktherapie als angewandte Psychoanalyse definieren zu können, müssen die speziell durch das Musikmachen bzw. -hören ausgelösten intrapsychischen und interpersonellen Prozesse in die psychoanalytische Reflexion einbezogen werden. Besonders bewährt haben sich dafür die psychoanalytische Symboltheorie (Lorenzer 1983; Niedecken 1988, 1996; Metzner 1997) sowie die Theorie der Übergangsphänomene (Winnicott 1971; Niedecken 1988). Die spezifischen Materialeigenschaften des Mediums Musik sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie der kulturelle Kontext, in den nicht nur jedes komponierte Stück sondern jeder auch noch so unbeholfen produzierte Ton einer freien Improvisation eingebettet ist. Somit sind stets auch musikwissenschaftliche Themenstellungen berührt, wie z. B. die kulturspezifische Ausprägung musikalischer Formbildungen in Geschichte und Gegenwart, die Instrumentenkunde, die gesellschaftliche Relevanz bestimmter Musikstile sowie Fragen der Ästhetik, um nur einige Aspekte herauszugreifen.

Die Verschränkung von musikwissenschaftlichen und psychoanalytischen Denkansätzen innerhalb der Musiktherapie möchte ich anhand eines klinischen Falles exemplarisch aufzeigen. Aus Gründen des Umfanges und der Komplexität der Materie beider Wissenschaftsbereiche geht es mir dabei nicht so sehr um die Vermittlung von theoretischen Modellen und psychoanalytisch-musiktherapeutischen Behandlungstechniken. Ich möchte vielmehr einführen in eine Art zu denken und zu handeln, wie sie für die psychoanalytische Musiktherapie charakteristisch ist.

Vorausschicken muss ich noch, dass ich von einem Patienten berichte, der aufgrund seiner Erkrankung, einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, von einer klassisch psychoanalytischen Therapie im ambulanten Setting nicht profitiert hätte. Dies hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass der Patient aufgrund sehr unzureichend ausgebildeter Selbst- und Objektrepräsentanzen zu einer Übertragungsbeziehung nicht in der Lage gewesen wäre. Zudem war er darin eingeschränkt, das, was er erlebte, in Sprache zu fassen, so dass auch eine verbal ausgerichtete psychoanalytische Therapie dem Patienten bedingt die Möglichkeit des Aus-Handelns hätte einräumen müssen.

2 Kasuistik

Von seinen Mitpatienten wurde er Mike genannt, ein Name, der mir im Nachhinein so passend erscheint, dass ich ihn hier verwenden will, obwohl ich den 26-jährigen Mann während der Therapie mit seinem Familiennamen ansprach, d. h. wenn ich ihn überhaupt direkt ansprach, und in meinen Dokumentationen meist „der Patient“ niederschrieb. Diese beiden Varianten entsprachen der Konvention auf der psychiatrischen Station. Eigentlich wäre also nichts Auffälliges zu bemerken gewesen, wenn sich nicht in der Indirektheit und in der Anonymisierung auch die Beziehungsstörung ausgedrückt hätte, deretwegen Mike in Behandlung war und die am besten mit der Verhinderung, sich gemeint zu fühlen, zu umschreiben ist.

Was erlebt ein Mensch, der sich nicht gemeint fühlen kann? Wie ist seine Welt beschaffen, so dass an die Stelle wechselseitiger Bezogenheit Anonymität und Konformität treten?

In der Einzelmusiktherapie bekam ich Zutritt zu dieser Welt, deren Synonyme für mich Sinnlosigkeit und Schrecken waren. Mitten darin entstand eine Bewegung, deren Anfang eigentlich nicht genau auszumachen ist, die jedoch dahin führte, dass am Ende der Therapie ein Name steht. Mike – das wirkt wie eine Unterschrift, wie eine Spur, die jemand hinterlassen hat. Mike – das steht auch für eine bestimmte Art der Bezogenheit, die sich zwischen uns entwickelte. Verborgen hinter Kumpelhaftigkeit entstand „Care“, diese Mischung aus gegenseitiger Besorgnis, Zärtlichkeit und Respekt, für die es leider kein deutsches Wort gibt.

