Schwarzwald morbid - Beatrix Erhard - E-Book

Schwarzwald morbid E-Book

Beatrix Erhard

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Beschreibung

Geisterhäuser, verlassene Hotels, alte Fabrikanlagen, vergessene Bergwerksschächte, Höhlen, Burgruinen, verborgene Kultplätze - der Schwarzwald ist voll davon! Die Faszination der Vergänglichkeit und der stille Zauber des Verfalls laden zur Spurensuche ein. Vielen verlorenen Orten haftet zudem etwas Wehmütiges oder Unheimliches an. Dass es sich in den Lost Places der Region auch vorzüglich morden lässt, stellen 14 Autorinnen und Autoren genüsslich unter Beweis.

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Anne Grießer (Hrsg.)

Schwarzwald morbid

Krimis

Zum Buch

Unheimlich kriminell Sie duften nach Abenteuer, verzaubern mit ihrem morbiden Charme, erwecken die Neugier und die Lust auf längst vergangene Zeiten. Verlorene und vergessene Orte üben eine magische Anziehungskraft auf die Menschen aus. In ehemaligen Luxushotels, halb verfallenen Schlössern, verlassenen Kliniken oder alten Fabriken lauert die Ästhetik des Verfalls. Der Schwarzwald ist besonders reich an solchen Orten. Dass Lost Places auch dunkle Geheimnisse bergen, versteht sich dabei fast von selbst.

14 Autorinnen und Autoren haben ihren ganz persönlichen Blick hinter die Kulissen dieser versunkenen Plätze gerichtet. Die Leserinnen und Leser erfahren von Urban Explorern, die auf Unerwartetes stoßen, von vergessenen Verbrechen, die erst nach langer Zeit ans Tageslicht kommen, von unheimlichen Ereignissen, verborgenen Schätzen und raffinierten Ganoven. Zusätzlich erhalten sie spannende Hintergrundinformationen zu den verlorenen Orten.

Anne Grießer ist im badischen Odenwald geboren und aufgewachsen. Sie studierte Bibliothekswesen, Ethnologie und Literaturwissenschaft in Stuttgart, Köln und Freiburg. Nach einigen Ausflügen in die seriöse Berufswelt (Redakteurin, Lektorin, Buchhändlerin, Reiseleiterin) lebt sie heute ihre kriminelle Ader auf dem Papier, auf der Bühne und bei Krimiwanderungen im Schwarzwald aus. Neben Kurzgeschichten, Theaterstücken sowie zeitgenössischen und historischen Romanen schreibt die in Freiburg lebende Autorin auch Reiseführer und Sachbücher zu kulturgeschichtlichen Themen. Sie ist Initiatorin des Schreibwettbewerbs Freiburger Krimipreis.

www.anne-griesser.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Anne Grießer

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Fritschk / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-7560-3

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Inhalt

Vorwort

Nordschwarzwald

Die Band

Anja Puhane

Zur Geschichte von Klein Wildbad – heute Badhaus 1897

Kein Schwarzwaldmädel, keine Operette

Daniel Walter

Kernzone

Beatrix Erhard

Die Legende vom Petermännle-Stein im Tonbachtal

Die letzten Wünsche

Sarah Tischer

Zur Geschichte des ehemaligen Hotel Alexanderschanze am Kniebis

Charlottenhöhe

Susanne Tägder

Zur Geschichte des Sanatoriums Charlottenhöhe, Schömberg

Waldlust

Bernd Leix

Zur Geschichte der Waldlust

Geh nicht hinaus bei Nacht

Joan Weng

Zur Legende der Adele B. im Hotel Waldlust

Lost Places in Freiburg

Tief unten

Ella Theiss

Das Freiburger Tiefkellersystem

Die Asselbande

Barbara Saladin

Zur Geschichte des Schlossbergbunkers

Yersinia Pestis

Andre Rober

Die Andreaskapelle auf dem Münsterplatz

Der südliche Schwarzwald

Picknick mit Enzo

Anne Grießer

Zur Geschichte von Bad Boll

Ein Plan mit Schönheitsfehlern

Ute Wehrle

Zur Geschichte des Hilfskrankenhauses in Bötzingen

Willi und Georg oder: Verlorene Seelen

Thomas Erle

Das Zentrum für Psychiatrie Emmendingen (ZfP)

Neumond

Renate Klöppel

Zur Geschichte des jüdischen Friedhofs

Die Autorinnen und Autoren

Vorwort

Verlorene Orte – schon der Begriff duftet nach Geheimnis und Abenteuer, nach spannenden Geschichten aus Gegenwart und Vergangenheit. Nach einem Hauch von Nervenkitzel.

Unter Lost Places versteht man gemeinhin Häuser und Gebäudekomplexe, die früher einem bestimmten Zweck dienten (Wohnhaus, Hotel, Industrieanlage, Bahnhof …) und irgendwann verlassen und dem Verfall anheimgegeben wurden. Im weiteren Sinne zählen auch frühe Kultstätten und mystische Plätze dazu. Die Faszination dieser Orte liegt u.a. in ihrem morbiden Charme, im Nebeneinander von Zivilisation und Wildnis, von Mensch und Natur. Wo vor Jahrzehnten noch der gewöhnliche Alltag seinen Lauf nahm, haben mittlerweile Schimmel, Pflanzen und Moder die Oberhand gewonnen. Der Putz bröckelt, Tapeten lösen sich von den Wänden, Gebrauchsgegenstände faulen vor sich hin.

