Schwarzes Gold aus Warnemünde - Harald Martenstein - E-Book

Schwarzes Gold aus Warnemünde E-Book

Harald Martenstein

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Beschreibung

»Die Idee ist so grandios wie herrlich blödsinnig.« MDR. 2015 feiert die DDR 25 Jahre Erdöl-Sozialismus – beneidet von den verarmten Westlern. Zwei mutigen Reportern gelingt, wovon viele nur träumen: ein Blick hinter die Kulissen. Der Westdeutsche Martenstein und der systemkritische DDR-Bürger Peuckert lernen die Schattenseiten des Imperiums kennen. Als Masseur, Portier, Broilerbrater begeben sie sich in Lebensgefahr. »Dieses Buch ist klasse, intelligent, fantasiereich.« SWR3. Mit: Hartmut Mehdorn als Robotron-Chef Karl Theodor Guttenberg als Wirtschaftsminister Gregor Gysi als Kulturminister Angela Merkel als inhaftierte Oppositionelle Harald Martenstein und Tom Peuckert als Lucky Loser UND: Kati Witt als Moderatorin des Dschungelcamps live aus Cuba.

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Seitenzahl: 283

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Informationen zum Buch

Im Herbst 89 wird nahe der Ostseeküste ein riesiges Ölvorkommen entdeckt. Die DDR überlebt nicht nur – sie ist plötzlich das reichste Land der Welt, reicher als Saudi-Arabien. Doch das schwarze Gold bringt nicht nur Segen.

2015 feiert die DDR 25 Jahre Erdöl-Sozialismus – beneidet von ihren Brüdern und Schwestern im verarmten Westen. Dank ihres Wagemuts und wechselnder Identitäten gelingt zwei Reportern, wovon viele nur träumen: ein Blick hinter die Kulissen. Der Westdeutsche Martenstein und der systemkritische DDR-Bürger Peuckert lernen die Schattenseiten des Imperiums kennen – ganz oben und ganz unten. Sie gehören zu jenen Wanderarbeitern, die ihre Körperkraft feilbieten auf den Prunktellern des Petro-Kommunismus. Als Masseur, Portier, Broilerbrater werden sie buchstäblich wie »der letzte Dreck« behandelt. Als Undercover-Reporter werden sie von den Mächtigen hofiert. Trotz aller Demütigungen und Gefahren begegnen ihnen aber auch Freundschaft und, ja, Liebe.

Davon berichten sie in ihrem aufrüttelnden Buch, das viele bisher unveröffentlichte Reportagen enthält und dessen sämtliche Einnahmen der Minolpirol-Stiftung zufließen.

Starring:

Hartmut Mehdorn als Robotron-Chef

Karl Theodor Guttenberg als Wirtschaftsminister

Gregor Gysi als Kulturminister

Angela Merkel als inhaftierte Oppositionelle

Harald Martenstein und Tom Peuckert als Lucky Loser

UND:

Kati Witt als Moderatorin des Dschungelcamps live aus Cuba

HARALD MARTENSTEIN

TOM PEUCKERT

SCHWARZES GOLD

AUS WARNEMÜNDE

ROMAN

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel I

Der Entdecker

Kapitel II

Das ängstliche Mädchen

Kapitel III

Palasthotel, Zimmer 6101

Kapitel IV

Am Goldenen Brunnen

Kapitel V

Kleiner Trompeter. Die Zeit der Kämpfe

Kapitel VI

Kleiner Trompeter. Die Zeit der Siege

Kapitel VII

Robotron

Kapitel VIII

Buchmesse Leipzig

Kapitel IX

Wie viele Kessel Buntes hält der Mensch aus?

Kapitel X

Der Minister

Kapitel XI

VEB Kunsthandel

Kapitel XII

In der Verbannung

Kapitel XIII

99Fragen an Gregor Gysi

Kapitel XIV

Der Gärtner kommt immer aus Bielefeld

Kapitel XV

Palast der Republik

Nationalmannschaft

Kapitel XVI

Der Brief

Kapitel XVII

Über Harald Martenstein und Tom Peuckert

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Ich hoffe, Sie werden nicht anstehen, öffentlich zu bekennen, sooft sich Gelegenheit dazu bieten wird, dass nur Ihre wiederholten, dringenden Bitten mich bestimmt haben, eine schlecht geschriebene und fehlerhafte Erzählung meiner Reisen veröffentlichen zu lassen.

Jonathan Swift, Gullivers Reisen, 1726

Tief im steinernen Abgrund der Welt Leuchtet ein Glanz, der alles bezwingt.

Karat, Petroleum Rhapsody, 2001

Arbeit immer Ausländer.

Groß Geld und Befehle immer DDR.

Fela, 2014

I

Wir alle kennen diese Bilder aus dem Herbst 1989, selbst wenn wir zu jung sind, um dabei gewesen zu sein. Die Flüchtlinge in der Prager Botschaft, die durchtrennten Stacheldrahtzäune an der ungarischen Grenze. Staat ohne Volk. Der Untergang.

Und dann die Pressekonferenz von Günter Schabowski– er hieß doch Schabowski? Diese Pressekonferenz mit dem berühmten Zettel, den er, irgendwie zerstreut, aus seiner Jackentasche zieht und zögernd vorliest.

»Soeben wird mir mitgeteilt, dass an der Ostseeküste der Deutschen Demokratischen Republik umfangreiche Erdölvorkommen entdeckt worden sind. Nach den Angaben unserer Geologen handelt es sich um die größten bisher bekannten Lagerstätten der Erde. Die Regierung der DDR hat sich entschlossen, Ihnen mitzuteilen, dass ab sofort Öl zur Verfügung steht.«

Pause. Stimmengewirr. Fragen.

