11,99 €
Fünfzehn Jahre dauerte Carlotta Liberts erste Ehe – fünfzehn Jahre hielt sie fest an ihrem Glauben, die große Liebe gefunden zu haben. Und dieser Glaube lässt sich lange durch nichts erschüttern. Nicht durch die ersten Anzeichen der Kontrollsucht ihres Mannes, nicht durch seine Regeln und Forderungen, nicht einmal durch die beginnende physische, psychische und sexualisierte Gewalt, die schleichend Einzug in die Beziehung hält. Ein zeitweise sehr grauenhafter, ergreifender, aber hoffnungsvoller Einblick in die Gedanken und Wünsche einer Frau, die alles für ihre Familie geben will – und doch am Ende einsehen muss, dass nicht jede Beziehung geheilt werden kann. Ein Mutmacher für Betroffene und ein wertvoller Einblick für alle, die Opfern häuslicher Gewalt beistehen möchten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 206
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0115-5
ISBN e-book: 978-3-7116-0116-2
Lektorat: Caroline Siewert
Umschlagfoto: Pavlo Rumiantsev | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Triggerwarnung
In diesem Buch geht es um Trigger, also Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen und Flashbacks. Der gesamte Text enthält Beispiele für solche Trigger – wie Gewalt, Diskriminierungserfahrungen, etc.
Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.
Vorwort
Mein Ex-Mann hat mich über Jahre hinweg sexuell, physisch, vor allem aber psychisch und emotional aufs Äußerste missbraucht, verletzt und meinen Kindern und mir tiefe Narben zugefügt. Weder seine Biografie noch seine diagnostizierte Borderline-Persönlichkeitsstörung11 noch seine Entschuldigungen, seine Erklärungen, seine narzisstischen Züge, seine Probleme mit Alkohol oder sein Opfergehabe können oder dürfen sein Verhalten entschuldigen. Wenn er in meinen Ausführungen so dargestellt wird, als müsste man Mitleid mit ihm haben oder Verständnis einfordern, so ist das der Tatsache geschuldet, dass ich meine Geschichte aus meiner Erinnerung heraus schildere und damals mein Empfinden und mein Mitgefühl für ihn so waren. Aber er war schon immer und ist es noch: ein Täter. Die ganze Geschichte hindurch wird er mein „Ex-Mann“ heißen, unabhängig davon, ob ich zu manchen Zeitpunkten noch mit ihm verheiratet war oder schon getrennt. Ich wähle bewusst diesen Begriff und keinen Namen, weil ich mich emotional von ihm distanziere. Außerdem ist mir wichtig, dass ich deutlich von seiner Sprache und seinen Handlungen Abstand nehme. Ich beschreibe detailliert und nutze seine Ausdrücke. Diese sind jedoch nicht meine.
Er musste durch eine harte Kindheit, seine Familie hat auch bei ihm tiefe Narben hinterlassen, aber sich diesen Traumata nicht zu stellen, diese bewusst als Antrieb für seine Entscheidungen zu nehmen, entlässt ihn ein für alle Mal aus der Opferrolle und macht ihn nur umso mehr zum Täter. Gewalt, psychischer Terror und emotionale Erpressung waren seine treibende Kraft in unserer Beziehung und Ehe. Es war ein harter Kampf, sich aus dieser zu befreien. Dieser Kampf dauerte Jahre an und hat mich und meine Kinder aufs Schwerste verwundet. Ihn dann nach diversen Gewalteskapaden schließlich tatsächlich zu verlassen und meine Kinder und mich aus dieser Ehe herauszunehmen war eine bewusste Entscheidung, die mich unendlich viel Kraft gekostet hat. Ich musste all meinen Mut und meine Kraft zusammennehmen, um den finalen Schritt endlich zu gehen. Es war eine Entscheidung, mein Leben und das Leben meiner Kinder, so, wie sie es kannten, hinter uns zu lassen und neu anzufangen. Und zu heilen. Alleine und mit Hilfe einer Therapeutin. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Heilung und meiner Therapie ist dieses Buch.
