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Dr. Jasmin Wagner, 52-jährige Oberärztin der Anästhesie am Städtischen Krankenhaus Lörrach, fliegt spontan nach dem Erdbeben am 12.1.2010 auf Haiti in das Katastrophengebiet, um ihren dreiwöchigen Urlaub als medizinischen Hilfseinsatz zu investieren. Nach einigen Tagen mit Straßenambulanz-Sprechstunden in Port-au-Prince und Léogâne fährt sie mit dem GEO-Reporter Harald Wehnert ins Hinterland. Als er zu geologischen Messungen weiterreist, bleibt Jasmin in dem kleinen Ort Bassio, wo sie die private Krankenstation der alten Spanierin Rosa reaktiviert, medizinische Hilfe leistet und Erdbebenwaisen aufnimmt und betreut. Zurück in Deutschland bemüht sie sich, Helfer und Spender für das Kinderheim-Projekt zu finden. Neben all ihrer Arbeit als Anästhesistin mit diversen Notfällen forscht die Ärztin vergeblich nach dem Verbleib mehrerer Schwerverletzter, die in Léogâne und Bassio von einem Rettungsteam im Hubschrauber abtransportiert wurden ….
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Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2020
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SCHWARZE KITTEL
KATASTROPHEN-MEDIZIN
Medizin-Krimi
von
Jennifer Wegner
Alle Rechte bei der Autorin
© 2013 Jennifer Wegner
2. Auflage 2020
published by epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
auch als Print (A4) „Katastrophen-Medizin”:
ISBN 978-3-753118-98-7
Katastrophen-Medizin
Flug nach Haiti
Frau Dr. Jasmin Wagner, 52 Jahre, Anästhesistin des Städtischen Krankenhauses Lörrach, stand in Frankfurt in der großen Flughafenhalle von Terminal 1 und wartete, dass der Lufthansa-Schalter zum Check-in öffnete. Jasmin hatte bereits eine vierstündige Zugfahrt nach Frankfurt hinter sich und ihr graute vor dem 32-stündigen Flug nach Port-au-Prince.
Die Reise war ein ganz spontaner Entschluss gewesen. Vor nicht mal zwei Tagen, am 12. Januar 2010, hatte ein Erdbeben der Stärke 7,2 große Teile von Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti, wie auch unzählige andere Städte und Dörfer innerhalb einer Minute zerstört. In einem der ärmsten Länder der Erde wurde Hilfe von außen auf Haiti noch dringender benötigt als es in anderen Ländern bei ähnlichen Katastrophen der Fall war. Jasmin war schon mehrmals mit „Ärzte ohne Grenzen“ zu Einsätzen im Ausland unterwegs, wofür sie zwei Drittel ihres Jahresurlaubs einsetzte.
Dieses Mal war sie auf eigene Faust unterwegs. Nachdem sie die ersten Berichte von dem Unglück gesehen hatte, war ihr klar, dass in Haiti ärztlicherseits für die Katastrophenmedizin schnellstmöglich Chirurgen und Anästhesisten/Notfallmediziner gebraucht wurden. Viele der Verschütteten brauchten intensivmedizinische Betreuung oder mussten dringend operiert werden. Für größere Eingriffe wie die leider nach Erdbeben häufig nötigen Amputationen von zerquetschten Gliedmaßen bei meist insgesamt instabilem Gesundheitsstatus erhöhte ein erfahrener Anästhesist die Überlebenschancen erheblich.
Für Jasmin hatten gerade drei freie Wochen begonnen, ihr Resturlaub plus Überstundenausgleich für die Dienste an den Festtagen nach vier anstrengenden Wochen, die sie weitgehend durchgearbeitet hatte, da die meisten Kollegen mit Kindern Weihnachten oder anschließend Urlaub genommen hatten. Aus ihrer Erfahrung bei früheren Einsätzen wusste die Ärztin, dass Hilfsorganisationen noch weitere 2-3 Tage brauchen würden, bis alles rechtlich geklärt, organisiert, transportiert, verladen sein würde.
Sie hatte kurzentschlossen auf eigene Kosten in der Lörracher Krankenhausapotheke 100 Kanülen, 30 Infusionssysteme und 30 Beutel mit verschiedenen Infusionslösungen sowie zwei Liter Desinfektionslösung und allein für 800 € Breitbandantibiotika gekauft. Das schleppte sie alles in ihrem großen Rucksack auf dem Rücken, zusammen mit einer dicken Isomatte und einem Schlafsack, die an den Rucksack geschnallt waren. In dem kleineren schwarzen Handgepäck-Rucksack befanden sich vor allem ihre Toilettenartikel, einmal Jeans und T-Shirt zum Wechseln, Unterwäsche, Stethoskop, Blutdruckmanschette und der weiße Kittel, der sie zusammen mit dem Ärzteausweis vor Ort legitimieren sollte.
Sie hatte keine Ahnung, wo sie in Haiti hinwollte und was sie genau vor Ort erwartete, aber sie war überzeugt, dass dort jede helfende Hand gebraucht wurde. Die Deutsche zahlte ihre Reisekosten selbst. Aus ihrer Sicht würde es noch tagelang dauern, bis die Teams zusammengestellt waren, sowie das Briefing und die Formalitäten überstanden waren, wenn sie sich ganz regulär bei einer Organisation als Helferin anmeldete. Sie hasste solche Verzögerungen durch verschiedene organisatorische Probleme, fühlte sich eingeschränkt durch zig Vorschriften. Im Vergleich zu anderen Krisengebieten rechnete die Medizinerin in Haiti auch nicht mit einer persönlichen Bedrohung, dass sie den Schutz von Polizei oder Soldaten für ihre Arbeit in Anspruch nehmen zu müssen glaubte. Sie hoffte, dass der schnelle Einsatz die Verantwortlichen am Zoll etc. mehr interessierte als irgendwelche Formulare über ihren gültigen Pass hinaus.
Jasmin war die Dritte am Check in-Schalter, als er um 14 Uhr 37 öffnete. Dreimal hatte sie zu Hause ihr Gepäck umpacken müssen, bis der große Rucksack gerade 400 g unter dem Gewichtslimit von 30 kg lag. Schwere, für Handgepäck erlaubte Dinge hatte die Ärztin in den kleinen Rucksack gestopft, der jetzt stolze 11 kg wog. Sie tat sich immer noch schwer damit, dass sie Scheren, Messer, Flüssigkeiten wie ihre Infusionsbeutel nicht mehr direkt im Handgepäck mit sich führen durfte seit den verschärften Sicherheitsbestimmungen.
Als Anästhesistin kam Jasmin sich ohne ihr „Handwerkszeug“ aufgeschmissen vor. Wer wusste schon, wann und ob überhaupt sie nach der Landung an ihre teuren Mitbringsel kam? Vielleicht fand ihr Reisegepäck schon beim Entladen des Frachtraums Abnehmer, die damit Familie und Freunde versorgen wollten. Sie hoffte, dass der altgediente Trekking-Rucksack mit Isomatte und Schlafsack trotz des enormen Gewichts eher als Studentengepäck mit Büchern denn als wertvolle Ladung betrachtet würde.
„Guten Morgen! Fenster oder Gang?“
Flugerfahrung in der Economy Class ließ Jasmin auf eine evtl. schöne Sicht vor der Landung in Port-au-Prince bei einem Fensterplatz verzichten. Sie wählte einen Gangplatz, auf dem man nicht stundenlang stillsitzen musste, eingepfercht zwischen kühler Bordwand und einem Sitznachbarn, der manchmal durch Überbreite oder unbewusst im Schlaf auch noch einen Teil ihres Sitzes beanspruchte. Am Gang hatte sie weniger klaustrophobische Probleme, konnte ihre Beine strecken und auch mal ein paar Schritte gehen, ohne dass sie zuvor alle Mitreisenden ihrer Reihe stören musste.
