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Eine tödliche Tortenschlacht!
Zuckerbäckerin Isabella nimmt an einem TV-Backwettbewerb teil - nur widerwillig, denn eigentlich ist sie einem dunklen Geheimnis ihrer verstorbenen Großmutter auf der Spur. Doch dann wird ein Küchenmädchen des Fernsehteams ermordet aufgefunden. Hat die Moderatorin Simone Sommerwind etwas damit zu tun? Oder deren Mann, der Produzent Hajo?
Unversehens steckt Isabella mitten in den Ermittlungen. Und auch der charmante Bäcker Florian und der aufregende Polizist André lassen ihr keine Ruhe ... Wie soll sie sich da noch konzentrieren, die beste Schwarzwälder Kirschtorte ihres Lebens zu backen?
Ein frisch gebackener Fall für Hobby-Detektivin Isabella. Köstlich spannend!
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Titel
Impressum
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
Jana Fallert
SchwarzwälderKIRSCHMORDE
Isabella und das tödliche Geheimnis
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anne Pias
Covergestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock: Jan-Kalle Jonath | imaginasty | Gyuszko-Photo | metwo | Irtsya | Guz Anna | DaLiu
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-0014-6
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Damals
Über den abgeernteten Getreidefeldern flimmerte die Luft des heißen Spätsommers. Eine kleine Schar Heidelerchen ließ sich vom heißen Wind durch die Lüfte tragen. Mit flatternden Flügeln kreisten die Vögel über die Stoppelacker und sangen ein Lied, das nur sie verstanden.
Änni hingegen war nicht zum Singen zumute. Schnaufend verteufelte sie Gott und die Welt. Die drückende Hitze war schier unerträglich, und jede Bewegung wurde zur Qual.
Gut nur, dass sich am Himmel bereits tiefschwarze Wolken abzeichneten und die ersehnte Abkühlung bringen würden. Lange würde es nicht mehr dauern, bis das Gewitter Zapfbach erreichte und sich der prasselnde Regen auf die Terrasse des Zuckerherzschlössles ergoss.
Sie musste sich beeilen und fluchte ungehalten auf, verteufelte jede Kaffeetasse und jeden Kuchenteller. Nicht nur dass sie allein damit beschäftigt war, die Tische abzudecken und die sonnengelben Schirme einzuholen. Längst war sie mit den Vorbereitungen im Verzug und sollte seit einer Stunde in der Backstube stehen.
»Wo bleibt nur Martha – Gopferdori!?«
Sie mühte sich an einem schwerfälligen Schirm ab, dessen Stoff bereits eingerissen war. Obendrein waren drei Speichen verborgen. Schon einmal hatte sie ihre Nachlässigkeit mit einem Sturmschaden bezahlt. Dabei konnte sie sich neue Schirme beim besten Willen nicht leisten. Blieb nur zu hoffen, dass der Tannhöfer ihn wieder repariert bekam.
»Autsch!« Änni schrie vor Schmerz auf. Mit einem festen Ruck hatte sie sich am Schieber den Finger gequetscht. Sie wollte gerade lauthals losschimpfen, als sie aus dem Augenwinkel eine schmächtige Gestalt die Terrasse hinaufeilen sah.
»Warte, Änni!« Es war Martha, die ihr mit der Schürze in der Hand zuwinkte. »Ich helfe dir.«
Änni machte unbeirrt weiter. Kurz drehte sie den Kopf in Marthas Richtung und blinzelte sie wütend an. »Du bist zu spät«, sagte sie. »Mal wieder.«
»Entschuldige ich ... mir ist etwas dazwischengekommen.«
Der aufziehende Wind fuhr ihr durch die dunklen Haare, die längst keine Frisur mehr darstellten. Martha band sich die Schürze um das Leinenkleid und wollte ins Café stürzen, als Änni sie mit einem harten Griff am Handgelenk aufhielt.