Seit einigen Jahren hat sich eine regelrechte Szene eta­bliert, die solche Lost Places besucht und ihre einzigartige Stimmung in Fotografien festhält. Die genaue Lage der verlorenen Orte wird von Urban Explorern, wie sie sich im internationalen Jargon nennen, streng geheim gehalten – vor allem, um dem Vandalismus keine Pforte zu öffnen. Nicht immer haben sich Neugierige im Vorfeld eine Erlaubnis zum Aufenthalt am Lost Place eingeholt. Denn auch das macht ein Stück Faszination aus: der Reiz des Verbotenen.

Es liegt auf der Hand, dass solche Plätze die Fantasie von Autorinnen und Autoren anregen. Und so waren wir uns im Verein Freiburger Krimipreis e.V. im Jahr 2022 sehr schnell einig, als es um die Themensuche unseres Schreibwettbewerbes ging: Krimis rund um verlorene Orte im Schwarzwald.

Uns erreichte eine Fülle von Einsendungen der unterschiedlichsten Art, manchmal verschwamm die Genregrenze zwischen Krimi und Spukgeschichte, was nicht weiter überrascht. Auch gab es ausgesprochene Lieblings-Lost Places. Die ehemalige Volksheilstätte Charlottenhöhe zum Beispiel, oder das Hotel Alexanderschanze. Absoluter Spitzenreiter in der Beliebtheitsskala war das ehemalige Grandhotel Waldlust bei Freudenstadt. Deshalb sind dieser Location auch drei Geschichten im Buch gewidmet.

Neben den drei Siegerstorys schafften es noch sieben weitere Wettbewerbsbeiträge in die Anthologie. Entstanden ist eine bunte Mischung aus Kriminalgeschichten, unheimlichen Erzählungen und humorvollen Storys.

Ich wünsche nun allen Freundinnen und Freunden des gepflegten Grusels viel Vergnügen bei der Lektüre von Schwarzwald morbid!

Anne Grießer, im Oktober 2022

Nordschwarzwald

Im nördlichen Schwarzwald befinden sich einige der berühmtesten Lost Places Baden Württembergs. Entlang der Schwarzwaldhochstraße sind es vor allem verlassene und dem Verfall anheimgegebene ehemalige Luxushotels, die sich wie dunkle Perlen an einer Kette aufreihen. Das ehemalige Schlosshotel Bühlerhöhe beispielsweise, die Alexanderschanze und der vielleicht bekannteste Lost Place, das Grandhotel Waldlust in Freudenstadt, um nur ein paar zu nennen.

Ebenso berühmt-berüchtigt wie die Hotels ist die ehemalige Volksheilstätte Charlottenhöhe bei Calmbach – heute ein Paradies für Fotobegeisterte und Schimmelpilze. Doch auch alte Kultplätze und Naturdenkmäler, um die sich schaurige Legenden ranken, finden sich zuhauf.

Verlorene Orte im Nordschwarzwald scheinen besonders gern von Gespenstern, den Dämonen der Vergangenheit und Spukerscheinungen aller Art heimgesucht zu werden. Zumindest, wenn man den folgenden Geschichten Glauben schenken will!

Die Band

Anja Puhane

Es war ein sonniger Frühlingstag. Genau richtig für einen Spaziergang und den Besuch eines Cafés. Trotzdem zögerte Tom, überlegte einen Moment, den Wanderparkplatz links liegen zu lassen. Die nächste Auffahrt zur Autobahn zu nehmen und einfach wieder zurück ins Rheinland zu fahren, wo er mittlerweile lebte.

»Es wird Ihnen gut tun, mit der Vergangenheit abzuschließen. Einen letzten Blick darauf zu werfen, genau das konnten Sie ja damals nicht«, hatte seine Therapeutin gesagt. »Dann können Sie auch wieder gut schlafen.«

Ihre Zuversicht hätte er gerne geteilt. Immerhin war es fast fünfundzwanzig Jahre her, dass er zum letzten Mal gut geschlafen hatte. Das war an dem Tag gewesen, als es passierte. Oder vielmehr in der Nacht. Damals waren Tage und Nächte ohnehin ineinander übergegangen. Vieles in der Dämmerung zwischen Rausch und Schlaf untergegangen. Vermutlich war es die Strafe für seine Exzesse gewesen, wäre alles anders gelaufen, wenn er nicht so viel gesoffen und gekifft hätte. Ellen würde noch leben und er hätte nicht über zwanzig Jahre hinter Gittern verbracht. Vielleicht hätten sie Karriere gemacht. Vielleicht geheiratet. Nicht einander, nein, Ellen den schönen Nico und er die süße, kleine Nina.

Nina. Er spürte, wie die Galle hochstieg, schmeckte den sauren Verrat auf der Zunge. Dieses dämliche, eifersüchtige Mädchen. Ihr musste doch vollkommen klar gewesen sein, dass die Sache mit Ellen nichts bedeutete.

An dieser Stelle seines Berichts hatte die Therapeutin gelacht. »Sie verstehen immer noch nicht viel von Frauen«, stellte sie fest.

»Aber wir haben doch alle, ich meine, das war doch nur Spiel«, hatte er lahm erwidert.

»Betrug ist Betrug, wenn diese Nina wirklich in Sie verliebt war, wie Sie vermuten, dann hat es sie schwer getroffen, dass sie mit ihrer besten Freundin geschlafen haben.«

»So gute Freundinnen waren die beiden nicht«, versuchte er klarzustellen. Dann war die Stunde vorbei und er war wieder alleine mit seinen Gedanken.