Die Angestellte fragte freundlich: „Möchten Sie einen Platz am Notausstieg? Dort ist auch immer etwas mehr Raum.“
Jasmin lehnte lächelnd ab: „Danke, ich bin nicht abergläubisch, lieber etwas weiter vorne, wenn das geht.“ Der „freie“ Raum am Notausstieg war für alle die Ausweichstelle, die im Gang nicht aneinander vorbeikamen. Dort bekam man gar keine Ruhe zum Schlafen!
Mit ihrer Boarding Card und dem Reisepass in der Hand brachte sie den Zollschalter hinter sich. Sehr lange Schlangen bildeten sich beim Sicherheitscheck, wo aus für sie unerfindlichen Gründen nur zwei der fünf Abfertigungsplätze personell besetzt waren. Vorsorglich hatte sie auf Kleidung mit Metallanteilen verzichtet, trotzdem kam sie nicht unbeanstandet durch, sondern musste auch noch ihre Trekking-Schuhe ausziehen und auf das Durchleuchtungsband legen. Hinten konnte Jasmin gar nicht so schnell alles an sich nehmen und wieder anziehen: Kapuzenpullover, Windjacke, Bauchbeutel, Tagesrucksack und dann im Stehen ihre Wanderschuhe wieder anziehen, sodass um sie herum Gedränge durch die Nachkommenden entstand.
Jasmin war kräftig gebaut, kämpfte immer gegen das Übergewicht. In ihrer Jugend und noch im Studium hatte sie zig Sportarten betrieben, aber neben ihrem langen Arbeitstag und vielen Nachtdiensten blieb einfach nicht genügend Zeit für ein ernsthaftes Hobby. Mit Nordic Walking und Trimmrad fahren hielt sie ihr Gewicht um 70 kg. Ihre schwarzen Haare bekamen zwar zunehmend grau-weiße Strähnen, aber sie war nicht eitel. Färben kam für sie nicht in Frage. Der kurze Haarschnitt, welcehn sie bevorzugte, weil er praktischer unter der OP-Kappe unterzubringen war, ihre glatte Haut, ein lebhaftes Temperament und eine unglaubliche Energie ließen sie mindestens 5 Jahre jünger erscheinen als ihr biologisches Alter wirklich war.
Noch ca. 40 Minuten bis zum Boarding. Erschöpft sank Jasmin in einen der unbequemen Banksitze im Warteareal, etwas abseits, um ihre Ruhe zu haben. Sie hatte seit rund 32 Stunden nicht geschlafen, da ihr Aufbruch recht überstürzt war und sie gestern noch viel zu erledigen hatte für ihre Reise. Im Zug nach Frankfurt hatte sie gedöst, aber ständig kreisten ihre Gedanken darum, ob sie etwas Wichtiges zu Hause vergessen hatte. Erst jetzt entspannte sie ein wenig, da nun nichts mehr zu ändern oder zu regeln war.
Während weitere Passagiere in den Wartebereich strömten, einige vor den großen Fenstern bei untergehender Sonne dem Starten und Landen der eisernen Vögel auf den von hier einsehbaren Landebahnen zusahen oder durch die Duty-free-Shops zogen, nickte Jasmin Wagner ein. Sie verließ sich darauf, dass ihr Unterbewusstsein, trainiert durch jahrelange Sitzwachen und unzählige Nachtdienste, jede Änderung der Umgebungsgeräusche registrieren und sie prompt alarmieren würde. Als sich die Geräuschkulisse verschob, weil die Reisenden zum Boarding-Schalter strömten, schreckte sie hoch.
Die Deutsche sah eine Weile zu, wie die Mitreisenden anstanden, entdeckte bei einigen Fluggästen alkoholische Flaschen aus den zollfreien Läden und wunderte sich. Erst vor zwei oder drei Wochen hatte sie im Fernsehen einen Bericht gesehen, wie einfach man mit allein 200-500 ml hochprozentigen Alkohols eine kleine Explosion oder ein Feuer an Bord auslösen konnte, aber noch immer durften diese Flüssigkeiten mit in die Passagierkabine genommen werden.
Bei der langen Flugzeit wartete die 1,72 m große Ärztin möglichst lange, bis sie selbst an Bord der 747 ging. Die Gepäckfächer in ihrer Umgebung waren dann auch prompt bereits vollgestopft mit Taschen, Aktenkoffern und Jacken. Eine Stewardess nahm ihren gerade noch in den erlaubten Maßen liegenden Handgepäck-Rucksack mit nach vorne, wo sich neben der Küchenkabine Stauraum für weiteres Gepäck befand.
Normalerweise hatte Jasmin ihre Tasche gerne bei sich, um zu lesen, Rätsel oder Sudokus zu lösen, aber dieses Mal wollte sie noch möglichst viel schlafen vor den bevorstehenden Strapazen und behielt nur den Bauchgurt mit Papieren, Geld und Kamera bei sich. Überrascht stellte sie fest, dass die Maschine ausgebucht war, obwohl vor knapp 20 Stunden noch viele Plätze buchbar gewesen waren. Lauter Kurzentschlossene! Der weitaus größte Anteil der Flugpassagiere waren Männer im Alter zwischen 25 und 45 Jahren. Dr. Jasmin Wagner überlegte, ob es sich nur um Journalisten, Reporter und Kameraleute handelte oder ob auch schon Mitglieder von Hilfsorganisationen an Bord waren, was nur rund 40 Stunden nach dem Erdbeben extrem schnell gewesen wäre.
Noch während der Vorführungen zu den Notfallmaßnahmen und dem Ablegen von dem langen Flugsteig schloss Jasmin die Augen und versuchte ihre Umgebung auszublenden. Im Halbschlaf spürte sie den Start, hörte die Stewardessen später mit den üblichen Angeboten mehrmals an den Reihen vorbeigehen, aber Jasmins Körper nutzte die Entspannung, um Kraft zu tanken.
Jasmin richtete sich auf, als das Geklapper mit dem Essenswagen die Ausgabe der Abendmahlzeit begleitete. Sie hatte kein Mittagessen gehabt und war jetzt richtig hungrig. Wie oft passierte es ihr, dass es keine Menüwahl mehr gab, bis die Stewardessen bei Jasmin ankamen, dann verzichtete sie meist lieber, denn sie hasste Fisch. Heute hatte sie Glück und wählte Reis mit Putengeschnetzeltem, erfreulicherweise noch gut warm und lecker. Satt war Jasmin auch nach Dessert und zwei zusätzlichen Brötchen nicht, aber ihre Lebensgeister kehrten zurück.
Nun erst warf sie ein paar neugierige Blicke auf die Sitznachbarn: rechts vom Gang saßen drei junge Männer, die offensichtlich als Fernsehteam unterwegs waren und bereits Pläne machten, wo sie überall drehen wollten. Links neben ihr saß ein Mittvierziger, der nach der Mahlzeit die Ohrstöpsel seines MP3-Players in die Ohren stopfte und die Augen schloss. Leise hörte Jasmin klassische Musik herüber klingen, ein nicht so bekanntes Stück, aber sie hatte mit der Geige im Orchester Scriabins 1. Sinfonie gespielt und erkannte die fetzigen Melodien sofort wieder, allerdings war es ihr schleierhaft, wie man bei so mitreißenden Klängen schlafen konnte.
Jasmin orientierte sich am nächstgelegenen Monitor, wie lang die voraussichtliche verbliebene Flugzeit war: noch mehr als 20 Stunden – inklusive Zwischenlandung, aber da sie nicht umsteigen musste, würde sie auf ihrem Platz sitzenbleiben. Jasmin Wagner versuchte, eine bequeme Position einzunehmen, war froh, dass sie immer wieder ihre Beine mal in den Gang strecken konnte. Sie zog ihre Kapuze vom Fleecepulli runter bis über die Augen, da sie den Spielfilm an den Monitoren mit Jim Carrey bereits kannte und im Moment nicht in der Stimmung für Klamauk war.