Änni seufzte ergeben auf. Sie war müde und wollte dieses Gespräch nicht führen. Nicht heute. Niemals. Doch ihr blieb keine andere Wahl. Warum es also hinauszögern? Sie atmete tief ein und langsam wieder aus, während ihr Blick unablässig auf Martha ruhte. »Ich weiß ganz genau, was dich aufgehalten hat«, sagte sie langsam. »Oder vielmehr, wer es war, der dich von der Arbeit ferngehalten hat.«
Marthas Züge entglitten ihr, doch Änni sah sie weiter fest an. »Du warst unten am Bach.«
Nun klappte Marthas Mund auf, erst verblüfft, dann erbost. Doch anscheinend erstarben ihr die Worte auf der Zunge. Aber es reichte ein Augenaufschlag, um Martha klarzumachen, dass es keine leeren Worte waren, die Änni ihr entgegengeschleudert hatte.
Die schmalen Schultern ihrer Freundin zuckten unbeholfen auf. »Und wenn schon«, sagte sie in unbekümmertem Tonfall. »Ich werde die Zeit nacharbeiten, versprochen.«
Änni prustete laut auf. »Darum geht es überhaupt nicht.« Sie sah Martha fest an. Warnend. »Ich habe Augen im Kopf. Und sei auf der Hut, nicht nur ich. Wenn ich weiß, was los ist, werden es auch andere erfahren. Und dann wird auch er ...«
Trotzig verschränkte Martha die Arme vor der Brust. »Du kannst mir nichts vorschreiben.«
Änni hob abwehrend die Hände. »Nichts läge mir ferner. Du bist meine Freundin. Ich möchte nur das Beste für dich.«
Martha sah zu ihr auf. »Und wenn genau dies das Beste für mich ist?«
»Nein«, sagte Änni hart und bewegte den Kopf schnell von links nach rechts. Genau einmal. »Nicht auf diese Weise.« Sie erschrak selbst über den harten Klang in ihrer Stimme. Aber es ging einfach um zu viel. Dennoch bemühte sie sich um einen sanfteren Tonfall, als sie weitersprach: »Ich verurteile das nicht. Versteh mich nicht falsch, du hast ein Anrecht auf dein Glück, und es gibt nichts, was ich dir sehnlicher wünsche.« Sie lächelte ihre Freundin an, wurde aber sofort wieder ernst. »Aber nicht auf diese Art.«
Martha riss sich von ihr los und blickte ihr bockig entgegen. »Was verstehst du denn schon von der Liebe, Änni?«
Änni schwieg. Damit hatte Martha sie eiskalt erwischt. Nämlich dort, wo es wehtat. Doch sie schluckte den Groll hinunter. Hier ging es schließlich nicht um sie.
»Vielleicht nicht viel«, räumte sie ein. »Aber ich weiß um die Gefahr, in die du dich begibst.« Ihr Blick ruhte intensiv auf Martha.
Es tat ihr unendlich weh, zu sehen, wie glücklich sie war. Nicht, weil sie es ihr nicht gönnte, sondern, weil es ein fragiles Glück war, das jeden Moment zu einem großen Drama führen konnte. Und was die Welt in diesen schweren Zeiten am wenigsten brauchte, waren weitere Tragödien.
Martha spielte ein gefährliches Spiel. Sie umgab sich mit einem gestohlenen Glück. Es gehörte ihr nicht. Sie hatte kein Anrecht darauf. Nicht auf diesen Mann, der nicht der Ihre war. Und so etwas ging nie gut aus.
Änni umfasste die Hand ihrer Freundin, die so dünn und schlank war – wie die einer Schaufensterpuppe. Sie drückte zu. Zart und doch fest. »Sei vorsichtig«, sagte sie mahnend. »Er wird dich und das Kind umbringen, wenn er davon erfährt.«
Mit einem störrischen Blick strich Martha sich zärtlich über den Bauch. »Dann darf er es eben nicht erfahren.«
»Würdest du es bitte auf dem Müllhaufen liegen lassen?« Isabella schmetterte Renate einen energischen Blick zu.