Schon während ich meine Geschichte aufschrieb, fiel mir auf, dass ich an so vielen Stellen meinem alten Ich hätte entgegenschreien wollen: „Mach die Augen auf!“, „Renn weg!“ oder ein einfaches: „Warum?“ hätte fragen wollen. Und auch als ich meine ersten Entwürfe meinen Freundinnen zum Lesen gab, kamen immer wieder genau diese Anmerkungen oder Fragen. Doch damals konnten sie mir diese Fragen nicht stellen, denn ich war selbstgewählt komplett allein und zurückgezogen mit meinem Leben und meinen Entscheidungen. Deshalb habe ich meine Fragen an genau diesen Stellen meiner Geschichte aufgeschrieben und sie mir selbst gestellt, weil ich mir vorstellen kann, dass die Fragen auch bei den Leser:innen zu genau diesen Momenten auftauchen werden. Und auch meine Freundinnen kommen nun endlich zu Wort. Auch wenn ich sie damals schon aus allem mehr und mehr ausschloss, gab es die ganze Zeit Beobachtungen und Fragezeichen bei ihnen. Ich hätte ihnen damals nicht zugehört. Aber heute gebe ich ihnen das Recht, ihre Sicht auf mich und meine Ehe zu schildern und mir Fragen zu stellen. Und ich habe versucht, Antworten zu finden, aus meiner damaligen Perspektive und auch aus meiner heutigen Sicht auf die Ereignisse. Denn nur so kann diese Warnung hoffentlich auch wirklich als Warnung verstanden werden. Dabei werden bestimmt auch manche Situationen unkommentiert oder manche Fragen unbeantwortet bleiben. Alles aufzuklären scheint mir auch einfach unmöglich. Daher sollen die gestellten Fragen nur exemplarisch zeigen, dass es im Rückblick unzählige Situationen gab, an denen ich hätte gehen müssen. Auch können die Antworten nur aufzeigen, was damals meine Beweggründe waren. Vielleicht gibt es auch andere Sichtweisen oder andere Antworten von den Leser:innen. Abschließend muss jeder seinen eigenen Umgang finden und dies hier ist meiner.
Meine Geschichte ist nicht grundsätzlich chronologisch aufgeschrieben. Stattdessen habe ich sie in unterschiedliche Kapitel zu unterschiedlichen Erlebnisschwerpunkten aufgeteilt, die teilweise parallel in meinem Leben stattfanden. Auch wenn das für Leser:innen verwirrend sein mag, erscheint es mir dennoch als hilfreicher, wenn es darum gehen soll, die psychischen Störungen und Darstellungsformen dieser toxischen Ehe in ihren extremen Symptomen aufzuzeigen. Daher gibt es zum Beispiel ein Kapitel, welches sich nur mit der Gewalt beschäftigt und ein anderes, das sich um unsere Kinder und das Familienleben dreht. Beides fand aber parallel statt. Um dennoch so etwas wie einen roten Faden anzubieten, schreibe ich in Schlüsselsituationen mein Alter dazu und verweise auf andere Situationen und hoffe so, dass man mein Leben und die Spirale, in der ich gefangen war, nachvollziehen kann.
1 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine psychische Erkrankung. Typisch für sie sind Impulsivität, instabile aber intensive zwischenmenschliche Beziehungen, rasche Stimmungswechsel und ein schwankendes Selbstbild aufgrund von gestörter Selbstwahrnehmung. Hinzu kommen oft selbstschädigendes Verhalten, Gefühle innerer Leere, Dissoziationserlebnisse und Angst vor dem Verlassenwerden. Symptome der BPS können durch Situationen ausgelöst werden, die andere als normal empfinden.
