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Beschreibung

Am 24. Februar 2022 schickte Wladimir Putin seine Armee gegen die Ukraine in den Krieg und traf damit eine Entscheidung, die das politische und ökonomische Gleichgewicht der ganzen Welt ins Wanken brachte. Der russische Angriffskrieg bringt unzählige menschliche Tragödien und immense materielle Zerstörung mit sich, und er wirft eine zentrale Frage auf: Wer ist Wladimir Putin, dieser Mann, der sich weigert, Lehren aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu ziehen, und der von der Rückkehr zu den Grenzen des Zarenreichs und der Wiedereinsetzung eines Regimes träumt, das sich der totalitären Methoden des Stalinismus bedient? Wie wurde dieser Mann, der 1952 in Leningrad in einfachen Verhältnissen geboren wurde, ausgebildet? Warum war er schon in jungen Jahren von der »heroischen« Idee fasziniert, für den KGB zu arbeiten? Welche Tätigkeiten übte er dort vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus? Wie schaffte es dieser bescheidene Oberstleutnant an die Spitze der Macht? Warum entfachte er mehrere mörderische Kriege? Woher kommt seine Obsession für die Eroberung der Ukraine? Und selbst wenn er eines Tages seine Position verlieren sollte, würde sich sein Regime nicht halten?   Das »Schwarzbuch Putin« liefert Antworten auf diese und weitere drängende Fragen von den renommiertesten internationalen Expertinnen und Experten für Russland und den Kommunismus.   Mit exklusiven Beiträgen von Katja Gloger, Claus Leggewie und Karl Schlögel.

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

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Covermotiv: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Einleitung

Teil 1

Chronik einer angekündigten Diktatur

1 Wladimir Putin, ein Homo sovieticus

2 Der KGB kommt wieder an die Macht

3 Putins Flucht nach vorn in die Vergangenheit

4 Wladimir Putin: Einmal Tschekist, immer Tschekist

5 Die Erschaffung des Homo post-sovieticus: Putins »Ingenieure der Seele«

6 Putins Jargon: Markierung einer »Lebenseinstellung«

7 Faschismus und kein Ende?

Teil 2

Eine Politik der Destabilisierung und Aggression

8 Tschetschenien unter Putin

Boris Jelzin und der »erste« Tschetschenienkrieg

Wladimir Putin und der »zweite« Tschetschenienkrieg

Nach dem Mord an Präsident Maschadow

Die Entwicklung der tschetschenischen Diaspora in Europa

Tschetschenen und die Ukraine

9 Putin und Georgien: die Verweigerung der Souveränität

»Georgia on his mind«: Was Georgien für Putin bedeutet

Der Krieg vor dem Krieg: Russlands diplomatischer Druck auf Georgien

Georgien nach der Rosenrevolution: eine zu zerstörende »Anomalie«

Der Fünftagekrieg: Ende eines langen Prozesses

Was aus dem Georgienkrieg nicht gelernt wurde

10 Mentale Militarisierung und Vorbereitung auf Krieg

11 Putins hybride Kriegsführung und die Destabilisierung des Westens

Die Grammatik des Verbrechens

Cyberangriffe, Leaks und Propaganda: Das Ausnutzen von Verwundbarkeiten

Schwächung der NATO?

12 Epochenbruch oder: Zum (vorläufigen) Ende deutscher Russlandpolitik

13 Putin und die Offensive an der Peripherie

Die unsicheren Territorien der ehemaligen Sowjetrepubliken

Die Rebalkanisierung des Balkans

Die Front des Verbrechens gegen die Freiheit und Herrschaft des Rechts

14 Putin und die imaginierte Ukraine

Einen Völkermord benennen

Eine fragwürdige Bruderschaft

Der Weg zur »Endlösung«

Das neoimperiale Modell

Die orange Bedrohung

Putins letzte Chance

15 Waldimir Putin und das ukrainische Geheimdienstfiasko

16 Die Grundpfeiler von Putins Außenpolitik: Rekrutierung, Erpressung und Terror

Das Projekt der Energietokratie

Die Waffen der Apokalypse und die Ausweitung des Terrors ins Ausland

17 Wladimir Putins westliche Netze und ihre Methoden

»Spezialoperationen« sollen Bilderwelten schaffen

Die Kunst als Methode der Einflussnahme, Infiltration und Reputationswäsche

Len Blavatnik und andere Förderer westlicher Universitäten

Infiltrieren und kaufen

Im Visier: die westlichen »Eliten«

Beeinflussung der Diaspora

Teil 3

Wege und Mittel zur Allmacht

18 Die Auslöschung der Völker

Die Vorbereitungsphase: Isolierung des Opfers

Erster Akt: Das Opfer wird als Angreifer dargestellt

Die Phase des Terrors

Der nächste Schritt: die »Transformation des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg«

Die Zeit der Kollaborateure: Wiederauferstehung des Homo sovieticus

19 Scenarios of Power: Putinismus als Stil

Putin auf der Bühne, die die Welt bedeutet

Die Bühne und das Publikum

Szenarien der Macht

20 Die Zerschlagung der Medien, der NGOs und der Opposition in Putins Russland

Die Übernahme der Medien und der ökonomischen Gegenkraft

Die Zuspitzung nach der Geiselnahme von Beslan und der Orangen Revolution in der Ukraine

»Souveräne Demokratie«, Glamour und Versuche einer Opposition

Medwedews Scheinliberalismus

Die Explosion der Demonstrationen 2011/2012

Die langsame Erdrosselung nach der illegalen Annexion der Krim

21 Putin und seine orwellsche Umschreibung der Geschichte

Russland und die UdSSR: Historische Brüche und Kontinuitäten

Von einer in Vergessenheit geratenen Geschichte zu einer Geschichte unter der Kontrolle der Macht

Putins Mythologie des »Großen Vaterländischen Krieges« als totalitäre Grundlage für eine neue russische Identität

Von Putins Geschichtsleugnung zu den Brüchen des europäischen Gedächtnisses

22 Putin, Chef der Oligarchen

Unsichtbare Finanzströme und diskrete innere Transformationen

Die Oligarchen der 1990er-Jahre

Das Auftauchen der putinschen Oligarchen

Wendepunkt Chodorkowski

Putinsche Oligarchen

Die Überlebenden der Neunziger

23 Die orthodoxe Religion als politische Waffe

Die persönliche Verantwortung Wladimir Putins

24 Eine pseudokonservative Gesellschaft auf dem Marsch in die Vergangenheit

Wohin steuert Russland?

Über die Autorinnen und Autoren

Stichwortverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Register

Einleitung

Galia Ackerman und Stéphane Courtois

Den Namen Wladimir Putin kennt man selbst in den abgelegensten Gegenden der Welt. Dabei ist das heutige Russland doch ein kleineres und vor allem wesentlich schwächeres Land als die UdSSR. Diese bestand aus 15 inzwischen unabhängigen Teilrepubliken, sie war Matrix und Motor eines weltweiten kommunistischen Systems, das seit 1919 alle kommunistischen Parteien in der Dritten Internationale zusammenfasste. Ab 1945 reihte sie diejenigen, die die Macht an sich gerissen hatten, in das sogenannte sozialistische Lager ein; es stand unter ihrer engmaschigen Kontrolle und umfasste vor allem Mittel- und Osteuropa, aber auch Vietnam, Kuba, lange Zeit China sowie weitere Länder. Und schließlich wurde die UdSSR von zahlreichen Entwicklungsländern unterstützt, die sich zu »blockfreien Staaten« erklärten, daneben aber auch von unzähligen Sympathisanten auf der ganzen Welt. Über die 90 kommunistischen Parteien auf allen Kontinenten hinaus verfügte sie über zusätzliche ausgedehnte Einflusskanäle: das Netzwerk der Friedensbewegung, den Weltgewerkschaftsbund und besonders die antikolonialistischen Bewegungen. Diese Faktoren und natürlich auch der Sieg über Nazideutschland 1945 sowie der Besitz der Wasserstoffbombe seit 1949 machten die UdSSR zur zweiten globalen Supermacht nach den Vereinigten Staaten.

Davon ist heute nichts mehr übrig. Mit seinem für 2022 hochgerechneten Bruttoinlandsprodukt ist Russland auf Platz 11 hinter Indien und Brasilien abgerutscht, und wegen der nach dem Angriff auf die Ukraine verhängten Sanktionen wird es nicht einmal diesen Platz halten können. Russland hat nur wenige Freunde, die meisten davon Pariastaaten wie Syrien unter Baschar al-Assad, Venezuela unter Nicolás Maduro, Nordkorea unter Kim Jong-un, der Iran der Ajatollahs und last but not least China unter Xi Jinping. Anders als die international einflussreichen kommunistischen Ideen kann es der Welt nichts Ansprechendes bieten, sondern beschränkt sich auf die Ablehnung des Westens und besonders der USA. Damit kann es in den Entwicklungsländern noch Punkte machen, was diese aber nicht daran hindert, ihre eigenen Interessen zu verfolgen und mit dem Westen Handel zu treiben. Und es steht außer Zweifel, dass die Länder, die früher zur »sowjetischen Interessensphäre« gehörten, niemals dahin zurückwollen.

Warum also nimmt Wladimir Putin nun schon seit gut zehn Jahren eine internationale Spitzenposition ein? Sicherlich, weil sein Regime abscheuliche Taktiken benutzt, denen die Demokratien manchmal ohnmächtig gegenüberstehen. In nur 22 Jahren hat sich das sogenannte postkommunistische Russland unter Putin in eine destruktive Macht verwandelt, deren wichtigster Exportartikel die Angst ist. Mit der Androhung von Atomschlägen versucht Russland, größere westliche Hilfe für die Ukraine zu verhindern, um so seinen imperialistischen Krieg zu gewinnen. Mit der Androhung von Nahrungsmittel- und Energieknappheit will es uns in die Knie zwingen, damit wir die Sanktionen aufheben, die seine Wirtschaft abstürzen lassen. Es setzt weltweit und besonders bei uns Propaganda- und Desinformationsnetzwerke ein, um die Einigkeit des Westens auszuhöhlen und sogar Bürgerkriege auszulösen.

