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Vater und Sohn haben sich nicht viel zu sagen. Wozu auch, sie kennen sich ja gut genug: Der sechzehnjährige Steven ist eigensinnig und neigt zu Kurzschlusshandlungen. Seine Zukunft steht auf dem Spiel, nachdem er schon wieder von der Schule geflogen ist. Mark lebt ausschließlich für die Anwaltskanzlei und seine Mandanten. Zu Hause ist er autoritär und verschlossen. Immer wieder prallen die beiden aneinander. Lilly, Stevens Mutter, ist schon lange weg. Anstatt über ihre schmerzhafte Abwesenheit zu reden, kämpfen Vater und Sohn lieber jeder seinen eigenen Kampf: Steven gegen seinen alten Bekannten Adam, der ihm das Leben in der neuen Schule schwer macht. Mark gegen die Erinnerung an seine Kindheit, die ein Mandant, der ebenfalls in einem Heim der 50er Jahre aufgewachsen ist, wachruft. Die Situation spitzt sich immer weiter zu. Es scheint aussichtslos – aber zum Glück sind da noch die Freunde: Jan, Stevens chaotischer Mitschüler, der genial zeichnen kann und Peter, der Boxtrainer, mit dem Mark aufgewachsen ist. Auch auf sie kommt es an, als es plötzlich um Leben und Tod geht. Könnte die Mauer aus Schweigen endlich Risse bekommen?
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Titelei
Impressum
Widmung
Achterbahn
Vor Gericht
Minus 273,15 Grad Celsius
Auf Probe
An die Wand
Fortsetzung
Schwarzer Kater
Anwaltsgeschwafel
Trainingsstunde
Begegnungen
Schatz im Keller
Tatendrang
Neuschnee
Albtraum
Das Leben ist ein Arschloch
Wortschwall
Familienangelegenheit
Ausgeschlossen
Zweimal schwarzer Kater
Robinson
Auftritt
Spaltproduktinventar
Haifischzahn
Porschefahrt
Volltreffer
Ausgeliefert
Sieben Leben
Anstoßen
Zerbrochen
Kalte Dusche
Die Kiste
Am Ende
Post
Hausberg
Kellerverlies
Suche
Schlüssel
Nachlass
Grauzone
Dank
Die Autorin
Cover
Titelei
Impressum
Widmung
Dank
Autorin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Vanessa Andreadakis, Rathofstraße 25, 55276 Oppenheim.
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© 2025 Vanessa Andreadakis
Vanessa Andreadakis, Rathofstraße 25, 55276 Oppenheim
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Lektorat: Büchermacherei · Ursula Hahnenberg · buechermacherei.de
Satz u. Layout / E-Book: Büchermacherei · Gabi Schmid · buechermacherei.de
Covergestaltung: Corina Witte-Pflanz · OOOGRAFIK · ooografik.de
Comic / Cartoon: Illustrator Arne S. Reismüller
Bildquellen: #4347040, #41739491, #910004864, #898319428, #133436195 | Adobe Stock
Druck und Distribution im Auftrag des Autors/der Autorin:tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg
Softcover 978-3-384-61096-6
Hardcover 978-3-384-61097-3
E-Book 978-3-384-61098-0
Für Esther
Steven hatte Erfahrung mit solchen Schreibtischen. Es gab immer zwei Seiten: eine Chefseite und eine Verliererseite. Dazwischen die gewohnte, einfallslose Landschaft auf toter Eiche: Ein Berg aus Akten, eine dunkelbraune Unterlage, ein popelgrünes Telefon und ein edler Kugelschreiber.
„Steven Bischof.“ Der Rektor sprach Steven wie Schtiiiwn aus.
Steven verzog das Gesicht. Er mochte seinen Namen nicht besonders und noch weniger die Spitznamen, die daraus gemacht wurden. Steeevie. Grauenvoll. Außer Stev – Stev war in Ordnung. So hatte ihn seine Mutter immer genannt. Leider war sie die Einzige gewesen, die Stev zu ihm gesagt hatte. Und als sie plötzlich verschwunden war, war auch Stev mit ihr verschwunden. Endgültig.
„Steven Bischof, geboren am 17. Juli 1969, verwiesen vom Albert-Einstein-Gymnasium wegen wiederholter körperlicher Auseinandersetzung mit Mitschülern und Einbruchs in die Schule“, las der Rektor weiter. Dann klappte er den Aktendeckel zu. „Für einen Sechzehnjährigen ist das eine ziemlich lange Liste von Vergehen. Nun gut, meine Erfahrung ist, dass Schüler wie du es hier in der Regel nicht lange aushalten.“
Steven konnte sich vorstellen, was Schüler wie er waren – für Rektoren wie ihn. Es durfte eben einfach nichts mehr passieren. Er musste sich verdammt nochmal zusammenreißen. Luft anhalten und abtauchen.
„Ich glaube, ich brauche mich nur zurückzulehnen und zu warten, bis es soweit ist“, verkündete der Rektor.
Aus der Vertäfelung hinter ihm grinsten Steven imaginäre Gestalten entgegen. Ein verzerrtes Gesicht mit einem kleinen und einem großen Auge. Ein Vogel, der fast nur aus seinem riesigen Schnabel bestand. Steven klammerte sich an die Sitzfläche des Stuhls, als könnte die Achterbahnfahrt der letzten Wochen, die vollkommen außer Kontrolle geraten war, jederzeit wieder losgehen. Hier hatte sie ihn ausgespuckt. Und das, was dazu geführt hatte, dass er hier saß, klebte wie übelriechender Speichel an ihm fest.
Herr Schulze, sein neuer Klassenlehrer, saß neben ihm. Er schien nicht unsympathisch zu sein – eine Art Möchtegern-Hippie, mit Lederhose und langen grauen Haaren, die von einem schwarzen, ausgeleierten Haarband zu einem dünnen Zopf zusammengehalten wurden. Definitiv harmlos. Herr Schulze nickte Steven ermutigend zu. Fehlte nur noch, dass er ihm zuzwinkerte.
