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»Karin Fossum erzählt verdammt spannend, furchtlos und poetisch.« Norddeutscher Rundfunk Flirrende Hitze liegt über dem norwegischen Dorf Finnemarka, als Kommissar Konrad Sejer zu einem Tatort gerufen wird: Die alte Witwe Halldis Horn wurde auf ihrem abgelegenen Hof brutal erschlagen. Schon bald fällt der Verdacht auf Erkki, einen Jungen, der aus der psychiatrischen Anstalt geflohen ist und der in der Nähe des Hofs gesehen wurde. Seit dem Tod seiner Mutter schreibt die Dorfgemeinschaft ihm jedes Unheil zu, das erkennt Konrad Sejer schnell. Soll er nur zum Sündenbock gemacht werden? Erkkis Therapeutin ist davon überzeugt. Doch bevor Sejer mehr herausfinden kann, werden die Ermittlungen von einem Bankraub überschattet. Dem Täter gelingt die Flucht - und als Geisel nimmt er ausgerechnet Erkki mit in die dunklen Wälder. Was wird dort draußen geschehen, wenn es nur noch heißt, fressen oder gefressen werden? Der dritte Fall in der skandinavischen Thrillerreihe um Konrad Sejer, in der jeder Band unabhängig gelesen werden kann, erschien vorab bereits unter dem Titel »Wer hat Angst vorm bösen Wolf«. Für Fans von Henning Mankell und Håkan Nesser!
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Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Über dieses Buch:
Flirrende Hitze liegt über dem norwegischen Dorf Finnemarka, als Kommissar Konrad Sejer zu einem Tatort gerufen wird: Die alte Witwe Halldis Horn wurde auf ihrem abgelegenen Hof brutal erschlagen. Schon bald fällt der Verdacht auf Erkki, einen Jungen, der aus der psychiatrischen Anstalt geflohen ist und der in der Nähe des Hofs gesehen wurde. Seit dem Tod seiner Mutter schreibt die Dorfgemeinschaft ihm jedes Unheil zu, das erkennt Konrad Sejer schnell. Soll er nur zum Sündenbock gemacht werden? Erkkis Therapeutin ist davon überzeugt. Doch bevor Sejer mehr herausfinden kann, werden die Ermittlungen von einem Bankraub überschattet. Dem Täter gelingt die Flucht - und als Geisel nimmt er ausgerechnet Erkki mit in die dunklen Wälder. Was wird dort draußen geschehen, wenn es nur noch heißt, fressen oder gefressen werden?
Über die Autorin:
Karin Fossums international erfolgreiche Krimis sind vielfach preisgekrönt. Ihr genaues Gespür für menschliche Abgründe beweist die norwegische Bestsellerautorin auch in der neuen Eddie-Feber-Reihe.
Bei dotbooks veröffentlichte Karin Fossum ihre Reihe um Eddie Feber mit den Kriminalromanen »Familienbande« und »Nachtläufer«, die auch als Printausgaben und Hörbücher bei Saga Egmont erhältlich sind.
Außerdem erscheint bei dotbooks ihre Konrad-Sejer-Reihe mit den Thrillern »Evas Auge«, »Fremde Blicke«, »Schwarzer Wald«, »Dunkler Schlaf« und »Stumme Schreie«, die bei Saga Egmont im Hörbuch erhältlich sind.
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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Mai 2025
Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 1997 unter dem Originaltitel »Den som frykter ulven« bei Cappelen Damm. Die deutsche Erstausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Wer hat Angst vorm bösen Wolf« bei Piper.
Copyright © der norwegischen Originalausgabe 1997 J. W. CAPPELEN FORLAG / CAPPELEN DAMM AS 1997
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 Piper Verlag GmbH, München
Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98952-945-8
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Karin Fossum
Schwarzer Wald
Thriller
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
dotbooks.
Inhaltsverzeichnis
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Lesetipps
Für Kari
Ein greller Sonnenstrahl fiel schräg durch die Bäume.
Der Schock ließ ihn erstarren. Er war nicht darauf vorbereitet. Hatte die Matratze verlassen, war langsam durch das dunkle Haus gegangen, noch schlaftrunken, war auf die Steintreppe getreten. Und von der Sonne getroffen worden.
Wie eine Nadel bohrte sich der Sonnenstrahl in seine Augen. Er schlug die Hände vors Gesicht, aber das Licht drang immer tiefer in ihn ein, bahnte sich einen Weg durch Knorpel und Knochen und erreichte die Dunkelheit der Schädelkuppe. Dort wurde alles grell und weiß. Seine Gedanken jagten in sämtliche Richtungen auseinander, wurden zu Atomen zerfetzt. Er hätte laut aufschreien mögen, aber das tat er nie, das war unter seiner Würde. Deshalb biß er die Zähne zusammen und blieb so ruhig wie möglich auf der Treppe stehen. Etwas passierte mit ihm. Seine Kopfhaut spannte sich, er spürte ein stärker werdendes Prickeln. Er zitterte und behielt die Hände vorm Gesicht. Er merkte, daß seine Augen zur Seite gezogen, daß seine Nasenlöcher geweitet und groß wie Schlüssellöcher wurden. Er wimmerte leise, wollte sich wehren, konnte die gewaltigen Kräfte aber nicht aufhalten. Langsam wurden seine Gesichtszüge ausgewischt. Am Ende blieb nur noch ein nackter Schädel, überzogen mit weißer, durchsichtiger Haut.
Er kämpfte fieberhaft, er stöhnte leise, er versuchte, sein Gesicht zu berühren, sich zu vergewissern, daß es noch vorhanden war. Seine Nase war widerlich weich. Er ließ die Hände sinken. Hatte das wenige zerstört, was er noch gehabt hatte, spürte deutlich, daß die Nase verrutschte und wie eine faule Pflaume ihre Form verlor.
Und dann war es plötzlich vorbei. Er holte vorsichtig Luft, merkte, wie sein Gesicht sich wieder zusammenfügte. Er zwinkerte einige Male heftig, öffnete und schloß den Mund, doch als er wieder ins Haus gehen wollte, verspürte er einen Stich in der Brust. Wie von den scharfen Krallen eines unsichtbaren Untiers. Er krümmte sich, schlang die Arme um seinen Leib, um sich der Kraft zu widersetzen, die an der Haut auf seiner Brust zog. Seine Brustwarzen verschwanden in den Achselhöhlen. Die Haut seines nackten Oberkörpers wurde dünner, die Adern standen wie knotige Kabel hervor, pulsierend von schwarzem Blut. Er krümmte sich noch mehr zusammen und spürte, daß es jetzt kam, daß er es nicht würde zurückhalten können.