Doch die dachte nicht im Traum daran, der Bitte ihrer Tochter Folge zu leisten, und hielt ihr den Gegenstand vorwurfsvoll unter die Nase. »Bist du dir wirklich sicher, dass du die alte Waschtrommel nicht doch noch gebrauchen kannst?«
Isabella schenkte dem stumpf silbernen Gegenstand nur ein Naserümpfen. »Was soll ich bitte damit?«
»Du könntest sie in den Vorgarten stellen und Blumen reinpflanzen. Rote Geranien würden sich da wunderbar machen. Oder du benutzt sie als Feuerkorb.«
Isabella hob eine Braue an. »Für welches Feuer denn?«
Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. »Nun ja, wenn du mal eine Grillparty machst. Oder so.«
Als ihr schließlich die Argumente ausgingen, stellte Renate die Trommel auf den Boden. Nicht zurück zum Müllhaufen, sondern genau in die Mitte des Kellerraums, der nun dreigeteilt war. Der Stapel, durch den sie sich gerade wühlte, der Müllhaufen mit fragwürdigen Antiquitäten wie einer saitenlosen Gitarre, einer Föhnhaube mit Standfuß und einem moosgrünen Staubsauger mit fehlender Saugdüse.
Und dann gab es die kleine Ecke des Kellerraums, in der die Dinge standen, die Isabella behalten wollte. Darunter war eine schmucke Stehleuchte mit einem Ständer aus dunklem Holz und einem Stoffschirm, der wunderbar zu den Gardinen in ihrem Schlafzimmer passte.
Isabella schüttelte den Kopf. Damit wäre wohl eindeutig geklärt, woher das Messi-Gen im Hause Lentner stammte. Nämlich von mütterlicher Seite. Felsenfest davon überzeugt, diese genetische Vorbelastung zu durchbrechen, hatte Isabella beschlossen, zu entrümpeln. Angefangen beim Keller über die Stockwerke bis hin zum Speicher. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, worauf sie sich da eingelassen hatte.
Isabella setzte sich auf die Wäschetrommel, stützte ihre Ellbogen auf den Knien ab und legte ihr Kinn in die Hände. Sie schnaufte. Vor Erschöpfung und Resignation. Wie sollte sie diesem Chaos bloß Herr werden? »Hat Oma denn nie was weggeschmissen?«
Renate schüttelte energisch den Kopf. »Nicht, wenn es nicht unbedingt sein musste.« Sie lehnte sich gegen das verstaubte Gestell eines alten Mofas, von dem die Räder fehlten und Isabella nicht die leiseste Ahnung hatte, wo diese waren. »Weggeworfen hat man immer viel zu schnell irgendwas. Und dann«, ihre Mutter schnippte mit den Fingern, »schwuppdiwupp, wenn man’s braucht, ist es nicht mehr da, und man muss es neu kaufen.«
Die eben noch schnippenden Finger richteten sich mahnend auf sie. »Überlege dir deshalb gut, ob du dich wirklich von all dem hier trennen möchtest.« Ihre Belehrung wurde gestoppt, als ihre Mutter unter einem weißen Laken einen großen Spiegel entdeckte, der mit einem Goldrahmen eingefasst war. Er war bestimmt zwei Meter hoch.
Renate stand vor dem Spiegel, und kurz sah es aus, als würde sie sich intensiv darin mustern. Sie strich sich durch das lange dunkle Haar und bewegte ihre Hüften, als würde sie einen Jive tanzen. »Würde der nicht wunderbar in den Tanzsaal passen?«
Isabella schob meinungslos die Unterlippe nach vorn.