Zu mir
Ich wurde schon oft mit der stereotypen Vorstellung konfrontiert, dass Gewalt und gestörte Beziehungen meistens bei den Menschen zu finden seien, die in ihrer Kindheit und Jugend schon mit Gewalt konfrontiert waren. Oder es müssen ja – nach allgemeiner Vorstellung – gestörte oder kaputte Familienverhältnisse vorliegen. Aber das ist oft nicht der Fall. Jeder Mensch, egal ob Mann oder Frau, gebildet oder einfacher gestrickt, arm, reich, aus „gutem Hause“ oder sozial schwächer aufgestellt kann Opfer von Gewalt werden. Jeder kann sich plötzlich wiederfinden in einer Beziehung, die Gewalt lebt.
Ich wurde sehr behütet erzogen, war Tochter in einem emotional stabilen Elternhaus. Geboren wurde ich 1979 und ein paar Jahre später kam mein jüngerer Bruder zur Welt. Noch immer habe ich ein sehr gutes Verhältnis zu ihm und auch zu meinem Vater. Meine Mutter verstarb als ich 34 Jahre alt war. Zu meiner kompletten Familie, inklusive Großeltern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen gehören relativ viele Personen, auch unser Freundes- und Bekanntenkreis war und ist recht umfangreich. In meiner Kindheit und Jugend war demnach entsprechend viel los, meine Freunde allzeit gern gesehen. Wir alle gingen immer wertschätzend und verständnisvoll miteinander um. Ich habe kennengelernt, dass wir gegenseitig füreinander da sein und uns unterstützen sollen. Dieses Füreinander-da-sein ist bis heute ein fester Bestandteil in meinem Leben und beeinflusst mich in meinen Entscheidungen maßgeblich.
Meinen Eltern war immer wichtig, dass ich gesund bin und eine unbeschwerte Kindheit leben kann. Ich habe erlebt, dass es für jede Art von Kummer, Sorgen oder Problemen Lösungen gibt, dass man nie aufgeben darf und immer Hoffnung besteht. Wir haben sehr oft Freunde oder Familienmitglieder unterstützt oder in schweren Zeiten begleitet. Für mich war das selbstverständlich. Es war immer wichtig, über alle Probleme zu sprechen, sie gemeinsam zu lösen. Gewalt oder Aggressivität waren für mich Fremdwörter, mehr noch; das Konzept von Gewalt – physischer und psychischer – waren absolute No-Gos in unserer Familie. In der Schule waren meine Leistungen durchschnittlich, grundsätzlich mochte ich sie nicht, denn Freunde und Spaß am Leben standen im Vordergrund. Ich musste auch nie mit Einsen nach Hause kommen, durchschnittlich gute Leistungen wurden gelobt, bei schlechteren wurde ich getröstet. Meine Mutter hatte so insgesamt ein bisschen die „Laissez-Faire“-Pädagogik für sich etabliert. Dennoch hat es dann am Ende für mein Abitur ausgereicht. Mein Vater hatte insgesamt eine etwas strengere Art, konnte aber gegen meine Mutter nicht immer ankommen und ließ uns Kindern auch das ein oder andere durchgehen. Trotzdem hatte er eher eine dominante Ader, wusste meistens alles besser, seine Meinung stand bei dem Rest der Familie recht weit oben. Ich habe gelernt, das zu akzeptieren, ihn so zu lassen. Die Zeit hat gezeigt, dass er im Laufe des Älterwerdens hier auch ein wenig nachgiebiger und weicher geworden ist. Ihn damals zu ändern, hätte wahrscheinlich ohnehin nur wenig Erfolg gehabt. Meistens behielt er ja auch Recht und insgeheim bewunderte ich ihn auch ein bisschen dafür, dass er immer für alles eine Lösung finden konnte. Alles in allem waren beide Eltern auf ihre Art dominant, ich hielt mich eher diplomatisch zurück, die Harmonie stand für mich in meiner Familie an erster Stelle. Meine Hobbys – verschiedene Sportarten, Musik und allerlei Haustiere – wurden immer und bedingungslos unterstützt, so wie meine Leidenschaft für Pferde und das Reiten. Eine erste Krise in unserer Familie erlebte ich mit etwa 14 Jahren, als meine Mutter das erste Mal schwer erkrankte. Natürlich übernahm ich mit meinem Vater Teile des Haushaltes und kümmerte mich um meinen Bruder, unterstützte meine Mutter in dieser Zeit, wo ich nur konnte. Wir standen die Therapien, wochenlange Kuraufenthalte und alles, was dazu gehörte, zusammen durch. Als ich 30 war, erkrankte meine Mutter dann erneut, es war der Anfang vom Ende. Sie kämpfte vier Jahre lang, dieser Kampf endete mit ihrem Tod. In diesen Jahren des Kämpfens war ich so gut es ging für sie da. Unterstützte, wo ich konnte, war einfach nur bei ihr.