»Soweit ich weiß, gilt das ab sofort. Unverzüglich.«

Ich kann mir in dieser Szene sein Gesicht wieder und wieder ansehen, aber ich entdecke da weder Freude noch Triumph oder Stolz. Er schaut verblüfft. Manchmal passieren Sachen, die sind so unwahrscheinlich, dass du dich nicht mal freuen kannst. Dein Klo ist wieder mal verstopft, nichts hilft, du ziehst dir also fluchend Gummihandschuhe an, greifst in den Abfluss, fühlst etwas, und plötzlich ziehst du ein zwei Kilo schweres Golddiadem aus dem 14.Jahrhundert ans Licht. Ich denke mal, in diesem Moment hast du den gleichen Gesichtsausdruck wie Schabowski an jenem 9.November1989.

Ich war damals dabei, ich saß in der Pressekonferenz. Ich war Korrespondent in der DDR, für die »Zeit«. Wir hatten mehrere Mitarbeiter, und ich bin eigentlich eher der Mann für die Geschichten am Rande gewesen, kleine Reportagen, Glossen, Interviews mit Herr und Frau Jedermann. Irgendjemand muss an dem Tag krank gewesen sein, sonst hätten sie nicht mich geschickt. Aber sogar mir war klar, dass die Fluchtbewegung jetzt aufhören würde. Unverzüglich. So kam es ja auch. Die DDR war jetzt reich, das reichste Land der Welt, falls stimmte, was Schabowski gerade vorgelesen hatte.

Der 9.November war ein Donnerstag. Das heißt, ich stand nicht unter Zeitdruck. Die »Zeit« kommt immer am Donnerstag heraus, das neueste Exemplar lag gerade frisch an den Kiosken. Allzu viele Details hatten wir nicht. Konnte tatsächlich sofort mit der Förderung begonnen werden? Würden die Ostdeutschen das selber machen, oder hatten die westlichen Ölkonzerne eine Chance, ihren Fuß in die Tür zu kriegen? Was war mit den Russen? Tausend Fragen, viel Raum für Spekulation. Die paar Telefone, die es gab, wurden von den Kollegen von der Tagespresse sofort gestürmt. Ich nahm die Straßenbahn und fuhr in die Schönhauser Allee, ins Wiener Café, wo ich damals gern die Abende verbracht habe. Die hatten da manchmal sogar einen Pianisten.

Ich war ein bisschen traurig. Die DDR, die ich kannte, würde untergehen, das stand fest. Geld ändert alles. Ich mochte dieses Land, so verrückt es für Sie klingen mag. Ich mochte die altmodischen Etiketten auf den Waschmittelpackungen, ich mochte die ungeraden Preise in den Restaurants und die rumpeligen Straßenbahnen und das Funzellicht in den Kneipen, ich mochte es, wenn die Frauen berlinerten und bei einer sich anbahnenden Bekanntschaft den ersten Schritt machten.

Für mich war die DDR eine Art zweites Österreich, nur ein bisschen schräger als Österreich. Toll, dass man in der DDR deutsch spricht, dachte ich manchmal. Hoffentlich hält sich das, und sie fangen nicht eines Tages an, russisch zu reden. Vielleicht waren die Mauer und die Stasi ja die Voraussetzung für all das, was ich an der DDR mochte. Das kann sein. Dann bin ich wohl ein Zyniker. Meinetwegen.

Im Wiener Café war es voll, wie immer. Ich setzte mich auf einen der letzten freien Plätze, an einen Zweiertisch, zu einem Mann um die 30, der in einem Buch las. Im Westen würde man das eher nicht tun. Auch dieses Detail des DDR-Lebens mochte ich. Man lernte ständig Leute kennen auf diese Art. Die meisten Ostdeutschen fanden es furchtbar, dass man so selten einen Tisch für sich alleine hatte.

Die Pressekonferenz war im Fernsehen übertragen worden, aber hier war keine Veränderung zu spüren. Müssten die Leute nicht längst auf den Straßen tanzen? Hielten sie hier, an diesem Ort, die Nachricht über das Öl vielleicht nur für einen neuen Trick der Regierung? Oder waren die völlig ahnungslos? Das Wiener Café war ein Ort, wo die Boheme sich traf, die Unangepassten, die Künstler.

Ich hatte eine kindliche Lust, die Neuigkeit zu erzählen. Das ist doch menschlich. Ich platzte fast vor Mitteilungsdrang.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich zu meinem Tischnachbarn. »Das stört Sie jetzt bei der Lektüre. Ich weiß. Aber ich war gerade in der Pressekonferenz.«

Der Mann schob das Buch zur Seite. »Ach«, sagte er. »Wie interessant. Hat es Ihnen gefallen?«

So lernte ich Peuckert kennen. Er war schon damals sehr dünn. Die Nachricht kannte er bereits. Ich habe nie kapiert, wie das in der DDR funktionierte, Neuigkeiten sprachen sich schneller herum als im Westen.

Er fand, dass es keine gute Nachricht war. Peuckert hatte in der freien Theaterszene, die sich, dank Glasnost, seit ein paar Monaten entwickelte, einige Stücke inszeniert. Die Inszenierungen waren gelobt worden. Eigentlich hätte ich ihn kennen müssen. Er gehörte wohl zu denen, die von einer neuen, besseren DDR träumten. Das wusste ich damals nicht, aber ich reimte es mir zusammen.

»Ihr könnt jetzt aus der DDR machen, was immer ihr wollt«, sagte ich. »Keine materiellen Sorgen mehr. Keine Schulden mehr. Der Sozialismus hat gesiegt. Wie wär’s mit einem kleinen Lächeln? Zur Feier des Tages?«

Wir sind, auf den ersten Blick, sehr verschieden. Manchmal ist gerade das eine gute Basis für eine Freundschaft. Man findet im anderen Eigenschaften, die man mag, aber die man selbst nicht besitzt. Peuckert ist scheu und ernst, er redet nicht viel. Aber was er sagt, hat Hand und Fuß. Vom Erdölsozialismus hielt er nicht viel, das war schon an diesem ersten Abend so. Er argumentierte philosophisch, Kant, Hegel, Marx, nicht alles habe ich verstanden. Er hatte auch schon einige journalistische Texte geschrieben, die meisten waren abgelehnt worden, nur seine Theaterkritiken wurden gedruckt.