Was erwartete sie alle wohl in Haiti? Es war nicht ihr erster Einsatz in einem Katastrophengebiet und sie hoffte, dass es weniger lebensbedrohlich für die Helfer war als bei Einsätzen in Kriegsgebieten, aber das menschliche Leid bei einem solchen Unglück, bei dem Hunderttausende betroffen waren, hatte allein zahlenmäßig andere Dimensionen.
Jasmin hatte noch keinen Plan, was sie genau auf Haiti tun wollte. Ob sie sich in Port-au-Prince beim von „Ärzte ohne Grenzen“ betriebenen Krankenhaus melden sollte und dort als Fachanästhesistin Narkosen bei den OPs leiten würde? Intensivmedizinische Betreuung ergänzen würde und sich einem bestehenden Team anschließen sollte? Oder ob sie mit einem Notfallrucksack mit Bergungstruppen in der zerstörten Stadt Erstversorgung von Überlebenden auf Trümmern und auf der Straße leisten sollte? Es gab unzählige Möglichkeiten!
Dr. Jasmin Wagner arbeitete gerne selbstverantwortlich und erwog auch, irgendwie weiter nach Südwesten in die Orte, die dichter am Epizentrum lagen, zu trampen, um dort zu helfen, wo organisierte Hilfe wahrscheinlich noch tagelang nicht ankam. Sie würde spontan entscheiden nach den lokalen Gegebenheiten.
Jasmin holte die dünne Decke hervor, die in einer Plastikhülle eingeschweißt unter dem Sitz lag, und wickelte sich ein. Sie atmete bewusst tief ein und aus und dämmerte bald ein, blendete das Gerenne im Gang aus und setzte sich erst wieder auf, als sie nach mehreren Stunden zur Zwischenlandung ansetzten. Wechsel zwischen Schlafzeiten und Wachphasen mit Essen und einigen Szenen aus anderen Filmen, die an Bord gezeigt wurden, verkürzten die lange Flugzeit.
Trotz prophylaktischer Heparinspritze zur Blutverdünnung sorgte sich die Anästhesistin wegen einer möglichen Beinvenenthrombose oder Lungenembolie. Die vielfältigen Gesundheitsrisiken bei solchen langen Flugreisen wurden allgemein unterschätzt. Als sie ihren Strahlenschutzkurs für die Intensivstation absolvierte, hatten sie mit dem Dozenten die Strahlendosen für verschiedene Flugdistanzen berechnet. Es war erschütternd, welche Strahlendosis man auf einem Langstreckenflug abbekam! Unwissen der besorgten Patienten, die bei jedem Röntgenbild zeterten, das wäre krebserregend!
Der Flieger war nach dem ca. einstündigen Aufenthalt noch immer voll besetzt. Es fiel Jasmin auch kein Passagierwechsel auf. Das Mittagessen war leider wie so oft nur noch ganz lauwarm, sie ließ die Hälfte stehen und schlief erneut, bis rund 3 Stunden später ein Snack gereicht wurde. Sie nahm sich mehrere der abgepackten Kuchenstücke – wer wusste schon, wann sie wieder etwas zu essen bekämen – steckte eine Dose Cola in die Vordertasche ihrer Jacke und trank viel Wasser, um sich auf den zu erwartenden Flüssigkeitsverlust vorzubereiten.
Sie hatte Vorstellungen von hübschen farbigen Frauen mit Blumenkränzen, die die Touristen mit „Aloha“ begrüßten. Oder war das vielleicht Hawaii? Gestern hatte die Ärztin rasch eine halbe Stunde im Web Informationen zu Haiti gegoogelt: Haiti, eine mittelamerikanische Republik, die das westliche Drittel der bereits von Kolumbus 1492 entdeckten Antilleninsel Hispaniola bedeckte, während die anderen zwei Drittel zur Dominikanischen Republik gehörten. Knapp 100 km bis Kuba, ca. 180 km nach Jamaika, ungefähr 7700 km entfernt von Frankfurt. Beliebter Stopp bei Karibik-Kreuzfahrten. Ende des 17. Jahrhunderts unter französische Herrschaft gekommen, rund 100 Jahre später unabhängig, mal vereint, mal getrennt mit dem spanischen Teil der Insel, 1915-34 unter dem Protektorat der USA, seit 1964 als Republik Haiti selbständig …
Viel mehr als die geschichtlichen Daten hatte sie sich für das Leben auf Haiti interessiert. Da angeblich drei Viertel der Haitianer von der Landwirtschaft lebten, war zu hoffen, dass das Land sich rasch wieder selbst versorgen konnte. Bei einer Analphabeten- und Arbeitslosenquote von rund 50% lebten ein bis zwei Drittel der haitianischen Bevölkerung schon vor dem Erdbeben am Existenzminimum. Unterernährung, AIDS und Seuchen rafften viele Menschen hinweg. Junge Haitianer verließen die Insel zu Hunderttausenden. Ohne deren Geldsendungen an die Familien und den Tourismus wäre Haiti finanziell ruiniert, wo sollte da Geld für den Wiederaufbau herkommen? Der Export von Textilien als weitere Wirtschaftsstütze würde wahrscheinlich auch einige Zeit brauchen, bis die Produktion wieder lief.
Durch das Fenster erhaschte sie einen Blick auf das weite Meer, das in der untergehenden Sonne wie eine glitzernde Folie da lag. Trotz so vieler Flüge bereitete das Fliegen über dem Wasser ihr noch immer leichtes Unbehagen, wider alle Ratio, denn bei einem Absturz hatte man bei Wasser vielleicht eher eine Chance eine Notlandung zu überleben als irgendwo im Gebirge, trotzdem gab es ihr ein Gefühl der Sicherheit, wenn sie über Land flogen.
„Harald Wehnert, Journalist für GEO“, sprach sie der linke Sitznachbar an. „Für wen werden Sie auf Haiti tätig werden?“
Jasmin antwortete ganz allgemein: „Ich bin Ärztin.“
„Mit welcher Organisation arbeiten sie zusammen?“
Die Ärztin fand diese Fragerei lästig. „Ich bin allein unterwegs.“
Harald Wehnert musterte sie überrascht. „Waren Sie schon mal auf Haiti? Kennen Sie sich dort aus?“
„Nein.“
„Wo werden Sie arbeiten?“
„Das weiß ich noch nicht.“ Pause. Jasmin drehte den Kopf nach rechts, um das unangenehme Gespräch zu beenden.
Laut Anzeige noch gut 2 Stunden Flug, also beschloss sie noch etwas zu dösen, fing Gesprächsfetzen um sich auf: die anderen hatten Aufträge zu erfüllen, sie selbst wusste nicht einmal, wo sie die erste Nacht verbringen sollte.
Suchtrupp
Ein Rettungsteam bestehend aus vier Männern und zwei Hunden begann am späteren Vormittag des 14.1.2010 mit der Suche von Verschütteten in den Trümmern der Stadt Léogâne. Die Retter trugen weite dunkelblaue Overalls ohne Abzeichen, dazu schwarze, unifarbene Baseball-Mützen, schwere, schwarze Militärstiefel. Die Gesichter dieser Männer verschwanden größtenteils hinter einfachen Gesichtsmasken aus Papier, die mit zwei Gummischlaufen um die Ohren befestigt waren. Jeder trug einen großen, orangefarbenen Rucksack auf dem Rücken, die ihnen den Nimbus von Rettern verliehen und ihnen ohne Widerspruch Zugang zu den eingestürzten Gebäuden verschafften.