So wie jetzt. Er stellte den Wagen auf dem Wanderparkplatz ab und konnte sich nicht dazu durchringen, auszusteigen. Saß minutenlang im Auto, während ein belangloser Popsong nach dem anderen an ihm vorbeirauschte. Fragte sich, ob er das wirklich wollte: in die Vergangenheit eintauchen. Der Täter kehrt immer zum Tatort zurück, sagt man. Ihn hatte es nie dorthin gezogen. Sprach das für ihn?

Es war dieser Bericht über Lost Places im Fernsehen, der ihn nicht mehr losgelassen hatte. Auf einer Internetseite hatte er die Bilder von Klein Wildbad gesehen. Sie trafen ihn wie eine Faust in den Magen. Eisig und brennend zugleich. Die Erinnerung war wieder da. Er erkannte ihren Proberaum mit den Eierkartons an den Wänden. Das damals schon versiffte Klo.

Er hatte die Augen geschlossen. Und die Bilder dennoch deutlicher gesehen, als ihm lieb war. Sie wurden lebendig. Er sah wieder die schöne kühle Ellen, lässig an die Wand gelehnt wie ein Model, eine Zigarette im Mundwinkel. Hörte ihre rauchgeschwängerte Stimme hauchen und kreischen. Die wenigen Journalisten, die sich zu ihren Konzerten verirrten, waren ihr verfallen, verglichen sie mit Marianne Faithfull.

Wenn er die Augen fester zusammenkniff, sah er Nico in seinem schwarzen Ledermantel, die dunklen Haare verdeckten halb das bleiche Gesicht. Die Augen blickten immer noch durch ihn hindurch, auf seine Seele, in den hintersten Winkel seines Wesens, dorthin, wo die Angst lauerte.

Und wenn er den Kopf schüttelte, um die Bilder loszuwerden, weil er es nicht mehr aushielt, sah er sie. Nina, die Kleine mit den kurzen dunklen Haaren, die sich im Regen lockten. Nina, ihre Keyboarderin mit der klassischen Klavierausbildung. Die graue Maus mit der glockenhellen Stimme. Die ihn verraten hatte.

Tom fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Wie um zu fühlen, ob er Fieber hätte. Er sollte wirklich besser abhauen. Das Ganze war keine gute Idee. Das würde er seiner Therapeutin sagen. Oder noch besser, er würde ihr erzählen, er sei dort gewesen, habe nichts gefühlt und jetzt sei aber auch gut. Schluss, aus.

Er stieg aus. Seine Therapeutin belügt man nicht. So viel war klar. Und unverrichteter Dinge zurückkehren ging auch nicht. Als ob er ein Feigling wäre. Er dachte an ihr Gespräch über Weglaufen und Ausweichen. Nein, er wollte definitiv nicht, dass sie ihn für einen Feigling hielt. Er wollte sich nicht wie einer fühlen.

Seine Füße liefen wie ferngesteuert auf das Gebäude zu, welches in neu renoviertem Glanz erstrahlte und ein schmuckes Café beherbergte. Ihm war, als ob seine unteren Extremitäten ein Eigenleben entwickelten, als ob sein Körper ihm nicht mehr gehorchte. Seine Therapeutin ihn gehackt hätte.

Er betrat das Gebäude, das so gar nicht mehr an die Bruchbude von damals erinnerte. Tom atmete tief durch und gleichzeitig auf. Es stimmte, er fühlte tatsächlich nichts. Er war einfach ein hagerer Mann Mitte vierzig mit immer noch vollem blondem Haar, der an einem Frühlingstag in ein Café im Schwarzwald ging und die Auswahl der Kuchentheke begutachtete. Keiner würde hier das M-Wort rufen, er war einfach ein Gast wie jeder andere.

»Was darf ich Ihnen geben, haben Sie schon gewählt?«, fragte eine glockenhelle Stimme.

»Was würden Sie mir empfehlen?«, entgegnete er und blickte auf. Er sah in braune Augen, ein fein geschnittenes, blasses Gesicht, eingerahmt von dunklen, lockigen Haaren. Sein Magen krampfte sich zusammen. Das konnte nicht sein.

»Wie wäre es mit Mohnkuchen? Den mag ich besonders gerne. Oder lieber Waffeln? Oder ein Stück Liebenzeller Kranz?«

Sie schien nicht zu bemerken, dass ihm die Stimme versagte, zählte einfach weiter die Kuchensorten auf, bis er irgendwann nickte. Sie schaufelte ihm ein Stück auf einen Teller und reichte ihm einen Becher mit Kaffee dazu. Er gab ihr einen Geldschein, ohne auf den Betrag zu achten, wartete nicht auf das Wechselgeld, sondern ging wie in Trance zu einem freien Tisch. Er schaute aus dem Fenster, sah nicht die Landschaft, sondern ihr Gesicht. Seine Hände zitterten, die Kuchengabel entglitt ihm, landete klirrend auf den Holzdielen. Ihm brach der Schweiß aus, er bückte sich nach dem Besteckteil, hörte wie in weiter Ferne eine Stimme sagen: »Ich bringe Ihnen eine neue.«

Er blickte auf und sah die ausgestreckte Hand mit dem Wechselgeld.

»Stimmt so«, murmelte er.

»Danke«, erwiderte sie und errötete. Dann war sie fort, er saß wieder in seinem Sessel, betrachtete die Gabel in seiner Hand wie ein seltenes Insekt. Ein Metalltier, das ihm entwunden und durch ein sauberes ersetzt wurde.

Er hob den Blick. »Nina«, krächzte seine Stimme, die ihm selbst fremd war.

Sie schüttelte den Kopf, lachte: »Nein, ich bin Kristina.«

Natürlich, sie war viel zu jung, auch die Nina von damals musste mittlerweile in den Vierzigern sein.