»Hättest du etwas dagegen, wenn ich ihn mir borgen würde?«
»Geschenkt«, erwiderte Isabella prompt. »Je weniger Gerümpel hier herumsteht, desto glücklicher bin ich.«
Ein Umstand, der auch das Wohnzimmer einbezog, das sie sich mit ihrer Mutter teilen musste. Sie hoffte bloß, dass ihr Tanzstudio von Beginn an genügend Schüler haben würde, damit ihre Mutter sich eine eigene Wohnung leisten konnte und Isabella wieder alleinige Herrin ihres Reiches war.
Nicht, dass sie ihre Mutter nicht mochte. Doch die Nähe, die sie seit Wochen zueinander pflegten, war eindeutig zu nah. Außerdem teilten sie alles andere als den gleichen Geschmack, was die Wohnungseinrichtung anging. Und da sie sich mit dem Motto »Was dein ist, ist auch mein« ins gemachte Nest gesetzt hatte, verkam Isabellas Wohlfühloase zu einem kunterbunten Hindu-Yoga-Ayurveda-Tempel – eben ganz nach Renates Geschmack.
Isabella vermochte es noch immer nicht so recht zu glauben, dass ihre Mutter ernst gemacht hatte und ein Leben in Zapfbach dem der Großstadt vorzog. Dabei hatte sie in Frankfurt alles, was es brauchte, um glücklich zu sein. Eine gut florierende Tanzschule ... jede Menge Freunde. Und doch hatte es sie nach Zapfbach gezogen. Zu ihrer Tochter. Zu Isabellas Leidwesen. Eigentlich hätte sie sich geschmeichelt fühlen sollen. Eigentlich ...
»Ein wirklich wunderbarer Spiegel.« Begeistert huschte Renates Blick in Isabellas Richtung. »Und du bist dir wirklich, wirklich sicher, dass du ihn nicht selbst behalten möchtest?«
»Nimm ihn nur. Ich freue mich, wenn du dich darüber freust.« Schnell blickte sie sich im Keller um. »Möchtest du vielleicht auch das Spinnrad mitnehmen?«
Ihre Mutter lachte beherzt auf. »Das ist eine Tanzschule, Schätzchen. Kein Heimatmuseum.« Beim Betrachten des Rades hielt sie kurz inne. »Aber es würde doch hervorragend in die Ecke des Wohnzimmers passen, wenn -«
»Nein«, fuhr Isabella ihr hart über den Mund. Zu ihrer Überraschung brachte sie Renate damit tatsächlich zum Schweigen.
Sie sah dabei zu, wie sich ihre Mutter abrackerte und mit Leibeskräften bemüht war, den großen Spiegel in die Ecke zu stellen, die nicht für den Sperrmüll vorgesehen war. Dabei entdeckte sie eine verbeulte Milchkanne mit Bauernmalerei, deren Henkel halb abgerissen war. »Aber die kommt mit nach oben. Die ist ja traumhaft!«
Isabella wollte aufbegehren, doch sie war zu erschöpft. Nach drei Stunden im Kellerraum, gemeinsam mit ihrer Mutter, fühlte sie sich kraftlos und unmotiviert, über jeden noch so kleinen Gegenstand diskutieren zu müssen, ob er nun wirklich schrottreif war oder noch für ein zweites Dekoleben herhalten konnte.
Der Standaschenbecher mit defektem Klappmechanismus. Die modrigen Sonnenschirme mit dem Aufdruck eines Eisherstellers, den es seit Jahrzehnten nicht mehr gab. Das gerahmte Porträt von Altkanzler Helmut Kohl mit original Unterschrift, weil er einst im Zuckerherzschlössle zu Gast war.
Bestellt hatte er einen Apfel-Mohn-Streusel-Kuchen und ein Kännchen Kaffee mit Milch, aber ohne Zucker, und dazu eine eisgekühlte Coca-Cola. Daran konnte Isabella sich nur zu gut erinnern, weil Oma Änni nie müde wurde, es jedem unter die Nase zu reiben, der das Bild länger als einen Augenaufschlag lang musterte. Nun stand es da, angelehnt an einem beigefarbenen Gefrierschrank und staubte vor sich hin.