Herr Schulze zwinkerte ihm zu und Steven stöhnte innerlich.
Der Rektor beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte des riesigen Eichentisches ab und legte seine Fingerspitzen aufeinander.
„Und wenn auch nur die klitzekleinste Sache passiert“, setzte er seine kleine Ansprache fort, „Dann sitzen wir hier und ich werde dir mitteilen, dass deine Schullaufbahn auf unserer Schule beendet ist.“ Der Rektor schickte seinen Worten ein speckiges Grinsen nach, das den Aggregatzustand der Luft schlagartig veränderte. Es erschien Steven genauso unmöglich, sie ein- und auszuatmen wie pürierte Erbsensuppe. Jetzt bloß nicht auf den Rektorentisch reihern.
„Naja, jetzt lassen wir ihn erstmal ankommen“, hörte Steven Herrn Schulze neben sich sagen, während er krampfhaft versuchte, seine Gedanken auf etwas weniger brechreizerregendes zu konzentrieren als grünlich-schleimige Erbsensuppe. Gar nicht so einfach.
Der Rektor lachte dröhnend. „Jaja, Herr Schulze, Sie sind doch ein Romantiker. Bevor der angekommen ist, ist er schon nicht mehr hier“, sagte er. Dann widmete er sich seinem Aktenstapel, ohne sie weiter zu beachten.
Herr Schulze stand auf. Die feierliche Begrüßungszeremonie war wohl vorüber.
Für seine Figur eilte Herr Schulze erstaunlich schnell den Flur entlang und Steven musste seine Schrittlänge anpassen, um neben ihm zu bleiben. Der Lehrer war klein und gedrungen und über seiner abgenutzten schwarzen Lederhose zeichnete sich ein melonenförmiger Bauch ab.
„Herzlich willkommen bei uns“, begann Herr Schulze. Es klang nicht mal ironisch. „Deine neue Klasse ist ganz in Ordnung.“ Dann verlangsamte er den Schritt, um schließlich ganz stehen zu bleiben. Er drehte sich zu Steven, der ebenfalls stehen geblieben war. „Steven – schöner Name, übrigens. Ich als Englischlehrer bin natürlich begeistert. Hast du englische Verwandtschaft?“, fragte er.
Als Steven nur mit den Schultern zuckte und Australien murmelte, nickte Herr Schulze. Er schlug den vertraulichen Ton eines Kumpellehrers an. „Von mir hast du nichts zu befürchten. Halte dich einfach aus Schlägereien und sonstigem Unsinn raus. Ich kann dich nicht immer schützen. Der Rektor wird Wort halten, glaub mir. Aber wenn du dir Mühe gibst, werde ich versuchen, ihn abzuschirmen.“ Als Zeichen, dass das Gespräch zu Ende war, drehte er sich schwungvoll um. „Komm, wir müssen in die Klasse, sonst fliegen gleich die Stühle in der Gegend rum“, rief er über die Schulter. Dann fiel ihm doch noch was ein. „Ich glaube, es ist eine gute Idee, wenn ich dich neben Jan setze.“ Er hob den Zeigefinger in die Höhe, wie ein Zauberer, der gerade die entscheidende Zutat für seinen neuen Zaubertrank gefunden hatte und setzte seinen Weg fort.
Steven atmete tief ein, hielt die Luft an und folgte Herrn Schulze ins Klassenzimmer.
Zum Glück wurde Steven von den meisten Mitschülern einfach ignoriert. Auch sein Banknachbar beließ es bei ein paar neugierigen Blicken. Die meiste Zeit konzentrierte sich Steven sowieso auf den Ficus in der Ecke des Klassenzimmers. Jemand hatte ihn so lieblos umgetopft, dass dabei einige Ästchen abgeknickt worden waren, die nun traurig an ihm herabhingen. Mühsam versuchte das Bäumchen, Haltung in der viel zu lockeren Erde zu finden. Kam Steven irgendwie bekannt vor.
Als nach der Sechsten endlich die Schulglocke ertönte, ließ Steven sich extra Zeit beim Einräumen seines Rucksacks. Die anderen drängelten sich aufgeregt quatschend durch die Klassentür, aber Steven war der leere Flur deutlich sympathischer. Nur leider kam er nicht weit.
„Der feine Herr Bischof.“
Fast wäre er in Adam hineingerannt. Und Steven hatte schon gedacht, er hätte das Schlimmste für heute hinter sich. Weit gefehlt. „Sag bloß, du gehst jetzt auf unsere Schule. Ist das denn hier der richtige Platz für das Anwaltssöhnchen?“
Jetzt bloß ruhig bleiben. Kühlen Kopf bewahren. Atmen.
„Und ich hab schon gehofft, du wärst ein für alle Mal aus meinem Leben verschwunden.“
Was jetzt? Sich würdelos an Adam vorbeidrängeln? Kam nicht in Frage. Also dem Blick standhalten. Das hieß weiter nach oben schauen. Adams Augen waren noch heller als früher – fast durchsichtig. Lag wohl in der Familie.
„Na, hat’s dir etwa die Sprache verschlagen? Oder weißt du nicht mehr, wer ich bin?“
Schön wär’s. Wie lange war es her? Sieben, acht Jahre? Adam beugte sich nach vorne. Bläuliche Äderchen zuckten in beginnenden Geheimratsecken. Beachtlich viele Bartstoppeln – getränkt in einem widerlich stinkenden Rasierwasser. Was jetzt? Friedensangebot? Einen Versuch war es wert.
„Die Schule ist groß genug. Ich geh dir aus dem Weg. Und du mir.“ Hoffentlich hörte nur Steven selbst das Beben in seiner Stimme.