In Abstimmung mit dem Behandlungsteam bot ich Mike schon in den ersten Tagen seines stationären Aufenthaltes Musiktherapie an, um ihm die Gelegenheit zu geben, dort etwas von seinem Erleben mitzuteilen, das ihn völlig hatte verstummen lassen. Er war notfallmäßig in die Psychiatrie gebracht worden, nachdem er zuvor auf einem Platz mitten in der Großstadt gefunden worden war, wo er stundenlang still gestanden hatte. Bei uns in der Psychiatrie reagierte er zwar auf Ansprache, indem er zeitweise Blickkontakt aufnahm oder einfache Aufforderungen befolgte, aber er sprach nicht. Er nestelte vor sich hin und schien mit wütendem, lächelndem oder traurigem Gesichtsausdruck auf Stimmen zu reagieren, denen er zuhörte.

Aus der Akte wusste ich, dass Mike seit knapp 10 Jahren an einer chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Psychose mit sekundärer Suchtentwicklung (Alkohol und Drogen) litt und bereits mehrfach psychiatrisch in anderen Krankenhäusern behandelt worden war. Er hatte zudem eine Odyssee zwischen verschiedenen Aufenthaltsorten hinter sich, zu denen mehrere therapeutische Wohneinrichtungen für psychisch Kranke, das Untersuchungsgefängnis, die Wohnung seiner Großmutter und ein Übergangsheim für obdachlose Männer gehörten.

Diese Hintergrundinformationen lassen erkennen, dass der akute Zustand, in dem Mike sich befand, nicht erstmalig aufgetreten war, sondern eine Zuspitzung eines bereits langdauernden Krankheitsverlaufes darstellte. Die Musiktherapie stand daher nicht am Anfang, sondern zunächst einmal am Ende einer Kette von Anstrengungen und vermutlich auch von Enttäuschungen sowohl aufseiten der Behandelnden als auch des Patienten.

Für die psychoanalytische Diagnostik ist neben der Erhebung der Anamnese und der Ausgangssituation auch die Kenntnis der Biographie wichtig, denn das gegenwärtige Erleben und Verhalten eines Menschen wird im Zusammenhang mit seinen früheren Lebenserfahrungen gesehen. „Gebranntes Kind scheut Feuer“ ist ein Sprichwort, das im Alltagsgebrauch diese Auffassung auf den Punkt bringt. In den meisten Fällen, erst recht bei schweren psychischen Erkrankungen, stehen Ursache und Wirkung jedoch nicht in einer so einfachen Relation zueinander. Daher sollten keine voreiligen Schlüsse aus den wenigen Daten gezogen werden, die aus der Lebensgeschichte von Mike bekannt waren, obwohl Schrecken und Sinnlosigkeit sich darin schon andeuten. Es sind Fakten, die man als Außenstehende nur schwer beurteilen kann. Wesentlich aufschlussreicher indes ist die prozessbegleitende Diagnostik, die sich aus den subjektiv gefärbten Schilderungen des Patienten ergibt. Schließlich geht es in der psychoanalytischen Therapie um Erlebnis- und Verarbeitungsweisen, deren Nutzung (im Falle von Ressourcen) oder auch Veränderung (im Falle ungeeigneter Abwehrstrukturen) angestrebt wird. Von ihnen „erzählte“ Mike freilich auf eine andere Weise, wie angesichts seiner Verstummtheit zu erwarten war.

Die Eltern von Mike waren minderjährig, d. h. 16 und 17 Jahre alt, als er geboren wurde. Die Mutter verließ das Elternhaus, als sie schwanger war. Nach ihren eigenen Aussagen, habe sie keine „Muttergefühle“ für das Kind gehabt und war ganz allein mit der Versorgung überfordert. In unregelmäßigen Abständen ließ sie ihr Kind nachts alleine zu Hause. Zum Vater des Kindes gab es keinen Kontakt. Als Mike zwei Jahre alt war, nahm ihn die Großmutter mütterlicherseits zu sich – gegen den Willen ihres Mannes, der das Kind zunächst ignorierte. Dies änderte sich jedoch nach einiger Zeit. Während die Großmutter eine Arbeit auf dem Wochenmarkt hatte, war der Stiefgroßvater arbeitslos und verbrachte einen großen Teil seiner Zeit zu Hause auf dem Sofa liegend und Videofilme, darunter auch Horror-Videofilme anschauend. Indem sich der kleine Mike zu ihm gesellte, entstand schließlich so etwas wie Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Die restlichen Daten sind schnell aufgezählt: Mike besuchte die Grundschule, die Realschule und die Höhere Handelsschule, die er jedoch aufgrund des zunehmenden Drogenkonsums abbrechen musste. Er geriet in die Isolation, hatte keinen Freundeskreis. Über sexuelle Erfahrungen war uns nichts bekannt. Die psychotische Erkrankung trat erstmalig nach dem Tod des Stiefgroßvaters auf. Die einzige engere Bindung, die erhalten blieb, bestand zur Großmutter.