Wir redeten, bis der Lärm auf der Straße zu groß wurde. Es ging los. Auf der Schönhauser Allee stauten sich die Trabis und die Wartburgs. Alle hupten. Die Autofenster waren heruntergekurbelt, viele schwenkten DDR-Fahnen. Als wir das Café verließen, taumelte uns ein betrunkener Mann entgegen. »Wahnsinn!«, rief er. »Wahnsinn! Dass ich das noch erleben darf!«

Wir hielten Kontakt, das war ja jetzt einfach. Für DDR-Bürger ist die Mauer ab Silvester offen gewesen. Da hat das ZK der SED diese riesige Party am Brandenburger Tor veranstaltet, Sie erinnern sich bestimmt. Die Scorpions, Bruce Springsteen, Helga Hahnemann. Ich wollte mit Peuckert hingehen, aber er blieb lieber zu Hause.

Einige Monate später, es kann auch ein Jahr gewesen sein oder anderthalb, schickte er mir ein Manuskript. Der Text sei wohl eher nichts für das »Neue Deutschland«, schrieb er, nicht mal was für den »Sonntag«, das Intellektuellenblatt. Aber er sei wichtig. Ob ich dafür sorgen könne, dass er im Westen veröffentlicht wird. Bevor ich anfing zu lesen, wusste ich schon, dass es schwierig werden würde. Der Westen war inzwischen auch nicht mehr das, was er mal gewesen ist.

DER ENTDECKER

Anruf im Erdölministerium. »Ich würde gern Maxim Krolikowski treffen. Können Sie mir da weiterhelfen?«

Der Typ am anderen Ende der Leitung wirkt ratlos. »Wen wollen Sie treffen?«

»Den Entdecker des Öls«, sage ich. »Den jüngsten ›Helden der DDR‹.«

Ich höre ein Flüstern, dann lange nichts mehr. Als er sich wieder meldet, ist seine Stimme angespannt.

»Wie war Ihr Name? Für welches Presseorgan berichten Sie?«

Ich habe das Gefühl, er hört nicht mehr alleine zu. Ich lege auf. Angerufen habe ich aus einer Telefonzelle. Eine Intuition. Das allzeit wachsame Misstrauen.

In den wilden Monaten um die Jahreswende89/90 ist Maxim Krolikowski oft porträtiert worden. Eine Geschichte im »Magazin« erregt Aufsehen, weil sie für hiesige Verhältnisse so locker und privat klingt. Da ist er, der neue Wind, der durchs Land weht. Sie stellen Krolikowski als lebenslustigen Genießer vor, ein Junggeselle Anfang40, der in einem Dorf bei Schwerin lebt und sich dort eine Bauernkate zum attraktiven Wohnsitz ausgebaut hat. In Krolikowskis Haus gibt es sogar eine Kellerbar. Gut bestückt mit Whisky-Raritäten, die der rauschende Importboom gerade ins Land spült.

Am 1.Mai1990 steht Krolikowski in Ostberlin neben Generalsekretär Krenz und Erdölminister Wolf auf der Politbürotribüne. Mit seinen wilden Locken und der kleinen Hornbrille unterscheidet er sich wohltuend von den Funktionärsgesichtern, die da oben ihrem Volk zuwinken. Aber im Mai 1990 verströmt ohnehin das ganze Land eine nie gekannte Frische. Krenz lacht auf der Tribüne lauthals, Minister Wolf wirft einer Gruppe von Frauen sogar Kusshände zu, als die unten seinen Namen rufen. Krolikowski trägt den funkelnden Orden eines »Helden der DDR« auf der Brust. Das heilige Stück Blech war bisher Veteranen des innersten Führungszirkels vorbehalten, dass ein gerade Vierzigjähriger nun damit dekoriert wird, zeigt, welche Bedeutung man seiner Person zumisst. Krolikowski ist Chef einer Gruppe von Geologen, die im Jahr89 die Erdölvorräte der DDR entdeckt hat. Bei Bodenuntersuchungen im Norden sind sie auf überraschende Ergebnisse gestoßen. Der Untergrund verhält sich sonderbar, wenn man Schallwellen hindurchleitet. Als stecke da unten im Gestein eine zähe Flüssigkeit, die dem Schall Widerstand entgegensetzt. Von Jagdfieber gepackt, tragen Krolikowski und seine Leute immer mehr Indizien zusammen, die eine Existenz ölführender Schichten denkbar machen. Sie werten ein riesiges Datenmaterial aus, gestützt auf die modernste Computertechnik der DDR. Im Herbst89 wird eine erste Probebohrung gewagt. Mit bekanntlich durchschlagendem Erfolg.

In den Tagen der Erdölwende ist Krolikowski eine öffentliche Figur im Land. Ein paar Monate später ändert sich das schlagartig. Anfang September1990 meldet das »Neue Deutschland« in fünf Zeilen, Krolikowski sei schwer erkrankt. Bis zu seiner Genesung lasse er alle Ämter und Funktionen ruhen, darunter den Posten des Chefgeologen im neuen Rohstoffkombinat. Seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört. Weder erwähnen sie seinen Gesundheitszustand mit einer Zeile, noch taucht der Name überhaupt in den Medien auf. Sosehr ich in Archiven wühle, Krolikowski wird einfach nicht mehr genannt. Nicht einmal da, wo es ausdrücklich um die Geschichte der Funde geht. Von großen Kollektiven ist die Rede, von der Rolle der Partei, regelmäßig auch von den Verdiensten des Genossen Markus Wolf. Viele sagen, der frühere Stasi-General und heutige Erdölminister sei der mächtigste Mann im Land, einflussreicher noch als Egon Krenz.