Meinen ersten festen Freund hatte ich mit 16 Jahren, die Beziehung hielt ein bisschen über ein Jahr. Danach hatte ich für etwa zwei Jahre einen Freund, die dritte Beziehung begleitete mich noch bis ins Studium, bis in die Zeit, in der ich mich von meinen Eltern dem Alter entsprechend ganz normal löste. Diese ersten festen Freunde, die ich hatte, waren fürsorgliche und durch und durch liebe Menschen. Es gab den üblichen Herzschmerz und Eifersüchteleien, alles, was so zum Prozess des Erwachsenwerdens dazu gehört. Aber nichts an meinen ersten Beziehungen prägte mich für das, was mir mit meinem Ex-Mann bevorstehen sollte. In den recht kurzen Zeiten, in denen ich Single war, hatte ich die eine oder andere Affäre, auch mal einen One-Night-Stand. Ich war in allem kein Kind der Traurigkeit, aber exzessive Drogenpartys, ausschweifende sexuelle Eskapaden oder ähnliches waren nie etwas für mich. Nach meinem Abitur fing ich zunächst an, zu studieren, brach jedoch nach fünf Semestern ab, weil mir der Studiengang zu theoretisch war und ich das Bedürfnis hatte, meinen Alltag mit etwas Praktischem zu füllen. In dieser Zeit des Studiums bekam ich ein eigenes Pferd, um das ich mich kümmerte, hatte die üblichen Studentenjobs, führte ein völlig normales Leben. Nach dem Abbruch des Studiums begann ich, eine Ausbildung zu machen. Während der Ausbildung kam ich dann mit meinem Ex-Mann zusammen, den ich zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre kannte. Um diese Ehe wird es hier in meinem Buch primär gehen. Aus dieser Zeit gingen meine beiden leiblichen Kinder hervor.
Ich halte mich selbst für eine intelligente Frau, sehe gut aus und bin ganz und gar nicht auf den Mund gefallen. Trotzdem muss es etwas in und an mir geben, dass es zugelassen hat, mich während meiner Ehe immer kleiner und schwächer werden zu lassen. Heute, im Jahr 2022, bin ich 42, lebe etwa 400 Kilometer entfernt von meinem Ex-Mann. Ich habe mit meinen Kindern und meinem jetzigen Lebensgefährten ein neues Leben angefangen und bin seit kurz nach der Trennung in Therapie. Auch meine Kinder nehmen psychologische Hilfe in Anspruch. Ich habe eine tolle Arbeit gefunden und darf endlich spüren, was es heißt, zu Hause zu sein, angekommen zu sein im Leben. Zwar bin ich noch im Prozess des Hinter-mir-Lassens, aber meine Schritte werden von Tag zu Tag größer und ich blicke immer seltener zurück. Meine Therapeutin unterstützt mich weiterhin, meine Kinder werden therapeutisch auch gut versorgt. Es wird noch dauern, aber es geht vorwärts. Ich habe mich befreit und ich kann wieder leben, ohne Angst zu haben. Ich nehme mein Leben und mein Schicksal selbst in die Hand und bin glücklich.