Diese zersetzende Politik wurde im Komitee für Staatssicherheit (KGB) ausgebrütet, dem sowjetischen Inland- und Auslandsgeheimdienst, Putins Alma Mater, seiner Universität, an der er seine eigentliche theoretische und praktische Ausbildung erhielt. In Russland sagt man, es gebe keine Geheimdienstmitarbeiter im Ruhestand, keine Tschekisten a. D., und in Bezug auf Putin würde das heißen: »Einmal Tschekist, immer Tschekist.« Vielleicht sollte man sich jetzt einmal eine ganz einfache Frage stellen: Wie ist es möglich, dass jemand, der passenderweise am 20. August 1991 aus dem KGB ausschied – während des gescheiterten Putsches gegen Michail Gorbatschow also, und das, obwohl sein Chef, der Sankt Petersburger Bürgermeister Anatoli Sobtschak, sich gegen die Putschisten ausgesprochen hatte –, wie ist es möglich, dass so jemand 1998, nur wenige Jahre später, Direktor des in Föderaler Dienst für die Sicherheit der Russischen Föderation (FSB) umbenannten KGB wurde? Es ist undenkbar, dass einer, der den KGB in einer Krise »verlassen« hatte und nicht etwa General, sondern nur Oberstleutnant war, den höchsten Posten der Organisation bekommen konnte – es sei denn, er gehörte in Wirklichkeit zur »aktiven Reserve« aus ehemaligen KGB-Genossen, die jetzt für den FSB arbeiteten und den aus der Implosion der UdSSR 1991 hervorgegangenen Staatsapparat unterwandern sollten. So erklärt sich auch Putins berühmter »Scherz« bei einem Treffen von FSB-Leuten im Dezember 1999, am Tag des Tschekisten: »Ich möchte darauf hinweisen, dass die Gruppe der FSB-Offiziere, die zur Infiltration der Regierung entsandt wurde, zunächst ihre Aufgaben erfüllt.« Da war er bereits Regierungschef, und seine nächste Aufgabe war es, die Präsidentschaft zu erlangen, derer er sich im Jahr 2000 bemächtigte und die er seit 22 Jahren innehat, mit einem kurzen Zwischenspiel des Scheinpräsidenten Dmitri Medwedew.

Wir erforschen hier Putins Werdegang, den Weg eines vom Geheimagenten zum Zaren aufgestiegenen Mannes, der seinen Wurzeln als Homo sovieticus und seiner im Schoß des KGB gebildeten Weltsicht die Treue bewahrt hat, außerdem aber auch seinen unbekannten wahren Mentoren. Wie der Dissident Wladimir Bukowski sinngemäß sagte: Putin ist Oberstleutnant, aber über ihm gibt es Generäle.

Die besten französischen und ausländischen Experten für Russland und den Kommunismus – mehrere stammen aus der früheren UdSSR – haben zu diesem Werk beigetragen, um Putins Weg nachzuzeichnen und seine Regierungsführung zu beleuchten. Dabei vertreten wir einen einzigartigen Ansatz mit der These, seine Methoden und seine Taktik seien von den Werten des KGB geprägt. Weiter oben haben wir das sogenannte postkommunistische Russland benannt. Allerdings widersprechen wir der These vom Postkommunismus, denn wir beobachten mit Bitterkeit, dass der Kommunismus zwar eine Ideologie, dabei aber sehr anpassungsfähig ist; so erklärt es sich, dass Stalin einen Pakt mit dem Naziregime schließen konnte. Wie schon Lenin gezeigt hat, bestand die Praxis des Kommunismus vor allem darin, einer Gruppe von Berufsrevolutionären mit den geeigneten Methoden an die Macht zu verhelfen. Durch eine Klassenideologie – egal, ob es sich um eine soziale oder ethnische Pseudogruppe handelte –, legitimierte er eine grundsätzliche Ungleichheit zugunsten der Partei, die die Bevölkerungsmehrheit unterjochte. Und er diente als Grundlage, auf der alle, auch ökonomische Maßnahmen erdacht wurden, die in seiner Scheinideologie darauf abzielten, die erreichte Macht für alle Zeiten zu festigen, wobei der Unterdrückungs- und Terrorapparat, die Tscheka – das »Schwert der Revolution« –, die zentrale und entscheidende Rolle spielte. Dieses Modell eines totalitären Regimes galt und gilt für alle kommunistischen Herrschaftssysteme auf der ganzen Welt.

Putin ging weiter. Zwar wurde die kommunistische Idee abgeschafft, und die Partei verlor ihre Macht, doch konservierte er das kommunistische System der Staatsführung mit ihren wichtigsten Elementen, der vertikalen Ausrichtung und der Absage an einen Machtwechsel. Garantiert werden sie durch die Geheimdienste, in erster Linie den Inlandsgeheimdienst FSB, eine privilegierte Gesellschaftsschicht und die Kontrolle der Wirtschaft. Man könnte also vom »Sowjetsystem ohne kommunistisches Gedankengut« sprechen. Neu an Putins Variante ist zum einen die Fusion der Regierung mit mafiösen Gruppen und folglich auch die Übernahme von deren grausamer Praxis, zum anderen die endemische Korruption besonders an den Schaltstellen der Macht. So sieht das Regime aus, das global für Chaos sorgt und dessen imperialistische Absichten weit über die Ukraine hinauszielen.

Im Jahr 1997 veröffentlichten die Éditions Robert Laffont und der verstorbene Charles Ronsac das Schwarzbuch des Kommunismus, das nach der Öffnung der Moskauer Archive den Umfang und den intrinsischen Charakter der von Lenin begründeten und von Stalin systematisierten Verbrechen des kommunistischen Regimes dokumentiert. Die Verbreitung des Buches in mehr als 25 Ländern schien damals dazu beizutragen, das moralische Prestige der UdSSR zu zerstören. Außerdem symbolisierten der gescheiterte Putsch 1991 in Moskau und der darauf folgende Rücktritt Michail Gorbatschows für die meisten Beobachter einen Abschied vom Kommunismus und eine Zeitenwende. Wir zeigen in unserem Buch, in welchen Schritten die Rückeroberung der Macht durch den KGB/FSB und sein Geschöpf Wladimir Putin verlief, von dessen Aufstieg ins oberste Staatsamt bis zum andauernden Krieg in der Ukraine, dessen Ausgang im Augenblick niemand vorhersagen kann. Wir beschreiben die Summe der Verbrechen Putins gegen sein eigenes versklavtes und verdummtes Volk und gegen weitere Völker – Ukrainer, Tschetschenen, Georgier, Moldawier, Syrer, Venezolaner und andere –, Völker, deren normale Entwicklung dieses Regime dadurch verhindert, dass ihre diktatorischen Herrscher gestützt werden oder ihnen ein Krieg aufgezwungen und ihre Wirtschaft zerstört wird. Die Schädigung als politisches Prinzip hat Putin weltweit bekannt gemacht. Seinen Werdegang und sein Handeln zu entschlüsseln ist eine zentrale Aufgabe.

Teil 1

Chronik einer angekündigten Diktatur

1 Wladimir Putin, ein Homo sovieticus

Galia Ackerman und Stéphane Courtois

Wladimir Putins Auftritt auf der Bühne der Weltgeschichte gehört zu den eigentümlichsten Ereignissen der vergangenen dreißig Jahre. Der kometenhafte Aufstieg des kleinen, so gar nicht charismatischen Mannes wird gerüchteweise auf eine Abstammung aus dem kommunistischen Hochadel zurückgeführt: Einmal heißt es, er sei der Enkel von Stalins Koch[1], dann wieder soll er der Sohn eines heldenhaften Offiziers und Angehörigen der Geheimpolizei NKWD[2] gewesen sein. Auch wird behauptet, er sei aus einer außerehelichen Affäre mit einer russischstämmigen Georgierin namens Vera Putina hervorgegangen, die den Jungen im Alter von zehn Jahren zu seinen Großeltern zurückgebracht habe, bevor er dann von seinen offiziellen Eltern adoptiert worden sei.[3]

Die Wahrheit ist natürlich profaner. Wladimir Putin wurde 1952 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, in sehr einfachen Verhältnissen geboren. Die Familie war zutiefst geprägt durch die 872-tägige deutsche Belagerung Leningrads in den Jahren 1941 bis 1944: Der Vater trug eine Kriegsverletzung davon, die Mutter entkam nur knapp dem Hungertod. Anfangs selbst Prügelknabe der Nachbarjungen, entwickelte sich der Jugendliche zu einem aufsässigen Raufbold. Schließlich begann Putin, an der Leningrader Universität unter Professor Anatoli Sobtschak Jura zu studieren – das heißt, sozialistisches Recht, mit dem man »Volksfeinde« in den Gulag schicken oder zum Tode verurteilen konnte.

Er war fasziniert von der Macht des KGB und tat alles, um rekrutiert zu werden. Von ganz unten arbeitete er sich hoch und wurde schließlich Offizier, der für die Bekämpfung von Dissidenten in der Region Leningrad zuständig war. Seine Tätigkeit brachte ihm eine Beförderung ein, er absolvierte ein einjähriges Praktikum am Institut Andropow. Trotz einer eher negativen Beurteilung[4] wechselte Putin anschließend zum Auslandsgeheimdienst und wurde 1985 in der offiziellen Tarnung als Mitarbeiter des örtlichen KGB-Verbindungsoffiziers zur DDR-Staatssicherheit nach Dresden geschickt, wo er in Wirklichkeit andere, weniger verbindende Tätigkeiten ausübte.

Ein Hauptbetätigungsfeld Putins galt der großen Leipziger Industriemesse, die alle zwei Jahre stattfand und als »Schaufenster« des kommunistischen Lagers diente. Dort tummelten sich Dutzende westlicher Geschäftsleute, die auf lukrative Aufträge hofften, und Putin suchte unter ihnen nach interessanten Zielen zum Abgreifen von Spitzentechnologien. Letzten Endes köderte man die Männer mit den banalsten Methoden: einem Bataillon hübscher Mädchen, das zur Unterhaltung der netten Herren aus der Wirtschaft abgestellt wurde. Am Ende dieses Vergnügens ermöglichten eindeutige Fotos einen »asymmetrischen« Dialog, sprich sexuelle Erpressung. Putins Geschick im Kompromat, der KGB-Methode zur Erzwingung einer Kooperation, ist berüchtigt.[5] Offenbar versuchte er unter anderem, einen Medizinprofessor aus der Bundesrepublik dazu zu bringen, ihm Informationen zu spurlos zu verabreichenden tödlichen Giften zu liefern, indem er ihn mit kompromittierendem pornografischem Material erpresste.