Adam warf den Kopf nach hinten und ließ einen Lacher los. „Könnte dir so passen. Glaub nur nicht, dass du hier ne ruhige Kugel schieben kannst.“
Weiter hinten im Flur pfiff jemand eine fröhliche Melodie. Pippi Langstrumpf? Im Ernst? Die Regie hatte für die dramatische Begegnung Adam vs. Steven eindeutig die falsche Musik ausgesucht.
„Na, was hast du ausgefressen? Bist du etwa von deiner alten Schule geflogen? Wollten sie dich da nicht mehr?“, bohrte Adam zielsicher in der klaffenden Wunde herum. Autsch.
„Das geht dich ’n Dreck an.“
Die Pfeifmelodie kam näher und brach dann abrupt ab. Eine Stimme ertönte hinter ihnen.
„Ach, hier bist du, Steven.“ Es war Jan, der neue Banknachbar.
„Einen neuen Freund hast du wohl auch schon gefunden?“, fragte Adam. Sein Gesicht verzog sich zu einem unangenehmen Grinsen. Gefiel Steven ganz und gar nicht. Vorsicht jetzt.
„Ausgerechnet Jan, diesen Trottel hast du dir ausgesucht?“
„Er ist nicht mein Freund, klar?“ Adam zuckte die Schultern und grinste weiter.
„Herr Schulze wollte noch was von dir. Komm mit“, sagte Jan hinter ihm.
Steven drehte sich wortlos um. Adams Blick brannte heiße Löcher in seinen Rücken.
„Was will Herr Schulze?“, fragte er Jan. Wenn ein Lehrer ihn sprechen wollte, konnte das kaum etwas Gutes bedeuten.
„Gar nichts“, antwortete Jan, „es sah nur so aus, als müsste dich jemand erlösen. Mit dem ist nämlich nicht zu spaßen.“
Steven ließ zischend die Luft entweichen. Das konnte er sich ja wohl selbst denken. „Hör zu, misch dich lieber nicht ein, o. k.?“
Jan war stehengeblieben. „Naja, Adam ist halt ein harter Brocken. Ich dachte ja nur“, begann er. Dieser enttäuschte Blick.
Steven sah weg. Keine Freundschaft jetzt. Das fehlte gerade noch. „Ich komm schon klar. Halt dich einfach raus, verstanden?“
„Haben Sie noch Fragen an den Zeugen, Herr Bischof?“, fragte die Richterin.
„Ja, vielen Dank“, erwiderte Mark und wandte sich an den Mann. „Herr Schröder, Sie sagten, Sie hätten meine Mandantin zweifelsfrei erkennen können, als sie aus der Wohnung herausstürmte. Sie sagten weiter, dass die Person einen schwarzen Kapuzenpullover anhatte. Der Tatzeitpunkt war um 22.30 Uhr. Da war es bereits dunkel. Wie wollen Sie sie erkannt haben?“
„Ich habe sie im Licht der Straßenlaterne gut sehen können“, behauptete Schröder.
„Allerdings hat eine Anfrage an die Stadtwerke ergeben, dass es bei der Straßenbeleuchtung schon seit dem Vorabend Probleme gab“, entgegnete Mark, „Sie konnte erst gegen 1.00 Uhr in der fraglichen Nacht wieder vollständig in Betrieb genommen werden.“
Der Zeuge sah ihn überrascht an. Marks Finger- und Zehenspitzen begannen zu kribbeln. Die Luft im Gerichtssaal schien plötzlich wie elektrisch aufgeladen.
„Es fuhr ein Lastwagen vorbei“, sagte der Zeuge schließlich, „der hat die Straße ausreichend beleuchtet.“
„Ein Lastwagen also“, wiederholte Mark langsam, „davon war im Protokoll der Polizei nichts zu lesen.“
„Ist mir eben erst wieder eingefallen“, erklärte der Zeuge, „als Sie das mit der Straßenbeleuchtung gesagt haben.“
Mark sah zur Richterin hinüber, die ihre Stirn in skeptische Falten gelegt hatte und sich Notizen machte.
„Sie sagten doch, Sie hätten auf der gegenüberliegenden Seite gestanden“, bohrte Mark weiter, „Hätte ein Lastwagen die Sicht nicht verdeckt? Zumal ich bezweifle, dass um diese Zeit ein Lastwagen in einem Wohngebiet unterwegs war.“
Das Gesicht des Zeugen begann sich rot zu verfärben.
„Die Sache ist doch eindeutig!“, rief er, „Sie war es. Das habe ich doch schon gesagt.“ Er deutete auf Marks Mandantin, die sich augenblicklich neben ihm versteifte.
„Er lügt doch“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme, „warum merkt das denn keiner, dass er lügt?“ Der anstrengende Prozesstag forderte spätestens jetzt seinen Tribut. Kein Wunder – es ging um Einiges. Marks Mandantin Lisa Brandner, 24 Jahre, strähniges blondes Haar, nervöse blaue Augen, sehr helle, fast durchsichtige Haut, bereits vorbestraft wegen einiger kleinerer Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, stand mit einem Bein im Gefängnis. Hoffentlich hielt sie jetzt durch. Sie war extrem sprunghaft und impulsiv. Zu Beginn hatte Mark sogar ein medizinisches Gutachten in Erwägung gezogen, um es eventuell vor Gericht verwenden zu können. Aber er war schnell darauf gekommen, dass die Beweise, die die Staatsanwaltschaft vorgelegt hatte, auf Sand gebaut waren.
Mark legte eine Hand auf den Arm seiner Mandantin. Sie wandte ihm ruckartig den Kopf zu und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Der berühmte Vergleich mit dem angststarren Kaninchen, das vor der Schlange hockt, schoss Mark durch den Kopf. Er nickte ihr zu.