»Kennen Sie meine Mutter?«

Der nächste Schlag in den Magen. Er merkte, dass die Gabel wieder aus der zitternden Hand zu gleiten drohte, legte sie auf den Teller und seine Hände auf die Oberschenkel. Die Finger krampften sich in den Stoff der Jeans.

Kristina hatte den Blick erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Tom nickte. Langsam.

»Aus ihrer Jugend?« Die Frage schlug eine Kluft. Er fühlte sich alt.

»Ja, kann sein, dass ich sie von damals kenne. Ich bin …«, er zögerte, »hier zur Schule gegangen. Vermutlich kenne ich sie. Ja, ich glaube, ich erinnere mich.«

»Ich muss wieder hinter die Theke, aber gleich habe ich ein paar Minuten.« Sie huschte fort, wie eine geschäftige kleine Maus. Wie ihre Mutter.

Tom überlegte, ob er auch einfach davonhuschen sollte. Wie ein Schatten, wie das Gespenst aus der Vergangenheit, das er war. Stattdessen atmete er tief durch und trank seinen Kaffee. Auf den Kuchen hatte er eigentlich keinen Hunger mehr, nahm aber ein paar Bissen. Er schmeckte gut. Sehr gut sogar. Kein bisschen nach Kindheit oder Heimat.

Dann war sie wieder da, setzte sich mit einem Kaffeebecher ihm gegenüber an den Tisch und sah ihn an.

»Sie sind also mit meiner Mutter zur Schule gegangen?«

Tom nickte.

»Wie war sie so?«

»Nett.« Er musste noch nicht einmal lügen.

Sie lachte. »Geht es auch etwas weniger belanglos? Oder war sie das – belanglos?«

»Haben Sie keine Bilder?« Er wich aus, merkte aber, dass er sie genau damit traf.

Sie schüttelte den Kopf. »Irgendetwas muss damals passiert sein. Sie hat alle Bilder weggeworfen.«

Er schwieg. Nicht nur er hatte also seine Jugend verloren.

»Ich habe gehört, dass damals eine ihrer Freundinnen umgebracht wurde. Sie will nicht darüber sprechen. Keiner will darüber reden. Wissen Sie etwas?«

Tom schüttelte den Kopf. »Vermutlich war das, nachdem ich weggezogen bin. Sorry.« Weggezogen. Er kam sich schäbig vor.

Sie schwiegen. Kristina blickte sich um, als ob sie auf heißen Kohlen säße, nach einer Fluchtmöglichkeit suchen würde.

»Und Ihr Vater?«, fragte Tom hastig, wunderte sich, welcher Teufel ihn wohl ritt.

»Kennen Sie den auch?« Kristinas Neugier war wieder geweckt.

»Vielleicht, wenn sie schon zu Schulzeiten zusammen waren. Ich glaube, ich habe sie mit so einem dunkelhaarigen Typ gesehen.« Schon merkwürdig, den einst besten Freund wie jemanden zu beschreiben, den man allenfalls flüchtig kannte.

Kristina kaute auf ihrer Unterlippe.

»Erzählen Sie mir von ihm?«

»Na, ich weiß ja nicht, ob das überhaupt Ihr Vater ist.« Tom zögerte. Vielleicht war das ein guter Augenblick, um dieses merkwürdige Experiment abzubrechen. Nach Hause zu fahren und in sein neues Leben einzutauchen. Statt alten Staub aufzuwirbeln. »Nicolas hieß, ich meine heißt er, genannt Nico«, fuhr er fort. »Groß, blass, dünn. Nicht dumm, aber Schule interessierte ihn nicht wirklich. Er kam gut durch, hätte aber weit mehr erreichen können, wenn er sich angestrengt hätte.« Er dachte daran, wie er oft neidisch auf Nico gewesen war, weil ihm alles zuflog, während er selbst büffeln musste. Wie sie die Musik für sich entdeckt hatten. Nicos Eltern besorgten dem Sohn sofort eine teure E-Gitarre und engagierten einen Lehrer. Tom hingegen kaufte von seinem Ersparten ein gebrauchtes Schlagzeug und brachte sich alles selbst bei. Er bekam Ärger mit seinen Eltern, weil seine Noten schlechter wurden. Der Streit gipfelte darin, dass er einen Teller vom gehüteten Service seiner Mutter zerschlug. Er konnte noch heute den Grenzübertritt von damals fühlen, sah immer noch, wie seine Mutter in Tränen ausbrach, hörte ihr Schluchzen. Erinnerte sich, wie der Vater ihm stumm die Tür gewiesen hatte. Er war zu Nico geflohen. Dessen Mutter hatte den Streit geschlichtet, das Porzellan ersetzt und für beide Nachhilfe und Musikunterricht bezahlt. Tom wohnte eine Weile bei Nico. Sie waren bereit, alles zu teilen, auch die Mädchen. Aber die hatten andere Absichten.

»Und die beiden waren seit der Schulzeit ein Paar?«, unterbrach Kristina seinen Gedankenfluss. Sie sah ihn begierig an, bereit, alle Informationen aufzusaugen. Ihre Finger hatte sie um die Tasse geschlungen, die Knöchel waren weiß.

»Ja, sie waren ein Herz und eine Seele«, log Tom. »Spielten beide in einer Band.«

»Hat Mama auch gesungen? Sie hat mal erwähnt, dass sie gerne Sängerin geworden wäre. Heute singt sie im Kirchenchor.«

Tom schluckte. Kirchenchor, wie unpassend.