Zwei von ihnen wurden von offensichtlich ausgebildeten Suchhunden begleitet, einem kleinen weißen Terrier mit einigen orange-braunen Fellflecken und einem schwarz-weißen Border Collie mit einem weißen Kopf und schwarzen Ringen um die Augen und einem schwarzen Ohr, wodurch er lustig aussah und an einen Pierrot erinnerte.
Ein Hundeführer rechts, einer links schickten sie ihre Rettungshunde auf die Trümmerberge, trieben sie immer wieder an. Der größere der beiden Hundeführer rief seinem noch weniger erfahrenen Terrier-Mix seine Aufforderung:„Such Mensch! Such Mensch!“ zu und zeigte mit ausgestrecktem Arm, wo seine Hündin suchen sollte, während die Border Collie-Hündin „Wonder“ weitgehend selbständig die zerstörten Gebäude absuchte und sich mit ruhigem Bellen meldete, wenn sie einen menschlichen Körper aufgespürt hatte.
Die Männer des ausländischen Rettungsteams blieben in der Regel am Fuße der Stein-Holz-Haufen stehen, suchten nach Hohlräumen, leuchteten mit großen Taschenlampen in Zwischenräume. Selbst für die Hunde war die Arbeit auf den unebenen Trümmern mühsam. Die Tiere waren gut ausgebildet und achteten darauf, nicht auf loses Geröll oder wippende Holzplanken zu treten, aber für die Pfoten der Tiere waren spitze Steine, Scherben und Metallstücke gefährlich. Eine kleine Verletzung am Fußballen oder in den weicheren Teilen zwischen den Zehen würde den Ausfall des Suchhundes bedeuten.
Wonder war inzwischen 8 Jahre alt und hatte schon verschiedenste Einsätze nach Lawinen oder Erdrutschen hinter sich. Sie suchte systematischer und mit ihrer trainierten Nase viel schneller als die fünfjährige „Trixie“, die erst ihren zweiten Ernstfall erlebte und durch die vielen Menschen, die ebenfalls in den Trümmern rumkletterten, den Lärm und die unterschiedlichen Gerüche sich leichter ablenken ließ. Ihr Herrchen blieb in ihrer Nähe, rief sie zu sich, um ihr nochmals ein Suchgebiet zuzuweisen, das sie vergessen zu haben schien, lobte sie mit Worten und Klopfen ihrer Flanken.
Der Hundeführer selbst war schon knapp 50 Jahre alt, dies war bereits sein dritter Suchhund, so glich seine Ruhe und Erfahrung die Schwächen der jungen Hündin z.T. aus. Er hatte einen guten Blick dafür, wo sich in den übereinander liegenden Stein-Metall-Holz-Bergen Hohlräume befinden konnten, wo Menschen eine kleine Überlebenschance hatten.
Wonder hatte bereits drei Verschüttete aufgespürt: einen ca. fünfjährigen Knaben, der kaum verletzt von den Einheimischen ausgegraben werden konnte, sowie eine junge Mutter mit einem ungefähr zweijährigen Kind, das nur noch tot geborgen werden konnte. Einer der blau Gekleideten untersuchte die junge, regungslose Frau. Sie schien keine Frakturen aufzuweisen, aber der Schock des Verschüttet seins und/oder über den Tod ihres Kindes hatte sie in einen nahezu katatonen Zustand versetzt, sie bräuchte psychische Hilfe, aber dazu war jetzt keine Zeit, wenn man noch ein paar Überlebende aus den Trümmern retten wollte.
Suchhündin Wonder suchte eifrig Gebäude um Gebäude, Trümmerberg um Trümmerberg, Straße für Straße ab. Ein so riesiges Gebiet konnte man eigentlich nicht mit zwei Hunden absuchen, schon gar nicht gründlich wie im Kurs vermittelt, aber die Border Collie-Hündin suchte Schächte und Zwischenräume, schnüffelte nach menschlichem Geruch und gab Laut, wenn sie was roch. Sie fing weder an zu graben, noch versuchte sie sich in Hohlräume zu zwängen. Wonder hatte ihre Aufgabe perfekt begriffen und überließ den Helfern die Buddelarbeit, während sie schon weitersuchte.
Die deutschen Männer ohne Hunde begutachteten die Geretteten kurz, dann suchten sie zügig weiter um die Schuttberge herum nach Anzeichen für Verschüttete. Die Zeit drängte, da die Opfer inzwischen seit ca. 40 Stunden irgendwo abgeschottet von Essen und Trinken oder gar verletzt eingeklemmt harrten. 2-3 Tage ohne Flüssigkeit waren in der Regel die Grenze, wie lange Menschen ohne Nahrungsaufnahme überlebten. In 1-2 Tagen war nicht mehr damit zu rechnen, Opfer lebend zu bergen.
Die Bewohner, die überlebt hatten, konnte man in zwei Gruppen unterteilen: die, die noch unter Schock standen und apathisch zwischen ihren kaputten Hütten und Häusern auf dem Boden hockten, und die, die wild entschlossen waren, nach vermissten Angehörigen, Freunden und Nachbarn zu suchen und beim Rumklettern in den ungesicherten Ruinen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten. Die Mauerreste eingestürzter Gebäude konnten durch Erschütterungen nachgeben, Steine ins Rutschen kommen und nur zum Teil eingebrochene Dächer zusammenfallen.
Die Helfer riskierten nicht nur ihr Leben, sondern auch das anderer Helfer und eventuell Verschütteter, die durch weitere Gerölllawinen erdrückt würden. Mit Metallstangen klopfte man rhythmisch gegen vibrierende Teile und lauschte auf Antwort. In den ersten 24 Stunden nach dem Erdbeben hatte man noch viele, oft nur zum Teil mit Trümmern bedeckte Bewohner gerettet, aber die Quote der Lebendrettungen sank immer weiter.
Plötzlich hörte man aufgeregtes Gekläff. Fremde und einheimische Helfer eilten zu einem hohen Steinhaufen in und vor einem ehemals dreistöckigen Gebäude. Der Terrier stand schwanzwedelnd im hinteren Bereich in ca. zwei Drittel Höhe des Trümmerberges und bellte noch immer freudig. Sein Herrchen suchte nach einem sicheren Weg zur Fundstelle, als bereits einige junge Männer quer über die Steine kraxelten und begannen, die weiter oben liegenden Hindernisse hinter sich zu werfen.
„Trixie, komm!“, rief der Rettungshundeführer von der rechten Seite. „Arrêtez! Danger! Non!“, versuchte er, die Haitianer zu bremsen, die keinen Blick für die Statik der Ruine hatten. Man hörte gedämpftes Schreien und wollte rasch helfen, dabei vernachlässigten die Laienhelfer die Eigensicherung, die professionellen Rettern mühsam antrainiert wird.
„Non! Laissez-les! Attention les murs!“, warnte die ausländische Stimme. Vergeblich! Trixies Besitzer schnappte seine Hündin und trug sie eilends auf den Armen nach rechts zur Seite, tätschelte sie lobend und sah verzweifelt zu, wie die Einheimischen einen seitlichen Zugang in den Haufen hinein zu legen versuchten.
Statt vorsichtig Stein für Stein zu entfernen und überlegt irgendwo abzulegen, wurden die Trümmer wahllos hinter den Schuttberg geworfen, da vorne an der Straße immer mehr Menschen sich versammelten und der Bergungsaktion zusahen. Fassungslos musste Trixies Herrchen mit ansehen, wie die Erschütterungen oder ein unglücklich geflogener Steinbrocken die hintere restliche Wand zum Einsturz brachten und wie beim Dominoeffekt innerhalb von Sekunden die rechte Stützmauer nach außen kippte, wodurch mit einem lauten Schlag die erhalten gebliebenen Decken- und Dachreste herunter krachten und die Helfer unter sich begruben.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Staubwolke die Sicht auf den nun fast doppelt so hohen Trümmerberg wieder freigab. Entsetzen bei den Umstehenden. Keiner glaubte, dass irgendjemand diesen Einsturz überlebt hatte, trotzdem begannen Einzelne, die Trümmer zu erklimmen, suchten nach den Körpern der Verunglückten.