Im November 1989 verfolgte Putin mit Entsetzen, wie Demonstranten die Berliner Mauer zu Fall brachten und daraufhin innerhalb weniger Wochen die kommunistischen Regimes in fünf der sogenannten Volksdemokratien – DDR, Polen, Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien[6] – wie die Dominosteine fielen. Während er noch Stasidokumente verbrannte, damit sie nicht in die Hände der Bürgerrechtler fielen, stand ihm immer deutlicher vor Augen, welch große Gefahr die Macht der öffentlichen Meinung und das Aufkommen friedlicher Massenproteste für eine Diktatur bargen. Von den Ereignissen behielt er eine Angst vor dem Volk und einen zunehmenden Hass auf die Demokratie zurück. Nun musste er in Gorbatschows UdSSR zurückkehren, als diese gerade von einer starken Demokratiebewegung infiziert wurde. Ein weiteres Trauma erlitt er, als im Sommer 1991 ein Putschversuch reaktionärer Kräfte fehlschlug und ein zerstörerischer Konflikt zwischen Gorbatschow – dem ersten und letzten vom Kongress der Volksdeputierten gewählten Präsidenten der UdSSR – und Boris Jelzin – dem in allgemeiner Wahl gewählten Präsidenten der Russischen Föderation – losgetreten wurde. Diese Konfrontation führte innerhalb weniger Monate zur Implosion der UdSSR. Bereits im August 1991 erklärten Estland, Lettland und Litauen ihre Unabhängigkeit. Am 24. August rief der Oberste Sowjet der Ukraine die Unabhängigkeit aus, welche im Dezember 1991 durch ein Referendum bestätigt wurde: Fast 90 Prozent der Wähler, auch im Donbass und auf der Krim, sprachen sich für die Loslösung von der Sowjetunion aus.

Am 8. Dezember 1991 gründeten Jelzin und seine ukrainischen und belarussischen Pendants die »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten«, mit der man die UdSSR endgültig begrub und zwölf eigenständige Nachfolgestaaten ins Leben rief: Russland, die Ukraine, Belarus, Moldawien, Armenien, Georgien, Aserbaidschan, Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgistan und Turkmenistan. Am 25. Dezember 1991 um 19 Uhr unterzeichnete Gorbatschow seine Rücktrittserklärung und beendete damit die Existenz der Sowjetunion – des ersten, im November 1917 von Lenin ausgerufenen totalitären Regimes der Geschichte. Eine Stunde später wurde die über dem Kreml wehende rote Flagge mit Hammer und Sichel durch die weiß-blau-rote Flagge Russlands ersetzt, und die Welt dachte, nun werde endlich eine demokratische Ära eingeläutet.

Die Realität sah ganz anders aus. Anders auch im Vergleich zu Nazideutschland, das 1945 militärisch besiegt und nach seiner bedingungslosen Kapitulation in verschiedene Besatzungszonen aufgeteilt worden war; die Nazielite war entweder im Laufe des Krieges verschwunden, zum Tode oder zu Gefängnisstrafen verurteilt oder gesellschaftlich degradiert worden. Die Nürnberger Prozesse hatten die rassistische Ideologie des Naziregimes, seine Führer und ihre Verbrechen vor der Welt gebrandmarkt. Die USA, Großbritannien und Frankreich führten in ihren Besatzungszonen demokratische Standards ein und stellten sich den Sowjets entgegen, als diese 1948 die Berlin-Blockade als Druckmittel einsetzten. Die Westalliierten organisierten in einem gewaltigen Kraftakt eine Luftbrücke, mit der ihre Garnisonen und die Berliner Zivilbevölkerung mit dem Nötigsten versorgt werden konnten. So zwangen sie Stalin innerhalb eines Jahres zum Nachgeben.

Derlei sucht man im postsowjetischen Russland vergebens. Das System kollabierte ohne äußeres Zutun, da die kommunistische Planwirtschaft in einem gewaltigen Konkurs an die Wand fuhr. Die Funktionärswelt hatte nichts als Stagnation und Gerontokratie befördert. Gehalten hatte sich das System ohnehin nur durch mehr oder weniger intensiven Terror, dem Gorbatschow – und das ist sein großes Verdienst – ein Ende setzte. Eine wirkliche Entsowjetisierung fand unter seinem Nachfolger Jelzin nicht statt, die sowjetische Mentalität verschwand nicht einfach wie durch Zauberhand. Bezeichnenderweise griff die neue russische Hymne auf die unter Stalin geltende zurück, wenn auch mit verändertem Text. Gorbatschow und Jelzin unterstützten scheinbar die freie Meinungsäußerung, es gelang ihnen jedoch nicht, demokratische Institutionen und einen Rechtsstaat aufzubauen. Viele Institutionen wechselten lediglich ihre Etiketten, rasch übernahm Jelzins Präsidentschaft die geheime und undurchsichtige Arbeitsweise des ehemaligen Politbüros der KPdSU. Vor allem aber blieb das Personal des ehemaligen totalitären Regimes im Amt, auch wenn der KGB in den Inlandsgeheimdienst FSB und den Auslandsgeheimdient SWR umgewandelt wurde.[7]

Der Zusammenbruch der kommunistischen Ideologie rehabilitierte auf einen Schlag das Privateigentum und damit die Möglichkeit für nahezu unendliche persönliche Bereicherung. Es kam zu einem regelrechten »Goldrausch« und einer umfassenden Plünderung der Reichtümer des Landes durch eine Handvoll Eingeweihter unter den Funktionären des Komsomol (der kommunistischen Jugendorganisation) und der KPdSU. So entstand ein wilder »Kapitalismus«, beherrscht von Ex-Bürokraten, die ihre Machtposition ausnutzten, um sich die besten Stücke zu sichern, und zugleich von einem entfesselten Banditentum, das ein Klima der Anarchie schuf und die Kultur der »Diebe im Gesetz«, also das »Recht« der Kriminellen stärkte. Den Bolschewiki, den Berufsrevolutionären, die sich mit einer laut Lenin fast »militärischen Disziplin« dem »demokratischen Zentralismus« verschrieben und eine Apparatschiksprache pflegten, hatte die Kaste der »Diebe im Gesetz« schon lange ihren eigenen Slang und ihre eigene Hierarchie entgegengesetzt: Die von einem aus der Gruppe ernannten Paten dominierte Mafia folgte einem Ehrenkodex, der jegliche Illoyalität mit dem Tod bestrafte (vgl. auch Kapitel 6, »Putins Jargon«).

Schon 1869 hatte Lenins Vorbild Sergei Netschajew in seinem Katechismus eines Revolutionärs erklärt: »Wir müssen uns mit den abenteuerlustigen Stämmen von Briganten verbünden, die die einzig wahren Revolutionäre Russlands sind.«

Und weiter heißt es in seiner Schrift:

»Der Revolutionär ist ein vom Schicksal verurteilter Mensch. Er hat keine persönlichen Interessen, keine geschäftlichen Beziehungen, keine Gefühle, keine seelischen Bindungen, keinen Besitz und keinen Namen. Alles an ihm wird von dem einzigen Gedanken an die Revolution und von der einzigen Leidenschaft für sie völlig in Anspruch genommen. Der Revolutionär weiß, dass er in der Tiefe seines Wesens, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, alle Bande zerrissen hat, die ihn an die gesellschaftliche Ordnung und die zivilisierte Welt mit allen ihren Gesetzen, ihren moralischen Auffassungen und Gewohnheiten und mit allen ihren allgemein anerkannten Konventionen fesseln. Er ist ihr unversöhnlicher Feind, und wenn er weiterhin mit ihnen zusammenlebt, so nur deshalb, um sie schneller zu vernichten.«[8]

Ebenso schworen die »Diebe im Gesetz«, diese Elite der sowjetischen Unterwelt, ihrer Gemeinschaft absolute Treue, indem sie sich als für die Außenwelt »tot« erklärten.[9] Bei den einen wie bei den anderen wurden allein Stärke, Gewalt, Unerbittlichkeit und Arglist respektiert. Felix Dserschinski, Gründer und Chef der 1917 entstandenen Tscheka – dem bewaffneten Arm der Bolschewiki, aus dem GPU, NKWD und schließlich KGB wurden –, wiederholte am 31. Mai 1918 noch einmal eine grundlegende Direktive dieser gigantischen Terrororganisation: »Es gibt nichts Wirksameres als eine Kugel, um jemanden zum Schweigen zu bringen.«[10]

Schon im Gulag, wo die Strafgefangenen oft selbst für die Durchsetzung der sowjetischen Ordnung zuständig waren, kam es zu einer Vermischung der beiden Machtpole, und letzten Endes führte die gemeinsame Gewaltkultur zu einer Kriminalisierung der Gesellschaft: Zwischen 1960 und 1991 wurden in der UdSSR 35 Millionen Strafurteile gefällt, einer von vier Sowjetbürgern hatte eine Haftstrafe verbüßt. Die Mentalität und der Jargon der Unterwelt hatten die Gesellschaft derart infiltriert, dass Alexander Solschenizyn in seinem Archipel Gulag die Frage stellte: »Wer hat wen umerzogen? Die Tschekisten die Unterweltler? Oder die Unterweltler die Tschekisten?«

Vor allem aber gab es Millionen unschuldiger Opfer, die bei großen geheimen Terroraktionen ums Leben kamen: der »Entkosakisierung« im Jahr 1919, bei der etwa 300 000 Menschen vor allem in der Ukraine ermordet wurden; der »Entkulakisierung« von 1929 bis 1933, bei der vier Millionen ukrainische Bauern (Männer, Frauen und Kinder) während der von Stalin 1932/33 organisierten, als Holodomor bezeichneten Hungersnot starben; dem Großen Terror von 1937/38, bei dem 700 000 Menschen durch Kopfschuss hingerichtet und weitere 700 000 in den Gulag verschleppt wurden; dann den ungeheuren Massakern und Verschleppungen, die in den 1939/40 eroberten Ländern – in Ostpolen, den baltischen Staaten und Bessarabien – durchgeführt wurden; den Deportationen von sowjetischen Volksgruppen – Wolgadeutsche, Tschetschenen und andere Völker des Nordkaukasus, Krimtataren –, die der »Kollaboration« zu Kriegszeiten beschuldigt wurden; den Säuberungen, Hinrichtungen, Verschleppungen von 1944 bis 1953 in allen mittel- und osteuropäischen Staaten, die ironischerweise als »Volksdemokratien« bezeichnet wurden.

