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Auftakt der humoristischen Fantasy Reihe rund um Junghexe Alice Sherlock Welche Hexe hat schon Zeit für ein Praktikum, wenn die Weltherrschaft zum Greifen nah ist? Seit Jahren sind Alice Sherlock und ihre Mutter Andrea ein Dorn im Auge der Nachbarschaft. Ihr alter Bauernhof entspricht so gar nicht der geordneten Vorgarten-Idylle der Siedlung Hertrup-Himmelberg. Unter den Nachbarsfrauen ist man sich einig: bei den Sherlocks geht es nicht mit rechten Dingen zu. Doch Alice hat ganz andere Sorgen. Sämtliche Magieverbote ihrer Mutter hat sie bereits souverän umschifft, nun soll sie wie ihre menschlichen Mitschüler auch ein Praktikum absolvieren. Vier Wochen im MegaKauf Obst-und Gemüsekisten zu schleppen, passt nicht in die Agenda einer aufstrebenden Hexe. Ebenso wenig wie Minijobber Lucas, der ihr mit seiner ständigen Flirterei gewaltig auf die Nerven geht. Da erschüttert ein Skandal die Hertruper Bürgerschaft. Beste Voraussetzungen also für Alice, endlich die Welt nach ihrem Willen neu zu ordnen. Teil 1 der Alice Sherlock Story - magisch, humorvoll und ein klein wenig böse.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Deutsche Erstausgabe Oktober 2024
1.Auflage
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Impressum:
Eva Kopriosek, c/o IP-Management #37357, Ludwig-Erhard-Str. 18, 20459 Hamburg
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für Bianca, Soulsister
1. Kapitel 1
2. Kapitel 2
3. Kapitel 3
4. Kapitel 4
5. Kapitel 5
6. Kapitel 6
7. Kapitel 7
8. Kapitel 8
9. Kapitel 9
10. Kapitel 10
11. Kapitel 11
12. Kapitel 12
13. Kapitel 13
14. Kapitel 14
15. Kapitel 15
16. Kapitel 16
17. Kapitel 17
18. Kapitel 18
19. Kapitel 19
20. Kapitel 20
21. Kapitel 21
22. Kapitel 22
23. Kapitel 23
24. Kapitel 24
25. Kapitel 25
26. Kapitel 26
27. Kapitel 27
28. Kapitel 28
29. Kapitel 29
30. Kapitel 30
31. Kapitel 31
32. Kapitel 32
33. Kapitel 33
34. Kapitel 34
35. Kapitel 35
36. Kapitel 36
37. Kapitel 37
38. Kapitel 38
39. Kapitel 39
40. Kapitel 40
41. Kapitel 41
Danksagung
Über die Autorin
Sie hörte den Wagen schon lange, bevor er in der Einfahrt hielt. Drei Frauen mittleren Alters in Sportanzügen starrten zu ihrem Hof herüber. Ihr weißer SUV war mit Schlammspritzern überzogen. Eine Erinnerung an das Versäumnis der Stadt, die Pflasterung der Siedlungsanlage Himmelberg bis zum Grundstück der Familie Sherlock auszuweiten. Wer zu ihnen wollte, musste sämtliche Schlaglöcher und Kuhfladen auf dem Feldweg umschiffen, der die Siedlung mit ihrem Hof wie eine Nabelschnur verband.
Es dauerte eine Weile, bis sich endlich die Fahrertür öffnete. Ausgerechnet Frau Arnold, ihre Lieblingsnachbarin, stakste in weißen Designerturnschuhen an den Pfützen vorbei auf die Haustür zu.
Wie schnell könnte sie Frau Arnold in einem der Schlaglöcher auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen. „Treibsand-Alarm in Hertrup-Himmelberg! Mutter und Ehefrau auf dramatische Weise verschollen.“ So oder so ähnlich könnte die Schlagzeile heißen. Sicher würde die Nachricht überregional die Medien erreichen, und es wäre die reinste Genugtuung. Die Welt war voller Frau Arnolds, die niemand brauchte. Doch da ertönte auch schon die mahnende Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf: „Wir dürfen nicht auffallen, um keinen Preis.“ Das Mantra ihrer Kindheit. Der schöne Gedanke an eine Welt ohne Frau Arnold brach wie ein Turm aus Streichhölzern in sich zusammen.
Die Türklingel dröhnte durchs ganze Haus. Ihre Mutter musste den Todesschrei aus Psycho gegen den Gong von Big Ben eingetauscht haben. Bestimmt hatte auch sie Frau Arnold kommen sehen. Sie dürfte es gerade so geschafft haben, den Kanarienvogel der Arnolds hinter den Rosenbeeten zu verscharren. Frau Arnold und ihre Freundinnen gingen fünf Mal die Woche zum Fitnesstraining und waren schneller als der Schall.
„Ich habe es genau gesehen“, keifte auch schon eine Stimme aus dem Flur zu Alice hinauf. Sie lauschte an der Luke ihres Dachbodenzimmers.
„Es war Ihr verdammter Kater, der unser Finchen getötet hat. Sie hat noch mit den Flügelchen geschlagen, als dieses schwarze Mistvieh mit ihr im Maul durch unsere Terrassentür verschwunden ist. Meine Tochter hat das Trauma ihres Lebens davongetragen. Das wird Sie teuer zu stehen kommen, Sie und Ihre Familie. Das schwöre ich Ihnen!“
Alice überlegte, ob sie Laura Arnold, Belle der zehnten Klasse und Sex-Luder jeder Landjugendparty, ein Trauma angesichts eines verschleppten Kanarienvogels zutraute, da rief ihre Mutter auch schon:
„Alice, suchst du mal bitte Gismo? Wir haben hier ein Problem, das ich gerne klären möchte.“
Alice verstand sofort, worauf sie hinauswollte. Sie schwang sich die Leiter hinab und ging wortlos an Frau Arnold vorbei. Seit sie denken konnte, übte sie sich darin, sämtliche Nachbarn zu ignorieren. Heute jedoch ließ sie es sich nicht nehmen, Frau Arnold für ein paar Sekunden direkt in die perfekt geschminkten Augen zu starren. Die blonde Frisur erzitterte merklich, und auch ihre Gesichtsfarbe wurde eine Nuance blasser, als Alice wie ein schwarzer Schatten an ihr vorbeiglitt. Sie ignoriert dabei den missbilligenden Blick ihrer Mutter.
„Gerne doch, Mum. Gismo hat den ganzen Morgen unter der Markise gelegen. Dem Armen ist immer noch nicht besser. Aber wenn du es wünschst, hole ich ihn natürlich.“
Kaum hatte sie Gismo aus seinem Lieblingskarton gehoben, war es schon geschehen. Ihre Mutter war schließlich Profi.
Alice trat mit Gismo unter dem Arm in den Flur und hielt ihn Frau Arnold unter die Nase. Diese wich einen Schritt zurück.
„Das ist nicht die Katze.“
„Richtig, das ist Gismo. Und er ist krank.“
„Dann muss hier noch eine Katze herumlaufen.“
Frau Arnold stemmte die Hände in die Hüften und sah abwechselnd zwischen Alice und ihrer Mutter hin und her. Ihre Wangen hatten wieder etwas Farbe angenommen.
„Ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, wie ein riesiges schwarzes Vieh mit Finchen im Maul über den Acker direkt auf diesen Hof zugelaufen ist. Meine Freundinnen“, sie deutete hinter sich zur Hofeinfahrt, „können das bezeugen.“
„Frau Arnold, ich verstehe Ihre Trauer um den Kanarienvogel Ihrer Tochter. Kinder haben so eine enge Bindung zu ihren Haustieren. Aber unser Gismo ist die einzige Katze hier. Und wie Sie sehen, ist er rot. Nicht schwarz.“
Zur Bestätigung gab Gismo ein klägliches Maunzen von sich. Unsicherheit schlich über Frau Arnolds Gesicht.
„Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?“
Ihre Mutter streckte ihr eine dampfende Tasse entgegen. Frau Arnold starrte gefangen in den aufsteigenden Wasserdunst.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Der Zauber brauchte gewöhnlich drei Sekunden, bis er wirkte. Eine verhexte Tasse Tee fiel nicht unter das Gebot der Unauffälligkeit. Alice hätte etwas anderes mit Frau Arnold und der wartenden Meute in ihrer Einfahrt gemacht. Aber sie durfte ja nicht.
Frau Arnold blinzelte verwundert und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie nestelte am Reißverschluss ihrer Trainingsjacke.
„Danke für das schöne Gespräch“, hauchte sie schließlich und fuhr Gismo über das Fell. Er schnurrte ergeben.
„So ein zauberhaftes Tier würde unserem Finchen niemals etwas zuleide tun.“
„Nein, das würde er wirklich nie“, kam es wie aus einem Mund. In solchen Momenten fühlte sich Alice fast schon mit ihrer Mutter verbunden. Ein verstörender Gedanke.
„Ich wünsche allen einen wunderbaren Tag.“ Lautlos fiel die Haustür hinter Frau Arnold ins Schloss. Das war knapp.
Ihre Mutter strich sich die verdreckten Hände an der Arbeitsschürze ab und sah zur Standuhr. „Solltest du dich nicht langsam auf den Weg machen? Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es heute ein paar letzte Anweisungen, bevor das Praktikum losgeht?“
Und schon war das Gefühl von Verbundenheit auch schon wieder vorbei.
„Danke, dass du mich daran erinnerst“, fauchte Alice und griff nach ihrem Schulrucksack. „Ich kann es kaum erwarten, mich der Realität und dem praktischen Leben zu stellen.“
Bevor ihre Mutter es verhindern konnte, hatte sie sich mit einem Fingerschnipsen ihre Docs an die Füße gehext.
„Und bevor du was sagst: Ich werde ganz bestimmt keinen Spaß haben. Hauptsache, du buddelst weiter in der Realität herum.“
Alice stürmte zur Haustür heraus. Sollte ihre Mutter doch weiter in ihrem Kräutergarten herumwühlen. Sie würde diese verdammten vier Wochen so schnell wie möglich hinter sich bringen. Vier Wochen im MegaKauf von Hertrup Obst- und Gemüsekisten schleppen. Was für eine grandiose Zeitverschwendung.
Sie würde sich gleich als Allererstes den Dienstplan schnappen und ihn zu ihren Gunsten verhexen. Egal, was ihre Mutter dazu sagte. Minimale Präsenz bei maximaler Freizeit. Darauf hatte Alice sich mit sich selbst geeinigt. Und komme was wolle, sie würde dieses Agreement einhalten.
Alice quetschte ihr Fahrrad in die viel zu kleine Lücke im Fahrradkeller. Die umstehenden Räder fielen ineinander wie Dominosteine. Eine Gruppe Schüler unterbrach ihre Unterhaltung und sah zu ihr herüber. Einer der Jungen wollte ihr gerade etwas zurufen, doch dann überlegte er es sich anders. Wieder einmal sagten Blicke mehr als tausend Worte. Zufrieden zog sie den Reißverschluss ihrer schwarzen Lederjacke hoch und strich sich die langen roten Haare aus dem Gesicht. Platz gibt es selbst in der vollsten Hütte, dachte sie und stieß mit dem Stiefel die Tür zum Schulgebäude auf.
Schule war eine Zumutung. Tagein, tagaus musste sie die Nichtigkeiten ihrer Mitschüler ertragen. Wer wen datete, wer mit wem rummachte, wer welche Klamotten trug oder sich zerstritten hatte.
„Hi, Alice. Na, alles klar für morgen?“
Nele ließ ihren Kaugummi mit einem Knall platzen. Alice warf sich auf den Stuhl neben ihr. Nele war in Ordnung. Ihr gingen die anderen Schüler genauso auf die Nerven wie ihr. Und Nele stellte keine unnötigen Fragen. Nicht, dass es in ihrer Welt so etwas wie Hexen gab. Nein, Nele akzeptierte Alice so, wie sie war. Sie war auch jemand, von dem die Leute abrückten, wenn sie sich näherte. Das war alles, was sie verband, doch für Alice, wie für Nele, war das genug.
„Als ob wir eine Wahl hätten. Ich bin froh, wenn alles vorbei ist. Vier Wochen unserer Lebenszeit für so einen Bullshit.“
Nele nickte. Sie ging für vier Wochen in eine Zahnarztpraxis. Ihr Vater hatte sie bei einer Kollegin im Nachbarort untergebracht. Das Ziehen von Zähnen oder Einrenken von Gliedmaßen war für Alice ein durchaus reizvoller Gedanke. Doch drei ihrer Bewerbungsgespräche in örtlichen Arztpraxen waren in einer kurzen und nicht gerade freundlichen Absage geendet. Vielleicht hatte sie sich ein wenig zu begeistert danach erkundigt, ob sie auch selbst Zähne ziehen und Betäubungsspritzen setzen durfte. Danach hatte dieses Praktikum für sie radikal an Glaubwürdigkeit verloren. Wie sollte sie ihre beruflichen Interessen und Neigungen näher erforschen, wenn man ihr eine Tür nach der anderen zuschlug? Sie würde daher so wenig Zeit und Energie wie möglich mit diesem Praktikum verschwenden.
Ihre Mutter war begeistert gewesen, als Alice ihr nach einem zähen Vorstellungsgespräch unterbreitet hatte, für vier Wochen in der Obst- und Gemüseabteilung des Hertruper MegaKaufs untergekommen zu sein. Zurück zu den Früchten der Natur. Ganz im Einklang mit ihrem Wesen als Hexe. Ach wenn ihre Mutter nur wüsste.
Nele nahm ihren Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn zu den anderen unter die Tischplatte.
„Ich erwarte, dass meine Hirnkapazität um mindestens ein Drittel schrumpft. Ein weiteres Drittel geht bei Dämpfen und Feinstaub drauf, die beim Bohren frei werden. Und erst das ganze Amalgam. Nach diesen vier Wochen bin ich ein Brötchen. Vielleicht erspare ich mir so wenigstens die Nachfolge in Papas Praxis.“
Alice musste seufzen, als sie an den Geruch von Desinfektionsmitteln und Alkohol dachte, an blanken Stahl und das leise Kreischen eines Bohrers. Ein Ambiente, das ihr verwehrt war. Zumindest diesmal. Doch wer sagte schließlich, dass ein Praktikum Türen öffnete, wenn einem noch niemals im Leben Türen von etwas abgehalten hatten? Alice Sherlock brauchte kein Praktikum, um das zu tun, was sie wollte. Sie brauchte ein Praktikum, um nicht weiter aufzufallen bei dem, was sie ohnehin schon tat. Zumindest darin stimmte sie mit ihrer Mutter überein.