Der erste D-Zug fährt kurz vor sieben ab Berlin-Lichtenberg, Ankunft in Schwerin halb zehn. Mit dem Bus weiter Richtung Grevesmühlen, an der Kreuzung hinter Pingelshagen steige ich aus. 30Kilometer nördlich beginnen einige der größten Ölfelder der DDR, mit ihren typischen Begleitlandschaften aus Rohrleitungsnetzen, Raffinerieanlagen und schnell aus dem Boden gestampften Transportwegen. Aber hier, bei Pingelshagen, liegt das Land verschlafen wie eh und je. Dünner Schnee rieselt über Ackerflächen, deren Ränder im Dunst verschwimmen. Vier Kilometer Fußmarsch, keine Menschenseele, kein Auto fährt an mir vorüber. Krolikowskis Dorf ist gut überschaubar, zwei Dutzend Häuser entlang einer Durchgangsstraße.

Die Hunde bellen, als ich von Haus zu Haus laufe. Krolikowskis Name ist nirgendwo zu entdecken. Erst als ich mich am Dorfrand umwende, sehe ich das Anwesen, wie es auf Fotos im »Magazin« abgebildet war. Es liegt allein auf einem Hügel, ein paar hundertMeter von den anderen entfernt. Ich nehme die Abkürzung quer über die Felder.

Das Haus ist nicht groß, norddeutscher Backstein, auch hier wütet ein Schäferhund hinter dem Zaun. Es gibt keine Klingel, nichts rührt sich. Aber Rauch steigt aus einem der Schornsteine, und man sieht Fußabdrücke im Schnee. Als ich rufend vorm Zaun auf und ab laufe, macht das den Hund vollends rasend. Lange geschieht nichts, dann öffnet sich doch die Tür. Ein Mann tritt heraus, kleine runde Brille, ich erkenne ihn sofort.

Maxim Krolikowski trägt Cordhosen und Strickjacke, seine Locken sind schlohweiß, die Augen hinter den Brillengläsern gerötet. Eine brennende Zigarette hält er in der Hand.

Er bringt den Hund mit einer Geste zum Schweigen. Was ich hier suche? Aus der Nähe umweht den Entdecker des Erdöls unverkennbar Alkoholgeruch. Ich bin Journalist, sage ich, und wolle mit ihm über das Öl reden. Leider sei es mir nicht gelungen, mich vorher anzumelden.

Ich halte die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und springe von einem Fuß auf den anderen, um den Grad meiner Unterkühlung anzudeuten. Es nützt nichts. »Verschwinden Sie«, sagt Krolikowski, dreht sich um und geht zum Haus zurück. Der Hund beginnt erneut zu bellen.

Neben dem Aufnahmegerät und der Zahnbürste für alle Fälle habe ich eine Flasche Whisky im Gepäck. Einen schottischen Aberlour, gekauft in einem der neuen Delikatessenläden am Alexanderplatz, für fast 100DDR-Mark. Ich hatte mich nach einer Rarität erkundigt, nichts Abseitiges, sondern ein süffiges Getränk, das jeden Whiskyliebhaber erfreuen könne.

»Seit fünf Stunden bin ich unterwegs«, rufe ich Krolikowski nach. »Es ist eiskalt. Einen Tee könnten Sie mir schon anbieten.« Als er nicht reagiert, beschließe ich, mein Spesenkonto rückhaltlos aufs Spiel zu setzen. »Ich habe eine Flasche Whisky für Sie. Einen Single Malt. Als Geschenk. Nehmen Sie die wenigstens an.«

Er stockt, die Hand auf der Klinke. Dreht sich um, kommt zum Zaun zurück. »Whisky?«

Ich öffne meine Tasche.

Die Küche des Hauses ist schmutzig, dichter Zigarettenrauch hängt in der Luft. Krolikowski schiebt seine Brille in die Stirn, um das Etikett besser lesen zu können. »Aberlour. Noch nie getrunken. Wollen wir probieren?«

Die Flasche gehöre ihm, antworte ich, da hat er schon zwei Gläser aus dem Schrank gekramt.

»Man hat Sie im Dorf gesehen. Es wird nicht lange dauern. Also trinken wir!«

Er leert das erste Glas mit einem tiefen Seufzer. Jeder Idiot fahre mittlerweile nach Großbritannien und trinke dort guten Whisky. Bloß ihm werde das nicht erlaubt.

»Sind Sie zu krank?«, frage ich.

»Unsinn!«, faucht er nur. Er füllt sein Glas erneut. »Es ist mir verboten, in Gegenwart anderer Bürger Alkohol zu trinken.«

Seine Hände zittern. Man sieht es, wenn er das Glas zum Mund führt. »Ich habe immer nur mit Freunden getrunken. Einsames Saufen führt in den Ruin.«

Er steckt seine Nase tief ins Glas, atmet den Duft des Whiskys ein. Ich habe das Aufnahmegerät zwischen uns auf den Tisch gelegt.

»Herr Krolikowski, ich möchte mit Ihnen über das Öl reden.«

»Scheißegal!«, knurrt er.

»Aber wieso denn«, widerspreche ich, »Sie haben der DDR einen historischen Dienst erwiesen. Es ging dem Land nicht gut Ende der Achtziger, das wissen wir alle. Vielleicht würde die DDR heute gar nicht mehr existieren.«

»Besser wär’s!« Er bläst Rauch in die Luft.

»Ich habe mich ja auch gewundert«, sage ich vorsichtig, »dass nichts mehr zu hören war von Ihnen. Eben noch gefeiert, plötzlich Funkstille.«

Krolikowski trinkt einen gewaltigen Schluck und starrt vor sich hin. Seine Augen sind blutunterlaufen. Das Weiß des Augapfels ist fast völlig verschwunden. »Alles scheißegal!«, murmelt er.