In dieser von absoluter Willkür, völliger Straffreiheit und offener, an Sadismus grenzender Gewalt geprägten Gesellschaft war der kleine Wladimir Putin aufgewachsen und hatte schon früh deren »Werte« und Codes übernommen. Und vergessen wir nicht: Der »totale Krieg«, den Hitler zwischen Juni 1941 und dem Sommer 1944 gegen die UdSSR und ihre Bevölkerung führte, hatte den Tod von zwölf Millionen Soldaten und fünfzehn Millionen Zivilisten gefordert.

Dem Zerfall der UdSSR folgte keinerlei Entkommunisierung. Weder Mitglieder der Kommunistischen Partei noch Angehörige des KGB wurden vor ein den Nürnberger Prozessen vergleichbares Tribunal gestellt, das die unzähligen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozide öffentlich abgeurteilt hätte. Mit Ausnahme einer kleinen demokratischen Minderheit aus dem Umfeld der Dissidentenbewegung, die bestrebt war, einen Rechtsstaat zu errichten, erinnerte die Mentalität der neuen postsowjetischen Eliten sehr an jene der alten kommunistischen Nomenklatura, aber eben auch an jene der kriminellen Mafia: Sie war geprägt durch Unmoral, Verachtung für das Volk, Missachtung des Rechts, Unterwürfigkeit gegenüber dem Kreml, tödlichen Auseinandersetzungen mit Konkurrenten, der mitleidlosen Vernichtung von Unterlegenen und Schwachen und dem besessenen Streben nach Reichtum.

Die Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa durchliefen einen Prozess der »Lustration«, durch den Personen, die besonders eng mit dem früheren totalitären Regime verbunden gewesen waren, aus öffentlichen Ämtern entfernt wurden – in Moskau dagegen endete die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kommunismus mit der 1992 verkündeten Legalisierung der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation. Zwar wurde anerkannt, dass sich die Führung des Zentralkomitees der KPdSU und die Führung des sowjetischen Staates der Verbrechen des Stalinismus schuldig gemacht hatten, doch sollte dies weder für die Basis- und Primärorganisationen der Partei, die nicht an diesen Verbrechen beteiligt gewesen waren, noch für die 1990 gegründete Kommunistische Partei der Russischen Föderation gelten. Die Hoffnung auf ein Tribunal wie in Nürnberg, das über die Verbrechen des Kommunismus befinden würde, wurde endgültig begraben.[11] Trotz einer Neuorganisation blieben die Sicherheitsstrukturen der ehemaligen UdSSR bestehen, und das oftmals mit denselben Verantwortlichen. Sie umfassen die Polizei (Miliz), Sondereinsatzkräfte (Speznas), die aus dem KGB hervorgegangenen Dienste FSB und SVR (Ersterer zur Gegenspionage, Grenzüberwachung und Bekämpfung von Terrorismus, organisiertem Verbrechen und Korruption, Letzterer zur Auslandsspionage), die Armee und deren Nachrichtendienst GRU sowie die Staatsanwaltschaft.

Diese bewaffneten Kräfte aus Geheimdienst und Militär, die sogenannten Silowiki, hatten nie aufgehört, dem Kreml zu Diensten zu sein. Anders als in der Sowjetzeit aber – und in der Absicht, das Land auszuplündern – schlossen sie sich mit den Großkriminellen zusammen, die sie eigentlich bekämpfen sollten. Und wie in der bolschewistischen Partei – aber auch wie in jeder Mafia – bestand das entscheidende Kriterium für das Funktionieren ihres Systems in der absoluten Loyalität gegenüber dem Anführer. Diese Loyalität stellte man am deutlichsten durch einen Blutpakt unter Beweis – die Beteiligung an einem – symbolischen oder tatsächlichen – Mord.[12]

In dieser unbeständigen Lage eskalierten die Clankämpfe zwischen Präsident Jelzin und den das neue Parlament beherrschenden Kommunisten des Obersten Sowjets. Kommunisten und Ex-Kommunisten kämpften in einem Klima des latenten Bürgerkriegs um die Macht. Am 21. September 1993 schlug Jelzin eine Verfassungsreform vor, die der Auflösung des Volksdeputiertenkongresses und des Obersten Sowjets der Russischen Föderation gleichkam. Dies löste einen bewaffneten Aufstand von Teilen des Parlaments aus, der am 4. Oktober mit Waffengewalt niedergeschlagen wurde. Es gab 146 Tote und zahllose Verwundete.[13]

Im folgenden Jahr, am 11. Dezember 1994, brach Jelzin mit dem Ziel des Machterhalts einen Krieg gegen die kleine autonome Republik Tschetschenien los. Das Land hatte 1991 seine Unabhängigkeit erklärt und verweigerte den Anschluss an Russland. Jelzin verkündete, die Separatisten seien »tollwütige Hunde«, die man erschießen müsse – eine Anlehnung an Stalins Ausspruch aus den 1930er-Jahren, als dieser gegen die ebenso als »tollwütige Hunde« bezeichneten Trotzkisten vorging. Jelzin nahm an, die tschetschenische Hauptstadt Grosny könne innerhalb von zwei Stunden von Fallschirmjägern eingenommen werden – eine düstere Vorwegnahme der Fehleinschätzung beim Angriff auf die Ukraine 2022. Die Tschetschenen leisteten jedoch erbitterten Widerstand, sodass sich Russland am 31. August 1996 gezwungen sah, ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen und die Autonomie Tschetscheniens anzuerkennen – bis dahin waren auf beiden Seiten knapp 100 000 tote Zivilisten und Soldaten zu beklagen.[14]

In diesem katastrophalen Umfeld musste sich der aus der DDR zurückgekehrte Wladimir Putin erst einmal zurechtfinden. Niedergeschmettert bezeugte er den Zusammenbruch einer Weltsicht, die von der Idee der sowjetischen Supermacht und ihrer »strahlenden Zukunft« beherrscht gewesen war. Wieder gab ihm der KGB Halt. Als Oberstleutnant trat Putin in die Leningrader KGB-Führung ein und wurde zudem Berater für internationale Angelegenheiten seines ehemaligen Professors Anatoli Sobtschak, der dem Leningrader Sowjet vorstand. Als dieser 1991 zum Bürgermeister der Stadt Sankt Petersburg gewählt wurde, beförderte er seinen treuen Berater zum Vorsitzenden des städtischen Ausschusses für auswärtige Beziehungen.

Putin war loyal, diskret und zu allem bereit. Ganz Opportunist, verließ er den KGB und trat aus der Partei aus. Im allgemeinen Chaos machte er sich unentbehrlich und wurde zu Sobtschaks grauer Eminenz – am Ende setzte ihn dieser sogar als stellvertretenden Bürgermeister ein. Leningrad war damals die Hauptstadt des organisierten Verbrechens, eine Art russisches Chicago der 1930er-Jahre, und Sobtschak ein durch und durch korrupter Mann. Putin, der sowohl als Jurist wie auch als ehemaliger KGBler mit seinem Schutz betraut war, unterhielt Verbindungen zur örtlichen Mafia, die den Ostseehafen kontrollierte, und zugleich zu staatlichen Stellen – insbesondere zum FSB – und zu Partnern in Deutschland. Er nutzte diese Kontakte, um die Bank Rossija unter seine Kontrolle zu bringen, bei der Parteigelder der KPdSU geparkt waren.[15] Putin setzte ein Modell der organisierten Korruption ein, das sich aus Schutzgelderpressungen und Geldwäsche speiste – Geld, das aus kriminellen Aktivitäten wie Drogenhandel, Prostitution und Schmuggel stammte. Er sammelte einen Clan aus Ergebenen um sich und fand immer mehr Gefallen an der Macht – dies zeigt auch ein ihm zu Ehren gedrehter Film aus dem Jahr 1992 mit dem Titel Macht. Dabei handelte es sich um eine verborgene, willkürliche und äußerst einträgliche Macht. Damals war Putin gerade 39 Jahre alt.[16]

Sein Aufstieg wurde 1996 jäh unterbrochen. Die Verwaltung von Sankt Petersburg war in einem so desaströsen Zustand, dass Sobtschak die Wiederwahl nicht gelang und Putin ihm in den Abgrund folgte. Er verlor alles auf einen Schlag, lernte aber eine wichtige Lektion: Man sollte seine Macht nicht von demokratischen Wahlen abhängig machen. Doch Putin hatte Glück im Unglück: Mit der Unterstützung mafiöser Strukturen, den von ihnen kontrollierten Medien und ehemaligen Apparatschiks wurde Boris Jelzin am 3. Juli 1996 erneut zum Präsidenten Russlands gewählt. Diese Wahl markierte den Triumph einer immer einflussreicheren Gruppe – der sogenannten Oligarchen. Aus Angst, ihre unlauter erworbenen Industrie- und Finanzimperien zu verlieren, falls Jelzin nicht wiedergewählt würde, finanzierten sie seinen Wahlkampf, der von die öffentliche Meinung manipulierenden Politikberatern und den Silowiki geführt wurde. Pawel Borodin, der notorisch korrupte Verwalter des Kremlvermögens, schlug Putin kurz nach den Wahlen vor, in die Präsidialverwaltung des bereits schwer erkrankten Jelzin einzutreten. Dort erwies Putin sich als so fleißig und loyal, dass Jelzin ihn 1998 zum Direktor des FSB für ganz Russland ernannte. Was für ein phänomenaler Aufstieg für diesen jungen Offizier, der bei seinem Amtsantritt erklärte, für den Geheimdienst zu arbeiten sei für ihn wie eine Rückkehr in sein Elternhaus. Für die rasante Beförderung hatte Jelzin sicherlich eine Vereinbarung mit den FSB-Granden getroffen. Als man den Dissidenten Wladimir Bukowski auf die Ernennung Putins ansprach, antwortete dieser sarkastisch: »Wie? Wissen Sie nicht, dass es über einem Oberstleutnant noch Generäle gibt?«

Im Sommer 1998 führte das immer tiefer greifende Chaos in die wirtschaftliche Katastrophe: Die Hälfte der Banken ging pleite, der Wert des Rubels fiel um 75 Prozent, Millionen Bürger verloren ihre Ersparnisse, zahllose Unternehmen schlossen, die Arbeitslosigkeit kletterte in die Höhe. Jelzin geriet in Bedrängnis und war gezwungen, seine Regierung umzustellen: Er ernannte Jewgeni Primakow, einen alten sowjetischen Apparatschik, zum Ministerpräsidenten. Dieser war 1991 erster stellvertretender Vorsitzender des KGB, dann Direktor des SVR (1991–1996) und schließlich Außenminister (1996–1998) gewesen. Ein eindeutiger, wenn auch unnötiger Beweis dafür, dass Russland zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer alles andere als entsowjetisiert war. Nichtsdestoweniger brachte Primakow, der Mann der Ordnung, die Wirtschaft schnell wieder auf Kurs, blieb aber auf Distanz zum Jelzin-Clan, dessen Geldhunger er gefährdete.