„Lass deinem Vater doch die Illusionen. Wenn du erst mal achtzehn bist, kannst du immer noch in ein besetztes Haus ziehen und dich an Bahngleise ketten. Oder du setzt dich gleich in den Amazonas ab und wirst Schamanin.“
Ihre Worte rangen Nele ein Lächeln ab. Sie wussten beide, dass sie wie ihre Brüder auch den Wünschen der Eltern folgen und Zahnmedizin studieren würde. Bedauerlich, aber nicht Alices Problem. Nele war einfach immun gegen ihren schlechten Einfluss. Aber vielleicht war genau das der Grund, warum sie als einzige in der Klasse immer noch zu Alice hielt.
„Mädels, habt ihr schon gehört?“, schallte es durch die offene Tür, und Laura Arnold, gefolgt von ihrem Tross Untergebener, stolzierte auf lächerlich hohen Absätzen in den Klassenraum hinein. Sofort bildete sich eine Traube um sie herum. Schade, dass Gismo Finchen nicht direkt vor Lauras Augen in ihre fedrigen Einzelteile zerlegt hatte, dachte Alice, als Laura ihr einen hasserfüllten Blick zuwarf.
„Lucas ist wieder da.“ Sie sprach laut genug, damit alle im Raum sie verstehen konnten. „Und was soll ich euch sagen, er sieht noch besser aus als vorher. Anders. Irgendwie aufregend.“ Sie nestelte theatralisch an ihrem blonden Pferdeschwanz. „Und er hat mich gefragt, ob ich nach der Schule mit ihm noch einen Kaffee trinken gehe.“
Sie kicherte, und ihre Freundinnen kreischten auf. Von einem Trauma wegen eines verschleppten Kanarienvogels konnte Alice keine Spur erkennen.
„Was sagst du, der alte Spacko ist wieder da? Korrekt, Alter, dann kommen wir jetzt wenigstens besser an die richtig guten Sachen“, meinte Tom in der Ecke zu Jannik. “Seit er weg war, hat es nur Schwierigkeiten mit den Lieferungen aus Holland gegeben.“ Die beiden gaben sich ‚high five‘.
„Guten Morgen zusammen! Tut mir leid, wenn ich die Kaffeekränzchen unterbrechen muss. Setzt euch bitte auf eure Plätze."
Frau Schulze-Schnarrenberg ließ ihre Tasche mit einem Knall auf das Pult sausen und wartete, bis sich alle hingesetzt hatten. Laura und ihre Freundinnen tuschelten aufgeregt. Alice hatte keine Ahnung, wer dieser Lucas war. Sie kam auch nicht mehr dazu, Nele zu fragen, ihre Klassenlehrerin hatte es eilig.
„Heute habt ihr noch einmal die Gelegenheit, eure Fragen bezüglich eures Praktikums zu stellen. Ablauf, Dokumentation, Praxisbesuche und so weiter, falls da noch Fragen offen sein sollten. Morgen geht‘s los, und ich hoffe doch sehr, ihr freut euch, diese wertvolle Erfahrung in eurem Leben machen zu dürfen. Es ist ein erster Schritt in die echte Welt da draußen. Und auch wenn ihr euch später für einen anderen Berufszweig entscheidet, werdet ihr euch immer an diese vier Wochen erinnern. Es ist und bleibt eine unvergessliche Zeit.“
Sie hielt inne und sah von einem Schüler zum anderen. Hatte sie diese Rede vorher einstudiert? Schlechter ging es kaum. Sie konnte diesen Unsinn doch wohl unmöglich selbst glauben. Mindestens die Hälfte der Klasse ging zu diesem Praktikum, weil sie keine Wahl hatte.
„Ich habe die Nachweise von allen bekommen, inklusive Unterschriften der Betriebe - von allen, außer von Frau Sherlock.“
Die brillenumrandeten Augen glitten an Alice vorbei zu einem unbestimmten Punkt hinter ihr an der Wand. Sie hatte bisher noch jedes Wettstarren in Millisekunden für sich entscheiden können. Doch leider brachte das Frau Schulze-Schnarrenberg nicht vom Thema ab.
„Alice, du hast mir noch keinen Nachweis dagelassen. Ich habe mir erlaubt, einmal mit der Leiterin des MegaKaufs zu telefonieren. Sie hat die Unterlagen nie von dir erhalten. Wie kann das sein?“
Verdammt. Sie hatte vergessen, den betrieblichen Nachweis zu fälschen. Wie konnte ihr das passieren? Nun wusste nicht nur der Supermarkt davon, die Information würde auch ganz schnell bei ihrer Mutter landen, denn ihr war klar, mit wem Frau Schulze-Schnarrenberg als Nächstes telefonieren würde. Sie musste handeln. Schnell zog sie ein zerknittertes Papier aus ihrem Rucksack.
„Hier ist er ja schon. Der Abteilungsleiter hat bestimmt vergessen, seiner Chefin Bescheid zu geben.“ Sie hoffte, sie klang zerknirscht genug. Frau Schulze-Schnarrenberg quittierte ihre Worte mit einem Kopfschütteln, steckte dann aber den Nachweis zu den anderen. Wie gut, dass sie projektive Hexverfahren aus dem Effeff beherrschte. Das Murmeln von Sprüchen war auch eher was für Anfänger.
„Nun gut. Da ich jetzt alle Unterlagen beisammenhabe, gehen wir noch einmal die Regeln durch.“
An diesem Punkt schaltete Alice ab. Wie so manch anderer im Raum auch, der heimlich unterm Tisch WhatsApp verschickte. Wen interessierten schon die Regeln? Sogar Frau Schulze-Schnarrenbergs Lieblinge rund um Laura Arnold tuschelten immer noch aufgeregt miteinander.
„Was ist denn da los?“, flüsterte Alice zu Nele hinüber. Diese sah sie nur ungläubig an. Doch dann schien sie sich zu erinnern.
„Klar, du kennst ihn ja nicht. Das ist immer noch wegen Lucas.“
„Hä, welcher Lucas?“
„Lucas, na der Lucas, der wieder in Hertrup ist. Der hat jetzt einen Nebenjob im Supermarkt. Seit ein paar Tagen. Angeblich eine Auflage seiner Eltern, doch der nutzt das garantiert für seine Geschäfte. Typen wie der ändern sich nie. Auf jeden Fall kannst du dir sicher sein, dass dich alle Mädels für deinen Praktikumsplatz hassen. Außer mir natürlich. Zum Glück interessiere ich mich nicht für Typen. Sonst hättest du jetzt nicht nur mit Laura Arnold ein Problem.“
Nele grinste, doch Alice war das alles völlig egal. Lass diese vier Wochen schnell vorübergehen. Vor allem lass mich nicht die Beherrschung verlieren. Schon ohne diesen Lucas war alles schlimm genug. Frau Schulze-Schnarrenberg hatte den Zettel mit ihrer Anmeldung, und das bedeutete, sie musste auf jeden Fall zum Praktikum gehen. Wer auch immer dieser Lucas war, was auch immer er tat, er existierte in ihrem Universum nicht. Dafür würde sie schon sorgen. Der MegaKauf hieß nicht nur so, er war der größte Supermarkt in der Region, und er hatte garantiert genug Platz, um allen Idioten aus dem Weg zu gehen.