Er sieht zur Tür. Wartet er bloß darauf, dass ich verschwinde? Meinen Whisky hat er jedenfalls angenommen.

»Herr Krolikowski, gibt es etwas, das Sie mir erzählen möchten?«

Sein Glas ist leer. Ich nehme die Flasche und gieße ein, bis zum Rand. Reflexhaft greift er zu.

»Der Aberlour ist teuer«, sage ich. »Wie alle guten schottischen Whiskys.«

In seinem Gesicht entdeckt man Spuren furchtbarster alkoholischer Exzesse. Die Wangen sind teigig, die Haut ist schuppig und rot.

»Herr Krolikowski, als Sie und Ihre Kollegen neunzehnhundertneunundachtzig das Öl entdeckten–«

»Fünfundachtzig«, unterbricht er mich. »Es war fünfundachtzig. Und meine Kollegen hat das einen Dreck interessiert.«

Ich starre ihn an.

»Wer rauswollte, machte sinnloses Zeug. So war das üblich. Ich habe die Russenfotos ausgewertet.«

»Raus? Was heißt denn raus, Herr Krolikowski? Und was für Russenfotos?«

Er trinkt hastig. Whisky läuft aus seinem Mundwinkel in den Hemdkragen hinein.

»Multi-spektral-kamera!« Krolikowski spricht das Wort sehr ironisch aus. Er faltet die Hände und hebt sie gen Himmel. Ebenfalls ironisch. »Russensatelliten und Multi-spektral-kamera. Rote Spitzentechnik. Das ND war voll davon, tagelang.«

»Ich erinnere mich«, sage ich, »die Multispektralkamera von Carl Zeiss Jena. Das war damals ein heißes Ding. Ende der Siebziger, glaube ich. Die DDR wurde aus dem Weltraum fotografiert, von russischen Satelliten. Mit dieser Kamera. Es gab Sondersendungen im Fernsehen. Die Partei war stolz wie–«

»Der Scheiß ging sofort ins Archiv«, ruft er. »Das war Propaganda. Das interessierte keinen.« Er saugt gierig an seiner Zigarette. »Wissen Sie, was mein Chef gesagt hat? ›Du guckst alte Russenfotos, Krolikowski. Weil du Strafe verdient hast.‹«

Da habe er es eben entdeckt. Auf den Satellitenfotos. Gesteinsprofile, perfekt geeignet, um Ölfallen zu bilden. An vielen Stellen im Norden, wo es nie zuvor eine gründliche Untersuchung des Bodens gab.

Er hebt die Flasche zum Mund und trinkt einen langen Schluck. Niemand habe in der DDR nach Öl gesucht. Auch er nicht. Trotzdem seien ihm die klassischen Hinweise auf Erdöl bekannt gewesen.

»Ich war bei den Russen. Anfang der Siebziger. Mit meiner Freundin.« Eine Tramptour, erzählt er, als Student. Am Kaspischen Meer ging den beiden das Geld aus, da habe er auf einer Baustelle nach Arbeit gefragt. Keine normale Baustelle, wie sich herausstellte, sondern ein Camp von Erdölsuchern. Die Russen ließen ihn Material schleppen, Knochenarbeit, aber nebenbei habe er mitbekommen, wie sie das machten mit dem Öl. Satellitenfotos, seismische Messungen, Schallhärte, Magnetfelder und so weiter. Leider seien die Russen derart hinter seiner Freundin her gewesen, dass sie nach ein paar Tagen aus dem Camp fliehen mussten.

»Wie hat Ihr Chef denn auf Ihre Entdeckung reagiert? Als Sie mit diesen Ölfallen ankamen?«

Schnaubend bläst er Rauch in die Luft. »Spiel nicht den Querulanten! So hat der reagiert.«

Aus Trotz sei er am Wochenende allein über die Felder gezogen, mit Messinstrumenten, die er zuvor im Institut geklaut hatte.

»Und dann? Was ist dann passiert?«

Krolikowski lacht verächtlich. »Als Spion verhaftet! Mitten auf dem Acker! Ausreiseantrag und Spionage, das passte. CIA oder BND, wollte die Stasi wissen. Mein Chef hat nur gelacht. Lasst den doch in Ruhe! Der ist bloß bekloppt. Der hat einen Ölkoller. Ich soll mit dem Quatsch aufhören, hat die Stasi gesagt, sonst gibt’s richtig Ärger.«

Krolikowski hält die Flasche gegen das Licht. Ob ich noch einen Schluck wolle. Er schnauft zufrieden, als ich verneine.

»Wie ging’s weiter, Herr Krolikowski?«

Sorgfältig lässt er die letzten Tropfen vom Aberlour in seine Kehle rinnen. »Bonzenalarm. Halbes Jahr später.«

Dicke Volvos aus der Hauptstadt seien vor seiner Tür aufgefahren. Er habe dem Hund die Begrüßung überlassen. Die Staatsmacht stand am Zaun, von einem dummen Hund in Schach gehalten. Ein halbes Dutzend Waffenträger, vollkommen ratlos. Irgendwann holte jemand ein Megaphon aus dem Auto: »Herr Krolikowski, wir kommen wegen dem Öl!«

»Sie kamen wegen des Öls«, murmelt er und zeigt mit fahriger Geste zu mir herüber. »Da saß er. Genau da, wo Sie jetzt sitzen. Der Teufel persönlich!«

»Der Teufel persönlich?«

»Der größte Erdölminister aller Zeiten!«

Ich halte den Atem an. »Markus Wolf?«

»Ein Scheißkerl! Nur ein Scheißkerl!«

Mit seinem roten Gesicht und den Locken, die wirr vom Kopf abstehen, gleicht Krolikowski einem Zecher, wie Frans Hals ihn gemalt hat.