Mike kam mit mir in den Musiktherapieraum, ohne dass er ein Wort gesprochen hätte. Als er den hellen, von der Station abseits liegenden Raum mit seiner Vielzahl verschiedenartigster Instrumente betrat, steuerte er, ohne zu zögern, auf die Congas zu und legte mit einem wahren Feuerwerk von Trommelschlägen los. Es klang versiert, sich etwas überstürzend aber dabei lustvoll. Ähnliches wiederholte sich am Klavier, an der Pauke und an den Templeblocks. Ich war überrascht und blieb erst einmal einfach stehen. Was nach außen hin wie eine therapeutische Haltung ruhigen Abwartens wirkte, fühlte sich gleichzeitig in mir ganz anders an: Ich erlebte einen Zustand, in dem es nichts gab, was ich hätte tun oder denken können, und es schien sinnlos zu sein, da zu sein.

Für einen Außenstehenden mag meine Reaktion zunächst übertrieben wirken. Wenn man jedoch einmal annimmt, dass der Patient eine Situation herstellte, in der ich etwas von dem empfand, wie er sich fühlte – der psychoanalytische Fachbegriff heißt projektive Identifizierung –, und wenn man davon ausgeht, dass es eine Mitteilung des Patienten war, die er mir nur so und nicht anders überbringen konnte, dann ist meine Reaktion angesichts der schweren psychischen Störung des Patienten keineswegs übertrieben. An seiner Stelle spürte ich, dass ich zwar noch vorhanden war, aber mein Dasein fühlte sich sinnlos an, und ich hatte mein Denken und Handeln für den Moment nicht mehr in der Hand.

Um den weiteren therapeutischen Umgang mit dieser Art von Störungen des Selbst-Erlebens zu verstehen, unter denen der Patient litt – so war meine Hypothese –, bedarf es einiger kurzer, allerdings auch sehr vereinfachter Erläuterungen zum psychodynamischen Verständnis der Psychose.

Auch wenn die psychotische Desorganisation des Wahrnehmens, Denkens und Fühlens so scheinen mag, sie ist nicht Fehlfunktion sondern Schutzmechanismus. Das heißt, sie ist die einzige, dem Individuum zur Verfügung stehende Reaktion (psychoanalytisch: Abwehr) auf das Erleben einer existentiellen psycho-physischen Bedrohung. In der Art der Abwehr ist jedoch naturgemäß die Art der Bedrohung enthalten, die in den meisten Fällen eine lebensgeschichtliche Vorgeschichte hat.

Wenn Mike als Säugling einer existenziellen psycho-physischen Bedrohung ausgesetzt war – lange Alleingelassen-Werden, ist eine solche Bedrohung – und wenn Schreien niemanden herbeibrachte, der Abhilfe schaffte, vielleicht gar das Gegenteil bewirkte, noch mehr Alleingelassen-Werden, dann blieb ihm nur der Verzicht auf Lebensäußerungen und ein innerer Rückzug aus der Situation, um den Schrecken einzugrenzen. Wenn sich dies wiederholte und wenn weitere erschwerende Bedingungen hinzutraten und nicht genügend gute Erfahrungen gesammelt werden konnten, ist das Fundament der psychischen Entwicklung sehr brüchig. Dies bezieht sich angesichts einer so frühen Störung insbesondere auf die Unterscheidung einer Innen- und einer Außenwelt, auf die Ausbildung von Selbst- und Objektrepräsentanzen und auf die Entwicklung reiferer Abwehrstrukturen. Die Möglichkeiten, auf die Anforderungen des Lebens reagieren zu können, sind dann extrem eingeschränkt. Tiefgreifende psycho-physische Veränderungen während der Pubertät oder der Verlust eines nahen Angehörigen, was für jeden Menschen eine Krise darstellt, wirken für jemanden, der nicht stabil ist und nur wenige Verarbeitungsmöglichkeiten zur Verfügung hat, weitaus existenzieller. Statt auf gute Erfahrungen zurückgreifen zu können, werden Erinnerungen an frühere, unverarbeitete Erfahrungen des hilflosen Alleinseins ausgelöst, die Mike zunächst mit Hilfe eines sozialen Rückzugs, mit Drogenkonsum und schließlich mit psychotischer Symptombildung abwehren musste.

In der Behandlung von psychotisch Erkrankten sind Vorgänge, wie ich sie erlebte, nicht ungewöhnlich (vgl. Lempa 1995), in der konkreten