Kapitel 1 – Für Susanne und für mich
Insgesamt kann ich nicht sagen, wie weit ich ausholen soll, um das alles hier greifbar zu machen. Tatsächlich habe ich mich einfach hingesetzt und zunächst nur versucht, alles chronologisch aufzuschreiben, damit ich nichts vergesse. Ich schreibe meine Geschichte nun also auf für mich, um mich nochmals mit all den Situationen auseinanderzusetzen, und für meine Kinder. Damit ich Ihnen irgendwann mal alles beantworten kann, wenn sie mich fragen, was damals passierte. Und für Susanne. Susanne ist ein Mensch, den ich überhaupt nicht kenne. Ich weiß lediglich, dass sie die neue Lebensgefährtin meines Ex-Mannes ist. Ich könnte jetzt hergehen und sagen, mich ginge diese neue Beziehung nichts an, was ehrlicherweise auch der Fall ist. Aber was ist, wenn man weiß, zu was mein Ex-Mann in der Lage ist? Oder ganz allgemein, wozu jemand in der Lage ist, wenn sie oder er an einer Persönlichkeitsstörung leidet und dadurch Menschen im Umfeld in Mitleidenschaft zieht, seien es Familie, Freunde oder auch einfach nur die Nachbarin im Haus nebenan?
Wenn ich sehe, dass ein Kind auf die Straße rennt und ein Auto kommt, muss ich es da nicht warnen, ihm helfen, ihm vielleicht sogar das Leben retten? Das Dramatische an der Sache ist, dass meine Worte vielleicht tatsächlich dazu beitragen könnten, Susanne das Leben zu retten, würde sie sie denn bewusst wahrnehmen. Allerdings kann ich aus meiner Erinnerung heraus sagen, dass ich in der gleichen Situation wohl kaum bewusst zugehört hätte. Wenn mich damals etwas hätte wachrütteln können, dann nur absolut klare Beweise – Videos, Fotos, Zeugen – in denen ich seine Gewalt gesehen hätte. Und selbst dann hätte ich vielleicht doch ihm geglaubt. Bestimmt hätte er mich überzeugt, ihm zu verzeihen, ihm doch zu vertrauen. Und dennoch hätte ich gerne jemanden gehabt, der mich warnt oder es zumindest versucht hätte. Oder jemanden, der mir ein Samenkorn des Zweifels hätte pflanzen können. Ich hätte gerne eine Wahl gehabt.
Warum hatte ich die Wahl nicht? Weil mir keiner Bescheid gesagt hat oder weil ich schon viel zu schnell gefangen war in dem ganzen Zirkus? Und wenn das Zweite der Fall ist, wieso sollte dann Susanne die Wahl haben? Hatte ich wirklich kein einziges Mal ein schlechtes Bauchgefühl? Und wenn ja, warum habe ich das so ignoriert?
Ich war viel zu schnell schon viel zu tief verankert in der neuen Beziehung zu meinem Ex-Mann. Mein absoluter Lebensmittelpunkt, mein Anker war er. Eine Welt jenseits unserer Zweisamkeit nahm ich schon nach kürzester Zeit nicht mehr wahr. Zu erklären, wie er es schaffen konnte, mich so einzuwickeln, dass ich von Anfang an jedes Wort von ihm auf die Goldwaage legte, ist eine der Hauptaufgaben dieses Buches. Heute könnte ich es mir niemals verzeihen, wenn er Susanne etwas antut, ohne dass ich nicht wenigstens versucht habe, sie zu erreichen. Ich kann heute immer noch nicht fassen, dass ich eine so gewaltvolle Beziehung und Ehe über so viele Jahre als mein Schicksal akzeptiert habe, dass ich das so lange alles mitgetragen und ausgehalten habe. Hätte mir jemand in der Anfangszeit meiner Beziehung diese Dinge über ihn gesagt, so hätte ich das wahrscheinlich nicht glauben können, so geblendet war ich. Deswegen muss ich einkalkulieren, dass auch Susanne mir nicht glauben wird. Wenn ihre Beziehung zu meinem Ex-Mann gerade in der Anfangszeit genauso intensiv ist, ist das sogar wahrscheinlich. Vielleicht wird sie bleiben, vielleicht werden mein Buch und meine Berichte über mein Leben mit ihrem neuen Freund nichts bewirken. Es liegt nicht in meiner Verantwortung, ihre Entscheidungen zu treffen. In Anbetracht der momentanen Lage bezweifle ich sehr stark, dass er sich und sein Leben ändern wird. So lange er sich keine wirkliche Hilfe sucht – außerhalb einer von ihm dominierten Beziehung – so lange er noch immer an seiner gestörten Opferrolle festhält, so lange wird er Täter bleiben!