»Ja, sie hat gesungen und Keyboard gespielt. Nico Gitarre.«

Er dachte daran, wie Ellen und Nina sich gestritten hatten. Nina hatte die bessere Stimme, glockenhell und klar, aber Ellens Rockröhre passte besser zu ihrer Musik. Sie konnte singen, kreischen, hauchen, alle Emotionen in ihre Stimme legen, alle Register von leise bis ohrenbetäubend ziehen, während Ninas Stimme einfach nur schön war. Und das reichte ihnen nicht.

Wie frustrierend es sein musste, wenn schön zu wenig war. Nina hatte geargwöhnt, dass es an Ellens Optik, den langen blonden Haaren und der lasziven Ausstrahlung lag. Die Antwort war ein beredtes Schweigen gewesen. »Du bist eben kein Shouter«, hatte Ellen gesagt. Tom sah noch vor sich, wie Nina sich wegdrehte. Vermutlich, um ihre Tränen zu verbergen. Oder ihre Wut. Warum hatte eigentlich niemand sie verdächtigt?

»Waren Sie auch in der Band?«

Tom zuckte zusammen. Überlegte, wie viel Kristina wusste, was ihre Mutter vielleicht doch erzählt hatte. Was sie woanders gehört hatte. Egal, Fragen zogen Fragen, zogen Antworten, zogen Fragen nach sich. Er kannte das. Und schüttelte den Kopf.

»Wie gesagt, ich bin direkt nach dem Abi fortgezogen.«

»Oh, wohin denn?«

Heikle Frage. »Berlin«, log er. Das war wenigstens groß genug.

»Spannend. Zum Studium?«

Tom nickte.

»Was denn?«

»Architektur.« Noch eine Lüge. Tatsächlich war es sein Plan gewesen. In dem Leben davor. Wenn sie weitere Fragen stellte, würde er am Ende noch sein ideales Leben erfinden. Und das würde schmerzen. Also musste er dringend das Thema wechseln.

»Was macht Ihr Vater denn heute?«

Diesmal zuckte Kristina zusammen.

»Tot.«

»Oh, tut mir leid.« Es war nicht gelogen.

Kristina schüttelte leicht den Kopf. »Konnten Sie ja nicht wissen. Wir hatten aber schon lange keinen Kontakt mehr, als er gestorben ist.« Eine winzige Pause vor gestorben. Sie presste die Lippen zusammen, senkte den Kopf. »Er hat uns früh verlassen. Vor meinem vierten Geburtstag. Sagte, dass ihm das zu eng sei. Ist nach München gezogen. Hat wohl irgendwas mit Musik und Kunst studiert. Oder Film. Seine Eltern waren ja reich.«

Sie spie die Worte förmlich aus. Wie ihre Mutter früher, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte.

»Irgendwann erzählte Mama mir dann, dass er tot sei. Autounfall. Na ja, immerhin hat seine Familie weiter gezahlt, auch wenn sie nicht wirklich was mit uns zu tun haben wollte.« Sie schluckte und stand auf. »Ich muss jetzt weiterarbeiten.«

Tom blickte nachdenklich in seine leere Tasse. Die Kaffeereste begannen zu trocknen. Er überlegte, sich noch einen zu holen, konnte sich aber nicht aufraffen. Eigentlich brauchte er etwas Stärkeres. Ellen tot. Nico tot. Nina vermutlich verbittert und er orientierungslos. Er überlegte, ob er Nina einen Besuch abstatten sollte. Aber was sollte das bringen? Frieden? Wem?

»Wo wohnt Ihre Mutter? Ich würde sie gerne besuchen. Oder arbeitet sie auch hier?«

Kristina blickte ihn über die Kuchentheke hinweg an, auf ihrer Stirn bildete sich eine Falte. »Nein, sie kommt nie hierher. Aber wenn Sie meine Mutter kennen, dann wissen Sie wohl auch, wo sie wohnt. Daran hat sich nichts geändert.«

Tom spürte einen Kloß im Hals und hatte das Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen. »Es ist lange her, so gut kannte ich sie nicht. Ich erinnere mich dunkel, wo ihre Eltern wohnten.«

»Dann wissen Sie ja alles.« Ihr Blick sagte, dass sie ihm nicht glaubte, ahnte, wer er war. Und warum er nicht hier sein sollte. Einen Moment dachte er, wieder in der alten Bruchbude zu stehen und nicht in dem hellen, freundlichen Café. Ob sie schon mit ihrer Mutter gesprochen hatte, brühwarm am Telefon von ihm, seinen Fragen und seinen Antworten berichtet hatte? Und Nina sie gewarnt hatte? Dass man ihm nicht trauen könne.

Blödsinn, beruhigte er sich. Sie ist einfach eine verunsicherte junge Frau, der niemand von den Vorkommnissen erzählt hat und die jetzt argwöhnt, dass er auch nicht mit offenen Karten spielt. Womit sie recht hat.

»Also wohnt sie noch dort«, murmelte er.

Eine Viertelstunde später stand er vor Ninas Tür, zögerte. Drückte dann energisch auf den Klingelknopf.

Nina erkannte ihn sofort. Ihr Erstaunen schien echt.

»Tom?«, sagte sie in einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen. »Was willst du?«

Ja, was wollte er? Tom versuchte es mit der Wahrheit. »Reden. Mit der Vergangenheit abschließen. Frieden finden.«

»Und dafür brauchst du mich?« Um ihren Mund lag ein Zug, den er von früher nicht kannte. Die kleinen Falten machten sie hässlich und alt.