„Na, wie war die Schule? Ist alles geregelt für deinen großen Tag morgen?“
Ihre Mutter strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah zu Alice auf. Ein Tuch hielt ihre roten Locken im Zaum, dennoch hatten sich hier und da einige Strähnen gelöst. In ihrem grünen Gärtner-Overall sah sie aus, als hätte sie ein Sondereinsatzkommando mitten in den verwilderten Garten hinter ihrem Haus katapultiert. Wie alles auf ihrem Hof hatte auch der Garten schon bessere Tage gesehen. Dabei hätte ein wenig Magie bestimmt schnell Ordnung in das Chaos aus verwachsenen Bäumen, Sträuchern und Beeten gebracht. Doch im Chaos gediehen Heilpflanzen laut ihrer Mutter am besten.
Alice seufzte: „Wie soll‘s schon gewesen sein? Mich erwarten vier Wochen Auslöschung meiner kostbaren Lebenszeit, und meine eigene Mutter tut nichts, um dies zu verhindern. Sollte eine Mutter nicht das Wohlergehen ihrer Tochter als höchstes Gut betrachten?“
„Jetzt fang nicht wieder mit dem Blödsinn an.“ Ihre Mutter hieb den Spaten in die abgetrennte Rasenfläche. Noch ein neues Beet. Ihr Business expandierte. Auf dem Sims des Rabenhauses lauerten Rowan und die anderen Raben schon darauf, die Würmer aus dem aufgebrochenen Erdreich zu ziehen.
„Wie oft haben wir darüber gesprochen? Es ist wichtig, dass wir nicht auffallen. Wir sind eine ganz normale Familie in einem kleinen Dorf, mitten im Nirgendwo, Mutter und Tochter. Wir haben uns auf diesem herrlichen Fleckchen Erde unser Zuhause errichtet. Und du bist eine junge Frau, die wie alle anderen in ihrer Klasse auch ein Praktikum macht. Wie es die Menschengesetze vorschreiben.“
Ihre Mutter klang, als würde sie das Faltblatt des Hertruper Heimatvereins aufsagen. Sie hatte sie „junge Frau“ genannt. Wenn sie damit an Alices Verantwortungsbewusstsein appellieren wollte, hatte sie sich getäuscht. Seit wann interessierte ihre Mutter, was das Gesetz vorschrieb? Gesetze waren bestimmt auch dazu geschaffen, unrechtmäßig verschleppte und ermordete Kanarienvögel zu ahnden. Doch in dem Fall hatte sie sich eines einfachen Verwandlungszaubers bedient, um sich aus der Affäre zu ziehen. Diese Doppelmoral war nicht zu ertragen.
„Wir und ganz normal? Guck dich doch mal um! Wir wohnen am Rande einer Spießersiedlung in einem maroden Haus, von dem keiner weiß, warum die Stadt es noch nicht abgerissen hat. Ach ja, weil du die Baupläne der Aufsichtsbehörde verhext hast. Aber wir sind völlig normal. Die Nachbarn beschweren sich wöchentlich über den bestialischen Gestank aus deiner Kräuterküche und auf dem Schild zur Hofeinfahrt steht: ‚Andrea Sherlock, Wicca-Onlineshop. Alles für die moderne Hexe‘. Und das nennst du normal und unauffällig?“ Es war nicht zu fassen, dass diese Diskussion schon wieder losging.
Jetzt wurde auch ihre Mutter ungehalten. Sie rammte den Spaten in den Boden.
„Ja, genau, das ist alles völlig normal. Ungewöhnlich, aber normal. Okkultismus ist absolut im Trend. Es gibt Tausende von Communities und Onlineshops zu dem Thema von Menschen, die sagen, sie haben eine Verbindung. Die meinen, wenn sie Räucherstäbchen anzünden und dreimal nackt um ein Feuer tanzen, sind sie Hexen. Und weißt du was? Das ist auch gut so! Nur weil es diese Menschen gibt, können wir echten Hexen weiter unentdeckt bleiben.“
Diese Logik rief die altvertrauten Kopfschmerzen hervor, doch Alice konnte und wollte nicht lockerlassen. Ihre Mutter würde nicht wieder das letzte Wort haben.
„Und was war das heute Morgen mit Gismo? Du weißt doch genau, dass er diesen dämlichen Kanarienvogel gefressen hat. Und Frau Arnold weiß das auch. Alle wissen, dass hier etwas nicht normal ist. Wieso bestehst du dann darauf, mich unglücklich zu machen?“
Endlich waren die Tränen da. An ihr Lebensglück zu appellieren, war ein billiger Trick, das wusste Alice. Doch angesichts der Ausmaße der nächsten Wochen musste sie zu diesen Ressourcen greifen. Außerdem ging ihr ihre Mutter mit dem Wunsch nach Normalität gewaltig auf die Nerven.
Es funktionierte, sofort nahm ihr Gesicht einen wehmütigen Ausdruck an. Sie ließ den Spaten auf den Boden fallen und zog die Gartenhandschuhe aus. Alice schluchzte noch einmal auf, jetzt ging‘s los.
„Liebes, wenn mir eines auf dieser Welt am allerwichtigsten ist, dann ist es dein Lebensglück. Du bist mein Sonnenschein, mein Ein und Alles. Meine liebste Tochter. Natürlich steht dein Lebensglück an allererster Stelle. Genau wie deine Sicherheit. Du sollst sicher und glücklich sein. Und auch wenn du es nicht verstehen kannst, genau hier und jetzt bist du beides. Und deshalb machst du dieses Praktikum wie alle anderen Schüler auch.“
Sie legte ihre Hand an Alices Wange. Das waren doch nicht etwa auch Tränen, die sich da in ihren grünen Augen sammelten? Das war doch wirklich das Allerletzte. Alice wand sich aus ihrem Griff.
„Mum, lass das! Du kannst endlich mit dem Schauspielen aufhören. Ich bin alt genug. Wie wäre es stattdessen einfach mal mit der Wahrheit? Was tun wir hier in Hertrup, wenn wir doch Hexen sind? Warum können wir nicht nach England zurück? Dort bin ich unter Unseresgleichen ganz bestimmt besser aufgehoben als hier. Was verschweigst du mir, schon seit ich denken kann? Warum vertraust du mir so wenig, statt mir endlich einfach die Wahrheit zu sagen?“
Alice schrie die letzten Worte beinahe. Und da geschah, was in diesen Momenten immer geschah: Das Gesicht ihrer Mutter verwandelte sich mit einem Schlag zu einer eisernen Wand. Jeder Funke von Mütterlichkeit war verschwunden, und ein unerbittlich harter Zug formte sich um ihre Mundwinkel.