Er barst wie ein Troll in der Sonne. Eingeweide und Gedärm quollen hervor. Er versuchte, alles bei sich zu behalten, er packte die Wundränder und preßte sie zusammen, aber seine Innereien quollen und sickerten zwischen seinen Fingern hindurch und fielen ihm wie Schlachterabfälle vor die Füße. Sein Herz schlug noch, eingesperrt hinter den Rippen, verängstigte, hämmernde Schläge. Lange verharrte er in dieser Haltung, verkrümmt und schluchzend. Seine Bauchhöhle war leer. Er öffnete ein Auge und blickte ängstlich an sich herunter. Er lief nicht mehr aus. Unbeholfen sammelte er seine Innereien auf und stopfte sie achtlos in sich hinein, während er mit der anderen Hand die Haut so hielt, daß nicht alles sofort wieder hinausgleiten konnte. Nichts landete am richtigen Ort, sein Bauch beulte sich an den seltsamsten Stellen aus, aber wenn er die Wunde schließen könnte, würde niemand etwas sehen. Er wußte, daß er nicht so beschaffen war wie andere, aber von außen merkte man das nicht. Während er mit der linken Hand die Haut krampfhaft festhielt, drückte er mit der rechten. Am Ende war fast alles wieder in seinem Bauch verstaut. Nur verschmierte Blutflecken waren noch auf der Treppe zu sehen. Er preßte die Wunde fest zusammen und merkte, wie sie sich schloß. Er atmete ganz flach, die Wunde sollte schließlich nicht wieder aufgehen. Noch immer stand er stocksteif auf der Treppe. Noch immer drang der weiße Sonnenstrahl, scharf wie ein Schwert, durch den Wald. Aber ihm ging es wieder gut. Es war nur alles so schnell gegangen. Er hätte nicht vom Bett aus gleich in die Sonne treten dürfen. Er hatte sich immer schon in einem anderen Raum bewegt und die Welt durch einen dunklen Schleier gesehen, der dem Licht und den Geräuschen draußen ihre Schärfe nahm. Den Schleier hielt er durch tiefe Konzentration an Ort und Stelle. Doch diesmal hatte er vorschnell gehandelt. War einfach in den neuen Tag hineingerannt, ohne zu überlegen, wie ein Kind.
Die Strafe erschien ihm übertrieben hart. Denn ein Traum hatte ihn aus seinem Schlaf auf der fauligen Matratze auffahren, aus dem Haus stürzen und die Konsequenzen vergessen lassen. Er schloß die Augen und sah einzelne Bilder vor sich. Er sah seine Mutter am Fuß der Treppe liegen. Aus ihrem Mund wurde rotes, heißes Blut gepumpt. Dick und rund in ihrer großgeblümten Kittelschürze, kam sie ihm vor wie eine umgekippte Kanne, aus der rote Soße fließt. Er dachte an ihre Stimme. Der immer ein dunkler Flötenton gefolgt war. Langsam ging er wieder ins Haus.
DASIST ERRKIS GESCHICHTE.
So fing sie an: Um drei Uhr nachts verließ er die Anstalt. Wir reden nicht von Anstalt, Errki, und auch wenn du dieses Haus in deinem privaten Universum nennen kannst, wie du willst, mußt du doch auch an andere denken und eine andere Bezeichnung benutzen. Das nennt man Rücksichtnahme. Oder Takt, wenn du willst. Hast du davon je gehört?
Sie wußte ihre Worte wirklich wohl zu setzen, er hatte das Gefühl, daß alles aus ihr herausfloß wie Öl. Und nach den Worten kam ihr Geräusch, eine schrille Hammondorgel.
Das Haus heißt Wegweiser, sagte er daraufhin mit säuerlichem Lächeln. Wir hier im Wegweiser, eine große Familie. Das Telefon klingelt, hier Haus Wegweiser, ja bitte? Kann jemand die Post für das Haus Wegweiser holen?
Genau. Das ist einfach eine Frage der Gewohnheit. Jeder muß ein wenig Rücksicht nehmen.
Ich nicht, erwiderte er mürrisch. Ich bin nicht freiwillig hier. Ich bin ein Paragraph-5-Fall, einer, der sich und möglicherweise andere gefährdet.
Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: Weil ich im Dreck stecke, kannst du auf Gehaltsstufe zweiundzwanzig herumtanzen.
Die Nachtwache zitterte. Es gab einen Zeitpunkt, an dem sie sich wehrlos fühlte. Und zwar dieses Niemandsland zwischen Nacht und Morgen, ein graustichiger Leerraum, wo die Vögel verstummten und wo man nie wußte, ob sie je wieder singen würden. Wo alles möglich war, wo sie nicht wußte, was nun kommen mochte. Sie ließ die Schultern sinken und war plötzlich erschöpft. Brachte nicht die Kraft auf, seinen Schmerz zu sehen, zu bedenken, wer er war. Daß er sich in ihrer Obhut befand. Sie fand ihn nur widerlich, selbstsüchtig und häßlich.
Das weiß ich auch, fauchte sie. Aber du bist schon seit vier Monaten hier, und soviel ich weiß, gefällt es dir ganz gut.
Das sagte sie mit hühnerschnabelspitzem Mund. Die Orgel schlug einen schrillen Akkord an.
Und er lief los. Das war wirklich keine große Leistung. Es war eine warme Nacht, und das Fenster stand einen fünfzehn Zentimeter breiten Spalt offen. Es war zwar mit einem Stahlbügel befestigt, aber dieses Problem löste er, indem er den ganzen Bügel demontierte. Dazu benutzte er seine Gürtelschnalle. Die Schrauben glitten locker aus dem morschen Holz, das Haus war über hundert Jahre alt. Sein Zimmer lag im Erdgeschoß. Leicht wie ein Vogel sprang er aus dem Fenster und landete auf dem Rasen.
Er nahm nicht den Weg über den Parkplatz, sondern lief in den Wald und dann weiter zum Weiher, den sie »Brunnen« nannten. Ihm war es egal, wohin er ging. Nur im Haus Wegweiser wollte er nicht länger bleiben.
Der Weiher war schön. Spielte sich nicht auf, lag einfach spiegelglatt da. Ruhte in der Landschaft, offen und still. Stieß ihn nicht ab, lockte ihn nicht zu sich. Berührte ihn nicht. War einfach. Die Anstalt lag nur einen Steinwurf entfernt, aber wegen der Bäume konnte er sie nicht mehr sehen. Nestor bat ihn, einen Moment stehenzubleiben, was er auch tat. Er starrte in den schwarzen Brunnen. Mußte plötzlich an Tormod denken, der hier gefunden worden war, mit dem Gesicht nach unten, wie immer mit Gummihandschuhen, die blonde Mähne wogend im grauschwarzen Wasser. Kein schöner Anblick, aber den hatte er nie geboten. Er war fett und träge gewesen, mit blassen Augen und außerdem dumm. Ein schlaffer Widerling, der alle um Verzeihung bat, der Angst hatte, andere anzustecken, ihnen im Weg zu sein, sie mit seinem stinkenden Atem anzuhauchen. Jetzt war der arme Wicht zu Gott heimgekehrt. Vielleicht hing er auf einer Wolke herum, endlich befreit von den glitschigen Handschuhen. Vielleicht traf er dort oben die Mutter, vielleicht schaukelte sie auf der Nachbarwolke. Er hatte seine Mutter geliebt. Beim Gedanken an Tormods unsteten Blick und die blonden Wimpern mußte er heftig schlucken. Gereizt schüttelte er sich und ging weiter.