Sie standen sich gegenüber. Er draußen, sie drinnen. Sie blickte misstrauisch auf die Nachbarhäuser, dann bat sie ihn hinein. Sie setzten sich an den Küchentisch. Nina bot ihm etwas zu trinken an. Er bat um ein Wasser.

»Ich hab aber nur Leitungswasser.«

»Passt.«

Tom sah zu, wie sie ein Glas aus dem Hahn füllte. Zumindest konnte sie daran nichts manipulieren, dachte er und fragte sich, was ihn auf solche Gedanken brachte. Sie war nicht mehr die Nina von früher.

»Also, was willst du?«, fragte sie und stellte das Glas hart auf den Tisch.

»Antworten.«

»Dann frag.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Er schwieg. Wusste nicht mehr, wo er beginnen sollte. »Erzähl mir von Nico.«

»Nico? Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er tröstete mich. Wegen dir. Wegen Ellen. Aber das weißt du.«

So etwas Ähnliches hatte sie schon vor Gericht gesagt. Tom grübelte. Genau. Nico sei ihr Halt. Er habe sie aufgefangen, nachdem sie Ellen gefunden hatte. Tom konnte sich noch daran erinnern. Ninas Schrei. Wie sie sich in Nicos Arme gestürzt und geschluchzt hatte. Dann war Tom in den Toilettenraum gegangen. Dort hatte Ellen gelegen. Mit hochgeschobenem Rock, zerrissener Strumpfhose und entblößten Brüsten. Und mit eingeschlagenem Kopf. Das Blut war überall. Tom hatte minutenlang auf die Leiche gestarrt. Stumm. Das hatten sie später gegen ihn verwendet.

»Warum hast du dich damals in seine Arme geworfen?«

Sie blitzte ihn an. »Das habe ich doch schon gesagt. Weil ich dich gesehen hatte. Und mir direkt klar war, dass du sie umgebracht hast.«

»Aber du kannst mich nicht gesehen haben. Weil ich es nämlich nicht war. Weil ich zu der Zeit, als du mich gesehen haben willst, auf der Veranda lag und meinen Rausch ausgeschlafen habe. Also, warum hast du gelogen?«

Sie sah ihn trotzig an. »Sie haben Spuren von dir gefunden.« Sie sprach es nicht aus, aber er wusste, welche Flüssigkeiten sie meinte. Er schwieg. Sie schwieg.

Nach einer Weile räusperte sie sich, sprach weiter: »Ich habe dich gesehen. Vorher. Du bist zu ihr gegangen. Ich habe euch gesehen. Zusammen.«

Der Schatten. Plötzlich fiel ihm wieder ein, wie Ellen aufgeschreckt war, weil sie angeblich am Fenster etwas gesehen hatte. Nina.

»Du warst eifersüchtig?«

Nina nickte trotzig.

»Und deshalb schickst du jemanden für 25 Jahre ins Gefängnis? Für deine kleine, dumme Eifersucht?«

Er hatte Nina gemocht. Mehr als das. Aber er war auch Ellens Reizen verfallen. Genauso wie Nico. Es war ein Spiel. Ohne Sieger und Verlierer. Hatte er gedacht. Und nun stellte er fest, dass es nur Verlierer gab.

»Und Nico? Warum hat er gelogen?«

Nina grinste. Diabolisch, fand er.

»Er war danach bei ihr. Als man sie fand, geriet er in Panik. Beschwor mich, zu sagen, dass wir die ganze Nacht zusammen verbracht hätten.«

Tom schluckte. »Nico? Aber man hat von ihm keine Spuren gefunden.«

Ninas Grinsen wurde breiter. »Ellen hat ihn abgewiesen. Das gab ihm ein Motiv. Ein sehr gutes Motiv. Der verwöhnte, reiche Junge bekommt mal nicht, was er will. Er war schlau genug, das sofort zu erkennen. Als ich sagte, dass ich dich gesehen hatte, war er erleichtert. Wir beschlossen, beide zu erzählen, dass wir die ganze Nacht zusammen waren. Um irgendwelchen Spekulationen vorzubeugen.«

Verräterin, dachte Tom. Das Wort kreiste in seinem Hirn. Gemeinsam mit einem anderen Gedanken. »Hattest du nie den Verdacht, dass er es war? Das wäre naheliegend gewesen. Und du wusstest, dass ich es nicht war.«

Sie zuckte die Schultern. »Woher sollte ich das wissen? Aus meiner Sicht konntest du es sehr wohl gewesen sein. Bei Nico war ich mir ziemlich sicher, dass er es nicht war. Du warst für mich in dem Moment verloren, als ich euch sah, dich und Ellen. Nico war dankbar, dass ich ihm ein Alibi gab, das er nicht brauchte. Sehr dankbar.«

»Er hat dich verlassen.«

Nina lächelte. Abermals war dieser hässliche Zug um ihren Mund.

»Wir merkten beide, dass es nicht passte.«

Wieder schwiegen sie. Tom trank einen Schluck.

»Hast du nie daran gedacht, deine Aussage zu ändern? Es hätte mir viele Jahre im Knast ersparen können. Jahre, in denen er frei herumlief. Du hast möglicherweise einen Mörder gedeckt. Ist dir das klar?«

»Er ist der Vater meiner Tochter. Ist dir das klar? Außerdem habe ich dir schon gesagt, dass ich mir sicher war, dass er es nicht gewesen sein konnte.«

Beide blickten sich still in die Augen.

»Aber er war nicht da. Genau wie ich.«

Nina sah ihn an. »Du hättest da sein können. Wir hätten ein schönes Leben haben können. Aber du hast es zerstört.«

Tom betrachtete sie. Fünfundzwanzig Jahre Verbitterung. Da war sein Erbe aus dem Gefängnis fast leichter zu ertragen.