Putins Karriere nahm nun endgültig Fahrt auf. Im Jahr 1997 hatte der russische Generalstaatsanwalt Juri Skuratow Korruptionsermittlungen eingeleitet, die insbesondere das Schweizer Unternehmen Mabetex betrafen, eine Baufirma, die verdächtigt wurde, Jelzins Vertrauten hohe Bestechungsgelder gezahlt zu haben, um lukrative Aufträge für die Renovierung des Kremls, des Weißes Hauses (Sitz des russischen Parlaments) und anderer öffentlicher Gebäude zu erhalten. Ins Visier gerieten neben dem Präsidenten auch seine beiden Töchter und sein Schwiegersohn Alexej Djatschenko, dem die Präsidialverwaltung, das Herzstück der Macht, oblag. Vor der Duma wurde ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet, dessen erfolgreicher Ausgang Jelzin und seine Familie vor Gericht bringen würde. Am 18. März 1999 kam es dann zu einer unglaublichen Wendung: Im russischen Fernsehen wurde ein Video mit dem Titel »Zu dritt im Bett« gezeigt. Man erkannte darin einen von hinten gefilmten Mann, der sich auszog und anschließend mit zwei nackten Frauen im Bett herumtollte. Dieser Mann, so hieß es, sei Skuratow. Dieser konnte noch so sehr widersprechen – Putin griff in seiner Funktion als FSB-Chef unverzüglich ein, attestierte die Echtheit der Aufnahmen und verkündete, sie zeigten in der Tat Generalstaatsanwalt Skuratow mit zwei Prostituierten. Im April wurde Skuratow seines Amts enthoben und kaltgestellt.[17]

Zur gleichen Zeit machte sich der von Jelzins Familie bevorzugte Oligarch Boris Beresowski bereits Gedanken über die Nachfolge des schwer herzkranken Präsidenten. Er wollte für die Wahl im Jahr 2000 einen ihm getreuen Mann ins Spiel bringen, der Primakows Sieg verhindern würde, und entschied sich für Putin, der sich in der Skuratow-Affäre doch so loyal und effizient gezeigt hatte.

Die erste Phase der Operation erfolgte am 9. August 1999, als Jelzin einem verblüfften Russland die Entlassung Primakows verkündete und drei Monate später – nach Interims-Ministerpräsident Sergej Stepaschin – einen der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannten Putin an dessen Stelle setzte. Die zweite Phase begann im Sommer 1999, als man eine Gruppe islamistischer Rebellen aus Tschetschenien dazu brachte, in die Nachbarregion Dagestan einzufallen. Damit war der Vorwand für einen Krieg gewonnen, man konnte die öffentliche Meinung in Stellung bringen und den Wunsch nach einem starken Mann befördern, der da Putin heißen sollte. Wenig später, zwischen dem 4. und 16. September, wurde die dritte und letzte Phase ausgelöst. Ein harter Kern der Silowiki beschloss ein noch brutaleres Vorgehen und plante vier Attentate, die zwischen dem 31. August und 16. September 1999 unter anderem gegen Moskauer Wohngebäude verübt wurden und mehr als 300 Tote forderten.[18]

Die Empörung war gewaltig, und der neue Ministerpräsident Putin beeilte sich, die Tschetschenen zu beschuldigen und brutale Hetze zu betreiben: »Man kann sie nicht einmal Tiere nennen; wenn sie das wären, wären sie tollwütig. … Wir werden sie überallhin verfolgen … wenn wir sie auf der Toilette erwischen, dann werden wir sie eben dort auf dem Scheißhaus abknallen.« Es handelte sich um eine doppelte Provokation: Zum einen erinnerte das Vorgehen an den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933, den die Nazis genutzt hatten, um ihre Politik des »legalen« Terrors gegen ihre Gegner einzuleiten; zum anderen wurden die Tschetschenen endgültig zu Feinden Russlands erklärt. Schon zu Zarenzeiten hatte man sie als Wilde betrachtet, weil sie sich dem russischen Drängen widersetzten. Russische Mütter drohten ihren aufmüpfigen Kindern mit dem Tschetschenen so wie wir mit dem Knecht Ruprecht. Dabei blieb vollkommen außer Acht, dass Stalin im Februar 1944 innerhalb von nur fünf Tagen die gesamte Bevölkerung Tschetscheniens und Inguschetiens – fast 600 000 Menschen – nach Kasachstan und Kirgisistan deportiert hatte. Deren Überlebende konnten erst in den 1970er-Jahren wieder in ihre Heimat zurückkehren, falls Haus und Hof nicht einfach russischen Siedlern zugesprochen worden waren. Mit der aktuellen Stigmatisierung der Tschetschenen drückte man aus, dass Russland weder Reue für das stalinistische Ethnozid noch Mitleid mit diesen »Feinden des russischen Volks« empfinden sollte.

Am 1. Oktober riss Putin Russland also erneut in einen grausamen Krieg gegen Tschetschenien, wobei das Militär dieses Mal auf die intensive Bombardierung Grosnys setzte – mit ebendieser Taktik ging man 2022 auch gegen ukrainische Städte und insbesondere Mariupol vor. Die um ein Vielfaches überlegene russische Armee konnte im März 2000 das gesamte tschetschenische Gebiet besetzen, wobei es zu unzähligen, an Genozid grenzenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit kam: Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 1,4 Millionen Menschen hatte das tschetschenische Volk mehrere Zehntausend Tote zu beklagen.[19]

Zur Rechtfertigung der Massaker entwickelte man eine propagandistische Rhetorik, die 2022 gegen die unabhängige Ukraine aufgegriffen werden sollte. Vor allem aber setzte sich eine völlig neue Machtkultur durch: eine Verbindung aus dem extremen Gewaltkult der Mafia, den Manipulationsmethoden und verdeckten Operationen des KGB und der hemmungslosen Bereicherungsgier der Machthaber und ihres Umfelds.

Zur gleichen Zeit gründete Beresowski aus dem Nichts eine neue regierungsnahe Partei namens Einheit, die im Bündnis mit der Kommunistischen Partei – für viele Russen die Erbin der KPdSU – am 19. Dezember 1999 die Wahlen gewann.[20] Nach diesem Erfolg kündigte Jelzin am 31. Dezember seinen Rücktritt an und ernannte Putin zum Interimspräsidenten. Im Gegenzug unterzeichnete dieser ein Dekret, das Jelzin und seiner Familie Straffreiheit zusicherte; außerdem setzte er an die Stelle des geschassten Generalstaatsanwalts Skuratow einen gewissen Wladimir Ustinow, dessen erste Amtshandlung darin bestand, den Fall Mabetex ad acta zu legen. Putin hatte seine Versprechen gegenüber Jelzin gehalten. Skuratow erklärte daraufhin, Ustinov sei »eine zuverlässige Waffe in den Händen des Präsidenten und der Exekutive, die offenbar vergessen hat, dass es mal die Pflicht zur Einhaltung des Gesetzes gab«.

Die Affäre Skuratow ist ein Lehrstück für das innerhalb des KGB weitverbreitete und über Jahrzehnte genutzte Kompromat. Schon die im Dezember 1917 auf Befehl Lenins gegründete Tscheka nutzte diese Erpressungstaktik: die Verbreitung kompromittierender Informationen über Personen, welche die eigene Machtausübung stören könnten. Dazu gehört auch eine vorangegangene »aktive Operation«, mit der diese Personen in eine – reelle oder ganz und gar fingierte – Situation gebracht werden, die zur Erpressung genutzt werden kann. Das Ziel besteht also darin, sich eines Gegners, eines banalen Störenfrieds oder auch eines ungehorsamen Kollaborateurs »sanft« zu entledigen. Dies geschieht durch Verleumdung oder mithilfe eines korrupten Justizsystems: Der Gegner muss nicht – wie unter Lenin und Stalin üblich – physisch beseitigt werden, sondern wird in die Enge getrieben und in den Augen der Öffentlichkeit diskreditiert. Moderne Techniken ermöglichen dies mithilfe von Fotos oder Filmen, die ohne das Wissen der Person aufgenommen werden, mit Audioaufnahmen, gestohlenen oder gefälschten Schriftstücken oder sogar mit kompromittierenden Inhalten, die in den Computer der Zielperson eingeschleust werden. Meistens interessiert man sich im Rahmen des Kompromats für das Privatleben der Zielperson, insbesondere für ihre Sexualpraktiken – Details, nach denen ein voyeuristisches Publikum giert. So hat man Schadenfrohe wie Moralapostel auf seiner Seite, und über jedem, der sich zum Feind des Systems macht, schwebt das Damoklesschwert des Kompromats.