„Nur durchhalten. Wir hatten das doch schon alles besprochen“, flüsterte er.
Frau Brandners Gesichtszüge entspannten sich etwas. Na bitte.
„Also, bleiben Sie bei Ihrer Aussage?“, fragte die Richterin.
Der Zeuge befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze und nickte.
„Ich habe keine weiteren Fragen“, sagte Mark.
„Gut, dann werden wir nun Ihre Zeugin hören“, kündigte die Richterin an.
„Sehr gerne.“ Wenn alles so lief wie geplant, dann würde die Aussage der Zeugin Marks Mandantin weiter entlasten. Auch Lisa Brandner hatte mitbekommen, dass sich das Blatt nun wenden könnte. Sie schloss die Augen und machte winzige, schnelle Nickbewegungen, als wollte sie dadurch die ganze Anspannung von sich abschütteln.
„Sie haben es bald hinter sich, glauben Sie mir“, sagte Mark zu ihr.
Am frühen Abend war Lisa Brandner auf freiem Fuß und Mark wieder in seiner Kanzlei. Nachdem er die Rückrufwünsche abgearbeitet hatte, die Frau Reuther ihm notiert hatte, blickte er auf die Uhr. Es würde spät werden. Er rief Steven an.
„Was ist?“, ertönte die Stimme seines Sohnes am anderen Ende der Leitung.
„Kannst du dich nicht mit Namen melden, wie jeder normale Mensch auch?“, fragte Mark gereizt.
„Hast du den vergessen?“, kam prompt die Antwort.
Mark unterdrückte ein Stöhnen. Zwei Sätze und schon war das Maß wieder voll.
„Es hätte ja auch jemand anderes anrufen können als ich“, erklärte er betont ruhig.
„Um die Uhrzeit nicht.“
Mark schloss die Augen und atmete langsam aus. O. k., keine Diskussionen jetzt. Dabei hätte er eine Menge zu sagen. Insbesondere zum Thema Respekt.
„Wird später heute Abend“, teilte er Steven stattdessen mit.
„Dachte ich mir.“
„War Frau Herrmann da?“
„Ja.“ Steven gelang das Kunststück, das kürzeste Wort der deutschen Sprache noch mehr abzukürzen, indem er das „a“ fast verschluckte.
„Hat sie gekocht?“
„Was sonst.“
„Herrgott, muss man dir alles aus der Nase ziehen? Sie ist neu. Ich will nur wissen, ob alles funktioniert hat.“
Genervtes Ausatmen am anderen Ende der Leitung. „War’s das?“
Mark gab auf. Das hatte so keinen Sinn.
„Fürs Erste ja. Bis morgen früh. Und über deinen Ton sprechen wir noch.“ Die letzten Worte wechselte Mark mit dem Freizeichen. Aufgelegt. Mark ließ zischend die Luft entweichen und legte ebenfalls auf. Der hatte vielleicht Nerven. Dabei war sein Schulrauswurf keine Woche her. Mark musste ihn mal wieder ordentlich ins Gebet nehmen. Wenn der Junge nur ein wenig mehr wie er selbst wäre. Immerhin war er schon sechzehn. Ein Bruchteil der Zielstrebigkeit, die er selbst gebraucht hatte, um etwas aus seinem Leben zu machen, würde ja schon reichen. Schließlich waren seine eigenen Voraussetzungen ganz andere gewesen.
Mark vertiefte sich in eine der Akten, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Als er damit durch war, fiel sein Blick auf eine Mappe mit Bewerbungsunterlagen. Ein Kollege hatte sie ihm überlassen. Die letzte Sekretärin hatte Mark in der Probezeit entlassen müssen. Unfähigkeit. Glücklicherweise kam seine ehemalige Sekretärin Frau Reuther, die eigentlich schon im Ruhestand war, einige Stunden pro Tag vorbei. Aber das war natürlich kein Dauerzustand.
Mark schlug die Mappe auf und blätterte darin. Das großformatige Bewerbungsfoto zeigte eine sympathisch aussehende junge Frau. Die Zeugnisse waren eher mäßig. Mark blickte auf die Uhr. Für heute war es zu spät, sie anzurufen. Zeit, Schluss zu machen.
Als Mark die Kanzlei abschloss, war es halb zehn, aber er war noch nicht müde. Was jetzt? Er hatte keine Lust, schon nach Hause zu gehen – deshalb entschied er sich, in seiner Lieblingsbar vorbeizuschauen. Zu Fuß waren es keine zehn Minuten.
Die Bar befand sich im zwölften Stock eines Hochhauses. Man schwebte darin hoch oben über der Stadt. Hinter der riesigen, glänzenden Fensterfront breitete sie sich wie ein Lichtermeer aus. Sitzgruppen aus schalenförmigen, roten Sesseln verteilten sich davor, wie Strandkörbe. Erst wenige Gäste hatten sich hier niedergelassen. Eine kleine Gruppe kichernder junger Frauen in bonbonfarbenen Blusen und tonnenweise Haarspray im dauergewellten Haar saß in der Nähe der Bar. Direkt daneben hatte sich ein Pärchen aneinander festgesaugt. An der Bar klammerte sich ein Mann mit Vokuhila-Frisur und Oberlippenbart an eine Bierflasche. Sein Bein, das in einer weißen, mit Nieten verzierten Hose steckte, wippte im falschen Takt zu den fröhlichen Trompetenklängen von WHAMs Club Tropicana. Auch Mark setzte sich an die Bar, ließ aber ein paar Plätze zwischen sich und dem Typen frei.
„Hi Mark“, begrüßte Miriam ihn, „lang nicht mehr gesehen. Gibt’s etwa einen Grund zum Feiern?“
„Kann man so sagen“, sagte Mark.
„Und das ganz allein?“
„Du bist doch da, Miriam. Was brauche ich mehr?“
Miriam lachte und zeigte dabei ihre strahlendweißen Zähne.