Die dunkle Gestalt war vor dem hellgrünen Hintergrund sehr gut zu sehen, aber niemand sah sie. Die anderen schliefen noch. Und ein Neuer hatte Tormods Platz übernommen. Durch seinen Selbstmord hatte Tormod sich auf etwas Praktisches reduziert, das sie so dringend brauchten: ein freies Bett. Wirklich eine überraschende Verwandlung, dachte er. Tormod war nicht mehr Tormod, er war ein freies Bett. Und er selbst würde auch zu einem leeren Bett mit strammgezogenem Laken werden. Er lauschte auf die Stimme und nickte vage, dann schlenderte er weiter durch den dichten Wald. Als die Nachtwache endlich durch seinen Türspalt lugte, war er schon seit zwei Stunden auf der Landstraße unterwegs. Die Nachtwache wagte nicht, von ihrer Unterhaltung zu berichten. Nein, mir ist nichts aufgefallen, er war wie immer. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel und traf sie durch das Fenster des Stationszimmers, wo sie ihre Morgenbesprechung abhielten, mitten ins Gesicht. Die Worte brannten ihr wie Säure im Hals.
Er ging am Reitstall vorbei. Hörte die großen dunklen Tiere unruhig mit den Hufen scharren. Eines hatte ihn bemerkt und schnaubte heftig. Er sah sie aus dem Augenwinkel und spürte die bedrückende Sehnsucht, bei ihnen, wie sie zu sein. Niemand geht zu einem Pferd und fragt: Wer bist du? Dem Pferd wird die Last auferlegt, die es tragen kann, danach darf es sich ausruhen. Und ein Pferd, das nichts leistet, bekommt eine Kugel in den Kopf. Einfach. Tag für Tag. Mit einem Kind auf dem Rücken über die Koppel wandern. Aus der alten Badewanne trinken. Im Stehen schlafen, mit gesenktem Kopf. Insekten abschütteln. Bis die Zeit um ist.
Er ging die Landstraße entlang. Bald würden die Menschen sich aus Decken und Laken befreien. Würden aus Ameisenhügeln und Höhlen quellen, er spürte das schon jetzt wie ein Zittern in der Luft. Bald würde der Verkehr einsetzen. Errki ging jetzt schneller. Besser, er verzog sich wieder in den Wald. Ein seltenes Mal hob er den Kopf. Er liebte den Wald, der immer in Bewegung war, den flimmernden Lichtschein zwischen den Blättern und den Grasgeruch in seinen breiten Nasenlöchern. Das Geräusch von Zweigen und Heidekraut, die unter seinen Füßen sanft nachgaben. Bäume, grau und trocken, die einfach nur dastanden, im Boden verankert. Er brach ein Farnblatt ab und hielt zugleich die Wurzel in der Hand. Hielt sie sich vor die Augen und murmelte: Wurzel, Stengel und Blatt. Wurzel, Stengel und Blatt.
Schließlich war er müde. In der Ferne sah er eine Felskuppe und darunter einen dunklen Schatten. Er steuerte darauf zu und rollte sich im Gras zusammen. Die ganze Zeit horchte er auf die Stimme. Die Stimme summte in ihm, sanft und gleichmäßig wie eine Turbine. In der Tasche hatte er ein Schraubglas. Der Schlaf ist der Bruder des Todes, dachte er und schloß die Augen.
Er befand sich am Rand einer Hochebene.
So konnte nur Errki gehen, schwer und schleppend wie eine flügellahme Krähe, und doch schnell. Alles an ihm schlotterte vor sich hin, die langen Haare, die offene Jacke, die Hose mit dem breiten Schlag, die er schon lange nicht mehr abgelegt hatte. Eine alte Polyesterhose, die streng nach Schweiß und Urin roch. Er hielt den Kopf schräg, so als sei an seinem Hals eine Sehne gerissen, und er schaute nur selten auf. Er starrte eifrig den Boden an und sah nur seine stetig weitertrabenden Füße. Sie gingen von selbst. Er brauchte kein Ziel, er konnte stundenlang laufen, ohne müde zu werden, immer weiter, wie ein aufgezogenes Spielzeug mit Schlüssel im Rücken und gespannter Feder.
Er war ein Mann von vierundzwanzig, mit schmalen Schultern und überraschend breiten Hüften. Seine schlechten Hüftgelenke waren ein Familienerbstück. Er brauchte einen ganz besonderen Hüftschwung, um die Beine bewegen zu können. Einen gereizten Schwung, als wollte er sich von einer unangenehmen Last befreien. Zahllose Leute hatten ihm deswegen schon erzählt, er habe einen Gang wie ein altes Weib. Sein Hals war ebenfalls dünner und länger als der der meisten Männer, fast zu dünn, um das Gewicht seines Kopfes zu tragen. Nicht, daß sein Kopf außergewöhnlich groß gewesen wäre, aber sein Inhalt war einwandfrei schwerer als bei vielen anderen Menschen.
Errki wog nur sechzig Kilo und aß nicht viel. Es fiel ihm so schwer, sich zu entscheiden. Brot oder Cornflakes? Wurst oder Hamburger? Apfel oder Banane? Wie schafften die anderen es eigentlich, dauernd solche Entscheidungen zu treffen? Wie konnten sie sicher sein, daß sie richtig gewählt hatten?
In der Hosentasche hatte er ein Glas mit Schraubverschluß, und dieses Glas enthielt alles, was er brauchte, um seine Beine gefügig zu machen und seine Gedanken in akzeptablen Reihen aufzustellen. Im Flur von Haus Wegweiser, im Bus, in der Bahn, auf der Landstraße.
Wenn er nicht in Bewegung war, lag er still da und ruhte sich aus.
Seine Haare waren lang und schwarz und strähnig, sie hingen vor seinem Gesicht wie schmutzige Fransen. Seine Haut war von Aknenarben zerfurcht. Mit dreizehn hatte er die ersten Pickel gehabt, sie waren angeschwollen wie kleine Vulkane. Er hatte aufgehört, sich zu waschen. Wenn er sie mit Wasser und Seife behandelte, leuchteten die Pickel noch viel wütender auf. Bedeckten aber alte Staub- und Fettschichten die Haut, fielen sie weniger auf. Sein Gesicht unter den struppigen Haaren war lang und schmal, mit scharfen Wangenknochen und dünnen schwarzen Augenbrauen. Die Augen lagen tief und schienen sich abseits halten, ausweichen zu wollen. Wenn jemand aber ihren Blick festhalten konnte, dann strahlten sie mit blassem Glanz. Er schaute seine Gesprächspartner schräg von unten her an. Seine langen Haare und die vielen Kleidungsstücke sorgten dafür, daß er auch im sonnigen Sommer ganz weiße Haut hatte. Die Hose hing auf seinen Hüften und wurde von einem Ledergürtel gehalten. Die Gürtelschnalle zeigte einen Messingadler mit ausgebreiteten Flügeln und krummem Schnabel. Der Adler hatte kleine emaillierte Augen, die eine unsichtbare Beute anstarrten, vielleicht Errkis bescheidenes Geschlechtsorgan unten in der verdreckten Hose. Es war wenig entwickelt für einen Mann seines Alters und hatte noch nie den Weg in eine Frau gefunden. Das wußte aber niemand, und er selbst hatte dieses schmerzliche Wissen verdrängt und dachte lieber an andere, wichtigere Dinge. Außerdem war der Adler wirklich beeindruckend, wie er im Rhythmus von Errkis Hüftschwung auf und ab schwebte. Vielleicht machte er andere glauben, das Gerät unter ihm könne durchaus als Raubtier durchgehen.