Ich habe lange überlegt, ihn wegen seiner Taten anzuzeigen, war mir aber unsicher, ob meine Kinder und ich die ganzen Verhör-Strapazen überstehen würden. Außerdem wusste ich nicht, ob und inwieweit auf die ganzen psychologischen Aspekte Rücksicht genommen wird. Wissen die Polizei und das Gericht, was es bedeutet, in einer Co-Abhängigkeit2 zu leben? Wie man in einer Co-Abhängigkeit landet? Dass man ab einem bestimmten Zeitpunkt die eigenen Gefühle nur noch durch die des Partners ersetzt und diese zu seinen eigenen macht, ohne zu hinterfragen? Und wie gehen die Kinder damit um, wenn sie damit konfrontiert werden, dass der eigene Vater ein Täter ist? Weit über das hinaus, was sie ohnehin schon gespürt haben? Wenn der Vater in der Öffentlichkeit verurteilt wird? Würde sich auch ihr Blick auf mich durch einen Prozess ändern?
Nach vielen Gedanken und Abwägungen habe ich mich mittlerweile bewusst dagegen entschieden, vor Gericht zu gehen. Nicht, weil ich denke, dass er mit seinem Verhalten davonkommen soll. Die tatsächlichen Gründe liegen zum einen im Rechtssystem Deutschlands. Teile seiner Taten sind mittlerweile verjährt und mehrere Beratungen bei Anwälten und Opferhilfen ergaben, dass die Aussicht auf Erfolg nur sehr mäßig sei und mit einem hohen Risiko verbunden, ihn vor dem Gesetz von allem freizusprechen. Und dieses Gefühl der Unschuld möchte ich ihm auf keinen Fall geben. Vor allem aber bin ich fest davon überzeugt, dass meine Geschichte zwar erzählt werden muss, vor allem aber meinen Kindern erzählt werden muss, wenn sie alt genug und bereit genug dafür sind, alle Details kennenzulernen. Und eine Gerichtsverhandlung würde genau diese Auseinandersetzung jetzt schon aufzwingen. Heute weiß ich, dass ich ihn nach jeder Straftat direkt hätte anzeigen müssen, dass ich zum Arzt hätte gehen müssen, um Beweise zu sammeln. So hätte ich auch heute noch eine faire Chance vor Gericht. Daher geht meine erste Bitte an all diejenigen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden: Dokumentiert alles. Geht zum Arzt, ins Krankenhaus, haltet alles fest. Denn wenn ihr euch irgendwann befreien könnt, dann habt ihr es in der Hand, weitere Konsequenzen zu ziehen. Macht nicht den gleichen Fehler wie ich.
Ich weiß heute folgendes: Auch wenn ich ihn nicht vor Gericht zur Verantwortung ziehen kann, so habe ich mich dennoch mittlerweile seiner Macht entzogen, indem ich nun 400 Kilometer entfernt ein neues Leben angefangen habe. Der Kontakt zwischen ihm und seinen Kindern ist auf ein absolutes Minimum reduziert, vor allem, weil meine Kinder keinen Kontakt mehr zu ihm haben wollen.