„Darüber reden wir nicht, Alice. Und das weißt du. Es gibt gute Gründe, warum das so ist. Und eines Tages, wenn der Zeitpunkt da ist, wirst du mehr erfahren. Aber nicht jetzt. Mach dich lieber nützlich und putz das Rabenhaus. Und dein Zimmer könntest du auch mal wieder aufräumen, es sieht aus, als ist darin eine Bombe eingeschlagen.“
Zack, da war sie, die strenge Mutter. Alice konnte die Uhr danach stellen. Diese Gespräche liefen immer gleich ab. Nun gut, sie hatte es zumindest versucht. Sie hatte den Schein gewahrt, damit sie weiterhin glaubte, ihre Tochter unter Kontrolle zu haben. Doch diese Zeiten waren schon lange vorbei. Genau genommen hatte es sie nie gegeben. Ihr Schutzzauber blockierte zwar immer wieder das Thema ihrer Herkunft. Er war wie eine Störfrequenz in einem Radiosender und nervte gewaltig. Immer dann, wenn sie die Grenzen ihrer Magie austesten wollte, funkte er dazwischen. Doch Alice gelang es in letzter Zeit immer öfter, ihn Stück für Stück zu überwinden. Sie ließ ihre Mutter in dem Glauben, dass er sie vollends ausbremste. Nur so konnte sie ihre eigene Magie ungehindert weiterentwickeln.
„Schon gut“, lenkte Alice ein, „ich weiß ja, du willst nur das Beste für mich. Ich geh mein Zimmer aufräumen. Und wir können ja heute Abend vielleicht einfach auf dem Sofa sitzen und zusammen eine Runde Kerzenlichter gucken?“
Der harte Zug in ihrem Gesicht wurde augenblicklich weicher. Es dauerte einige Sekunden, dann war auch der letzte Zweifel daraus verschwunden. Na also, es ging doch. Ihre Mutter nickte.
„So machen wir es, Liebes. Quality time, nur du und ich. Wir versenken uns in die Magie von Kerzenschein und trinken eine schöne Tasse Tee dazu.“
Sie zog sich die Gartenhandschuhe wieder an und hob den Spaten auf. Der Größe der abgesteckten Fläche nach zu urteilen, war ihre Mutter noch gute zwei Stunden beschäftigt. Und zwei Stunden waren genug.
Alice ging zurück zum Haus. Als sie um die Ecke verschwunden war, hielt sie kurz inne, um sicherzugehen, dass ihre Mutter tatsächlich im Garten weiterarbeitete. Der dumpfe Aufprall von Erde auf Erde sagte ihr, dass sie weiter ihr Beet aushob. Perfekt. Im nächsten Moment erklang aus Alices Zimmer das Geräusch eines Staubsaugers. Vom Garten aus würde man ihre Silhouette erkennen, und sie putzte wie befohlen ihr Zimmer. Sollte ihrer Mutter auf die Idee kommen, nach ihr zu sehen, würde der Kontaktzauber sie beim Berühren der Leiter sofort vergessen lassen, was sie dort wollte.
Hexen konnten andere Hexen nur schwer verzaubern. Jeder Spruch, jede Form von Magie hinterließ eine Spur. Nur war Alice eben keine normale Hexe. Alle Bemühungen und Verschleierungsversuche ihrer Mutter hatten Alice nie davon abgehalten, mehr als eine normale Hexe zu sein.
In den letzten Monaten war der Sog der Dunkelheit in ihr immer stärker geworden. Da war etwas Kraftvolles, Anziehendes, etwas, das sie einlud, die Grenzen ihres jetzigen Daseins zu sprengen. Sie wusste noch nicht genau wie, doch sie hatte schon eine Idee. Eine Idee, die sie nun an den Feldern vorbei in Richtung Siedlung Hertrup-Himmelberg radeln ließ.
Am Ende des Schotterwegs lenkte Alice ihr Fahrrad auf die sorgsam gepflasterte Straße. Ab hier begann die neu gebaute Siedlung Himmelberg, Hertrups Prunkstück und ganzer Stolz des Stadtrats. Sie fuhr vorbei an akkurat geschnittenen Hecken und sauber gekehrten Einfahrten. Lebensgroße Pappaufsteller mit spielenden Kindern und unerbittlichen Reflektoren mahnten die Autofahrer zu Langsamkeit und Rücksichtnahme. „Hier könnte auch DEIN Kind spielen“, und niemand würde sein eigenes Kind in seine lästigen Einzelteile zerlegt von der Straße kratzen wollen.
Leider war kein einziges Kind in Sicht. Stattdessen stiegen aus den sorgsam abgeschirmten Gärten kleine Rauchsäulen auf, unter die sich Kindergeschrei mischte. „Hertrup-Himmelberg grillt ab“ stand auf der Anschlagtafel am Eingang der Siedlung, die Grillsaison ging laut Siedlungsordnung genau heute zu Ende. Jede Familie hatte sich daher um ihren XXL-Meier-Grill versammelt, und Vati flambierte ein letztes Mal für dieses Jahr darauf Steaks und Würstchen. Bunte Schilder an den Haustüren verkündeten fröhlich die Namen der Glücklichen: „Familie Tenharke“, „Die Wegeners“, „Bernd, Sonja und Laura Arnold“.
Es überkam sie plötzlich und unvermutet wie ein Juckreiz. Vielleicht war es das der Name Arnold, der in bunt geschwungenen Buchstaben quer über der Haustür angebracht war. Vielleicht aber auch der strahlend weiße SUV, der hinter dem praktischen Familientransporter in der Einfahrt geparkt war und den irgendwer schon wieder vom Schmutz des Besuchs bei den unerträglichen Sherlocks befreit hatte. Ganz bestimmt jedoch war es der perfekte Zeitpunkt, um mal wieder auszutesten, wozu ihre Magie tatsächlich in der Lage war. Sie musste nicht einmal abbremsen, um den Hex über den Gartenzaun zu schleudern. Der Knall und die darauffolgenden hysterischen Schreie waren Musik in ihren Ohren. Die Rauchwolke war bis zum Kanalweg zu erkennen, auf dem sie nun fröhlich weiterfuhr, als wäre nichts geschehen. Alice grinste, als sie eine Rentnertruppe mit bunten Fahrradhelmen auf den Köpfen überholte. So schnell würde Frau Arnold sie nicht mehr belästigen. Das sollte sie spätestens jetzt verstanden haben.
Der Himmel war wolkenverhangen, und in der Luft lag der faulige Geruch von feuchtem Laub. Die meisten Bäume und Sträucher an der Uferböschung streckten vergeblich ihre Zweige nach der Sonne aus. Die Bedingungen waren also gut. Bis auf ein paar unverwüstliche Rentner und Hundebesitzer hielt sich bei diesem Wetter niemand am Kanal auf.
Alice hasste die Natur, vor allem im Sommer. Das satte Grün der Pflanzen brannte jedes Jahr aufs Neue in ihren Augen und ließ sie den Tagen entgegenfiebern, an denen sich die Blätter endlich verfärbten, um dann im braunem Allerlei zur Erde zu sinken. So wie heute, an diesem herrlich trüben Nachmittag.
Das alte Schleusenwärterhaus lag versteckt hinter einem rostigen Maschendrahtzaun an der Kanalschleuse. Vom Radweg aus sah man nur ein Gewirr aus Büschen und Efeuranken, die sich an den umstehenden Bäumen emporschlängelten. Alice hatte es vor einigen Jahren auf einem ihrer nächtlichen Streifzüge mit Rowan entdeckt. Aus unerklärlichen Gründen war ihre Mutter nie hinter den wahren Charakter der Verbindung zu ihrem Hausraben gekommen. Für sie war ein Rabe ein Botentier, nichts weiter. Um so besser, denn in Gestalt eines Raben kam Alice überall hin. Durch Rowans Augen sah sie schärfer, sonst wäre sie vermutlich damals über das Gebäude hinweggeflogen. Sie hatte sofort gewusst, dies war der ideale Ort für sie: ein längst vergessenes Haus voller alter rostiger Technik und verstaubter Möbel.