Es war still und heiß auf den Wegen. Gelbe Felder rechts und links, so weit das Auge reichte. In der Ferne sah er eine junge Frau mit einem Kinderwagen. Sie hatte seine schwarze, watschelnde Gestalt schon entdeckt und wußte, daß sie an ihm vorbei mußte. Nirgendwo bog ein Seitenweg ab. Er sah seltsam aus, und als er näherkam, spürte sie, wie ihr Körper sich verspannte. Sofort wurde ihr Gang steif. Die Gestalt wackelte und schob sich vorwärts, dieses Wesen wirkte verängstigt und aggressiv zugleich, und die Frau dachte, sie dürfe ihm nicht in die Augen schauen, müsse so schnell wie möglich weitergehen. Am besten mit gleichgültiger, überlegener Miene. Auf keinen Fall durfte sie ihre Angst zeigen; sie stellte sich vor, daß er diese Angst wie ein unerzogener Hund wittern und sie dann angreifen würde.
Die junge Frau war so licht und schön, wie Errki schwarz und häßlich war. Selbst durch seinen dunklen Schleier sah er sie wie ein scharfes Licht auf sich zukommen. Krampfhaft hielt sie den Kinderwagen fest. Sie schob ihn gereizt vor sich her wie einen Schild, so als sei sie bereit, den Inhalt des Wagens zu opfern, wenn sie dadurch ihre eigene Haut retten könnte. Dachte Errki. Er war in Gedanken versunken gewesen und hatte die trippelnde Gestalt am Rand seines Blickfeldes eben erst bemerkt. Diese Gestalt sah belanglos aus, wie flatterndes weißes Papier. Er blickte nicht auf. Er hatte die Umrisse und die Bewegungen längst registriert. Unter allem, was es in Errkis Vorstellungswelt gab, war eine junge Frau mit einem Kinderwagen so ungefähr das Jämmerlichste. Er konnte einfach nicht fassen, daß solche Frauen diesen dämlichen Ausdruck von Seligkeit mit sich herumtrugen, bloß weil sie ein Kind aus sich herausgequetscht hatten. Trotz der jammernden Milliarden, die auf der Erde hausten, veränderte sich das gesamte Weltbild dieser Frauen, es war einfach unbegreiflich. Er schaute trotzdem kurz zu ihr hinüber und stellte sich die folgende Frage: Böse Absichten oder keine? Gute kannte er nicht. Außerdem ließ er sich von niemandem an der Nase herumführen. Dem äußerlichen, oberflächlichen Eindruck nach waren seine Feinde nicht zu erkennen. Unter der Babydecke konnte sich durchaus ein Dolch verbergen. Er sah einen Gegenstand mit gespaltener Spitze und gezackter Kante vor sich. Man wußte nie.
Sie kamen aneinander vorbei. In dem Moment hörte Errki das dünne Klirren von Glas. Die junge Frau schloß die Hände noch fester um den Griff des Kinderwagens. Für eine Sekunde schaute sie hoch. Zu ihrem Entsetzen sah sie das seltsame Leuchten seiner Augen, und unter der offenen schwarzen Jacke sah sie den Aufdruck seines T-Shirts:
KILL DIE ANDEREN.
Das konnte sie nicht vergessen. Und so war sie eine von mehreren, die später gegenüber der Polizei bezeugen konnten, diesen Mann genau an dem Tag genau an der Stelle gesehen zu haben.
Die anderen waren immer hinter ihm her. Nicht nur hinter seinem verwüsteten Leib, in dem die Organe wild durcheinander lagen, seinem steinharten Herzen, das hinter seinem Knochengitter zitterte. Sie wollten in ihn hinein. Wollten mit einer grellen Lampe in seine geheime Kammer eindringen. Sie packten ihre bösen Absichten in schöne Worte, sie faselten vom Segen der Wirklichkeit, von einer spannenden, herausfordernden Gemeinschaft. Es war unerträglich.
Wo er das alles doch gar nicht wollte!
Verwirrt schüttelte er den Kopf. Seine Gedanken waren unkontrolliert weitergewandert und störten nun. Er taumelte wieder in die Kammer und ließ sich auf die verdreckte Matratze sinken. Er war glücklich darüber, daß er aus der Anstalt, die ihn zu ersticken drohte, geflohen war, daß er das verlassene Haus gefunden hatte. Er drehte sich auf die Seite, zog die Knie an, schob die Hände zwischen die Oberschenkel und preßte die Wange an die angeschimmelte Matratze. Er starrte tief in sich hinein, in den düsteren, staubigen Keller, in den durch ein schmales Loch in der Decke ein trüber Lichtstrahl fiel. Der einen kreisrunden Fleck auf den Steinboden malte. Und dort saß Nestor. Neben ihm lag ein zerlumpter Mantel. Der Mantel sah ziemlich unschuldig aus, wie von jemandem vergessen, aber er wußte es besser. Lange blieb er still liegen und wartete, und dann schlief er wieder ein. Die Wunde mußte in Ruhe heilen. Während sie heilte, träumte er. Nach der Strafe kam immer Trost, und den nahm er entgegen. Das gehörte zu ihrer Abmachung. Es war drei Minuten nach sechs, am Morgen des 4. Juli, und langsam zog eine gewaltige Hitze herauf.
Das Haus war eine Überraschung, es versteckte sich im Dickicht. Eine alte Kate, seit Jahrzehnten unbewohnt. Erstaunlich gut erhalten, obwohl Landstreicher längst nahezu alle Einrichtungsgegenstände ramponiert hatten. Nicht wenige hatten sich im Laufe der Jahre vorübergehend hier niedergelassen, den heruntergekommenen Räumen ihre Prägung aufgedrückt oder leere Flaschen hinterlassen.
Er blieb eine Weile zwischen den Bäumen stehen und starrte. Es war ein Holzhaus mit einem mit üppigem Gras bewachsenen Vorhof. Vorsichtig streckte er die Hand nach der schweren Tür aus und schob sie auf. Wartete einen Moment und schnupperte. Im Haus fand er Küche, Wohnzimmer und zwei Kammern, und in einem Etagenbett lag eine alte Matratze mit gestreiftem Bezug. Er schlich sich von Zimmer zu Zimmer und schaute sich um. Nahm den Geruch des alten Holzes in sich auf. In diesem Haus war Errki seinen Ahnen näher, als er ahnte. Es war eine alte Almhütte, errichtet auf der Rodung eines der vielen finnischen Siedlerplätze des 17. Jahrhunderts. Während er durch das Haus ging, belauschte er aufmerksam die stummen Wände. In diesem Haus schien sich irgendetwas zugetragen zu haben. In den Wänden hing arge Wut. An mehreren der dicken Baumstämme ragten Splitter aus riesigen Wunden, jemand schien mit einer Axt auf sie losgegangen zu sein. Kein Fenster war unversehrt, in den geborstenen Rahmen saßen nur noch vereinzelte Glasscherben. Er dachte kurz nach. Mit dem Auto konnte man unmöglich herkommen, und seines Wissens hatte niemand ihn gesehen, als er vom Weg abgebogen und den Hang heraufgeklettert war. Er hatte keine Uhr, aber er wußte, daß genau eine halbe Stunde vergangen war, seit er die Landstraße verlassen hatte. Daß er nichts zu essen und keine anderen Kleider hatte, machte ihm keine Sorgen. Aber er hatte Durst. Er bewegte die Kiefer, um ein wenig Speichel zu produzieren. Kaute am Ende auf seiner eigenen Zunge herum.