„Was willst du? Etwa Champagner?“
„Ach nein, lieber einen Whisky. Hast du noch den hervorragenden schottischen?“
„Klar, ist doch ein Klassiker.“
Er beobachtete, wie sie mit routinierten Bewegungen nach Glas und Whiskyflasche griff. Miriam, Mitte dreißig, klein und zierlich, seidiges dunkelbraunes Haar und Barbesitzerin, ließ es sich nicht nehmen, möglichst viel Zeit selbst hinter der Theke zu verbringen, wenn es die Umstände zuließen. Wie heute Abend. Eine Frau, die es gewohnt sein dürfte, dass sie mit Blicken verfolgt wurde. Ob es ihr gefiel, konnte Mark nicht sagen. Zu stören schien es sie jedenfalls nicht.
„Es läuft also gut bei dir, ja?“ Elegant goss sie die goldbraune Flüssigkeit in das Whiskyglas. „Mal wieder jemanden vor der Verurteilung gerettet?“
Mark nickte. „Freispruch. War nicht ganz einfach – aber diesmal hat alles zusammengepasst.“
Sie lächelte. Er mochte diese kleine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Die Deckenbeleuchtung ließ ihre Lippen glänzen. In ihrem Ausschnitt glitzerte eine silberne Kette. Ein Herz hing daran, besetzt mit falschen Diamanten.
„Beruhigend zu wissen, an wen ich mich wenden kann, wenn ich mal in Schwierigkeiten stecke.“
„Ich hoffe nicht, dass du mich mal brauchen wirst. Aber wenn doch, dann kriegst du einen Sonderpreis“, versprach Mark.
„Ich glaub dir kein Wort“, sagte Miriam und stellte den Whisky auf den Tresen.
„Warum?“, erkundigte sich Mark und griff nach dem Glas.
Miriam legte ihre Hand auf seine und sah ihm in die Augen. „Weil du vor allem ein knallharter Geschäftsmann bist, deshalb.“
„Gleich und gleich“, begann er und überließ es ihr, das altbekannte Sprichwort zu ergänzen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Noch immer lag ihre Hand auf seiner. Sie ließ sie in Richtung seines Handgelenks gleiten und fuhr mit dem Zeigefinger unter seinen Hemdsärmel. Mark hielt die Luft an.
„Kann ich noch ’n Bier haben?“, ertönte die Stimme von Vokuhila.
„Klar“, antwortete Miriam, ohne ihren Blick von Mark abzuwenden. Sie rollte mit den Augen und Mark war überrascht, wie sehr er es genoss, ihr Verbündeter zu sein.
Miriam löste sich von ihm und überließ ihn ganz dem rauchigen Whisky-Aroma, das umgehend Gaumen und Zunge in Beschlag nahm.
Weitere Nachtschwärmer betraten fröhlich schwatzend die Bar und Miriam bekam zu tun. Mark leerte langsam sein Glas und lauschte den Klängen von Dire Straits Lady Writer. Plötzlich musste er an Lilly denken. Sie war durch und durch weich gewesen. Ganz anders als Miriam, die diese gewisse Härte in sich hatte – wie ein inneres Narbengewebe, das sich über alte, tiefe, vom Leben beigebrachte Wunden gezogen hatte. Kannte er. Yeah you know I’m talking about you and me. Aber Lilly – er schob den Gedanken von sich, bevor er ihn weiterdenken konnte. Sehnsucht war seine Sache nicht. Sie führte zu nichts, mit ihrer Ziellosigkeit. Lullte einen nur ein. Und lähmte. Mark setzte lieber auf Sachlichkeit. Lange her, abgehakt. Er versuchte noch einmal Blickkontakt mit Miriam aufzunehmen. Doch sie war darin vertieft, einer Mitarbeiterin Anweisungen zu geben. Er trank den Whisky aus und ließ einen Schein auf dem Tresen liegen. Üppiges Trinkgeld inklusive.
„Zusammenfassung“, schrieb Steven in sein Deutschheft. Dann fügte er das Datum dazu. 26. November 1985. Meine Güte, das Heft war jetzt schon fast voll. So lange war er doch noch gar nicht auf der neuen Schule. Eine Weile ließ er den Blick zwischen der aufgeschlagenen Schullektüre und seinem Heft hin und her schweifen. Das öde Buch – Die Leiden des jungen Werther – lag wie ein faseriges Stück Fleisch vor ihm. Diese Vorstellung ließ sofort einen üblen Geschmack in seinem Mund entstehen. Toll, jetzt brauchte er was zum Runterspülen. Also in die Küche.
Sein Vater war ausnahmsweise mal da, allerdings ziemlich schlecht gelaunt. Er telefonierte im Flur.
„Eine Vorladung der Polizei bedeutet nicht, dass er auch wirklich hingehen muss. Haben Sie ihm das denn nicht klargemacht, Frau Reuther?“ Kurzes Schweigen. „Also gut. Ja, ich weiß, wie kompliziert er sein kann. Ich gehe lieber alles noch einmal mit ihm durch. Nicht, dass er noch mehr Fehler macht.“
Steven füllte das Glas, trank es in ein paar Zügen direkt am Waschbecken leer und ließ erneut Wasser hineinlaufen.
„Schon um fünf? Muss das sein? Ja gut, ich werde versuchen, es einzurichten.“
Steven schnappte sich einen Lappen und wischte die Tropfen, die sich um das Spülbecken verteilt hatten, weg. Sein Vater hatte was gegen solche Lebenszeichen. Wieso kam die Putzfrau eigentlich zweimal die Woche? Niemand würde merken, wenn sie einfach cognactrinkend fernsah, anstatt zu putzen. Vielleicht tat sie es ja sogar und füllte dann die Flasche mit Wasser auf, damit niemand es merkte. Auch egal – seit dem Schulrausschmiss bemühte sich Steven jedenfalls, seinen Vater nicht unnötig zu reizen. Er verzog sich wieder in sein Zimmer, wo ja Werther immer noch auf ihn wartete.