Trixie versuchte vergeblich, aus den Armen des Besitzers frei zu kommen. Sie sah es offensichtlich als ihre Aufgabe an, mitzusuchen. Am liebsten hätte der Hundeführer sie nur an sich gedrückt, froh, dass sie beide dem Einsturz entgangen waren, aber die Hündin entwand sich dem Griff und machte sich eifrig an ihre Arbeit. Wahrscheinlich hätte sie auf einen scharfen Befehl gehorcht und wäre zurückgekommen, aber der Hundeführer riss sich zusammen. Das Gebäude war zerstört, von da drohte keine Gefahr mehr und vielleicht half Trixie beim Auffinden der unglücklichen Retter.
Vorsichtig stieg er selbst von vorne, wo das Geröll größtenteils schon tagelang gelegen hatte und hoffentlich stabiler war, ein Stück die Schutthalde hinauf, war noch nicht weit gekommen als das Gebell seines Hundes einen Fund meldete. Als die einheimischen Helfer begannen, den Verschütteten freizulegen, schickte der Rettungshundeführer seine Terrier-Hündin wieder auf die Suche. Von den rund zwölf unter dem zweiten Einsturz Begrabenen spürte Trixie fünf auf, die von anderen Helfern zur Straße hinab transportiert wurden, wo inzwischen ein zweiter Helfer im Blaumann die leblosen Körper untersuchte. Ein Mann war schwerverletzt, aber das Herz schlug noch, obwohl er wahrscheinlich nicht nur zahlreiche Knochenbrüche, sondern auch innere Blutungen hatte. Der Geborgene hatte kaum eine Überlebenschance, trotzdem bauten der Untersuchende und Trixies Hundeführer eine leichte Trage aus dem Gestänge an ihren Rucksäcken zusammen und trugen den Verletzten weg.
Die Bewohner von Léogâne suchten noch bis zum Einbruch der Dunkelheit nach den Leichen, aber ohne schweres Gerät blieben sowohl die rufende Person, die mittags gerettet werden sollte, wie auch mindestens fünf der Hilfe leisten Wollenden unten der tonnenschweren Last begraben.
Wonder hatte elfmal angeschlagen, eine Superleistung, denn es stellt für die Hunde Schwerstarbeit dar, physisch und psychisch unter diesen Umständen so viele Stunden zu arbeiten. Jede Stunde bekam die Hündin aus einer Trinkflasche frisches Wasser und eine Handvoll spezielles Trockenfutter mit raschen Energielieferanten. Vier Tote wurden bei der Suche aufgestöbert, aber die sieben Überlebenden, zum Teil in einem erfreulich guten Zustand, waren die eigentlichen Erfolge für den Besitzer des Border Collies.
Der andere Kollege im Overall war Arzt und untersuchte die Gefundenen, gab Anweisungen und trug einige der Verwundeten mit rekrutierten Einheimischen zum Stadtrand, wo ein umgebauter ehemaliger Militärhubschrauber auf das Suchteam wartete. Vier Schwerverletzte wurden so gut es ging versorgt, dann im Helikopter abtransportiert mit zwei der Retter zur medizinischen Betreuung. Die beiden Hundeführer suchten sich in der Nähe des Landeplatzes ein Nachtlager im Freien, wo sie in Schlafsäcken neben ihre treuen Begleiter ausgestreckt schliefen und darauf warteten, am nächsten Morgen zu einem weiteren Einsatz in einem anderen Ort vom Hubschrauber abgeholt zu werden.
Flughafen Toussaint Louverture
Das Geräusch der Fasten Seatbelt-Zeichen wegen des beginnenden Landeanflugs ließ die Passagiere hochschrecken. Es war inzwischen dunkel draußen. An Bord herrschte eine auffällige Stille. Es war insgesamt ein ruhiger Flug gewesen, keine Turbulenzen und in der Kabine kein Lärm. Es waren keine Familien mit Kindern an Bord. Viele der Reisenden hatten lange Phasen des Flugs verschlafen, doch jetzt war die Anspannung deutlich zu spüren. Die meisten machten sich wohl Gedanken, was auf sie im Unglücksgebiet zukam.
Problemlose Landung, nur wenig Applaus, alle blieben noch ruhig auf den Sitzen, bis die Maschine endgültig zum Stillstand kam. Kein Gehetze und Gedränge beim Ausstieg, sondern zügiges, geordnetes Verlassen des Flugzeugs über die herangefahrene Gangway. Auch bei der spärlichen Beleuchtung erkannte man, dass die meisten Flughafengebäude des Aéroport international Toussaint Louverture vom Erdbeben nicht verschont geblieben waren, vor allem der hohe Tower war schwer beschädigt.
Bei der Landung war es laut Monitoranzeige 20 Uhr 42 Ortszeit. Jasmin hatte ihre kleine Uhr, die innen am Bauchbeutel befestigt war, umgestellt. Trotz des faulen Tages war sie müde und sehnte sich eigentlich nur nach einem Bett.
Die Reisenden standen bis auf wenige, die offensichtlich nur mit Handgepäck gereist waren und schon mit Auto oder Jeep abgeholt wurden, auf dem Rollfeld rum, warteten, dass nun das Gepäck direkt aus dem Frachtraum runter geworfen wurde auf einen flachen Hänger, der dann von einem kleinen Jeep gezogen zu den Passagieren gebracht wurde. Während die Koffer und Rucksäcke vom Hänger an die Besitzer verteilt wurden, beluden weiter hinten Angestellte den nächsten Gepäckwagen. Der Vorteil dieser direkten Gepäckausgabe war zweifellos, dass Gepäck nicht ohne weiteres irgendwo verschwinden konnte. Da Jasmin so früh eingecheckt hatte, war ihr Rucksack bei den letzten Gepäckstücken. Hoffentlich hatten die Infusionsbeutel die mechanische Belastung im Frachtraum und beim Entladen heil überstanden!
Das Rollfeld leerte sich erstaunlich schnell. Jasmin hielt vergeblich Ausschau nach einem Shuttle-Bus in die Hauptstadt, schließlich mussten ja alle irgendwie weiterkommen. Die Deutsche erkundigte sich bei zwei Stewardessen, die die Gepäckabwicklung beaufsichtigten, nach einer Transfermöglichkeit oder einem Flughafenhotel, vergeblich. Das Flugpersonal war in einem Hotel im zum Teil erhaltenen Seitenflügel des Flughafens untergebracht, aber für die Passagiere gab es hier keine Übernachtungsmöglichkeit. Schwer beladen mit ihren beiden Rucksäcken ging Jasmin um das Flughafengebäude, dessen Zugang gesperrt war, durch zwei Tore, vorbei an drei Wächtern mit Maschinenpistolen, zum Ausgang. Die Menschen zerstreuten sich, fast alle wurden abgeholt, sie hatten offensichtlich ihre Ankunft besser vorbereitet als Jasmin die ihre. Sie bat zweimal vergeblich, ob man sie mitnehmen könnte, aber die Autos waren bereits besetzt.