Schließlich ging er in den Raum, der früher die Küche gewesen war, und öffnete aufs Geratewohl einige Schubladen. Die Griffe waren verschwunden, er mußte seine langen Fingernägel wie Hebel benutzen. Er fand eine Gabel mit abgebrochenen Zinken und eine Packung Stearinkerzen. Krümel und Spinngewebe. Kronkorken. Eine leere Streichholzschachtel. Vor dem eingeschlagenen Fenster hingen die Reste einer Tüllgardine; als er sie berührte, zerfielen sie zwischen seinen Fingern zu Staub. Er ging zurück ins Wohnzimmer. Von dort schaute ein Fenster auf den Hof, das an der Wand gegenüber dagegen auf einen See. An dieser Wand stand ein altes Sofa mit grünem, genopptem Bezug, an der gegenüberliegenden ein Schrank. Er öffnete die Tür und schaute hinein. Leer. Der Bretterboden war verschmutzt und klebrig. Vorsichtig ließ er sich auf das Sofa sinken. Die Federn ächzten, und eine Staubwolke stob von dem verschlissenen Bezug auf. Also ging er wieder in die erste Kammer, zu dem Bett mit der Matratze. Streifte Jacke und T-Shirt ab und legte sich hin. War für eine Ewigkeit verschwunden. Als er endlich wieder erwachte, hatte er vergessen, wo er war, und außerdem hatte er geträumt. Deshalb beging er den großen Fehler, ohne vorheriges Nachdenken in die Sonne hinauszulaufen. Es war demütigend, seinen eigenen Inhalt von der Treppe kratzen und sich Nestors boshaftes Gelächter anhören zu müssen. Während ihm sein Gedärm wie Schlangenbrut durch die Finger glitt.
Er erwachte zum zweiten Mal. Setzte sich vorsichtig auf und starrte ins Leere. Strich sich über die Brust, doch die Brust war unversehrt. Nur eine rote, gezackte Narbe war noch vorhanden. Sie begann mitten zwischen den Brustwarzen und zog sich zum Nabel hinunter. Die Sonne stand jetzt höher am Himmel. Er stand auf. Die Kammer war fast leer, außer dem Bett gab es nur einen grob gezimmerten Nachttisch, kaum mehr als eine Kiste. Langsam durchquerte er den Raum. Öffnete die Nachttischschublade. Und während er hineinstarrte, rieb er sich zerstreut eine wehe Stelle an der Hüfte. Er hatte auf etwas Hartem gelegen. Er kehrte zum Bett zurück und betrachtete die Matratze. Betastete sie mit den Fingern. Dort lag etwas Schmales, Hartes. Mißtrauisch hob er die Matratze an und drehte sie um. Auf der Unterseite wies der Bezug ein großes Loch auf, ein wenig von der Schaumgummifüllung war entfernt worden. Er schob die Hand in das Loch und bohrte sich einen Weg. Fand etwas Kaltes. Zog es hervor und starrte es verwundert an, mochte seinen Augen nicht trauen. Ausgerechnet hier, in dieser heruntergekommenen Kate, in einer alten, angeschimmelten Matratze, lag ein Revolver. Er hielt ihn vorsichtig mit beiden Händen und schaute in den Lauf hinein. In Errkis Händen war diese Waffe ein fremder Gegenstand, doch als er sie in die rechte Hand nahm und mit dem Finger den Abzug berührte, spürte er, wie gut sie darin lag. Welche Kraft sie besaß. Alle Macht auf Himmel und Erden. Brise, Windstoß und Sturm. Neugierig öffnete er das Magazin und schaute hinein. Dort steckte eine einzige Kugel.
Aufgeregt nahm er sie heraus und untersuchte sie sorgfältig. Sie war lang und blank und an der Spitze überraschend rund. Er schob sie wieder ins Magazin und freute sich darüber, wie gut sie hineinpaßte. Nachdem er diesen Fund gemacht hatte, sah er sich erst einmal ausgiebig um. Irgendwer hatte hier übernachtet und den Revolver versteckt. Das war seltsam. Vielleicht war der Unbekannte überrascht worden und hatte die Waffe nicht mitnehmen können. Vielleicht wartete er auf den richtigen Zeitpunkt, um zurückzukommen und sie zu holen. Es war ein schöner Revolver. Errki hatte keine Ahnung von Waffen, aber diese hielt er für einen großkalibrigen Revolver von teurer Marke. Er las die kleinen Buchstaben auf dem Schaft: Colt.
»Was meinst du, Nestor«, murmelte er und drehte und wendete die Waffe. Dann hielt er inne und ließ sie fallen. Sie knallte auf den Boden. Er lief in die Küche, klammerte sich am Spülbecken an und blieb eine Weile so stehen. Das hätte er sich ja denken können. Daß Nestor ekelhafte Vorschläge machen würde. Er hörte, wie sie da unten in dem finsteren Keller lachten, daß der Staub nur so aufflog. Dann ging er wieder in die Kammer und starrte den Revolver lange an. Endlich schob er ihn in die Matratze zurück. Er brauchte ihn nicht, er hatte andere Waffen. Danach wanderte er durch das Haus, von der Küche ins Wohnzimmer und zurück, und die ganze Zeit starrte er die verdreckten Bodenbretter an. Sie knackten und ächzten in unterschiedlicher Tonhöhe. Bald hatte er auf seiner Wanderung von Zimmer zu Zimmer eine ganze Melodie gespielt. Seine schwarzen Haare wurden wütend hin und her geschwenkt, Jacke und Hose taten es ihnen nach. Er streckte die Arme schräg nach unten und bewegte die Finger im Takt der Brettermusik. Er wurde in den Rhythmus hineingesogen, er ging und ging, er konnte nicht aufhören und wollte es auch gar nicht. In dieser leichten Trance fand er Frieden, er brauchte nur zu gehen, hin und her, mit gleichmäßigen Schritten und gespreizten Fingern. Knack knack, Errki geht, hin und her, wieder und wieder, von Zimmer zu Zimmer, knacketiknack.
Er wußte nicht, wie lange er schon unterwegs war, aber schließlich faßte er Mut und blieb vor der Haustür stehen. Öffnete sie, vorsichtig. Hemmungslos ergoß sich der Sonnenschein über die Bäume. Er schlug die Augen nieder und trat vorsichtig auf die Steintreppe. Ging langsam durch das Gras. Blieb stehen, schnupperte in Richtung der Tannenzapfen über und der Buntnesseln und Farnsträucher unter ihm. Wurzel, Stengel und Blatt. Endlich war er wieder unterwegs. Wußte nicht, wohin, wußte nicht, was er vorhatte. Nestor lenkte seine Schritte den Hang hinab, zu den Häusern. Es war noch immer früh am Morgen. Ganz besonders morgenmuntere Menschen hatten wohl gerade ihre Füße auf den Boden gesetzt. Sie hatten die Vorhänge zur Seite geschoben und in den strahlenden Tag hinausgeblickt. Einen heißen Tag. Hell. Flimmernd und grün. Optimistisch schmiedeten sie Pläne für diesen Tag, zur Feier des schönen Wetters und des schmerzlich kurzen Sommers. Eine von denen, die da Pläne machten, war Halldis Horn. Sie lebte allein auf einem kleinen Hof, nicht weit von der alten Finnenrodung entfernt. Und als Errki die ersten Schritte durch das Gras machte, streifte sie sich gerade das Nachthemd über den Kopf.