Die Kanalschifffahrt war schon viele Jahre lang digitalisiert und der Beruf des Schleusenwärters ein Bürojob wie jeder andere auch. Ferngesteuerte Automatik hob und senkte die Lastschiffe durch das Schleusenbecken, und niemand musste mehr Ausschau halten nach Schiffen, die ihre schwere Fracht durch Hertrup fuhren.
Alice schob ihr Fahrrad durch das überwucherte Eingangstor. Es reichte bereits eine Berührung ihrer Finger, und das Efeu schloss sich hinter ihr zu einer dichten grünen Wand. Von wegen ihr fehle der grüne Daumen. Es war alles nur eine Frage, wofür sie ihn einsetzte.
Die Tür zur Steuerzentrale glitt lautlos zur Seite. Magie schaffte das, wozu eine Menschenhand kaum mehr in der Lage war, so verrostet war hier alles durch die Feuchtigkeit, die vom Kanal hochzog.
Im Schleusenwärterhaus war es angenehm dunkel und kühl. Alice sog den Geruch von Maschinenöl und Eisen ein und schloss für einen Moment die Augen. Sogleich blitzten Bilder vor ihr auf. Ein bärtiger Riese, der mit blanker Muskelkraft am Hebel der Schleusentore zog. Ein jüngerer Mann in einem ausgewaschenen Overall sprach etwas in ein Mikrofon. Im Hintergrund pulsierten Schiffsmotoren, und in der Luft lag der Geruch von Schweiß und Diesel. Alice fühlte den Druck und die enorme Macht des Wassers bis in ihre Fingerspitzen. Hier waren Kräfte am Werk, die den Gesetzen der Mechanik gehorchten. Gesetze von Ursache und Wirkung. Gesetze, die sie sich zu eigen machen konnte, wenn sie nur weiter übte. Wenn sie nur dem Geheimnis auf die Spur kam, was es hieß, Ursache zu sein, Zentrum und Ursprung aller Kräfte.
Sie warf ihren Rucksack in die Ecke und ließ sich auf den alten Ledersessel hinter dem Steuerpult fallen. Ihre Finger gelitten über Chrom und Metall. Die bunten Lämpchen begannen zu flackern, das Steuerpult erwachte. Alice seufzte. Was ihre Mutter an roten, gelben und violetten Knospen in ihren verfluchten Beeten erfreute, hatte sie noch nie nachvollziehen können.
Ihr Blick fiel durch das verschmutzte Glas des Panoramafensters, von dem aus man das gesamte Schleusenbecken sehen konnte. Direkt neben ihr floss der Hertruper Kanal die Spundwände entlang und wartete auf das nächste Lastschiff. Der Kanal verband Hertrup mit einem Netz anderer Kanäle, die sich quer durch das Land in Richtung Nordsee zogen. Ein Geflecht aus Eisen, Wasser und Stahl. Lebenslinien, denen es galt, neues Leben einzuhauchen.
Hier lag die Antwort auf eine Leere, die immer schon Teil ihres Lebens gewesen war. Der Zauber ihrer Mutter hatte versucht, sie in bunten Blumen und duftenden Kräutern zu ertränken. Wir Sherlocks sind alle ein Teil von Mutter Natur, von Sonne und Mond. Unser Hexenzirkel ist der älteste in ganz Europa. Und du bist ein Teil davon, warte nur ab. Doch da gab es nichts, auf das sie zu warten brauchte. Sie musste nur danach greifen. Einsam in der Tiefe der Dunkelheit lag etwas, das so viel mächtiger war als alles, was sich ihre Mutter jemals vorstellen konnte. Etwas, das sie ermächtigte, die Ordnung der Elemente neu zu bestimmen.
Alice spürte, wie der Raum um sie herum erwachte. Sie lächelte und schloss die Augen. Ihr Geist hatte sich sofort mit der Quelle verbunden. Hinter ihren Augen flackerte die Flamme auf, und sie ließ los.
Der Fall war abrupt, doch er machte ihr keine Angst mehr. Sie schickte ihren Atem voraus wie zwei Vogelschwingen. Wie immer fing er sie auf, und sie begann, um die Flamme zu kreisen. Glut hüllte sie ein wie ein Kokon, der sich mit ihr ausdehnte. Schon war sie umgeben von Feuer. Es floss aus ihren Händen, als sie sich auf dem alten Sessel hinter dem Steuerpult sitzen sah, die andere Alice, die aus Fleisch und Blut. Sie berührte sie mit ihrem Atem, und schon schoss Energie in die Apparaturen um sie herum. Langsam öffnete sie wieder die Augen.
Es wirkte. Die Monitore flackerten auf, die Knöpfe und Lampen pulsierten in roten und grünen Farben. Durch die Kabine zog sich ein schriller Warnton, eine automatisierte Stimme verkündete: „Achtung, das System ist überlastet. Schließen Sie die Schleusentore.“
Zufrieden sah Alice, wie das braune Wasser unter ihr anschwoll und sich gegen das Schleusenbecken drückte. Es war ihr tatsächlich gelungen, die Massen an Wasser hierher zu befehligen. Der Pegel stieg immer weiter an. Das Becken war längst schon überfüllt, Wasser schwappte über die rostigen Wände. In der Ferne ertönte ein Schiffshorn. Ein Lastkahn näherte sich. Sie spürte, wie das Wasser seinen eisernen Körper umschloss. Ihr Wille würde geschehen. Es war ein Leichtes, dieses tonnenschwere Schiff in den brauen Wassern zu versenken wie Papier. Sie musste es nur befehlen. Sie musste nur diese letzte Grenze durchbrechen.
„Scheiße, wie krass ist das denn? Alter, guck dir das an.“
„Fuck, hier ist gleich alles unter Wasser.“
Abrupt erwachte Alice aus ihrer Trance. Die Wassermassen krachten zurück ins Schleusenbecken, das Steuerpult vor ihr erlosch. Verdammt, da waren Leute.
Durch den Türspion sah sie zwei junge Männer mit einer Bierflasche in der Hand vor dem Zaun stehen. Einer von ihnen deutete hinüber zur Eingangstür. Shit. Wie konnte das passieren? Sie hatte doch über das ganze Gelände einen Zauber gelegt. Oder etwa doch nicht?
Erst jetzt bemerkte sie, wie ihre Hände zitterten. Der hohe Ton breitete sich in ihrem Kopf schneller und schneller aus. Schmerz schoss wie ein Blitz hinter ihre Augen. Sie lehnte sich gegen die Tür und rang nach Atem. Sie hätte es wissen müssen. Diese Art von Magieausübung hatte schon immer ihren Tribut gefordert. Wenn die beiden da draußen es darauf anlegten, würde sie die Tür mit Magie nicht halten können. Sie wusste es und konnte es dennoch nicht lassen. Nicht, wenn ihr die Natur zu Füßen lag, so wie heute der Kanal. Das war es wert gewesen.
Plötzlich ertönte über ihr ein Donnerschlag, und ein paar Sekunden später prasselte Regen gegen die Fensterscheiben. Hatte sie dieses Gewitter etwa auch herbeigerufen, ohne es mitzubekommen?