»Eine letzte Frage: Wie ist er gestorben?«

»Autounfall.« Ihr Gesichtsausdruck machte klar, dass das Gespräch für sie beendet war.

Er schwieg und sah auf den Tisch. Tiefe Kerben zogen sich durch das Holz. Tom trank sein Wasser und verabschiedete sich.

Eine halbe Stunde später betrat er Nicos Elternhaus. Dessen Mutter sah ihn erst erstaunt, dann ernst an und bat ihn ins Wohnzimmer.

»Entschuldigen Sie, Frau Hellmaier, wenn ich Sie so überfalle.« Tom überlegte, ob die Worte gut gewählt waren. Dann sprach er weiter. »Ich bin damals nicht mehr dazu gekommen, mich bei Ihnen zu bedanken, für all das, was Sie für mich getan haben. Bevor …«, er stockte, »es passierte.«

Sie nickte. »Schon gut, Tom. Ich darf doch noch Tom sagen? Ich habe es gerne getan. Für Nico und dich. Schade, dass es so endete. Ich habe es nie verstanden. Konnte es mir einfach nicht vorstellen. Das habe ich damals im Prozess ja auch gesagt. Genauso wenig konnte ich mir vorstellen, dass Nico etwas damit zu tun hatte.« Sie lächelte. »Allerdings wusste ich natürlich, dass er jähzornig werden konnte, wenn er seinen Willen nicht bekam. Er erzählte mir, dass er einen Filmriss hatte. Die ganze Nacht herumgelaufen und irgendwann in seinem Auto aufgewacht sei. Er war sich selbst nicht sicher. Es hat ihn all die Jahre gequält. Dieser Verdacht, dass etwas an der Geschichte nicht stimmte. Deshalb ist er fortgegangen. Hat irgendwie versucht, es zu verarbeiten.« Sie sah Tom an. »Du fragst dich bestimmt, warum ich dir das erzähle. Nun, vor sieben Jahren tauchte Nico unangekündigt hier auf und sagte mir, ihm sei etwas klar geworden. Vier Leute wart ihr. Die Einzige, auf die kein Verdacht fiel, war sehr erpicht darauf, ihn zu decken und dich zu beschuldigen. Anfangs dachte er, weil es die Wahrheit war. Dann dachte er, es wäre, weil er im Gegensatz zu dir nett zu ihr gewesen ist, nachdem du sie so enttäuscht hattest. Dann quälte sie ihn mit ihrer Eifersucht, ihrer Paranoia, sodass er sie schließlich verließ. Mit den Jahren hat er die Geschichte, wie sie wirklich passiert ist, wohl Stück für Stück zusammengesetzt. Und ihm ist etwas eingefallen, worüber er mit ihr sprechen wollte. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Nina sagte, er sei nie bei ihr gewesen, nie dort angekommen. Er wurde auf der Landstraße überfahren. Hatte anscheinend eine Autopanne und wurde von einem Betrunkenen erwischt. Man hat nie herausgefunden, wer es war.«

Tom sah sie ungläubig an.

»Ich bin mit meinem Verdacht zur Polizei gegangen. Habe so lange auf sie eingeredet, bis sie Ninas Auto untersucht haben. Es war repariert worden. Angeblich nach einem Wildunfall. Nina wollte mich anschließend wegen Verleumdung anzeigen.«

Sie senkte den Blick, schwieg einen Moment. »Ich habe dafür gesorgt, dass Kristina Nicos Erbe bekommt. Dann war auch Nina ruhig. Obwohl ich sichergestellt habe, dass kein Cent an sie geht.«

»Aber haben Sie Nicos Verdacht nie der Polizei gegenüber geäußert?«

»Doch, aber ich hatte keine Beweise. Nur ein paar Andeutungen von Nico. Er sagte, dass er gesehen hat, wie sie einen Stein in die Nagold warf. Den findet heute keiner mehr. Und selbst wenn, gäbe es keine Spuren mehr. Die hat die Nagold abgewaschen.«

Sie blickte auf ihre Hände, die sie im Schoß verschränkt hatte.

»Ich bin sicher, dass sie irgendwann ihre gerechte Strafe bekommt. Aber wir wollen sie nicht richten.«

Tom schluckte. »Ich weiß nicht, ob ich das so sehen kann. Es einfach hinnehmen kann.«

»Schließe Frieden, lebe dein neues Leben. Das ist das Beste, was du tun kannst. Alles andere reißt nur alte Wunden auf«, sagte sein Gegenüber.

Er betrachtete sie. Eva Hellmaier, eine gut situierte Frau. Aber auch eine Mutter, die ihren Sohn verloren hatte. Vermutlich lange, bevor er tatsächlich starb. Die Falten hatten sich tief in ihr Gesicht eingegraben. Das konnte keine Pflegecreme übertünchen.

»Es ist deine Entscheidung«, sagte sie nach einer Weile. »Wir können es nicht beweisen. Nina wird es niemals zugeben. Und da ist auch noch Kristina, deren Leben es ebenfalls zerstören würde, wenn wir die Sache jetzt aufwühlen.«

Tom verstand. Der Sohn war nicht mehr da, konnte nicht mehr zurückgeholt werden, also konzentrierte Frau Hellmaier ihre Fürsorge auf die Enkelin.