Ihre erste und auch ihre zweite Jugendblüte waren längst vorbei.
Und sie war viel zu dick. Aber für einige wenige vorurteilslose Gemüter bot sie absolut einen Anblick. Groß und rund und hochbusig, mit einem grauen Zopf, der ihr wie eine Eisentrosse über den Rücken hing. Ihr Gesicht war rund und frisch, ihre Wangen rosig angehaucht, ihr Blick hatte sein scharfes Funkeln behalten.
Sie ging durch Wohnzimmer und Küche und öffnete die Tür zum Hof. Hob das Gesicht in die Sonne. Blieb eine Weile auf der Treppe stehen, in karierter Schürze und Holzpantinen, und schaute sich aus zusammengekniffenen Augen um. An den Beinen trug sie braune Kniestrümpfe. Nicht, weil es kalt gewesen wäre, sondern weil sie wußte, daß Frauen in ihrem Alter besser nicht zuviel nackte Haut zeigen, und auch wenn nie ein Mensch herkam, abgesehen vom Kaufmann einmal die Woche, gab es doch immer den Herrgott mit seinem ewigen, allwissenden Blick. Was ja seine Vor- und Nachteile hatte, um es mal so zu sagen. Denn sie war zwar gläubig, kritisierte das göttliche Walten aber auch bisweilen voller Zorn und betete danach nicht um Vergebung. Jetzt starrte sie eine Löwenzahninvasion an. Überall wuchs Löwenzahn, er schien zu gedeihen wie Unkraut und drohte ihren ganzen gepflegten Hof zu ruinieren. Zweimal jeden Sommer rückte sie dem Unkraut mit einer Hacke zu Leibe. Ihren wütenden Hieben fiel eine Pflanze nach der anderen zum Opfer. Sie arbeitete gern, aber zwischendurch jammerte sie doch hin und wieder, um ihren seligen Ehemann daran zu erinnern, in was für Schwierigkeiten er sie gebracht hatte, als er einfach so über seinem Treckerlenker zusammengebrochen war. Und das nur, weil ein Gerinnsel von Reiskorngröße eine seiner Adern verstopft hatte. Daß ihr zäher, kräftiger Mann, dieser Muskelberg, sich davon hatte umwerfen lassen, begriff sie einfach nicht, auch wenn der Arzt versucht hatte, ihr den ganzen Prozeß zu erklären. Für sie blieb der Tod ihres Mannes so unbegreiflich wie die Tatsache, daß Flugzeuge nicht abstürzen, oder die, daß sie ihre Schwester Helga in Hammerfest anrufen und jedes Wort von deren quengelnder Stimme deutlich verstehen konnte.
Aber jetzt mußte sie ans Werk, ehe es zu heiß wurde. Sie holte die Hacke und trug sie über den Hof. Überschattete ihre Augen mit der Hand und schaute sich um, um ihr Vorgehen zu planen. Beschloß, an der Treppe anzufangen und sich fächerförmig weiterzuarbeiten, vorbei am Brunnen und weiter in Richtung Vorratshaus. Im Flur fand sie Eimer und Harke. Sie arbeitete mit festem Rhythmus, hackte eifrig, bis sie müde wurde, zwei bis drei Hiebe pro Pflanze. Dann harkte sie in ruhigerem Tempo alles zusammen, füllte den Eimer und leerte ihn über dem Komposthaufen hinter dem Haus. Vom Staub bist du gekommen, dachte sie und schlug energisch auf den Eimerboden. Dann hackte sie weiter. Ihr breiter Hintern zeigte zum Himmel und wogte im Takt der Hacke. Ihre Schürze mit den roten und grünen Karos bewegte sich im Sonnenschein sanft hin und her. Ihre Stirn war schweißnaß, der Zopf fiel immer wieder über ihre Schulter nach vorn. Normalerweise steckte sie ihn hoch, aufgerollt wie eine glatte Schlange, aber damit wollte sie bis nach dem Waschen warten.
Sie hörte gern zu, wie die Hacke durch das Gras sauste, scharf wie eine Axt, sie hatte sie ja selbst geschliffen. Ab und zu traf sie einen Stein und jammerte ein wenig beim Gedanken an die papierdünne Schneide. Die Unkrautstengel blieben auf dem Schlachtfeld liegen wie gefallene Soldaten. Bei der Arbeit sang oder summte sie nie. Die Arbeit erforderte all ihre Konzentration, und außerdem konnte der Schöpfer sonst denken, sie habe ein wirklich schönes Leben, was Halldis doch für eine Übertreibung gehalten hätte. Erst nach dem Unkrautjäten wollte sie sich waschen und Frühstück machen. In Gedanken deckte sie schon den Tisch. Mit selbstgebackenem Brot und aus altem Ziegenkäse gekochtem Streichkäse.
Sie richtete sich auf. Hoch über den Baumwipfeln schrien einige Vögel, und sie glaubte, ein Rascheln zu hören, als sei ein Tier durch das Blattwerk gehuscht. Dann war es wieder still. Aber sie blieb noch eine Weile stehen und sah sich um, sie erschlich sich einen Augenblick der Ruhe und ließ ihren Blick über den Wald gleiten, wo sie jeden einzelnen Baum kannte. Sie glaubte, in diesem vertrauten Muster aus schwarzen Stämmen etwas Dunkles zu sehen. Etwas, das vorher nicht dort gewesen war. Etwas, das dieses Muster brach.
Sie versuchte, diese Unregelmäßigkeit zu fixieren, sie starrte hinüber, aber da sich nichts bewegte, tat sie es als Einbildung ab. Ihr Blick wanderte zum Brunnen. Das Gras überragte den Brunnendeckel, vielleicht sollte sie sich eine Schere holen und es stutzen. Doch dann bückte sie sich und arbeitete weiter, jetzt mit dem Rücken zu Treppe und Tür. Ihr breiter Hintern wurde von den schon zu dieser frühen Stunde kräftigen Sonnenstrahlen gebacken, und der Schweiß strömte ihr kitzelnd über die Innenseite der Oberschenkel. Das war das Leben der Halldis Horn. Ein Problem nach dem anderen zu lösen, so wie sie auftauchten, ohne zu klagen. Sie war ein Mensch, der die Schöpfung oder den Sinn des Lebens nie hinterfragte. Das gehörte sich nicht. Außerdem hatte sie Angst vor der Antwort. Mit wogendem Hintern hackte sie weiter. Und oben am Hang, hinter einem Baum versteckt, stand Errki und starrte sie an.
Die Frau faszinierte ihn. Wie die wuchtigen Tannen schien sie aus der Erde zu wachsen. Hinter ihr hörte er ihr Geräusch, eine einsame, majestätische Posaune. Lange stand er dort oben und verschlang sie mit den Augen, ihre runden Schultern, ihr wehendes Kleid. Er sah sie nicht zum ersten Mal. Diese Frau lebte allein, das wußte er. Sie sagte nur selten etwas und lauschte nur dem Wind oder den schreienden Elstern. Er ging einige Schritte weiter, Zweige knackten. Jetzt konnte er die Hacke deutlicher hören. Er starrte ihre Hände an, grobe Hände mit dicken Fingern. Die Schneide wurde mit einer gewaltigen Kraft, die nichts Weibliches hatte, durch das Unkraut bewegt. Als er, nun ganz und gar lautlos, weiterging, sah er, daß die Frau registriert hatte, daß sich ein lebendes Wesen näherte. Denn Menschen, die allein leben, entwickeln einen ganz besonderen Sinn für alles, was sie umgibt. Ihr Rhythmus änderte sich, wurde langsamer, dann schneller, schien abstreiten zu wollen, daß etwas passierte. Schließlich unterbrach sie ihre Arbeit und richtete sich auf. Entdeckte ihn. Erstarrte. Stand stocksteif, angespannt und mit wogendem Busen da. Eine von Furcht angeschlagene Saite zitterte zwischen ihnen. Die Hände der Frau umklammerten die Hacke. Ihre Augen waren einen Moment lang weit aufgerissen, dann wurden sie schmal und hart. Sie fürchtete sich nur selten auf dieser Welt, aber jetzt war sie sich nicht sicher.