„Alter, lass uns abhauen. Wir kommen ein anderes Mal wieder. Ich hab keinen Bock, den Arsch nass zu kriegen.“
Das Rütteln am Zaun verstummte. Haut ab, haut bloß ab, dachte Alice und versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Wenn sie noch eine Sache hinbekommen musste, dann war es, diese beiden Typen die letzten Minuten vergessen zu lassen. Mit letzter Kraft legte sie ihre Hand gegen die Stahltür und schickte einen Vergessenszauber hinaus in den Regen. Die Erinnerung an das Schleusenwärterhaus würde an den beiden abperlen wie Wassertropfen.
Sie wusste nicht, wie lange sie dagesessen hatte. Als sie wieder zu sich kam, hatte draußen bereits die Dämmerung begonnen. Höchste Zeit, nach Hause zu fahren, bevor ihre Mutter sich Sorgen machte.
Sie warf einen letzten Blick auf die leeren Monitore. Der Schmerz in ihrem Kopf war verschwunden. Sie lächelte. Das heute war echter Fortschritt. Ein guter Tag, ein schwarzer Tag, der sie wieder ein Stück ihrem Ziel näherbrachte. Bald schon würde sie die ganze verdammte Stadt in den Fluten des Hertruper Kanals versenken. Das war der Tag, an dem sie den Bürgern Hertrups, ihren Mitschülern, Lehrern und allen voran den verfluchten Nachbarn endlich zeigte, wer hier die wahre Macht besaß. Wenn ihre Mutter schon nicht in der Lage war, ein Exempel zu statuieren, musste sie es tun. Eine echte Hexe ließ sich weder ausgrenzen noch auslachen. Und schon gar nicht, wenn sie Alice Sherlock hieß.
Tag 1.Aufgabe: Beschreibe deinen Praktikumsbetrieb!
Heute habe ich den ersten Tag meines Betriebspraktikums im „MegaKauf“ unserer Stadt Hertrup absolviert. Der Supermarkt ist der führende Supermarkt in der Region. Die Kundschaft kommt aus den umliegenden Dörfern, um hier einzukaufen. Hier gibt es einfach alles. Man kann Lebensmittel einkaufen und Waren des täglichen Bedarfs. Jede Woche gibt es tolle Aktionen für den Geldbeutel. Der Betrieb hat über 50 Mitarbeiter. Es gibt viele verschiedene Abteilungen. Die Leitung des Supermarkts hat Frau Marianne Jansen. Sie ist die Frau des neuen Bürgermeisters von Hertrup, Jens Jansen. Ihm verdanken wir den MegaKauf. Herr Jansens Herzensangelegenheit ist die wirtschaftliche Aufwertung unserer schönen Heimat.
„Mädchen, wenn du mit Träumen fertig bist, würde ich hier weitermachen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Gleich kommt der Lkw mit der TK-Ware, und die muss sofort verräumt werden. Da kannst du dann gleich mithelfen. Du möchtest dich doch sicher nützlich machen?“
Herr Bobic sah Alice über den Rand seiner Lesebrille an. Sie hing an einer Kette, die jedes Mal, wenn er den Kopf bewegte, hin und her schaukelte. Seine dicken Finger trommelten auf ein Klemmbrett, das er sich gegen den Bauch presste. Er atmete wie ein in die Ecke gedrängtes Nashorn.
„Sprechen kann sie auch nicht. Mit was für einer Generation haben wir es hier nur zu tun?“
Herr Bobic schüttelte wieder den Kopf, dann drehte er sich um und ließ sie einfach stehen. Alice hatte Mühe, seinem Stechschritt zu folgen.
So schnell hatte sie noch nie jemanden gehasst. Ihr Praktikumsbetreuer war eine absolute Zumutung. Genau wie diese grässliche knallgrüne Schürze, in die man sie gesteckt hatte. Sie wusste nicht, ob sie die Farbe schlimmer finden sollte oder die riesige lachende Erdbeere, die nun auf ihrer Brust prangte.
Herr Bobics Tour durch den Supermarkt dauerte schon über eine Stunde. Alice wurde in jeder verdammten Abteilung vorgestellt, und dann verlor er sich in Plaudereien mit den einzelnen Mitarbeitern, vorzugsweise weiblicher Natur. Und ihr erzählte er etwas von Herumträumen. Er brauchte bloß nicht zu glauben, sie sähe die Blicke der anderen nicht, hörte nicht das Getuschel und das unterdrückte Lachen.
„Ein echter Sonnenschein unsere neue Praktikantin, was“, hatten die beiden dicken Frauen hinter der Wursttheke einander zugeflüstert und dabei verschwörerische Blicke ausgetauscht. Nein, sie würde sich nicht provozieren lassen. Es waren nur noch neunundzwanzig Tage.
„So, Mädchen, und da drüben ist unser Kassenleitsystem. Links die Self-Checkout-Kassen. Rechts Kasse eins bis acht für alles über zehn Artikel im Einkaufswagen. Ach ja, hinterm Bäcker rechts ist auch die vollautomatisierte Leergutannahme und die Kundentoilette. Schlüssel gibt‘s an der Kasse gegen Pfand, keine Ausnahmen. Fragen?“
Wieder sah Herr Bobic über den Rand seiner Brille. Doch diesmal an einen Punkt knapp über ihrem Kopf. Eins zu null für Alice. Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Interessiert dich das überhaupt hier? Ach, was rede ich. Na komm, wir gehen raus, der Lkw muss jeden Moment da sein“, wandte sich Herr Bobic ab und eilte zurück zum Mittelgang. Wieder musste sie hinter ihm her joggen. Würde dieser Tag doch nur endlich vorüber sein.
Der Personaleingang lag gleich neben der Warenanlieferung. Heute war Einführungs- und Orientierungstag, und es war nicht mal elf Uhr. Verzweifelt vergrub Alice ihre Hände in der Tasche ihrer Schürze und fixierte den Himmel hinter den Müllcontainern. Sie durfte einfach nicht daran denken, was sie an einem Tag wie heute anderes mit ihrer Zeit anfangen könnte, wenn sie wieder einmal ganz normal die Unterschrift auf einer Entschuldigung fälschte. Doch stattdessen stand sie hier draußen in der Raucherecke hinter dem Hertruper MegaKauf und wartete.
Herr Bobic zog gierig an einem Zigarillo, während eine Frau mit wasserstoffblonden Haaren auf ihn einredete. Die beiden ignorierten sie. Das mochte daran liegen, dass Alice wiederum den Small Talk-Versuch der Blondine, Frau Jankowski, ihrerseits rigoros abgeblockt hatte. Leider wurde sie dennoch Zeugin dieser Unterhaltung. Zwangsläufig, denn wieder einmal hatte Herr Bobic sie einfach hier draußen stehengelassen. Fünfzehn Minuten Frühstückspause und Mahlzeit.
Frau Jankowskis Lachen schepperte in ihren Ohren.
„Und ich sag noch zu Helga: ‚Mein lieber Herr Gesangsverein. Was hat uns die Chefin denn da Leckeres beschert.‘ Da gucken wir doch alle noch mal doppelt in den Spiegel, bevor wir den Dienst antreten, was?“
Herr Bobic brummte irgendetwas und stieß eine Dampfwolke aus, doch Frau Jankowski ließ sich nicht beirren.