Ich habe mich seiner Macht entzogen, damit ich für sein Verhalten keine Erklärungen und Entschuldigungen mehr suchen muss – nur damit ich das alles irgendwie ertragen kann. Ich bin frei.
Ich habe mich seiner Macht entzogen, damit ich meine eigenen Entscheidungen und die Entscheidungen für meine Kinder alleine treffen kann und keine Angst mehr vor ihm haben muss.
Und ich entziehe mich noch immer mehr und mehr seiner Macht, indem ich meine ganze Geschichte mit ihm immer mehr und mehr aus mir „herauslade“. Auch darum schreibe ich dieses Buch. Es wird meine „externe Festplatte“, auf der dieser Teil meines Lebens gespeichert wird, aber in meinem Alltag keine Rolle mehr spielt.
Meine Kinder sind wertvoll, ich bin wertvoll und wir haben nur dieses eine Leben.
Und dieses Leben hat keine Gewalt verdient!
2 Co-Abhängigkeit kann entstehen, wenn Partner A in einem abhängigen Verhältnis zu etwas steht und Partner B aus Eigennutz unterstützt. Partner B lebt dann in einer Co-Abhängigkeit. In einer Co-Abhängigkeit einer Boderline-Beziehung tut der Partner alles für den Betroffenen und stellt seine eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund. Damit wird die psychische Störung aufrechterhalten oder sogar verstärkt.
Kapitel 2 – Aller Anfang ist rosa
Kennengelernt habe ich ihn, als ich etwa 19 Jahre alt war. Er war damals 26. Ich traf ihn auf einem Konzert der Band, in der ich damals Akkordeon spielte. Nach dem Konzert sprach er mich an und bedauerte den miesen Sound der Anlage. Er sei traurig darüber gewesen, dass man mein Instrument gar nicht gehört hätte. Das blieb hängen, weil jemand ernsthaftes Interesse an mir zeigte. Außerdem war er vom Fach, was mich begeisterte. Das gibt es nicht so häufig. Abgesehen davon war er einfach sehr nett und empathisch.
Er war mit meinem damaligen Gitarristen noch in einer anderen Band. So habe ich ihn dann immer mal wieder auf Konzerten getroffen, aber nie wirklich etwas mit ihm zu tun gehabt. Ich hätte auch nie gedacht, dass er sich für mich interessierte. Wir hatten schließlich kaum etwas miteinander zu tun. Er hatte eine große, gut laufende Kreativ-Werkstatt für Jung und Alt, seine Hobby-Band war, zumindest lokal, sehr angesagt. Ich war zwar Fan seiner Musik, an ihm selbst hatte ich jedoch kein persönliches Interesse. Er kannte gefühlt Millionen von Leuten und ich dachte auch nicht, dass er mich überhaupt auf dem Schirm hatte. Außerdem hatte ich meine eigenen Musikerkreise und es gab einfach nicht genug Schnittstellen.
Auf einem weiteren Konzert sprach er mich dann überraschenderweise erneut an. Er fragte mich, ob ich ein bisschen arrogant sei. Schließlich würde ich ihn nie grüßen, wenn ich ihn sah. Und das doch, obwohl wir uns kannten. Das war ein so ungewohnter Gesprächsöffner, dass auch diese Begegnung hängen blieb. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass er sich an mich überhaupt erinnern würde, geschweige denn, dass er von mir erwartet hätte, dass ich Kontakt zu ihm aufnehme. Seine außergewöhnliche Art fesselte mich von Anfang an. Im Prinzip hatte er mir schon mit diesem Satz gezeigt, dass er in seinen Beziehungen der Machtvolle, der Dominante war. Ab diesem Zeitpunkt unterhielten wir uns immer öfter auf Konzerten, wenn wir uns trafen und lernten uns so auch immer besser kennen, wurden sogar Freunde.