Im Fall Skuratow stellte das deutsche Recherchezentrum Correctiv nach eingehenden Nachforschungen fest, dass der Skandal von FSB-Männern auf Befehl Putins konstruiert worden war.[21] Man fragt sich in der Tat, wie Skuratow – wenn er es überhaupt ist, der in dem Video zu sehen ist – an einem anonymen Ort mit den beiden Frauen gefilmt werden konnte, wenn es sich dabei nicht um eine Falle handelte. Putin jedenfalls nutzte die Erpressung gleich doppelt. Auf der einen Seite hatte er Jelzin in der Hand, der gezwungen war, ihn im Gegenzug für Skuratows Kaltstellung an die Spitze der Macht zu befördern. Auf der anderen Seite konnte er auf Skuratow und durch ihn auf den gesamten Justizapparat Druck ausüben. Ein zu genialer Coup, um von einem kleinen Oberstleutnant ersonnen worden zu sein. Sicher hatten da die Generäle des KGB ihre Marionette tanzen lassen – die sich aber schnell von ihnen losmachte.

Da sie sich nicht mit Erpressung und Gewalt begnügen konnte und jeder Ansatz zu einer echten Demokratisierung aufgegeben wurde, musste die neue Macht im Kreml die längst demontierte kommunistische Ideologie durch eine Erzählung ersetzen, die einen Teil der Öffentlichkeit hinter sich vereinen könnte. Die leninistische und stalinistische Erzählung von der »strahlenden Zukunft« der kommunistischen UdSSR hatte versagt, da deren Ruinen doch vor den Augen der Weltöffentlichkeit ausgebreitet lagen. Es musste eine neue große Erzählung über die Geschichte Russlands her. Zunächst entschied man sich für eine Rückkehr zur zaristischen Tradition. Durch einen Erlass vom 6. September 1991 erhielten mehrere Städte ihre Namen aus der Zarenzeit zurück: Leningrad wurde wieder zu Sankt Petersburg und Swerdlowsk, benannt nach einem der wichtigsten bolschewistischen Führer, wurde wieder zu Jekaterinburg. Genau in dieser Stadt war in der Nacht des 17. Juli 1918 auf Lenins persönlichen und geheimen Befehl die gesamte Familie von Zar Nikolaus II. ermordet und ihre sterblichen Überreste verscharrt worden. Im Jahr 1976 hatte Jelzin, damals KP-Chef von Swerdlowsk, den Ort des Massakers, das »Ipatjew-Haus«, auf Geheiß des KGB abreißen lassen. Als er 1991 Präsident Russlands wurde, weihte er nicht nur die erste Gedenkstätte für die Opfer stalinistischen Terrors ein, sondern ordnete auch noch an, nach den sterblichen Überresten der Zarenfamilie zu suchen. Dank der Öffnung der Archive wurden sie in einem Massengrab im Wald entdeckt, exhumiert, anhand ihrer DNA identifiziert und am 16. Juli 1998 – auf den Tag genau 80 Jahre nach dem Massaker – mit großem Pomp in der Peter-und-Paul-Kathedrale in Sankt Petersburg beigesetzt. Allein der russisch-orthodoxe Patriarch AlexiusII. verweigerte die Teilnahme.

Um seine Zukunft an die als glorreich dargestellte Vergangenheit des Zarenreichs anzudocken, ließ der Kreml ab Januar 1995 die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau wieder aufbauen. Stalin hatte sie 1931 sprengen und durch ein Schwimmbad (!) ersetzen lassen. Man verbreitete die Vorstellung, Russland sei weiterhin eine Supermacht, während die demokratischen und rechtsstaatlichen Werte, die vor Gorbatschows Sturz teilweise gegolten hatten, zugunsten eines zaristisch-bolschewistischen Ideologie-Sammelsuriums fallen gelassen wurden, das die unermessliche Größe des ehemaligen Reichs und einen totalitären Absolutismus hervorkehrte. Jelzins Sprecher Wjatscheslaw Kostikow hatte schon im Februar 1994 erklärt: »Die ideologischen Konflikte werden durch den Kampf um Einflusssphären im geopolitischen Bereich ersetzt.«

Die durch den jämmerlichen Zusammenbruch der UdSSR hervorgerufene kollektive Demütigung und das dramatische Scheitern der marxistischen Doktrin von der Abschaffung des Privateigentums wurden durch einen aggressiven, expansionistischen und antiwestlichen Nationalismus kompensiert, den man um die alte, neu aufgelegte Ideologie des »Eurasismus« rankte. Befördert wurde diese von Alexander Dugin, der in seinem 1998 erschienenen Buch Grundlagen der Geopolitik von einer eurasischen Union fabulierte, die Russland, die Ukraine, Belarus, Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisistan vereinen sollte und der sich Serbien, Griechenland, Iran, Irak, Syrien, Libyen und sogar Indien anschließen könnten. Von diesem Wahn sollte sich Putin zehn Jahre später inspirieren lassen.[22]

Am 26. März 2000 sollten Präsidentschaftswahlen stattfinden, bei denen Putin sicherlich der Favorit war, obgleich er zu diesem Zeitpunkt keine absolute Garantie hatte, gewählt zu werden, da er zum ersten Mal kandidierte und mit dem inzwischen völlig diskreditierten Jelzin in Verbindung gebracht wurde. Dem Kreml war es nicht gelungen, Skuratows Kandidatur zu verhindern: Dieser versprach, seine Kampagne über das Thema Korruption zu führen. Es folgte eine durch die absolute Medienkontrolle ermöglichte massive Manipulation der öffentlichen Meinung, am Ende wurde Putin bereits im ersten Wahlgang gewählt. Am 19. April 2000 stimmten die Mitglieder des Föderationsrates in einer spektakulären Kehrtwende mehrheitlich für ihn – und das, nachdem sie Präsident Jelzins Antrag zur Entlassung von Generalstaatsanwalt Skuratow dreimal zurückgewiesen hatten. Dieser Abstimmung lag eindeutig ein Deal mit dem Kreml zugrunde, da die Regionalabgeordneten von der Zentralmacht abhängig sind, wenn es um die Vergabe von Geldern und um verschiedene, auch persönliche Privilegien geht. Skuratow, der des politischen, juristischen und medialen Guerillakriegs gegen sich leid war, akzeptierte die Entscheidung, wiederholte jedoch seine Anschuldigungen gegen »die nach wie vor zum Umfeld des Präsidenten gehörende Gruppe von Kriminellen«. Auch 22 Jahre später hat diese von Wladimir Putin angeführte Gruppe keinen Deut an Macht verloren.

2 Der KGB kommt wieder an die Macht

Galia Ackerman und Stéphane Courtois

Im Dezember 1999 sagte Putin bei einer anlässlich des Tages des Tschekisten (sic!) einberufenen Besprechung hochrangiger FSB-Beamter einen bezeichnenden Satz: »Ich möchte darauf hinweisen, dass die Gruppe der FSB-Offiziere, die zur Infiltration der Regierung entsandt wurde, zunächst ihre Aufgaben erfüllt.«[23] Tatsächlich berief der neue Präsident gleich nach seiner Wahl alle aus dem KGB hervorgegangenen Mitglieder seines Sankt Petersburger Clans in den Kreml.[24] Wie die Soziologin Olga Krychtanowskaja festgestellt hat, waren um 2003 fast 80 Prozent der höchsten Positionen im Staat von Silowiki besetzt, von denen ein Großteil aus dem Geheimdienst stammte. Ihr zufolge gab es an der Spitze des Staates und in Putins engstem Kreis fast nur noch Leute, die aus den Diensten für Spionage und Spionageabwehr hervorgegangen waren. Noch interessanter war, dass die Silowiki in die Vorstände großer staatlicher oder privater Unternehmen einzogen.[25]

Putin nahm rasch eine Reorganisation der Präsidialverwaltung vor, einer Instanz, die nicht in der Verfassung verankert war, aber das eigentliche Machtzentrum bildete. (Genauso war zu Zeiten der UdSSR – verborgen hinter der parteipolitischen Fassade des Politbüros, der staatlichen der Regierung und der pseudodemokratischen des Obersten Sowjets – das nur aus einigen wenigen Personen, von 1931 bis 1953 sogar nur aus Stalin bestehende Sekretariat der KPdSU der tatsächliche Ort der Macht gewesen.) Diese Reform wurde von Wladislaw Surkow, einer schillernden Figur des Putin-Establishments, vorangetrieben. Surkow hatte sein Erwachsenenleben von 1983 bis 1985 mit dem Militärdienst bei der Speznas, der Spezialeinheit des Militärgeheimdienstes GRU, begonnen und war dann in die Werbe- und Kommunikationsbranche gewechselt, wo er im Dienst von Oligarchen wie Michail Chodorkowski oder Michail Fridman von Erfolg zu Erfolg geeilt war. Vom Kreml war er schnell bemerkt und im August 1999 zum Vizedirektor der Präsidialadministration ernannt worden.

Die Reorganisation zielte auf Errichtung eines politischen Systems, das sich der aufkeimenden Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entledigt hätte. Laut einem offiziellen, aber geheimen Dokument sollte sie »die Verwaltung zu einem mächtigen Organ machen, das Einfluss oder Druck ausüben [könne] auf politische Parteien und Bewegungen sowie auf deren Führer, auf führende Politiker und Parlamentarier auf regionaler Ebene, auf Kandidaten für alle politisch wichtigen Ämter […], Journalisten […] sowie die Aktivitäten der Wahlkommissionen und ihrer Mitarbeiter«, um es dem Präsidenten zu ermöglichen, »die in Russland ›notwendige‹ politische Lage vorherzusehen und herbeizuführen, aber auch die politischen und sozialen Prozesse in der Russischen Föderation sowie in den Ländern des nahen Auslands wirklich zu lenken«. Das gesamte putinsche von der KGB-Kultur geprägte Programm für die nächsten zwanzig Jahre war bereits vorhanden: die paranoide Vorstellung von einem allseitig bedrohten Russland und die Besessenheit von dem Wunsch, die Lage autoritär zu beherrschen, und zwar sowohl im Inneren als auch nach außen, was absolute Einigkeit des Landes und die Jagd auf die Gegner von der fünften Kolonne beinhaltete.[26]

Aus diesem Grund wurden die 89 Regionen der Russischen Föderation mit dem Stichtag 13. Mai 2000 zu sieben Provinzen zusammengefasst, die mit den Militärregionen der ehemaligen UdSSR identisch waren und von sieben vom Kreml ernannten Bevollmächtigten regiert werden sollten. Die Risiken einer Wahldemokratie und die Gefahren, die von einer freien Presse, einer informierten Öffentlichkeit und einer unabhängigen Justiz ausgingen, waren rasch beseitigt, und diese Potentaten, die größtenteils aus den »Machtstrukturen« stammten, führten die uneingeschränkte Herrschaft von Korruption und Willkür ein.[27] Bedingung für ihre Herrschaft war natürlich, dass die sieben sich dem Kremlclan unterwarfen, der damit begann, die Provinzen systematisch auszubeuten und bis zu 80 Prozent ihrer Steuereinnahmen abzuschöpfen.