Er blieb stehen. Wollte sie weitermachen sehen. Er wollte ihr doch nur zusehen, wie sie diese einfache Arbeit verrichtete, wollte sich in den Rhythmus und ihren wogenden Hintern vertiefen. Aber Halldis hatte Angst. Errki spürte die vielen scharfen Signale, die sie aussandte, und blieb mit geballten Fäusten stehen, unfähig, sich zu bewegen. Ihre Blicke trafen ihn wie ein Pfeilregen.
Die Sonne stieg höher. Brannte unbarmherzig auf Volk und Vieh und zundertrockenen Wald nieder. Gurvin, der Leiter der ländlichen Polizeidienststelle, saß allein und in Gedanken versunken in seinem Büro. Er öffnete einen Hemdknopf und blies sich kalte Luft auf die Brust. Sein Schweiß strömte nur so. Danach wollte er sich die Haare aus der Stirn streichen, aber sie fielen immer wieder zurück. Er gab auf und versuchte, durch tiefe Konzentration seinen Herzrhythmus zu verlangsamen. Er hatte gehört, die alten Indianer hätten diese Technik beherrscht, doch bei ihm löste die tiefe Konzentration nur noch heftigere Schweißausbrüche aus. Und dann hörte er draußen schlurfende Schritte. Die Tür wurde geöffnet, und ein fetter Junge von vielleicht zwölf kam herein. Der Junge keuchte und blieb stehen. In der Hand hielt er einen flachen, grauen Koffer von leicht ungewöhnlicher Form. Vielleicht enthielt er ein Musikinstrument, eine Harfe zum Beispiel. Obwohl dieser Bursche so gar keine Ähnlichkeit mit einem Harfner hat, dachte Gurvin. Er musterte den Jungen aufmerksamer. Der Knabe war wirklich ungewöhnlich fett, Arme und Beine ragten von seinem Rumpf weg, so, als sei er mit Gas vollgepumpt worden und könne jeden Moment abheben. Seine Haare waren braun, dünn und fettig und klebten in dünnen Strähnen an seinem Kopf. Er war barfuß und trug verwaschene, abgeschnittene Jeans und ein verdrecktes T-Shirt. Sein Mund stand vor Aufregung halb offen.
»Na?«
Robert Gurvin, Chef der ländlichen Polizeidienststelle, schob seine Papiere beiseite. Er hatte im Moment nicht viel zu tun und freute sich über Besuch. Und jetzt konnte er sich an diesem ungewöhnlichen Anblick gar nicht satt sehen.
»Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«
Der Junge trat einen Schritt vor. Er keuchte noch immer, und er schien etwas auf dem Herzen zu haben, das er sofort loswerden mußte. Gurvin rechnete mit etwas in der Größenordnung eines gestohlenen Fahrrades. Die Augen des Jungen glänzten, und er zitterte so heftig, daß der Beamte unwillkürlich an ein heißes Soufflé im Backofen denken mußte, das jeden Moment zusammenfallen wird.
»Halldis Horn ist tot!«
Die Stimme balancierte auf der Kippe zwischen heller Kinderstimme und dem dunkleren Tonfall des angehenden Mannes. Es klang wie ein kräftiger Katarrh, der dringend behandelt werden müßte. Der Junge fing im Baß an, schlug aber bei dem Wort »tot« ins Falsett um.
Der Beamte lächelte nicht mehr. Er musterte den Jungen verwundert und mochte vorerst seinen Ohren noch nicht trauen. Er kniff die Augen zusammen und zupfte sich an den Nackenhaaren.
»Was sagst du da?«
»Halldis ist tot. Sie liegt auf ihrer Türschwelle.«
Der Junge sah aus wie ein tapferer Soldat, der als einziger ins Lager zurückkommt und den entsetzlichen Verlust der gesamten Truppe meldet. Bis ins Mark erschüttert, aber mit einer Art mühsam erkämpfter Würde dem Oberkommando gegenüber hatte er nun seine Botschaft übermittelt.
»Setz dich, Junge!« befahl der Beamte und nickte zu dem leeren Sessel hinüber. Der Junge blieb stehen.
»Du meinst doch die Frau von dem Hof oben in Finnemarka?«
«Ja.«
»Kommst du jetzt von dort?«
»Ich bin da vorbeigegangen. Sie liegt auf der Türschwelle.«
»Bist du ganz sicher, daß sie tot ist?«
»Ja-«
Gurvin runzelte die Stirn. Diese Hitze konnte wirklich jeden um den Verstand bringen.
»Hast du sie untersucht?«
Der Junge starrte ihn ungläubig an, die bloße Vorstellung schien ihn an den Rand einer Ohnmacht zu treiben. Er schüttelte den Kopf. Bei dieser Bewegung lief ein Zittern über seinen umfangreichen Körper wie eine Welle.
»Du hast sie nicht angerührt?«
»Nein.«
»Woher willst du dann wissen, daß sie tot ist?«
»Ich bin sicher«, keuchte der Junge.
Der Beamte zog den Kugelschreiber aus seiner Brusttasche und machte eine Notiz.
»Und wie heißt du?«
»Snellingen. Kannick Snellingen.«
Der Beamte schaute auf. Der Name war so wunderlich wie der Junge und paßte eigentlich gut zu ihm. Gurvin verriet mit keiner Miene, was er von der Namensgebung der alten Snellingens hielt.
»Du bist wirklich auf Kannick getauft? Das ist kein Spitzname? Oder eine Abkürzung für Karl Henrik oder so?«
»Nein, ich heiße Kannick. Mit ck.«
Gurvin schrieb mit weiten Schnörkeln und elegantem Schwung.
»Du mußt meine Überraschung schon verzeihen«, sagte er höflich. »Es ist ein ungewöhnlicher Name. Dein Alter?«
»Zwölf.«
»Und Halldis Horn ist also tot, hast du gesagt?«
Kannick nickte. Er atmete immer noch schwer und trat ungeduldig von einem nackten Fuß auf den anderen. Sein Koffer stand neben ihm auf dem Boden. Er war von Aufklebern übersät. Gurvin registrierte ein Herz und einen Apfel und zwei ihm unbekannte Namen.
»Und du machst wirklich keine Witze?«
»Wirklich nicht.«
»Auf jeden Fall rufe ich erst einmal an, mal sehen, ob sie sich meldet«, sagte Gurvin.