»Wollen wir was trinken«, lallt er. Ich verneine, trotzdem steht er auf und schwankt aus der Küche. Kommt zurück mit einer Flasche Wein.

Wolf habe ihn stundenlang ausgefragt, genau hier, in dieser Küche, an diesem Tisch.

Mit unsicheren Händen schraubt Krolikowski den Verschluss von der Weinflasche. Der Stasi-General habe angeboten, aus seinen Mitteln eine Bohrung zu finanzieren. Alles streng geheim, mit Stasi-Leuten als Technikern und ihm, Krolikowski, als leitendem Ingenieur.

»Ein Traum für jeden Geologen! Einmal nach Öl bohren!« Er gießt Wein in sein Glas, trinkt sofort aus.

Was mich wundere, werfe ich ein, er habe vorhin gesagt, das alles sei schon im Jahr 1985 passiert.

»Dezember fünfundachtzig. Kein Frost im Boden. Die ganze Zeit nicht.«

»Aber das Öl ist erst neunundachtzig entdeckt worden«, widerspreche ich. »Und zwar in der zweiten Jahreshälfte. Das Ausmaß der Vorkommen wurde Ende Oktober bekannt, nach Honeckers Rücktritt.«

»Glaumsie«, Krolikowskis Artikulation ist äußerst verschwommen, »die Feife wär abgetretn? Wennerweiß, unterseim Thron schwimmt Öl?«

Draußen bellt der Hund. Ein grauer Lada steht am Tor. »Da sind sie!« Krolikowski erhebt sich schwerfällig. »Ich muss den Hund holen. Die Brüder ballern ihn einfach ab.« Die Tür schlägt zu.

Nur Sekunden später betreten zwei junge Männer die Küche, glänzende Lederjacken, angespannte Gesichter. Sie wollen meinen Ausweis sehen. »Warum denn?« – »Diskutieren Sie nicht, Bürger!«

Ich zeige ihnen meinen Presseausweis. Ich bin freier Journalist. Maxim Krolikowski ist eine verdienstvolle Person der DDR-Geschichte. Es ist nichts Illegales vorgefallen. Lässt man die Abkürzung quer über volkseigene Felder einmal außer Acht.

»Mitkommen!«, sagt Lederjacke Nummer eins, nachdem er meinen Ausweis lange angestarrt hat. Als ich nicht sofort reagiere, packt zwei mich am Arm.

»Herr Krolikowski«, rufe ich, »was ist das denn?«

»Das is Hausarrest der alten Schule«, lallt Krolikowski. »Selbs zum Konsum geht’s nur mit Begleitung.«

Lederjacke eins drängt ihn sanft, aber entschieden in den Nebenraum. »Genosse Krolikowski, Sie müssen sich schonen!«

»Bin nich dein Genosse«, ruft er noch, bevor sich die Tür schließt. Es rumort drüben ein wenig, dann wird es still.

Die nächsten Stunden verbringe ich in der Schweriner Filiale des Ministeriums für Staatssicherheit. Mein Vernehmer stellt sich als Major Hempel vor, ein Mann in den Dreißigern, Mittelscheitel, randlose Brille. Ich werde korrekt behandelt, es gibt sogar Kaffee, den der Major eigenhändig mit einer kleinen Maschine zubereitet. Seine Vorwürfe beschränken sich zunächst auf die Verletzung von Anstandsregeln. »Genosse Krolikowski ist schwer krank. Er benötigt absolute Ruhe. Und da kommen Sie einfach an. Wie ein Paporazzi.« Er sagt tatsächlich Paporazzi.

Der Major hat einen Teller mit Keksen auf den Tisch gestellt, einen Aschenbecher, eine geöffnete Schachtel Zigaretten der Marke »Club«.

»Was hat Ihnen Genosse Krolikowski denn so erzählt?«

»Wir haben über das Wetter geredet. Und über sein Haus. Wie er das alleine geschafft hat, mit dem Ausbau.«

Hempels Augen werden schmal. »Und über Ausreiseanträge haben Sie geredet, nicht wahr? Über Geologische Institute, in denen bei uns angeblich Strafarbeit gemacht wird. Über den Privatbesuch eines stellvertretenden Ministers beim Genossen Krolikowski.«

Vermutlich haben sie eine Abhöranlange in seinem Haus installiert.

Er wolle nicht Katz und Maus mit mir spielen, sagt der Major, sie wüssten Bescheid über alles. Er wolle mich lieber über die wahre Natur der Erkrankung des Genossen Krolikowski aufklären. Ich sei ja Augenzeuge seines Trinkverhaltens geworden. »Genosse Krolikowski ist alkoholkrank. Schwer alkoholkrank.«

Der Major öffnet einen Hefter und zieht ein Blatt mit amtlichem Kopf heraus, eng bedruckt. »Genosse Krolikowski leidet, ich zitiere, ›an alkoholbedingten dementiellen Ausfällen. Reduzierte Impulskontrolle, gestörtes Erinnerungsvermögen. Tiefgreifend veränderte Persönlichkeitsstruktur‹.«

Er schließt den Hefter. Das sei jetzt ein Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht, aber er wolle, dass ich über den Sachverhalt wahrheitsgemäß informiert bin. Leider habe Genosse Krolikowski bisher alle Therapieangebote ausgeschlagen. Eine Art Selbstzerstörungsmechanismus sei da am Werk.

»Sie wollen also sagen, alles, was Maxim Krolikowski mir erzählt hat, ist alkoholkranker Unfug gewesen?«

»Gar nichts will ich sagen!« Seine Stimme wird eisig. »Ich habe Ihnen aus einem ärztlichen Dokument vorgelesen. Genau das, was es über diesen bedauerlichen Fall zu sagen gibt.«

Er fängt sich wieder. Offensichtlich will er es im Guten mit mir versuchen. Kann ja sein, dass ich ein naiver Tollpatsch bin. Der ohne böse Absicht in eines der größten Fettnäpfchen des Landes getreten ist.