Um den Konformismus der veröffentlichten Meinung zu sichern, erließ Putin im September 2000 ein Dekret zur Informationssicherheit und schuf im März 2001 ein Informationsministerium, das dem Kreml unterstellt war. Unmittelbar danach entzog er den mächtigen Oligarchen Boris Beresowski und Wladimir Gussinski die Kontrolle über die wichtigsten Fernsehsender (ORT und NTV), schränkte die von Gorbatschow eingeführte Glasnost stark ein, die es der Presse erlaubt hatte, zahlreiche Skandale aufzudecken, und sorgte dafür, dass die Macht für die Öffentlichkeit weitaus intransparenter wurde. Als unabhängige Informationsquellen standen dem russischen Normalbürger bald nur noch einige wenige Funk- und Printmedien zur Verfügung; das vom Großteil der Bevölkerung genutzte Medium blieb das Fernsehen, das nun vollständig unter Kontrolle war.[28]

Um seinen Machtapparat zu vervollkommnen, beschloss Putin, die Parteien mit einem Gesetz vom Mai 2001 staatlicher Finanzierung und eigennütziger Kontrolle durch eine gelenkte »Justiz« zu unterwerfen. Last but not least wies er den FSB an, die Parteien zu unterwandern (die Bildung von kleinen Gruppen innerhalb oppositioneller Kreise war eine alte Praxis der Bolschewiki, die Lenin schon 1920 in seinen Befehlen an die neu gegründete Kommunistische Internationale formalisiert hatte). Dann wies er Surkow an, seine selbst gegründete Partei (Vereintes Russland) mit dem Block von Jewgeni Primakow und dem Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow(Vaterland – Ganz Russland) zwangszuvereinigen, um im Dezember 2001 die Partei Einiges Russland zu gründen, das künftige Machtgerüst, das ihm die Kontrolle über die Duma sicherte. Statt die Interessen der Wähler zu vertreten, begnügte sich die Duma damit, gegen üppige Vergütung die Befehle des Kremls weiterzugeben und eine Scheineinigkeit im Land herzustellen.

Dieses Abdriften der Macht in den Autoritarismus wurde durch ein unerwartetes Ereignis beschleunigt. Am 23. Oktober 2002 nahm ein Kommando tschetschenischer Islamisten als Reaktion auf die Übergriffe der russischen Armee in Tschetschenien die 900 Zuschauer und Angestellten des Moskauer Dubrowka-Theaters als Geiseln und forderte den Rückzug der russischen Truppen. Im Namen des Kampfes gegen den islamistischen Terrorismus, der nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA zu einem weltweiten Anliegen geworden war, lehnte Putin Verhandlungen ab und ließ das Theater am 26. Oktober stürmen. Dabei wurden unbekannte chemische Kampfstoffe eingesetzt, 130 Geiseln[29] getötet und die 41 Mitglieder des Kommandos exekutiert. Im Jahr 2011 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland zur Zahlung von 1 254 000 Euro an 64 Kläger – ehemalige Geiseln und Angehörige von Opfern –, weil das Land seine Intervention nicht gründlich genug vorbereitet habe.[30] Wie sich später herausstellen sollte, war der Kreml jedoch eindeutig dem Grundsatz gefolgt, mit den Geiselnehmern nicht zu verhandeln, sondern sie auszulöschen, ganz gleich, wie hoch der Preis für die Opfer sein würde.

Um sich vorrangig um die Festigung seiner Macht kümmern zu können, übertrug Putin die Führung der laufenden Geschäfte seinem Ministerpräsidenten Michail Kassjanow, dem ehemaligen Finanzminister Jelzins. Kassjanow leitete eine Reihe von Steuer- und Rechtsreformen ein, die den Fortbestand privater Unternehmen förderten und innerhalb von vier Jahren zu einer Erholung der Wirtschaft führten. Diese basierte weitgehend auf dem Export von Öl, dessen Preis immer weiter stieg. Hinzu kam im Dezember 2001 ein neues Arbeitsgesetz, das allen sozialen Forderungen sehr abträglich war und die unabhängigen Gewerkschaften allmählich schwächte. Die Oligarchen, die jetzt nicht mehr als unabhängige Unternehmer und Eigentümer ihrer Unternehmen betrachtet wurden, sondern als »vom Staat Bevollmächtigte, die beauftragt sind, diesen oder jenen profitablen Sektor der Wirtschaft zu verwalten, und zwar nicht für den Staat, sondern für die Kremlbesetzer, die ihnen erlauben, sich dabei die Taschen zu füllen«,[31] verlor der Präsident jedoch nicht aus den Augen. Bereits im Oktober 2000 hatte Putin seine Absichten dargelegt und in Bezug auf die Oligarchen erklärt: »Der Staat hat eine Keule in der Hand, die er ein für alle Mal einsetzen kann. Nämlich indem er damit auf den Kopf schlägt. […] niemand wird unseren Staat seinem Gesetz unterwerfen. Und wenn es nötig ist, werden wir die Instrumente zerstören, die diese Erpressung [durch die Oligarchen] möglich machen.«[32]

Das emblematischste Beispiel für den Einsatz der »Keule« war die erstaunliche Verhaftung von Michail Chodorkowski, dem reichsten Geschäftsmann Russlands, am 25. Oktober 2003. Chodorkowski war Geschäftsführer des wichtigen Ölkonzerns Jukos, einer der größten privaten Ölgesellschaften der Welt, die 20 Prozent des russischen Öls förderte, was 2 Prozent der weltweiten Ölproduktion entsprach. Der Grund für die Verhaftung? Das »beleidigende« Verhalten Chodorkowskis, der es gewagt hatte, vor Putin selbst und seinen Kumpanen über die Korruption in den hohen Macht- und Geschäftskreisen zu sprechen, sowie seine Pläne, mit Exxon Mobil und Chevron Texaco gemeinsame Projekte zu verfolgen. Am 31. Mai 2005 wurde Chodorkowski wegen Steuerhinterziehung zu neun Jahren Haft und 2010 zu weiteren sechs Jahren und Internierung in einer 6500 Kilometer von Moskau entfernten sibirischen Strafkolonie verurteilt, mit Anrecht auf nur vier Besuche seitens seiner Familie pro Jahr![33] Mehr noch als der Ausgang eines politischen Prozesses war diese Verurteilung eine kostenfreie Warnung an alle russischen Wirtschaftsbosse, die etwa erwogen, sich in die Politik einzumischen, gar ohne sich strikt dem Kreml zu unterwerfen.[34]

Chodorkowskis Verhaftung war das Vorspiel zur überraschenden Entlassung der gesamten Regierung Kassjanow am 24. Februar 2004, die kurz darauf wegen Korruption angeklagt wurde, obwohl sie sich in Wirklichkeit nur einer Entscheidung von Gazprom widersetzt hatte. Die 1993 gegründete staatliche Aktiengesellschaft, die einen Großteil der russischen Öl- und Gasindustrie kontrollierte, wurde 2005 zum in puncto Marktkapitalisierung größten Unternehmen des Landes und zum fünftgrößten der Welt. Sie erwirtschaftete 20 Prozent der Einnahmen des Staates, 8 Prozent des BIP und hatte 400 000 Beschäftigte. Mit anderen Worten, sie war ein Mammut, das zum für den Präsidenten reservierten Sektor geworden war, und durch die Inhaftierung Chodorkowskis hatte Putin den Oligarchen demonstrativ jeden wirklichen Einfluss genommen.

Die Präsidentschaftswahlen vom 14. März 2004 kündigten die Entwicklung des Regimes zur Diktatur an. Gegen fünf reine Außenseiterkandidaten angetreten, erhielt Putin im ersten Wahlgang bei einer Wahlbeteiligung von über 96 Prozent mehr als 71 Prozent der Stimmen. Man kann nur seine für den KGB typische Kunst der perfekten Koordination von Winkelzügen bewundern, mit denen er die Öffentlichkeit beeindruckt und seine Gegner in Angst und Schrecken versetzt hatte. Auffällig waren aber auch diese fundamentalen Überbleibsel des Bolschewismus: wirtschaftliche Räuberei, Plünderung des Eigentums anderer und eine Wirtschaft, die auf Rohstoffen basiert, mit einem Wort: die fundamentale Unfähigkeit, eine echte Marktwirtschaft zu etablieren, was unweigerlich einen Rechtsstaat, der die Einhaltung von Verträgen sicherstellte, sowie eine unabhängige Justiz und eine freie Presse voraussetzen würde. So entstanden »Imperien« – Gas, Öl, Kupfer, Aluminium, Waffen –, eine vom Kreml kontrollierte Wirtschaftsoligarchie und eine schleichende Re-Etatisierung, die die große Mehrheit der Bevölkerung von der Macht abhängig machte: Von 146 Millionen Russen werden einschließlich Familien 100 Millionen vom Staat bezahlt.[35]

Durch seine leichte Wiederwahl ungeheuer selbstbewusst und arrogant geworden, begann Putin, sich für einen neuen Zaren zu halten, und wollte zunächst die Tschetschenienfrage »endgültig« lösen. Nachdem er jeglichen bewaffneten Widerstand hatte niederschlagen und die Zivilbevölkerung in großem Umfang massakrieren lassen, hatte er 2003 den inzwischen prorussischen Clan des ehemaligen Rebellen Achmad Kadyrow an die Macht gebracht. Keine zwei Monate nach Putins Wiederwahl wurde Kadyrow am 9. Mai 2004 durch ein Attentat ermordet und bald durch seinen Sohn Ramsan ersetzt, nachdem der neue Ministerpräsident Tschetscheniens, Sergej Abramow, im November 2005 in Moskau einem schweren Autounfall zum Opfer gefallen war.[36]