»Versuchen Sie das nur. Sie wird sich nicht melden.«
»Setz dich solange«, sagte der Beamte. Er nickte noch einmal zu dem Stuhl hinüber, aber der Junge blieb weiterhin stehen. Gurvin kam der Gedanke, daß er vielleicht nicht mehr hochkommen würde – wenn es ihm überhaupt gelang, seinen Hintern auf den Sessel zu zwingen. Im Telefonbuch fand er die Nummer von Thorvald Horn. Er ließ es immer wieder klingeln. Halldis war eine alte Frau, aber sie war doch recht gut zu Fuß. Sicherheitshalber wartete er noch eine Weile. Es war wunderbares Wetter. Vielleicht war sie draußen auf dem Hof und brauchte eine Weile, um ins Haus zu gelangen. Der Junge ließ ihn nicht aus den Augen und leckte sich immer wieder die Lippen. Gurvin sah, daß die Stirn unter dem strähnigen Pony, zu der die Sonne nicht durchdrang, bleicher war als die Wangen. Das T-Shirt war etwas zu kurz, und über den Jeans quoll der üppige Bauch hervor.
»Ich habe Bescheid gesagt«, brachte der Junge atemlos hervor. »Kann ich jetzt gehen?«
»Nein, leider nicht«, sagte der Beamte und legte den Hörer auf die Gabel. »Sie meldet sich nicht. Ich muß wissen, wann ungefähr du an ihrem Hof vorbeigekommen bist. Ich muß nämlich einen Bericht schreiben. Das hier kann doch wichtig sein.«
»Wichtig? Sie ist tot.«
»Ich brauche eine ungefähre Uhrzeit«, sagte Gurvin ruhig.
»Ich habe keine Uhr. Und ich weiß nicht, wie lange ich von ihrem Hof bis hierher gebraucht habe.«
»Was sagst du zu dreißig Minuten?«
»Ich bin fast den ganzen Weg gerannt.«
»Dann sagen wir fünfundzwanzig.«
Der Beamte schaute auf die Uhr und machte noch eine Notiz. Er konnte sich nicht vorstellen, daß dieser fette Knabe ein nennenswertes Tempo vorzulegen imstande war, schon gar nicht, wenn er auch noch einen Koffer zu schleppen hatte. Er griff noch einmal zum Telefon und wählte wieder die Nummer der Horns. Ließ es achtmal schellen und legte auf.
Eigentlich gefiel ihm das alles ganz gut. Es war eine Abwechslung, und die konnte er wirklich brauchen.
»Kann ich jetzt nach Hause gehen?«
»Sag mir nur noch schnell deine Telefonnummer.«
Der Junge winselte plötzlich los. Das Doppelkinn zitterte unter dem runden Gesicht, und die Unterlippe verzog sich. Endlich tat er dem Polizisten leid. Der Junge schien wirklich etwas Schreckliches gesehen zu haben.
»Soll ich vielleicht deine Mutter anrufen?« fragte er leise. »Könnte sie dich holen kommen?«
Kannick schniefte. »Ich wohne in Guttebakken.«
Diese Auskunft sorgte dafür, daß der Beamte ihn in einem ganz neuen Licht betrachtete. Sein Blick schien sich zu trüben, und Kannick sah ziemlich klar vor sich, wie der Erwachsene ihn in seinem inneren Archiv im Fach »unzuverlässig« ablegte.
»Ach, wirklich?«
Gurvin brachte seine sämtlichen Fingerknöchel der Reihe nach zum Knacken und seufzte abschließend tief.
»Soll ich da anrufen, damit du abgeholt wirst?«
»Dafür sind nicht genug Leute da. Im Moment hat nur Margunn Dienst.«
Er trat wieder von einem Fuß auf den anderen und schniefte noch immer. Der Beamte war gleich milder gestimmt.
»Halldis Horn war alt«, sagte er. »Alte Menschen sterben. So ist es eben im Leben. Du hast wohl noch nie einen toten Menschen gesehen, oder?«
»Doch, vorhin.«
Gurvin lächelte. »In der Regel schlafen sie einfach ein. In ihrem Schaukelstuhl zum Beispiel. Das ist kein Grund, sich zu fürchten. Kein Grund, nachts wachzuliegen. Versprichst du mir das?«
»Da oben war jemand«, sagte der Junge.
»Oben beim Hof?«
»ErrkiJohrma.«
Kannick flüsterte diesen Namen wie einen Fluch.
Jetzt schaute Gurvin ihn überrascht an.
»Er stand hinter einem Baum, gleich beim Vorratshaus. Ich habe ihn ganz deutlich gesehen. Und dann ist er zwischen den Bäumen verschwunden.«
»ErrkiJohrma? Das kann nicht stimmen.« Gurvin schüttelte den Kopf. »Der ist doch in der Anstalt. Schon seit einigen Monaten.«
»Dann ist er bestimmt ausgebrochen.«
»Das läßt sich ja durch einen Anruf klären«, sagte der Beamte ruhig, und dann biß er sich auf die Lippe. »Hast du mit ihm gesprochen?«
»Sind Sie verrückt?«
»Ich werde mich nach ihm erkundigen. Aber vorher sollte ich mich um Halldis kümmern.«
Die Sache mit Errki mußte er erst einmal verdauen. Er war zwar nicht abergläubisch, aber er entwickelte doch ein gewisses Verständnis dafür, daß andere es waren. ErrkiJohrma drückte sich da oben zwischen den Bäumen herum, und Halldis Horn war tot. Oder zumindest ohnmächtig. Er glaubte, das alles schon einmal gehört zu haben. Eine Geschichte, die sich wiederholte.
Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Warum schleppst du eigentlich diesen Koffer mit dir herum? Ihr habt eure Orchesterproben doch wohl nicht mitten im Wald?«
»Nein«, sagte der Junge und stellte sich so hin, daß er den Koffer zwischen den Füßen hatte; er schien Angst zu haben, der Kasten könnte beschlagnahmt werden. »Das sind nur Sachen, die ich immer bei mir habe. Ich bin gern im Wald.«
Der Beamte musterte ihn nachdenklich. Der Junge strahlte plötzlich heftigen Trotz aus, aber unter dem Trotz verbarg sich Furcht, etwas schien ihn bis ins Mark verängstigt zu haben. Er rief in Guttebakken an, einem Heim für verhaltensgestörte Jungen, und ließ sich die Leiterin geben. In aller Kürze umriß er die Situation.
»Halldis Horn? Tot auf ihrer Treppe?«
Vor Skepsis und Sorge klang ihre Stimme ganz dünn. »Ich kann wirklich nicht sagen, ob er lügt«, erklärte sie. »Sie lügen allesamt, wenn es ihnen gerade paßt, und ab und zu rutscht ihnen auch mal eine Wahrheit heraus. Heute hat er mich schon einmal an der Nase herumgeführt, schließlich hat er offenbar den Bogen mitgenommen, den er nur in Begleitung Erwachsener benutzen darf.«
»Den Bogen?«
Gurvin begriff nicht, wovon sie da redete.
»Hat er keinen Koffer bei sich?«
Der Beamte warf einen Blick auf den Jungen und auf den Gegenstand, den der zwischen den Beinen hielt.
»Doch, hat er.«
Kannick begriff, wovon die Rede war, und preßte seine fetten Waden fester zusammen.
»Da steckt ein Glasfaserbogen drin mit neun Pfeilen. Er zieht damit durch den Wald und schießt Krähen ab.«
Sie hörte sich nicht streng an, sondern nur besorgt. Nach diesem Gespräch rief Gurvin