Als es an der Tür klingelte, hatte Steven gerade seinen Füller weggelegt. Er sah aus dem Fenster. Es war Schulze. Scheiße, was wollte der denn hier? Welcher Lehrer kam bei Schülern zu Hause vorbei? Kurz darauf drangen Geräusche von Schritten, dann Stühlerücken nach oben. Die genervte Stimme seines Vaters. Irgendwann rief er Steven.
„Steven, schön, dass du auch da bist“, sagte Schulze freundlich.
Naja, ehrlich gesagt hätte Steven darauf verzichten können.
„Ich bin ganz spontan vorbeigekommen, ich wohne hier um die Ecke – Mozartstraße. Ich hab mich gefragt, ob du dich schon gut eingefunden hast bei uns? Ob du dich wohl fühlst?“
„Ja.“ O. k., sein Fehler. Er hätte Schulze ausführlicher antworten müssen, als er ihn in der Schule gefragt hatte. Mehrmals sogar. Jetzt hatte er den Salat.
„Du weißt ja – nächstes Jahr beginnt die Oberstufe für dich und wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann sprich mich einfach an.“
Toll. Nichts lieber als das.
„Herr Schulze, ich werde natürlich alles tun, um meinen Sohn zu unterstützen“, schaltete sich Stevens Vater ein. Er lächelte – aber Steven sah, dass er in Wirklichkeit eiskalt brodelte – eine Kombination, die nur sein Vater hinkriegte. Aktives Einfrieren. Minus 273,15 Grad, das hatte Steven mal gelesen, war die niedrigste vorstellbare Temperatur. Dann würden die Atome aufhören, sich zu bewegen – was physikalisch nicht möglich war. Es handelte sich um eine berechnete Temperatur, die nur annähernd erreicht werden konnte. Aber sein Vater, hatte er damals gedacht, der würde es mit reiner Willenskraft schaffen, die Minus 273,15 Grad zu knacken und alles zum Stillstand zu bringen.
Schulze nickte Stevens Vater freundlich zu. Dann sah er Steven entschuldigend an. Vermutlich dachten alle in diesem Moment das Gleiche: dass dieses Treffen keine gute Idee gewesen war.
Sobald die Haustür hinter Schulze zugefallen war, löste sich die freundliche Maske seines Vaters auf.
„Verdammt nochmal, Steven, hast du immer noch nicht kapiert, dass du den Bogen schon lange überspannt hast? Wieso kommt dieser Clown von Lehrer hier vorbei und stiehlt mir die Zeit? Meinst du, ich hab nichts Besseres zu tun?“ Als ob Steven wüsste, warum Schulze sowas machte. Hatte er ihn etwa herbestellt? Nicht einmal auf die Idee wäre er gekommen.
„Vielleicht sucht der Clown ja noch jemanden für seine neue Zirkusnummer“, hörte er sich sagen. Peng. Mit seinem letzten Wort war die Hand des Vaters in Stevens Gesicht gelandet.
„Dass du dich das noch traust, in deiner Lage frech zu sein. Mit mir kannst du das nicht machen. Mit mir nicht. Ich will nichts mehr von der Schule hören, verstehst du? Wenn du das jetzt auch noch versaust, dann …“
Stevens Wange glühte. Na, herzlichen Dank. Wegen nichts und wieder nichts.
„Was dann?“, presste er heraus.
„… reiß dich einfach zusammen, verdammt nochmal.“
Danke für die Empfehlung. Klar, was jetzt kommen würde. Nachkriegssound der übelsten Sorte. Erste Strophe: Du hast alle Chancen der Welt …
Und tatsächlich: „Du hast alle Chancen der Welt. Ich musste mich durchbeißen. Nichts ist mir zugefallen. Und schau was aus mir geworden ist.“
Ein Arschloch, vervollständigte Steven – natürlich nur in Gedanken. Er war ja nicht lebensmüde.
Es folgte die zweite Strophe, die eine weitere Empfehlung enthielt: „Mach was draus. Krieg dich endlich in den Griff.“
Sein Vater ging in den Flur und zog seine Jacke an. Für die dritte, etwas längere Strophe ich in deinem Alter … war wohl keine Zeit mehr. Machte nichts, Steven kannte sie ohnehin auswendig. „Ich muss nochmal los. Hab schon lang genug meine Zeit vergeudet“, sagte sein Vater stattdessen.
Sollte Steven sich jetzt etwa dafür noch entschuldigen? Die Haustür knallte.
Mit einem Ruck öffnete Steven den Kühlschrank, den Frau Herrmann, die neue Haushaltshilfe, vollgestopft hatte. Sie kaufte ein und kochte – letzteres mehr schlecht als recht. Aber wenigstens versuchte sie ihn nicht zu bemuttern, so wie die Vorgängerin. Ständig hatte die versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln und überflüssige Fragen gestellt. Zum Beispiel, wie es in der Schule gewesen war. Steven zog eine angebrochene Packung Milch aus dem Türfach und öffnete sie. Sie roch sauer. Er kippte sie weg und der Anblick der zähflüssig gewordenen weißen Flüssigkeit, die stoßweise aus der Packung schwappte, ließ seinen Magen zusammenziehen. Die graue Pampe sammelte sich im Abfluss. Steven hatte Scheiße gebaut, ja – aber jetzt hatte er es doch kapiert, sich wirklich Mühe gegeben. Jede noch so überflüssige Hausaufgabe gemacht, noch nicht mal ein Buch vergessen und keine einzige schlechte Note kassiert – wie ein verdammter Streber. Aber das zählte ja alles nicht. Nur der Hausbesuch seines überengagierten, sozialromantischen Klassenlehrers und der begriffsstutzige Mandant seines Vaters.