Von da an verschafften sich der Kadyrow-Clan und seine Kadyrowzy – eine Art Privatarmee –, die weitgehend von Moskau finanziert wurden, extrem gewaltsam Geltung, wofür Putin Ramsan mit der höchsten Auszeichnung des Landes, der Medaille »Held Russlands«, dekorierte. Im Rahmen der Eurasischen Doktrin und des Bündnisses mit der dem KGB völlig ergebenen russisch-orthodoxen Kirche wurden Tschetschenien und der gesamte Nordkaukasus einer Re-Islamisierung unterzogen – sogar mit einem Verweis auf die Stalin-Zeit, indem die russische Ministerin für nationale Bildung ihre Freude darüber zum Ausdruck brachte, dass Stalin 1943 die Kirche eingeschaltet hatte. Diese Re-Islamisierung, die sich vollständig gegen den Westen richtete, sollte später zu stark symbolischen Gesten führen. So organisierte Kadyrow im Januar 2015 in Grosny eine große Demonstration, um die gerade in Paris ermordeten Karikaturisten von Charlie Hebdo zu verurteilen. Und im Oktober 2021 verkündete der Vater des Mörders von Samuel Paty, dem ein Jahr zuvor in Paris enthaupteten Lehrer, von Tschetschenien aus, sein bei der versuchten Festnahme von der Polizei erschossener Sohn sei gestorben, »um die Ehre aller Tschetschenen und aller Muslime der Welt zu verteidigen«!

Als Reaktion auf Moskaus Vorgehen organisierten tschetschenische und inguschetische Terroristen – Angehörige zweier Völker, die im Februar 1944 nach Zentralasien deportiert worden waren – mehrere Anschläge, darunter die Explosion zweier Maschinen auf russischen Inlandsflügen und am 31. August ein Selbstmordattentat in der Moskauer U-Bahn, bei dem zehn Menschen getötet und 50 verletzt wurden. Am 1. September 2004, dem Tag des Schulbeginns nach den großen Ferien, nahm ein Kommando in der Stadt Beslan in der russischen Republik Nordossetien in einer Schule mehr als 1100 Kinder und Erwachsene als Geiseln. Nach drei Tagen stürmten Spezialeinheiten die Schule in größter Konfusion: mit Raketen, Panzern und Flammenwerfern. Die beklemmende offizielle Bilanz: 382 Tote, darunter 186 Kinder und 31 Geiselnehmer.[37]

Die Krise begünstigte die Vereinnahmung der russischen Außenpolitik durch die Erben des KGB, da sie ihnen erlaubte, in diese Politik »ihre ›aktiven Maßnahmen‹, ihre Paranoia, ihren Verschwörungswahn und ihre fundamentale Unfähigkeit, die Wirklichkeit objektiv zu sehen«, einfließen zu lassen.[38] Putin hatte von 2000 bis 2003 eine Charmeoffensive in Richtung Europa gestartet. Zunächst war er eine gewaltige Energiepartnerschaft mit Deutschland eingegangen, die sich zu einem fantastischen Erpressungsinstrument entwickeln sollte (Deutschland bezog fortan 40 Prozent seiner Gas- und 30 Prozent seiner Ölimporte aus Russland). Dann hatte er die Operation mit dem von Silvio Berlusconi regierten Italien wiederholt. Er hatte sogar die Briten und Tony Blair, der ihn von der Queen empfangen ließ, verführt, ebenso die Franzosen und Jacques Chirac, die sich mit ihm in der Irakfrage einig waren. Die Russen waren so weit gegangen zu fordern, dass Putin »wie einst Peter der Große« in die Académie française aufgenommen werde.[39]

Doch als George W. Bush und Putin im Februar 2005 in Bratislava zusammentrafen, war der Ton ein anderer. Auf die vom amerikanischen Präsidenten geäußerte Besorgnis über die Entwicklung der Demokratie in Russland antwortete der Kremlchef sehr zweideutig: »Zu sagen, dass es hier oder dort weniger Demokratie gebe, ist aus meiner Sicht nicht korrekt. […] Wir sind nicht im Begriff, eine Form von Demokratie zu kreieren, sondern wir übernehmen die wesentlichen Grundsätze der Demokratie, aber diese Grundsätze müssen den Traditionen Russlands angepasst werden.« Doch während Bush versprach, sich für die Aufnahme Russlands in die Welthandelsorganisation einzusetzen, verfolgte Putin ab 2006 eine offen antiamerikanische Politik und förderte, vor allem nach der Ablehnung des Referendums über die EU-Verfassung durch die Franzosen im Mai 2005, alles, was zur Entkopplung der Europäischen Union von Washington beitragen konnte. Und er erhöhte bei Einschüchterungen und gröbsten Provokationen die Schlagzahl, wie etwa 2007, als er Bundeskanzlerin Angela Merkel im Kreml in Anwesenheit seines riesigen Labradors empfing, obwohl allgemein bekannt war, dass Merkel nach einem zuvor erlittenen Biss Angst vor Hunden hatte.

Diese Politik Putins beruhte auf zwei fundamentalen Irrtümern: Der erste bestand im Festhalten am Mythos von der UdSSR als Supermacht, obwohl diese 1991 krachend zerbrochen war, der zweite in der im 21. Jahrhundert absurden Vorstellung, dass die Macht eines Staates von der Größe seines Territoriums abhänge, wobei die archaischste Geopolitik an die Stelle der einst effektiven Dynamik der kommunistischen Revolutionsideologie trat. Von da an wurde die russische Außenpolitik von Rachegelüsten und der ständigen Manifestation eines Gefühls der Allmacht und Straffreiheit bestimmt, das sich an der Demütigung von Nachbarvölkern und des Westens erfreute. Lenin hatte auf eine große proletarische Weltrevolution hingearbeitet, die ihren Machtbereich mit internationalistischen Parolen über den Globus ausdehnen sollte, um weltweit ihre neue Art von Regime, den Totalitarismus, durchzusetzen. Putin formulierte diese Idee neu, allerdings gemäß der für das 19. Jahrhundert typischen geopolitischen Logik der Einflusssphären, wie sie Hitlers und Stalins Bündnis von 1939 zugrunde gelegen hatte. Er reaktivierte die panslawistische und ultranationalistische Idee, dass Russland, das »Dritte Rom«, die Achse der Welt sei, und setzte zunächst Methoden der Infiltration ein – Softpower, Bestechung und Kontrolle der Führungs- und Medieneliten durch das Kompromat,[40] durch Wahlmanipulation usw. –, die je nach Möglichkeit in eine »hybride« bewaffnete Intervention mit Akteuren vom Typ »Gruppe Wagner«[41] oder »kleine grüne Männchen«[42] mündeten, bevor es zu großen Militäroperationen wie in Tschetschenien, Georgien und vor allem 2022 in der Ukraine kam.

Diese Denkweise führte zu einem beschleunigten Einsatz massiver Propaganda und immer plumperer Staatslügen, die an die schlimmsten Zeiten der Sowjetunion erinnerten, als Stalin 1942 im Kreml, Auge in Auge mit General Sikorski, dem Chef der polnischen Exilregierung, behauptete, er wisse nicht, wo 15 000 polnische Offiziere abgeblieben seien, obwohl er am 5. März 1940 den Befehl zu deren Ermordung gegeben hatte.[43] In Alexander Solschenizyns Rede aus Anlass der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1970 heißt es gegen Ende: »[…] vergessen wir doch nicht, dass die Gewalt nicht allein lebt und nicht allein leben kann: sie ist notwendigerweise mit der Lüge verstrickt. Zwischen ihnen besteht das innigste, das tiefste natürliche Band. Die Gewalt findet ihre einzige Zuflucht in der Lüge, die Lüge ihre einzige Stütze in der Gewalt. Jeder Mensch, der einmal der Gewalt als seiner Methode gehuldigt hat, muss unausweichlich die Lüge als seinen Grundsatz wählen.«[44]

Diese Neuorientierung beschleunigte die nostalgischen und paranoiden Tendenzen der Macht. Putin erklärte in seiner Ansprache an die Nation nach der Tragödie von Beslan: »Wir leben heute in einer Zeit nach dem Zusammenbruch eines großen, riesigen Staates. […] Aber trotz aller Schwierigkeiten haben wir es geschafft, den Kern dieses Riesen, der die Sowjetunion war, zu erhalten. […] Allerdings […] hat unser Land seine einst mächtigen Verteidigungsanlagen an seinen westlichen und östlichen Grenzen verloren. […] Wir haben Schwäche gezeigt. Und die Schwachen werden verprügelt. Einige wollen uns ein ›saftiges‹ Stück entreißen, andere helfen ihnen dabei, weil sie Russland, eine der größten Atommächte der Welt, immer noch für eine Bedrohung halten – für eine Bedrohung, die man beseitigen muss.«[45] Ein Vorgeschmack auf die Rede, die Putin 2022 zu Beginn des Angriffs auf die Ukraine hielt.

Damals – 2004 – war Surkow Vizedirektor der Präsidialverwaltung und hielt nach Putin eine weit radikalere Rede, die an die Gewalt des von den Bolschewiki von 1918 bis 1921 geführten Bürgerkriegs und an die stalinistische Paranoia der 1930er- bis 1950er-Jahre erinnerte: »Das Hauptziel der [ausländischen] Intervention ist die Vernichtung des russischen Staates. […] Wir alle müssen uns dessen bewusst werden, dass der Feind vor unserer Haustür steht. Die Front verläuft durch jede Stadt, jede Straße, jedes Haus […]. Und in unserem belagerten Land hat sich eine fünfte Kolonne von Rechts- und Linksradikalen gebildet.« Surkow schloss mit den Worten: »Angesichts dieser Bedrohung ist der Präsident ganz einfach gezwungen, den Verfassungsgrundsatz der Einheit der Exekutive voll zu verwirklichen.«[46]