Hier gab es nicht mal Schutz, wo sie die Nacht auf ihrer Matte hätte verbringen können, Jasmin fühlte Frust und Ärger aufsteigen. Frust, dass nach der langen Anreise ihre Weiterreise schon am Flughafen behindert wurde. Ärger auf sich, dass sie diese Probleme nicht vorausgesehen hatte. Unentschlossen blieb sie in Sichtweite der Wächter stehen, vielleicht würden sie ja mal abgelöst und es ergäbe sich eine Mitfahrgelegenheit. Schließlich setzte sie sich an einen oben abgebrochenen Fahnenmasten gelehnt auf ihre Isomatte, legte den Kopf auf die Knie und versuchte sich einzureden, dass sie hier so weit außerhalb wahrscheinlich sicherer war, als wenn sie jetzt in der Innenstadt ohne Ziel herumirren würde. So hatte sie sich das nicht vorgestellt! Sie wollte mit dem Shuttle in die City, dort zu einem Krankenhaus, hatte erwartet mit offenen Händen empfangen zu werden, alle glücklich über Infusionen und Antibiotika. Man würde ihr ein Feldbett oder ein Zelt für ihre Matte zeigen und sie fragen, wo sie denn arbeiten möchte. Stattdessen war sie schon bei der Ankunft das erste Mal auf sich allein gestellt.
Nach einer Weile wurde es ihr am Mast zu unbequem, sie suchte sich eine heil gebliebene Außenmauer des Flughafengebäudes, schnallte den Schlafsack ab, streckte sich darauf entlang der Steinmauer aus und legte den Rucksack wie einen Wall auf ihre andere Seite. Eine Weile lauschte sie auf jedes Geräusch, aber dann war sie wohl eingeschlafen und wurde erst wieder munter als sie Motorengeräusch hörte. Die Ärztin schnappte ihre Sachen und eilte um die Mauerecke zu den Wächtern, die gerade in einen kleinen Jeep stiegen, während ihre Kollegen den Dienst antraten.
Aufgescheucht durch die Geräusche, die Jasmin mit dem auf dem Boden schleifenden Schlafsack erzeugte, zielten die Soldaten mit den Waffen auf die sich nähernde Person. Jasmin blieb prompt stehen, stellte den nur rasch in die rechte Hand genommenen kleinen Rucksack neben sich auf den Boden und ließ Matte und Schlafsack links niedersinken, erhob die freien Hände auf Kopfhöhe und rief „Pas de danger! Pas de danger!“
Einer der abgelösten Soldaten stieg aus und kam zu ihr rüber. Er erinnerte sich an die Frau, die abends auf der Suche nach einem Bus gewesen war. „Que voulez-vous?“, fragte er knapp.
Die Deutsche kam sich lächerlich vor mit den erhobenen Händen als ob sie ein ertappter Verbrecher wäre, nahm sie langsam runter und faltete sie vor dem Bauch. Sie erklärte, dass sie als deutsche Ärztin gekommen war, um zu helfen, aber keine Möglichkeit gefunden hatte, zum Krankenhaus nach Port-au-Prince zu gelangen. Sie bat, dass man sie mitnähme. Der junge Mann rief etwas rüber zum Wagen, kurze Diskussion hin und her, dann machte er ihr ein Zeichen, zum Auto zu gehen. Er folgte ihr mit ein paar Schritten Abstand. Jasmin musste ihr Zeug allein schleppen, aber er stemmte die Rucksäcke hinten auf die kleine Ladefläche, ließ sie auf den Mittelplatz und setzte sich an die Tür. Dr. Wagner wäre am liebsten wieder ausgestiegen. Sie hasste diese Enge und eingezwängt zwischen zwei Militärangehörige zu sein, erschien ihr eher bedrohlich als beruhigend, doch wie sollte sie sonst an ihr Ziel kommen?
Der Jeep startete, Jasmin versuchte trotz der Ruckelei auf unebener Straße möglichst wenig Körperkontakt zu ihren Nachbarn zu haben. Sie erinnerte sich an psychologisches Briefing für Einsätze in Krisengebiet, wo man mit Entführung und Vergewaltigung rechnen musste. „Bau eine persönliche Verbindung auf, lenke sie ab, gib ihnen keine Zeit auf dumme Gedanken zu kommen …“. Jasmin betonte, wie froh sie war, dass man sie in die Stadt bringe, dass sie als Notärztin den Schwerverletzten helfen wollte, dass sie als Anästhesistin bei schwierigen OPs gebraucht würde, dass Intensivmedizin Spezialisten brauchte, dass sie schon öfter mit „Ärzte ohne Grenzen“ in Krisengebieten war. Wie sollte sie eine Beziehung aufbauen, wenn sie doch fürchtete mit jeder Frage über die Situation in der Stadt oder die Familien Wunden bei den Männern aufzureißen? Sie prüfte jeden Satz, ob er unverfänglich war, versuchte insbesondere den Beifahrer ins Gespräch zu ziehen, wo denn seiner Meinung nach am dringendsten Hilfe benötigt wurde, was ausländische Helfer tun sollten, welche Hilfsgüter am wichtigsten seien …
Plötzlich bog der Wagen unerwartet von der Straße nach links ab auf einen steinigen Feldweg. Jasmins Gedanken arbeiteten auf Hochtouren, was könnte sie tun, sobald der Wagen stehen blieb. Der Fahrer wandte sich ihr kurz zu: „…cassé …“. „Kaputt“ schnappte Jasmin nur auf. Wollte er ihr sagen, dass die Straße kaputt war und sie deswegen einen Umweg machten? Sie war viel zu angespannt, um noch ein Gespräch am Laufen zu halten.
Auf der Uhr im Armaturenbrett sah sie, dass es morgens kurz nach ½ 5 war. Es wurde schon etwas heller. Sie entdeckte viele Fahrzeugspuren auf dem Nebenweg, was dafürsprach, dass die beiden sie nicht an einen einsamen Fleck entführen wollten. Langsam sank ihr Adrenalinspiegel wieder etwas ab, sie spürte Hunger und vor allem Durst, dachte sehnsüchtig an ihre Dose Cola in der Jacke, aber wollte sie nicht vor ihren Nebenmännern rausholen und trinken, sondern begnügte sich mit dem Gedanken, dass sie in der Stadt angekommen zuerst den quälenden Durst löschen wollte.
Ankunft in Port-au-Prince
Trotz der kurzen Distanz von rund 30 km zog sich die Fahrt endlos hin. Die Haitianer waren stumm, wahrscheinlich müde von ihrem nächtlichen Dienst, aber sie schienen, nicht gefährlich zu sein. Jasmin war heilfroh, als sie sich der Stadtgrenze von Port-au-Prince näherten.
Haitis Hauptstadt zählte laut Wikipedia ca. zwei Millionen Einwohner, wobei man allerdings in den zahlreichen Slums nie genau wusste, wie viele Menschen dort lebten. Es war gespenstisch, im Licht der aufgehenden Sonne an den Ruinen und Schuttbergen vorbeizufahren. Der Jeep musste sich hier den Weg im Schritttempo über die kaum erkennbare Straße suchen, um Steinhaufen zirkeln, hupend Überlebende aus dem Weg treiben, um von dem größtenteils zerstörten Außenbereich ins Zentrum vorzudringen. Jasmins Augen konnten gar nicht so rasch die vielfältigen Eindrücke ans Gehirn melden. Natürlich erinnerte vieles an die zerstörten Häuser und Hotels an 2006 nach dem Tsunami, aber hier schienen die eingestürzten Gebäude kein Ende zu nehmen. Vereinzelt sah sie ein Haus oder eine Hütte, die zumindest teilweise erhalten geblieben waren und unheimlichwirkten, wie sie zwischen den Steinbergen herausragten. Jasmin kannte ähnliche Bilder von den bombenzerstörten Städten nach dem 2. Weltkrieg, aber auf den Schwarz-Weiß-Fotos oder Wochenschau-Filmen hatte man nicht in Bunt all die Möbel, Kleidung, Decken und persönlichen Sachen aus den Trümmern herausstechen sehen.