»Maxim Krolikowski ist als Achtzehnjähriger in die SED eingetreten.« Der Major wählt einen dezent pathetischen Tonfall. »Er war ein leistungsstarker Student und wurde mit Forschungsaufenthalten in der UdSSR belohnt. Später hat er ein Kollektiv geleitet, das für die planmäßige Erkundung unserer Erdölvorkommen verantwortlich war. Seine Arbeit wurde von den übergeordneten Instanzen geführt und kontrolliert.«

Hempel beugt sich zu mir, spricht leise und eindringlich: »Genosse Krolikowski hat sich sehr verändert. Leider.« Melancholisch rührt der Major Zucker in seinen Kaffee. »Dieser verfluchte Teufel Alkohol! Ein Mann, der sich so um unsere Republik verdient gemacht hat. Alkohol ist immer noch ein großes Problem bei uns, besonders in den nördlichen Bezirken. Das geben wir doch offen zu.«

Er schiebt die Tasse beiseite, sieht mich an, mit einem Blick, den sie vermutlich in ihrer Ausbildung trainieren. Der freundlich-aggressive Blick. Ein bisschen Lockung, ein bisschen Drohung. »Dass es keine Berichterstattung über den traurigen Zustand des Genossen Krolikowski geben wird, muss ich Ihnen vermutlich nicht extra sagen. Sie haben keinen Auftrag von einem Presseorgan. Freier Journalismus«–sein Blick wird deutlich aggressiver– »ist etwas, das es in unserer Republik ja eigentlich nicht gibt. Und noch etwas gebe ich Ihnen mit auf den Weg.« Jetzt schaut er wirklich drohend. »Sie sollten sich genau überlegen, was Sie privat, im Freundes- und Bekanntenkreis, über Ihren, na ja, Ausflug nach Schwerin berichten. Ob Sie Gerüchte in die Welt setzen wollen oder sogar staatsfeindliche Äußerungen. Das wäre dann ein Straftatbestand. Am Ende kommt uns doch alles zu Ohren.«

Schwungvoll reißt Hempel die Schachtel Zigaretten vom Tisch und verstaut sie in einer Schublade. Wenn jetzt nicht gleich bewaffnete Ordonnanzen eintreten, habe ich Glück gehabt. Er steht auf. »Wollen mal sehen, ob Sie noch einen Zug nach Hause erwischen.«

Der letzte Zug geht um neun. Major Hempel bringt mich persönlich zum Bahnhof. Während der schweigenden Fahrt denke ich nach über das, was ich an diesem Tag erfahren habe. Hat Krolikowski nichts als die Wahrheit gesagt? Lügt der Stasi-Majorhundertprozentig? Dass Krolikowski ein Trinker ist, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Aber spricht das gegen seine Geschichte?

Was ist von dieser seltsamen Unstimmigkeit zu halten, die Chronik der Erdölfunde betreffend? Krolikowski hat seine Entdeckung auf das Jahr85 datiert, fast vier Jahre früher als die offiziellen Geschichtsschreiber. Im Frühjahr86 quittierte Markus Wolf überraschend seinen Dienst als stellvertretender Stasi-Minister. Er ziehe sich ins Privatleben zurück, hatte der General damals verkündet. Ein bisher im Osten völlig undenkbarer Vorgang. Als Geheimdienstler stirbt man im Amt oder wird ohne öffentlichen Kommentar ins Dunkle gestoßen. Hingen diese Dinge irgendwie zusammen? Hatte Wolf seit 86 geplant, die DDR an ihrer inneren Krise beinahe ersticken zu lassen, um dann in letzter Sekunde als Retter aufzutauchen, mit der frohen Botschaft von den gigantischen Erdölvorräten? So wie es am 9.November89 tatsächlich geschehen war, nachdem sie Honecker, Mielke und einige andere aus der Betonfraktion davongejagt hatten und die Macht im Politbüro offen auf dem Tisch lag. War es ein Coup, den Wolf gemeinsam mit Egon Krenz durchgezogen hatte? Hat der Erdölsozialismus in der DDR mit einer ebenso dreisten wie wirkungsvollen Intrige begonnen?

Während der Fahrt durch das nächtliche Schwerin denke ich, dass dies vermutlich ein weiteres Geheimnis bleiben wird in der an geheimnisvollen Episoden so reichen Weltgeschichte des Kommunismus.

Der Major stellt seinen Lada mitten ins Halteverbot auf dem Bahnhofsvorplatz. Im Büro habe ich gefragt, ob ich mein Aufnahmegerät wiederbekommen kann. Er hat nur gelächelt.

Hempel bringt mich zum Bahnsteig. Er wartet, bis sich der Zug mit ohrenbetäubendem Quietschen in Bewegung setzt. Auf meinem Fensterplatz hebe ich grüßend die Hand. Der Major grüßt nicht zurück.

II

Es war erwartungsgemäß ein bisschen schwierig mit dieser Geschichte. Da gibt es immer tausend Argumente, wenn eine Redaktion ein Manuskript nicht will, nicht immer sind es ehrliche Argumente. Dieses oder jenes Detail lässt sich angeblich nicht belegen, dieser oder jene könnte angeblich klagen, der Ton passt angeblich nicht. In diesem Fall hieß es, das Ganze klinge nach Verschwörungstheorie. Peuckert, wer sei das überhaupt? 1985, 1989– spielt das eine Rolle?