Wie von allein schnellte Stevens Faust nach vorne. Rammte die Kante des Kühlschranks. Es knackte. Wilder Schmerz explodierte. Verdammt. Steven schrie auf und klemmte die Hand zwischen die Oberschenkel. Als er sie wieder öffnen wollte, gehorchte sie nicht. Hatte er sich die Finger gebrochen? Entsetzt starrte er auf die bleichen Finger, die weißen Hautfetzen, das Blut, das sich zwischen ihnen sammelte. Dann holte er zitternd einen Beutel mit Eiswürfeln aus dem Gefrierfach und legte ihn auf die verletzte Stelle.
Die plötzliche Kälte jagte durch seine Hand und trieb ihm Tränen in die Augen. Er sank auf den Küchenboden. Nach einer Weile konnte er seine Finger langsam wieder bewegen. Er blieb auf dem Küchenboden sitzen und lehnte sich gegen die Schrankwand. Den Eiswürfelbeutel presste er weiter auf seine Hand. Er schniefte und schluckte den Salzgeschmack, der sich in seinem Mund gesammelt hatte, herunter.
Steven hatte seine Klappe nicht halten können. Sie waren aufeinandergeprallt. Mal wieder. Wie zwei Asteroiden, die im Weltall aufeinander zugerast waren, um sich in Stücke zu reißen. Und Steven wusste schon jetzt, was folgen würde. Vakuum – weniger als Nichts. Stille. Kälte. Schweigen. So wie nach seinem Rausschmiss – da hatte das Schweigen alles erstickt, auch die kläglichen Erklärungsversuche. Ein pulverisierender Blick und die Botschaft: Etwas anderes war ja von dir nicht zu erwarten gewesen, waren übriggeblieben. Und das Schweigen. Steven kniff die Augen zusammen. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gesammelt, sein Hinterkopf sank schwer gegen den Küchenschrank. Er wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab und ließ den Arm einen Augenblick auf den Augen ruhen. Dann blickte er auf seine verletzte Hand und wackelte prüfend mit den Fingern. Es tat weh, aber er konnte alle Finger bewegen. Die Haut war gerötet – durch den Aufprall und die Kälte der Eispackung. Es würde dick werden und noch lange weh tun. Steven biss die Zähne zusammen. Er war ja selbst schuld. Es würde schon vorbeigehen.
Der beratungsresistente Mandant wartete bereits in der Kanzlei. Mark schärfte ihm ein, unter gar keinen Umständen etwas ohne ihn zu unternehmen und mit niemandem über den Fall zu reden. Ein unbedachtes Wort konnte schon zu viel sein. Der Mandant versprach ihm, sich daran zu halten. Man würde sehen, ob es ihm gelang. Sie vereinbarten einen Termin für den nächsten Tag.
Draußen war es schon dunkel geworden. Mark wandte sich der Bewerbungsmappe zu, die er am Vortag hatte liegen lassen. Einen Versuch war es wert. Schließlich sprach Mark dem Kollegen, der ihm die Dame am Vortag empfohlen hatte, durchaus Menschenkenntnis zu.
Kurz entschlossen griff er zum Telefon und hatte nach mehrmaligem Klingeln eine überrascht klingende Sarah Blum am Apparat.
„Oh – das kommt jetzt unerwartet, aber – warten Sie, jetzt gleich?“, fragte sie.
„Wenn Sie es einrichten können, Frau Blum. Zugegeben, es ist sehr spontan. Aber jetzt hätte ich gerade etwas Luft und wir könnten uns unterhalten. Ansonsten können wir natürlich ein anderes Mal …“
„Nein, nein“, unterbrach sie ihn, „ich komme gerne.“
Mark legte auf und schlug ein dickes Gesetzbuch, das auf seinem Schreibtisch lag, zu. Er ging damit zum Regal hinüber, um es in die Lücke zwischen den übrigen juristischen Standardwerken zurückzuschieben. Dann trat er zum benachbarten Regalfach, in dem er etwas Ungewöhnliches aufbewahrte: eine Reihe alter Abenteuerbücher. Ein seltsamer Anblick – zwischen den hochwertigen Möbeln aus Glas, Chrom und edlem Schwarz, die perfekt zu dem Tischchen mit Cognacflaschen und dem großformatigen abstrakten Kunstwerk in beruhigenden, dezenten Farben passten. Die Umgebung gab seinen Mandanten Sicherheit; das Gefühl, bei ihm in den besten Händen zu sein. Die abgegriffenen Bücher jedoch hatte Mark für sich selbst hineingestellt. Er wollte sie um sich haben, wie alte Freunde. Mark ließ seinen Zeigefinger über die Titel der Buchrücken gleiten und hatte sofort den Geruch von Holz, Papier und Kerzenwachs in der Nase. Die gleiche, kribbelige Aufregung von damals erfasste ihn; er hatte sie immer verspürt, sobald er den Buchdeckel öffnete. Mit jedem Titel wartete ein neues Abenteuer in einer anderen Welt. Moby Dick, Robinson Crusoe, Der Seewolf, Wolfsblut, Abenteuer auf der Bounty, Schatzinsel, Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. Sie versprachen kostbare Stunden. Mark hatte viel aufs Spiel gesetzt, um sie lesen zu können. Und es hatte sich gelohnt: Die Bücher hatten ihr Versprechen gehalten. Sie hatten ihn stärker gemacht – vielleicht sogar gerettet.
Ein Klopfen riss Mark aus seinen Gedanken.