Nachdem Tom sich verabschiedet hatte, fuhr er zurück zum Wanderparkplatz und ging zu dem Gebäude, das so schicksalhaft für sie alle gewesen war. Das von einem Ort der Flucht aus dem Alltag, der Kreativität, der unbeschwerten Jugend zu einem Albtraum geworden war, der sie nicht losgelassen hatte. Tom schloss die Augen und ging in Gedanken noch einmal durch die Proberäume. Sah Nico, wie er eine Melodie auf der Gitarre übte. Eine Falte auf der Stirn, die aber nicht vom Kummer kam, sondern reine Konzentration war. Tom ließ den Blick über sein Schlagzeug, die Eierkartons an den Wänden wandern. Dann stattete er Nina in der Küche einen Besuch ab. Sie kochte Kaffee. Auch auf ihrer Stirn war eine Falte. Sie schien sich wieder einmal über irgendetwas geärgert zu haben. Es fiel Tom jetzt erst auf, dass sie ständig über etwas erbost gewesen war, sich ungerecht behandelt gefühlt hatte. Er wandte sich ab, ging wieder in den Proberaum. Ellen saß lässig auf einer der weißen Bänke, summte Nicos Melodie mit, zog an ihrer Zigarette. Ihre Stirn war glatt, als sie sich zu ihm drehte, lächelte und das Victory-Zeichen machte. Eine warme Welle durchströmte Toms Körper. Er öffnete die Augen.

Das Badhaus war erleuchtet, leichte Jazz-Klänge wehten herüber. Pfeifend ging Tom zurück zum Parkplatz.

Er sah den Wagen erst, als die Scheinwerfer aufblendeten. Fühlte sich wie ein Reh für einen Moment unfähig, sich zu bewegen. Dann war das also das Ende? Er bekam einen harten Stoß in die Seite, flog ins Gebüsch. Schnappte nach Luft. Durch die Blätter und Zweige sah er, dass das Fahrzeug angehalten hatte. Hörte, wie eine Tür sich öffnete und Schritte näher kamen. Mühsam rappelte er sich auf, sein Bein schmerzte, aber er konnte sich bewegen.

Nina wartete auf dem Parkplatz. Sah ihm zu, wie er sich einen Weg durch die Büsche bahnte. Dann standen sie sich gegenüber, die Frau ging Tom gerade bis zur Brust.

»Warum?«, fragte er.

Sie lachte. »Das weißt du doch. Ellen sollte weder dich noch Nico kriegen. Die schöne Ellen. Ha! Schönheit ist vergänglich.«

»Hass wohl nicht«, erwiderte Tom. Er wunderte sich selbst über seine Ruhe.

Nina schüttelte den Kopf, grinste. »Nico hatte sich alles zusammengereimt. Hat ziemlich lange dafür gebraucht. Angeblich war ihm nach Jahren wieder eingefallen, dass er gesehen hatte, wie ich die Tatwaffe in die Nagold warf.« Sie lachte. »Eigentlich hätte ich mir deswegen keine Sorgen machen müssen. Aber Kristina war damals noch so klein. Sie durfte mich doch nicht verlieren. Und wer weiß, wenn Nico wirklich zur Polizei gegangen wäre, dann hätten die alles wieder ans Licht gezerrt, keine Ahnung, ob ich das durchgehalten hätte. Nein, ich musste handeln.«

Tom schwieg.

»Und was mache ich nun mit dir? Du scheinst ein anderes Kaliber zu sein.« Nina seufzte. Dann ging sie ein paar Schritte auf ihn zu, lächelte, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Leb wohl.« Sie lief zu ihrem Wagen, stieg ein und brauste davon.

Tom sah ihr hinterher, schüttelte sich wie ein Hund und sprintete zu seinem eigenen Auto. Ausgerechnet jetzt sprang die alte Karre nicht an. Erst nach mehrfachen Versuchen konnte er starten. Tom trat aufs Gaspedal.

Als er die Rauchsäule sah und den Schrotthaufen, der die Tanne zu umarmen schien, wusste er, dass er zu spät kam.

Nun gab es nur noch ihn.

Zur Geschichte von Klein Wildbad – heute Badhaus 1897

Im Jahr 1897 wurde in Bad Liebenzell das kleine Wildbad erbaut, welches die Funktion eines Volksbades mit Café-Restaurant hatte. Der Betreiber bezeichnete und vermarktete die im Haus befindliche Quelle als Klein-Wildbad-Quelle. Bis ins Jahr 1940 wurde das Gebäude gastronomisch genutzt. Danach stand es für Wohnzwecke, Vereins- und Lagerräume zur Verfügung. Als eine der letzten Nutzungen stellte man dort Proberäume für Bands zur Verfügung, bevor das Gebäude Ende des letzten Jahrhunderts leer stand und dem Verfall preisgegeben wurde. In den Jahren 2015/2016 wurde es von den neuen Besitzern grundlegend saniert. Das denkmalgeschützte Gebäude beherbergt heute wieder ein Café und soll auch ein Treffpunkt für Künstler sein.

Quelle der Informationen sind die Internetseite des Badhaus 1897, der Schwarzwälder Bote (Bad Liebenzell, Geschichte des Gebäudes, Andrea Fisel, 21.07.2016) und die Seite urbexworld.de.

Kein Schwarzwaldmädel, keine Operette

Daniel Walter

A-Seite 1

Er machte es sich auf einer Bank gemütlich und schaute der Sonne zu, die sich, ihrem Untergang geweiht, auf der anderen Rheinseite rot umwölkt in den Vogesen verkroch. Ob er diese Gegenlicht-Atmosphäre einfangen könnte? Er folgte nicht dem Impuls, seine Spiegellose aus der Kameratasche zu holen. Er war hier, um Geld zu verdienen, nicht um sentimental zu werden.