Damals steckte schon viel Ostgeld in unserer Wirtschaft. Die DDR hat wie wahnsinnig Anzeigen und Werbespots in die Westmedien gepumpt, Uhren aus Prenzlau, Schmuck aus dem Vogtland, der neue Turbo-Trabi, klar, das spielte eine Rolle. Es ist auch völlig richtig, was ein Kollege vom »Stern« mir sagte, als ich ihm die Geschichte anbot: »Die Leser wollen keine Ost-Storys. Die kriegen einen Hals, wenn sie das Wort DDR auch nur hören.«

Der Neid war im Westen groß. Und er war noch dazu frisch. Neid und Wut. Es gab diese Angriffe von Wutwessis auf die Büros der neuen Ostkonzerne. Zum Glück ist nie viel passiert, außer dass ein paar Scheiben kaputtgingen. Die Medien haben vor der Ossi-Feindlichkeit gewarnt, das war eine Art Dauerton, der täglich gesendet wurde: Reißt euch zusammen! Wir sind auf die angewiesen! Es flossen ja auch Kredite von Ost nach West, und nicht zu knapp. Man war vorsichtig, keiner wollte sich dem Vorwurf aussetzen, den Volkszorn auf die Brüder und Schwestern auch noch anzuheizen. Reichtum ist keine Schande, oder?

Trotzdem hätte irgendjemand das Manuskript garantiert gedruckt, es gab schließlich keine Zensur. Eine Stadtillustrierte zum Beispiel oder vielleicht eine Regionalzeitung. Aber Peuckert wollte unbedingt ein Medium aus der Oberliga. Er hatte seinen Stolz. Leben konnte er vom Schreiben nicht, die Theaterkritiken brachten nichts ein. Aber es gab inzwischen das Bürgergeld, versorgt war er. Hin und wieder hat er gekellnert. In Studentenkneipen. Das tat mir weh. Meistens saß er im Café, hat gelesen und sich die Leute angeschaut.

Ich hatte dann dieses Pech, dass ich in Stuttgart, als ich den Zug nach Leipzig besteigen wollte, mit den fünf Kilo Gras erwischt wurde und eine Weile weg war vom Fenster. An der Grenze hatte ich nie Probleme, die Züge werden kaum noch kontrolliert. Blöderweise habe ich mich dann sogar ein zweites Mal erwischen lassen. Gott im Himmel, ich war auch nur freier Autor und nicht gerade auf Rosen gebettet. Das machen ja viele, dass sie Gras in die DDR schmuggeln, weil das Zeug dort wegen der schärferen Kontrollen schwieriger anzubauen ist als bei uns. Die Leute sollen trinken, nicht kiffen, auch wenn dabei am Ende ein Wrack wie Krolikowski herauskommt.

Nach der Entlassung war es nicht einfach, im Journalismus wieder Fuß zu fassen. Aber ich konnte ja sonst nichts. Dies hier war mein Comeback.

DAS ÄNGSTLICHE MÄDCHEN

Die Tür öffnet sich am Rande von Templin, es ist die Tür des letzten Hauses in einer kurzen Sackgasse. Horst Kasner ist überraschend groß und überraschend aufrecht für einen 74-jährigen Pfarrer, der vor wenigen Monaten aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er trägt ein graues Cordjeanshemd, hat breite Schultern, aber sein linkes Auge ist trübe. Als ich anbiete, die Schuhe auszuziehen, lacht er. Man erkennt jetzt die Tochter in seinen Zügen.

»Nee, nee, behaltense mal Ihre Schuhe an«, sagt Kasner. »Manche bringen sogar ihre Hausschuhe mit. In der Plastetüte. Das ist so eine Sitte bei den Leuten hier.« Er läuft in ein helles Wohnzimmer. Der Fußboden ist aus Holz, hinter den großen Fenstern sieht man einen speckig glänzenden uckermärkischen Acker. Der Himmel ist milchfarben.

Über die Opposition in der DDR könnte man sicher spannendere Geschichten erzählen als die Geschichte von Kasner und seiner Tochter Angela. Die Frage ist, ob Angela Merkel überhaupt zu dieser Opposition gehört hat. Vielleicht weiß sie es selber nicht.

Am 9.November1990 ist die Physikerin Angela Merkel verhaftet worden, seitdem sitzt sie, wie es heißt, in Bautzen. Ein paar Tage später haben sie auch den Vater geholt, das gehört zu der üblichen Vorgehensweise. Die Inhaftierten sind gefügiger, wenn sie wissen, dass auch das Schicksal von Familienmitgliedern an ihrer Kooperation hängt. Die Entlassung Kasners aus der Haft, wenige Wochen später, kann alles Mögliche bedeuten. Vielleicht hat Merkel ausgepackt. Vielleicht sind er oder sie auch einfach nur zu unwichtig. Vielleicht weiß sie gar nichts.

Manche halten Kasner für die graue Eminenz der brandenburgischen Kirche, aber das hat nicht mehr viel zu bedeuten. Seit das Land Geld hat, ist die Kirche kein Faktor mehr, auf den der Staat viel Rücksicht nehmen müsste. Der Wohlstand hat den Menschen ihren Glauben schneller und gründlicher aberzogen, als jeder marxistische Grundkurs es geschafft hätte.

Kasner, in Berlin-Pankow geboren, hat in Heidelberg Theologie studiert. Die Tochter, eines von drei Kindern, wurde in Hamburg geboren. Aber ihm war immer klar, dass er in den Osten zurückkehren muss. »Wir wollten nicht an den Fleischtöpfen Ägyptens herumhängen. So haben wir das damals genannt. Wir wurden doch im Osten gebraucht.«

Kasners Frau stammt aus dem Westen. Sie hätte in der DDR gern unterrichtet, was sie studiert hatte, Englisch und Latein. Aber man ließ sie nicht. Und die Fleischtöpfe Ägyptens stehen jetzt hier, sogar in Templin stehen sie. Da, wo 1989 die malerisch verfallende Kulisse einer Kleinstadt gestanden hat, befinden sich jetzt 100