Kurz darauf saß ihm Sarah Blum gegenüber – mit einem breiten Lächeln, das in zwei hübschen Grübchen endete. Noch keine zwanzig, dafür recht selbstbewusst, die Gesichtszüge mädchenhaft weich. Ihr dunkelblondes, krauses Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden, der Pony war – vermutlich mit reichlich Föhnerei und Haargel – modern frisiert und geschickt um ihr herzförmiges Gesicht drapiert. Sie musterte Mark neugierig aus ihren wachen, hellbraunen Augen, deren Lider sie mit einem silbernen Lidschatten bepinselt hatte. Trotz ihres zarten Alters strahlte sie auf eine diffuse Art und Weise etwas aus, was er nicht recht benennen konnte und er begnügte sich vorerst mit dem Begriff Lebenserfahrung.
„Ich hab Sie mir viel älter vorgestellt“, sagte sie und schlug ihre Beine übereinander.
„So?“, fragte Mark belustigt.
„Naja“, begann sie und sah sich um, „Ihr Kollege hat gesagt, Sie seien der beste und erfahrenste Anwalt weit und breit. Da stellt man sich schon jemand Älteres vor, mindestens graue Haare. Oder weiße.“
Mark schmunzelte.
Dass sie für seine Kanzlei zu unkonventionell war, war ihm sofort klar geworden, als sie in silberglänzendem Oberteil und ziemlich kurzen, pinken Rock in der Tür gestanden hatte. Aber sofort nach Hause schicken wollte er sie auch nicht. Schließlich war sie sehr spontan gekommen, das musste er ihr zugutehalten. Sie hatten zunächst einige für Bewerbungsgespräche typische Floskeln ausgetauscht. Nun kam er auf ihr Äußeres zu sprechen gekommen.
„Ich hab auch andere Outfits. Also, seriösere“, antwortete sie, „aber ich bin eigentlich mit einer Freundin verabredet und hab mich aufgebrezelt. Genau da haben Sie angerufen. Und da dachte ich mir, das lasse ich mir nicht entgehen.“
Mark schwieg skeptisch.
„Naja“, sagte sie dann, „immer noch besser als im Schlafanzug.“ Sie lachte nervös. Dann strich sie sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinters Ohr und wurde ernst. „Ich hätte mich doch umziehen sollen, nicht wahr?“, sagte sie und sah ihn fragend an. Für eine Millisekunde war all ihre Selbstsicherheit verschwunden – fast hilfesuchend erschien ihm ihr Blick. Doch dann fing sich Sarah Blum wieder und überraschte ihn mit einem Vorschlag: „Ich vermute, dass Sie dringend jemanden brauchen, sonst hätten Sie mich nicht angerufen, oder? Mit meinem miesen Zeugnis und alldem. Und das trifft sich gut, ich suche nämlich auch dringend etwas Festes. Im Moment halte ich mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Glauben Sie mir, Kaffee kochen kann ich jetzt wie ein Weltmeister. Aber das ist auch echt öde. Deshalb schlage ich vor, dass ich eine Woche bei Ihnen zur Probe arbeite. Ganz ohne Bezahlung. Sie hätten kein Risiko und nach einer Woche sehen wir weiter.“
„Naja“, sagte Mark nachdenklich.
„Ich zieh’ auch was anderes an, keine Sorge“, sagte sie schnell. Und lächelte schon wieder.
Mark glaubte nicht recht daran, dass sie für seine Kanzlei die Richtige war, aber hatte sie nicht eine Chance verdient, ihn vom Gegenteil zu überzeugen? Wo wäre er selbst heute, wenn es nicht die Menschen gegeben hätte, die auch mal eine Ausnahme machten? Und das Risiko war wirklich überschaubar. Gleich morgen könnte er beginnen, sich parallel nach jemand Passenderem umzuschauen.
„Also gut“, sagte er, „und wenn Sie sich bewähren, dann erhalten Sie selbstverständlich Ihr Gehalt für die abgeleistete Arbeitswoche rückwirkend.“
„Das hört sich doch nach einem fairen Deal an“, rief Sarah begeistert und sprang auf. Frischen Wind würde sie mit Sicherheit in die Kanzlei bringen.
„Ich muss Sie vorwarnen“, setzte Mark fort, „Die nächste Zeit wird anstrengend. Viel Zeit zum Einarbeiten bleibt nicht.“
„Also abgemacht?“, fragte Sarah strahlend, „Wann soll ich anfangen?“
„Um acht“, antwortete Mark und stand ebenfalls auf.
„Gut, ich werde pünktlich sein. Sie werden es nicht bereuen, Herr Bischof.“ Sarah streckte ihm die Hand entgegen und Mark ergriff sie. Ihr Händedruck war überraschend fest und vielversprechend für eine so zarte Person.
Als Sarah gegangen war, rief Mark zu Hause an. Aber niemand ging ran. Entweder war Steven nicht da oder nahm nicht ab. Dann eben nicht. Er würde sich schon wieder beruhigen.
Steven fuhr auf. Zehn vor acht. Er war sofort hellwach.
„Mist, verdammter“, keuchte er und sprang aus dem Bett. Hatte wohl das Weckerklingeln überhört. Kein Wunder, er war ja gerade erst eingeschlafen. Was für eine miese Nacht.
Steven verfolgte die Spur von Kleidern, die er abends gelegt hatte, rückwärts. T-Shirt, Hose, Socken. Ein dumpfer Schmerz pochte unter dem notdürftig angelegten Verband. Steven biss die Zähne zusammen. Es half ja nichts. Er stopfte ein paar Hefte in seinen Rucksack und eilte in die Küche.
Dort riss er eine Toastscheibe aus der Packung, um sie auf dem Weg zum Fahrrad in großen Bissen zu verschlingen. Die pappigen Stückchen klebten an den Zähnen und am Gaumen fest und ließen sich nur durch heftiges Schlucken herunterwürgen. Wenn er sich jetzt beeilte, konnte er vielleicht noch rechtzeitig zum Schulbeginn da sein. Sein Vater war schon weg. Wenigstens etwas.