„Also, ich wusste ja von der Anne, dass Müllers damals zu dieser Radikalmaßnahme greifen mussten. Sie hatten praktisch keine Wahl. Aber wer hätte nur gedacht, dass das dabei herauskommt? So höflich, so zuvorkommend. Und hilfsbereit. Der sieht schon, was zu tun ist, bevor man den Mund aufmacht. Du weißt, was ich meine. Ganz selten bei den jungen Leuten heutzutage. Grüßen tut er auch und fragt, wie es einem geht. So ganz anders als die da.“
Frau Jankowski gab sich nicht einmal Mühe, leiser zu sprechen. Alice bohrte ihren Blick weiter in die Wolken. Wenn das so weiterging, konnte sie für nichts mehr garantieren. Versprechen an ihre Mutter hin oder her. Jetzt mischte sich Herr Bobic ein. Auch er sprach laut genug, dass Alice ihn bestens hören konnte.
„Ja, das ist die Generation heute. Handys, Gaming, dieses ewige Social Media und was unsere Jugend noch alles so zu Kartoffeln macht. Zu unserer Zeit war das alles besser ...“
„Nein, also nicht der Lucas“, ereiferte sich Frau Jankowski, “der ist ganz anders. Also, der hat mir und Annette erzählt, dass er sich so rein gar nichts aus dem ganzen Technikkram macht. Stell dir vor, der spielt sogar Theater.“
„Was für ein Prachtkerl“, murmelte Herr Bobic, doch Alice Aufmerksamkeit war plötzlich ganz bei Frau Jankowski. Redeten die beiden etwa von dem Lucas, über den schon in der Schule getuschelt wurde?
„Also, wie der sich auch so vom Aussehen entwickelt hat, also optisch mein ich“, Frau Jankowski kicherte, was ein erneutes Brummen hervorlockte, „da gibt der bestimmt einen richtig guten Shakebier auf der Bühne ab!“
„Shakespeare. Der Mann hieß Shakespeare. Und er hat Theaterstücke geschrieben.“
Frau Jankowski und Herr Bobic drehten sich mit erstaunten Gesichtern zu ihr um.
„Ach, guck an. Die kann ja doch sprechen, Heribert. Da staunste, was. Und schlau ist die offensichtlich auch noch. Kennt sich aus mit Kultur und so. Na, dann wünsch ich dir mal viel Spaß.“
Frau Jankowski zwinkerte ihm zu und drückte ihre Zigarette in eine leere Tomatendose. Sie deutete ein Winken mit ihren pinken Fingernägeln an und verschwand durch die Personaleingangstür. Hätte sie doch einfach nichts gesagt. Auch wenn die Dummheit mancher Menschen schwer zu ertragen war, Schweigen war manchmal mehr als Gold wert.
Zum Glück ächzte da der Lkw mit der TK-Ware um die Ecke. Herr Bobic nahm einen letzten Zug von seinem Zigarillo.
„Da ist er ja endlich. Auf geht’s, Mädchen. Es gibt ordentlich was zu tun.“
Der Schmerz in ihren Armen wurde immer stärker. Dieses verfluchte Praktikum kostete sie nicht nur Lebenszeit, es zerstörte auch noch ihren Körper. Zehn Palettentürme Obst und Gemüse einzuräumen, raubte ihr alle Kraft. Wie konnten das normale Menschen nur Tag für Tag bewältigen? Mal abgesehen davon, dass diese Aufgabe anstrengend war, sie kam auch noch ohne jegliche geistige Herausforderung. Äpfel und Orangen auf Druckstellen abzusuchen und gegebenenfalls auszusortieren, dazu waren ja sogar Einzeller in der Lage. Oder Kinder.
Am schlimmsten jedoch waren die aufdringlichen Kunden. Nicht nur, dass sie diesen grässlichen Kittel tragen musste, auf dem das Wort PRAKTIKANTIN klebte. Dieses grüne Ding war offenbar gleichzeitig der Freifahrtschein für alle, sie jederzeit und ohne Vorwarnung ansprechen zu können. Und wenn sie nicht antwortete, wurde dies nur mit einem Kopfschütteln oder Beschimpfungen quittiert. Eine aufgebrachte Frau hatte sogar lauthals nach den Vorgesetzten gerufen, bevor sie das Praktikantin-Schild gelesen hatte. Sie und Herr Bobic hatten wissende Blicke ausgetauscht. „Na, das wird ja wohl nichts mit der. Typisch junge Leute.“
Vor Wut hatte Alice ein Loch in ihre Kitteltasche gebrannt. Sie konnte ihre Hände in dem Moment gerade noch kontrollieren, sonst hätte sie für nichts mehr garantiert Zum Glück war niemandem aufgefallen, dass Rauch aus der lachenden Erdbeere aufstieg. Danach hatte sie ihre Strategie geändert.
„Obst und Gemüse wird an der Kasse ausgewogen“, hatte sie jedem, der an ihr vorbeikam, verkündet. Auch hier wanderte der ein oder andere Blick zu ihrem Namensschild und wurde mit einem leisen „Oh, okay“ kommentiert.
Vielleicht sollte sie morgen einfach einen kleinen Hex in die Köpfe der Kunden zaubern. Vielleicht aber gab es morgen diesen verdammten Supermarkt auch schon gar nicht mehr. Ihr Erfolg gestern war nur am plötzlichen Auftauchen dieser beiden Typen gescheitert. Sie würde es heute Abend erneut versuchen. Diesmal mit einem Zauber, der alle möglichen Eindringlinge weit vom Schleusenwärterhaus fernhielt.
Es war nach achtzehn Uhr, als Alice endlich ihr altes Hollandrad gegen den Ginsterbusch neben der Haustür warf. Hoffentlich gelang es ihr, unbemerkt hoch in ihr Zimmer zu schleichen. Sie konnte es kaum erwarten, diesen Tag hinter den Vorhängen ihres Himmelbetts zu verbannen. Doch sie war nicht unauffällig genug, denn schon drang die aufgebrachte Stimme ihrer Mutter aus der Küche herüber.
„Alice Sherlock. Komm sofort her.“
Die Tonlage ließ keine Diskussionen zu. Ihre Mutter war bei aller Erdverbundenheit immer noch eine Hexe, deren Kraft am stärksten wirkte, wenn man sich mit ihr in den gleichen vier Wänden aufhielt. Es war zwar erst einmal vorgekommen, dass sie sämtliche magischen Kanäle aus ihrem Zimmer verbannt hatte. Das konnte sie sich ausgerechnet heute nicht ein zweites Mal erlauben. Sie hatte noch einiges zu tun.
„Ja, Mum, ich komm ja schon. Hattest du einen schönen Tag?“ Sie versuchte, möglichst lieblich zu klingen, doch dann sah sie ihre Mutter mit verschränkten Armen in der Küchentür stehen. Die Nummer konnte sie sich sparen. Ihr Gesicht sah alles andere als nach einem schönen Tag aus. Mit dem Kopf deutete sie auf einen Brief, der offen auf dem Küchentisch lag.
„Kannst du mir das erklären? Kannst du mir bitte erklären, wieso die Post heute Morgen per Express einen Brief hier abgegeben hat, der von einer Anwaltskanzlei an mich adressiert ist?