Autos waren zerbeult oder verschüttet. Strom, Gas, Wasser waren abgeschaltet. Am Straßenrand, wenn man ihn noch als solchen bezeichnen konnte, hockten überall Menschen. Unzählige, kaum bekleidete Kinder sahen mit großen Augen auf, wenn sich der Wagen näherte. Stapel von „Lumpen“, die sie erst nach mehrerer solcher Anhäufungen als Leichenhaufen erkannte, entlang des Wegs.
Je weiter sie stadteinwärts gelangten, umso langsamer kam der Wagen voran, kam immer wieder zum Stillstand, bis sich das Straßengewühl teilte und einen schmalen Gang freigab. Schließlich hielt der Fahrer an einem kleinen Platz an, stellte den Motor ab und stieg nun selbst aus. Unsicher, was sie tun sollte, schaute Jasmin den Beifahrer an, der daraufhin ebenfalls ausstieg, ihr die Hand bot, um sie beim Aussteigen zu unterstützen und dann ihr Gepäck annahm, das der Ältere von der Ladefläche herunterreichte.
Jasmin breitete als erstes ihre Matte auf dem Boden aus, legte den eingestaubten Schlafsack darauf und rollte beides miteinander zusammen, befestigte ihre Schlafstatt unten an ihrem Trekking-Rucksack und schlüpfte in die Trageriemen, als der junge Soldat ihn ihr hochhielt. Beinah wäre sie rücklings gestürzt, als die 30 kg plötzlich ihren Körperschwerpunkt verlagerten, nachdem der Soldat losgelassen hatte. Er griff rasch nach ihrer Hand und bewahrte sie vor einem Sturz.
„Merci bien“, dankte Jasmin umgehend. Jetzt in der Morgensonne konnte sie gar nicht mehr verstehen, dass sie vor den beiden hilfsbereiten Soldaten eine derartige Angst gehabt hatte. Erleichtert, dass sie endlich am erhofften Ziel war, schnallte sie sich den schwarzen Rucksack mit ihren persönlichen Sachen vorne um und verabschiedete sich mit aneinander gelegten Händen und einer leichten Kopfbeugung, einer Abschiedsgeste aus Asien, die aber erfahrungsgemäß weltweit verstanden wurde.
Der Fahrer zeigte mit ausgestrecktem Arm nach links und stieg wie sein Untergebener wieder ein. Sie bogen nach rechts ab. Mit den 11 kg des kleinen Rucksacks vor dem Bauch war es etwas leichter, das Gleichgewicht wieder zu finden. Jasmin machte die ersten Schritte in die angegebene Richtung.
Straßenambulanz in Port-au-Prince
Die Ärztin war derart mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie sich ein Menschenauflauf um sie angesammelt hatte. Natürlich fiel sie hier als Weiße gleich auf, noch dazu mit ihrem Gepäck. Als der Wagen sich entfernte, schloss sich der dunkle Kreis dicht um sie. Alle Augen schienen auf sie gerichtet zu sein: argwöhnische, neugierige, hungrige, traurige, ablehnende, fragende, wartende Augenpaare. Erneut hob Jasmin ihre Hände neben den Kopf, nutzte das Symbol der offenen Handflächen, um ihr friedfertiges Kommen zu signalisieren. Hatten die Erwachsenen noch ca. einen Meter Abstand zu ihr gelassen, war das Innere des Kreises nun mit vielen kleinen Kindern ausgefüllt.
Wieder arbeitete Jasmins Gehirn fieberhaft. Zwar waren diese Menschen sicher nicht böse, aber vielleicht verzweifelt genug, um ihr die Rucksäcke abzunehmen, in der Hoffnung irgendwas Brauchbares zu finden. Sie versuchte, einen Schritt in die angegebene Richtung zu machen, aber die Menschen wichen nicht zur Seite, sondern bildeten eine bunte, stumme Wand. „Verschaff dir Respekt! Biete ihnen deine Hilfe an! Verbünde dich mit ihnen gegen das Unglück!“, ermunterte Jasmin sich selbst. Durch den Rucksack vor ihrem Bauch hatte sie ein stark eingeschränktes Gesichtsfeld nach vorne und unten und konnte sich nur unbeholfen bewegen.
Kurzentschlossen schnallte die Ärztin ihn wieder ab, zeigte mit der rechten Hand auf sich: „Je suis docteur“. Sie nahm eines der kleinen Kinder vor sich hoch auf den Arm, schaute dem verdutzten Mädchen in die Augen, indem sie deren Augenlider etwas hochzog, streckte die rechte Hand mit dem Daumen nach oben zeigend vor und sagte besonders laut „ok“. Sie setzte das erste Kind, das inzwischen zu weinen begonnen hatte, vorsichtig wieder runter, entdeckte rechts von sich einen ca. sechsjährigen Knaben mit stark verkrusteten Blutstreifen auf dem linken Arm. Sie hielt mit ihrer linken Hand auf dem Schlüsselbein des Jungen liegend die Schulter fest und bewegte vorsichtig den Arm des Kindes in jede Richtung. Freie Beweglichkeit in den Gelenken, also wie erwartet nur eine Weichteilwunde am Oberarm. Wieder machte sie die Faust mit nach oben gestrecktem Daumen als „ok“, lächelte ihren Patienten an und sah sich scheinbar emsig nach weiteren Verletzten um.
Sie registrierte, dass sie ein kleines bisschen mehr Spielraum zur Verfügung hatte. Die Stimmung entspannte sich, man nickte ihr zu, ließ Überlebende mit Verletzten durch die Reihen um sie rum nach innen. Was von ihr nur als deeskalierende Maßnahme gedacht war, begann sich zu einer Straßenambulanz zu entwickeln. Was konnte Jasmin hier ohne Hilfsmittel und im Straßendreck schon erreichen?
Dr. Wagner war jahrelang als Notärztin zu Unfällen gekommen und wusste, dass oft die Unverletzten ihren ärztlichen Beistand dringender benötigten als die Unfallopfer, um die man sich meist nach der Erstversorgung in Ruhe weiter medizinisch kümmern konnte, aber die Angehörigen gerieten in Panik, heulten hysterisch, kollabierten oder bekamen Herzanfälle, sie galt es zu beruhigen. Auch hier auf diesem gedrängten Platz sah die deutsche Ärztin ihre Hauptaufgabe darin, den Familien und Freunden Hoffnung zu machen, dass es den Erdbebenopfern bald besser gehen würde.
Nach dem fünften oder sechsten Patienten holte sie ihr Stethoskop aus dem Rucksack, mehr als Accessoire ihrer Autorität denn als medizinisch notwendiges Hilfsmittel. Was sollte es auch nützen, wenn sie jetzt trotz der Geräuschkulisse einen Herzfehler hörte oder Zeichen einer Lungenstörung wahrnahm? Sie spürte, wie sie nach jedem Untersuchten selbstbewusster wurde. Sie fragte nach Wasser zum Reinigen von Wunden – natürlich vergeblich – schnitt mit ihrer Verbandsschere, die sie aus der Seitentasche ihres großen Rucksacks zog, Stücke von Kleidung der Opfer ab und machte daraus provisorische Verbände um ihre Wunden, damit nicht noch mehr Keime durch den überall präsenten Staub eindrangen.
Sie schwitzte, obwohl sie Jacke und Fleecepullover schon bald ausgezogen und auf ihre Rucksäcke gelegt hatte. Ihr trockener Gaumen verlangte nach der Cola, die noch immer in der Jackentasche steckte, aber es war kein Gedanke daran, jetzt vor den anderen davon trinken zu können. Immer neue Verletzte wurden herbeigeschleppt. Bei einigen rechnete Jasmin damit, dass sie die nächsten 48 Stunden nicht überleben würden, trotzdem lächelte sie ihnen aufmunternd zu, streichelte ihnen über die Arme oder den Kopf. Mütter mit Kleinkindern umdrängten sie, manche hingen schon apathisch als Ausdruck der Austrocknung auf den Armen der Frauen. So positiv es wegen der fehlenden Unterkünfte war, dass im Januar auf Haiti keine Regenzeit ist, so hoffnungslos war es momentan wohl auf trinkbares Wasser zu hoffen.