Meine Freundin Dani schilderte ihr erstes Zusammentreffen mit ihm folgendermaßen: „Mich hat der Typ von Anfang an wirklich abgestoßen. Wieso glaubte er, dass er sich so ein arrogantes Verhalten erlauben durfte? Und wieso war meine Freundin Carlotta so bereitwillig die Schwächere in ihrem Zusammensein?“
„Warum, Carlotta, wolltest du, dass jemand Macht über dich hat? Oder hast du deine Kompetenzen massiv überschätzt und konntest dir nicht eingestehen, dass du mit diesem „tollen“ Typ nicht umgehen kannst? Hast du dich als Versagerin gesehen? Wolltest du ihm irgendwas beweisen?“
Für mich fühlte sich unsere Freundschaft gleichberechtigt an, wir begegneten uns auf Augenhöhe. Seine dominante Art in manchen Gesprächen glich er durch seine sehr sensible und feinfühlige Art in anderen Gesprächen nach meinem Verständnis aus. Er erzählte mir früh von seinen zerrütteten Familienverhältnissen und erweckte Mitleid und Mitgefühl. Ich hatte schon den Eindruck, dass es ihm guttat, wenn man ihn diesbezüglich ernst nahm und ihn vielleicht tröstete. Jedoch entwickelte sich aus meiner damaligen Sicht heraus kein Helfersyndrom. Ich wollte ihn nicht retten. Ich wollte als Freundin einfach nur für ihn da sein. Gleichberechtigt, so wie er auch für mich da war.
Er war ein außergewöhnliches, musikalisches Multitalent, was mich total faszinierte, da ich selbst auch schon ein Leben lang Musik machte. Er war selbstständig mit einer Kreativ-Werkstatt und bot alle möglichen Kurse im künstlerischen, zum Teil auch musikalischen Bereich an. Seine Klientel bestand aus Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Er musste also auch im pädagogischen Bereich ein Talent besitzen. Zu der Zeit studierte ich Lehramt und natürlich fühlte ich mich auch dadurch sofort mit ihm verbunden. Hinzu kam, dass er Sportler war. Ich, selber auch schon immer sportaffin, war einfach angetan von all diesen Gemeinsamkeiten.
Ich hatte mitbekommen, dass er mit seiner damaligen Freundin einen Sohn bekommen und er in der Partnerschaft mit ihr auch schon die Verantwortung für ein weiteres Kind aus einer früheren Beziehung von ihr übernommen hatte. Obwohl ich erst Anfang 20 war, wusste ich schon damals, dass ich später eine Familie gründen, eigene Kinder haben wollte. Ein Mann, der bereit war, diese Verantwortung zu übernehmen, erschien mir damals als perfekter Partner und ich war schon ein wenig neidisch darauf, dass sich eine andere Frau diesen Mann „gekrallt“ hatte.
Zu den ohnehin schon vielen faszinierenden Eigenschaften kamen noch sein Einfühlungsvermögen und seine Menschenkenntnis. Bei jedem Gespräch konnte er mich fast lesen wie ein Buch, er erkannte meine Gefühlslage, war besonders aufmerksam und je öfter wir uns trafen, desto tiefgründiger wurden unsere Gespräche. Ich hatte immer mehr das Gefühl, dass er mich in- und auswendig kannte und dass ich ihm wirklich alles anvertrauen konnte, ohne dafür verurteilt zu werden. Ich dachte tatsächlich, dass er ein Mensch sei, bei dem ich durch und durch ich selbst sein konnte. Diese Leichtigkeit im Zusammensein und dieses Vertrauen kannte ich nur von meiner Familie und so fühlte ich mich einfach sehr geborgen bei ihm. Und er war unglaublich lustig. Seine Sprüche, seine Spontanität stachen wirklich heraus. Ich liebte seinen Humor, wir konnten so viel lachen. Während dieser ganzen Zeit waren wir immer beide in Beziehungen, so dass sich nie etwas anderes ergeben konnte als eine immer tiefer werdende Freundschaft.