Die Ärztin wusste nicht, wie lange sie Notfall-„Sprechstunde“ gehalten hatte, bevor sie sich aus der vorherrschend gebückten Position aufrichtete und streckte. Jasmin musste zum Krankenhaus finden, sie brauchte Unterstützung und Schutz, denn bei Anbruch der Dunkelheit wollte sie nicht mehr mit ihrem Gepäck allein unterwegs sein. „Où est l`hôpital?“ erkundigte sie sich, aber die Hilfesuchenden drängten prompt vehementer auf sie ein.
Jasmin untersuchte weiter zahlreiche Wunden, manche von ihnen hätten genäht werden müssen, alle gehörten gesäubert und verbunden. Sie konnte hier nichts ausrichten. Die Menschen brauchten dringend vor allem Wasser: zum Trinken, zum Waschen, zum Desinfizieren, zum Entfernen des überall präsenten Staubs, … Jasmin gestand sich ein, dass sie hier ihre Zeit aus medizinischer Sicht nutzlos vertat. Sie könnte mit ihrer Ausbildung Patienten, die eine intensivmedizinische Therapie brauchten, das Leben retten. Sie könnte bei großen Operationen über das Leben der Operierten wachen, stattdessen stand sie hier und betrieb eine Basismedizin, die auch jeder Sanitäter oder Ambulanzpfleger hätte durchführen können. Zwar tat es den Erdbebenopfern offensichtlich gut, dass mitten unter ihnen jemand nach ihnen sah, aber Jasmin wollte medizinisch etwas leisten und nicht vorwiegend Doktor spielen, um Ängste zu beruhigen.
Sie glaubte, einige Brüche ertastet zu haben, riet den Betroffenen ins Krankenhaus zu gehen, da sie hier nicht einmal provisorische Materialien zum Schienen hatte. Um Probleme am Zoll zu vermeiden, hatte sie keine Opiate mitgenommen, mit denen sie die stärksten Schmerzen einiger Verletzter für ein paar Stunden hätte lindern können, doch so stand sie mit leeren Händen dem Leid gegenüber. Wieder versuchte sie dem Ansturm zu entkommen, aber als sie den Rucksack anhob, um ihn auf den Rücken zu ziehen, griffen zig Hände nach ihr. Sie hielt die rechte Hand hoch und zeigte mit ihren Fingern „encore 5“, suchte mit den Augen Patienten aus, die aus ärztlicher Sicht untersucht werden sollten. Es war die übliche Triage, die rasche Einteilung in drei Kategorien: dieser Patient braucht keine ärztliche Hilfe, überlebt auch so; dieser benötigt medizinische Betreuung, um zu überleben; dieser hat kaum Chancen zu überleben, bekommt erst medizinische Hilfe, wenn die anderen mit besseren Überlebenschancen versorgt sind. Drei oder vier ihrer heutigen Patienten würden wohl kaum überleben. Die meisten der sie umgebenden Verletzten würden auch ohne Hilfe überleben. Nun wollte Dr. Wagner noch welche rausfischen, die sich irgendwo für weitere ärztliche Hilfe vorstellen sollten.
Es war erstaunlich ruhig, als die Ärztin die Wartenden musterte. Sie entdeckte ein junges Mädchen in der dritten oder vierten Reihe, dessen Gesicht rot-blau aufgeschwollen war, das rechte Auge verschlossen, die Nase schien nach links verschoben. Als Jasmin auf die junge Haitianerin zuging, öffneten sich die inneren Ringe ein wenig, um die Ärztin durchzulassen. Mit bereits total verdreckten Einmalhandschuhen tastete die Medizinerin die Schädelkalotte, dann das Gesicht vorsichtig ab. Der rechte Jochbogen war mehrfach gebrochen, aber ihre Kieferknochen schienen intakt. Wenn man den Jochbogen operativ richtete, konnte man dem Mädchen sicher dauerhaft helfen. Jasmin zog ihren Rezeptblock, der ihre Mitteilung legitimieren sollte, zum sechsten Mal aus der hinteren Hosentasche, vermerkte „Multiple fractures of the right os zygomaticum“ und drückte den Zettel einer Frau, die das Mädchen gerade umarmte, in die Hand. Dr. Wagner erklärte den beiden, dass sie unbedingt zu einem Krankenhaus gehen sollten, um die Fraktur richten zu lassen. „Merci, merci bien!“ dankte die Ältere. Jasmin hoffte, dass das Mädchen tatsächlich einen Operateur fand.
Erst jetzt registrierte Jasmin mit Schrecken, dass sie sich von ihrem Gepäck ein ganzes Stück entfernt hatte, wusste nicht einmal mehr genau, wo sie vorher gestanden hatte, aber die Menschen machten ihr respektvoll Platz und zeigten ihr mit der sich bildenden Gasse wie sie zurück zu ihren Rucksäcken kam. Noch vier Fälle hatte sie der Menge versprochen. Langsam drehte Jasmin sich suchend um ihre eigene Achse, winkte einer Gruppe Männer zu, die einen jungen Mann auf einem Brett sitzend hielten, der krampfhaft nach Luft zu ringen schien. Dessen linker Brustkorb war deformiert und bewegte sich kaum. Irgendetwas Schweres hatte ihm zahlreiche Rippen mehrfach gebrochen, dabei war die Lunge wahrscheinlich aufgespießt worden, er müsste dringend operiert und mit Druckluftbeatmung versorgt werden. Die Ärztin legte ihr Stethoskop auf dem Thorax auf, links kein Atemgeräusch, die Lunge war kollabiert. Jetzt hätte sie gerne zumindest rasch ein Röntgenbild gemacht, um ihren Verdacht auf einen Pneumothroax zu bestätigen. Wenn Luft durch eine Verletzung von Lunge und Lungenfell zwischen Lungen- und Rippenfell gelangt, ist das nötige Vakuum zwischen den beiden Pleurablättern zerstört, die Lunge folgt nicht mehr den Bewegungen des Brustkorbs, um Luft beim Einatmen anzusaugen. Gefährlich wird es, wenn die Luft durch einen Ventilmechanismus zwischen Lunge und Brustwand nicht mehr entweichen kann, wodurch der Innendruck immer weiter steigt und Herz und große Gefäße verschoben werden.
Die Anästhesistin musste sich rasch entscheiden. Ein Handgriff könnte dem Mann primär das Leben retten falls ein Ventil-Pneumothorax vorlag, aber für einen Arzt, der gewohnt ist, möglichst steril zu arbeiten, war ein Eingriff auf offener Straße, bei all dem Schmutz, ein Horror. Die möglicherweise eindringenden Keime würden den Mann sekundär an Infektionen sterben lassen, wenn er nicht antibiotisch behandelt werden konnte. Jasmin bedeutete den Trägern, den jungen Mann auf den Boden zu legen, wies an, dass je einer der Umstehenden Beine und Arme fixierte, schob das Brett seitlich unter den linken Oberkörper, ein Mann hockte sich und nahm den Kopf des Thoraxpatienten in den Schoß, hielt ihn mit den Händen seitlich fest. Jasmin holte die größte Kanüle, die sie im Gepäck hatte, aus ihrer Rucksackseitentasche, legte sie noch eingepackt dem Patienten auf den Bauch und umfasste den Brustkorb des Mannes mit beiden Händen. Die gespreizten Finger spürten links die Fragmente der gebrochenen Rippen. Mit sanftem Druck versuchte Frau Dr. Wagner, die Knochenteile in eine annähernd anatomische Position zu schieben und zu adaptieren.