»Also, ich finde, hier wimmelt es nur so von Schätzen, die noch von uns entdeckt werden wollen.« Renates Kopf drehte sich andächtig zur Wand. »Schau doch nur die Schrankvitrine. Das scheint Nussbaum zu sein. Ist sie nicht hübsch?«
Isabella schenkte der Vitrine nur ein müdes Aufzucken ihrer Mundwinkel. »Das wäre sie. Wenn nicht eine Tür fehlen würde.«
Renate winkte ab. »Ach, da kann man doch bestimmt irgendwie improvisieren.« Sie schien über einen Gedanken gestolpert zu sein. »Du kennst doch bereits so viele Männer hier. Einer von ihnen wird bestimmt in der Lage sein, das zu reparieren.«
»Ich kenne nicht viele Männer, sondern zwei.« Isabella blinzelte ihre Mutter wütend an. Doch die nackte Glühbirne über ihnen war nicht hell genug, als dass Renate den funkelnden Zorn in ihrem Blick hätte erkennen können. »Florian ist Bäcker und André Polizist. Ich glaube nicht, dass einer von den beiden uns eine neue Seitentür für einen vielleicht hundert Jahre alten Schrank zimmern kann.«
Renate grinste. »Nein, das traue ich den beiden auch nicht zu.« Dann zwinkerte sie anzüglich. »Die beiden haben ihre Qualitäten bestimmt anderswo.«
Um sich zum Schweigen zu ermahnen, biss sich Isabella so fest auf die Unterlippe, bis ein scharfer Schmerz aufzuckte. Ihre Mutter war wirklich der letzte Mensch auf dieser Welt, mit dem sie über ihr Liebesleben sprechen wollte. Zumal es ein solches nicht einmal gab.
Florian war nichts weiter als ein sehr guter Freund. Und André war ... sie wusste selbst nicht, was der Polizei für eine Rolle in ihrem Leben spielte. Zumindest hatte er ihres gerettet – vor einer rachsüchtigen Giftmischerin, die hoffentlich viele, viele Jahre hinter Gittern verbringen würde.
Isabella hatte nur Abscheu für die Frau des ehemaligen Bürgermeisters übrig, die aus purer Eifersucht nicht davor zurückgeschreckt hatte, all ihre Nebenbuhlerinnen über Jahrzehnte hinweg zu vergiften. Beinahe wäre auch Isabella ihr zum Opfer gefallen, wenn André ihr nicht in letzter Sekunde zu Hilfe geeilt wäre.
Und dann gab es da noch diesen einen Kuss, den sie mit ihm ausgetauscht hatte. Es war ein wunderbarer Kuss. Einen, für den sie zweifelsohne Applaus bekommen hätten, wären Zuschauer anwesend gewesen. Doch nach dem Kuss folgte nichts mehr – von dem Blumenstrauß einmal abgesehen, den André ihr ans Krankenbett gebracht hatte. Seitdem waren Wochen vergangen, und nichts deutete mehr darauf hin, dass dieser Kuss auch nur irgendeine Rolle gespielt hatte. Isabella wusste nicht, ob sie darüber glücklich oder verzweifelt sein sollte.
»Du und deine Männergeschichten«, befand Renate zusammenhanglos.
»Ich habe überhaupt keine Zeit für Männergeschichten«, echauffierte Isabella sich. »Schließlich habe ich ein Café zu führen.« In ihrer Verzweiflung blies sie sich eine Strähne aus der Stirn.
Sie sollte weitaus Sinnvolleres mit ihrer knapp bemessenen Zeit anstellen, als sich im Keller mit ihrer Mutter herumzutreiben. Kuchen backen zum Beispiel, sofern sie ihren Gästen morgen etwas präsentieren wollte.
Sie schloss für eine Sekunde die Augen. Es wurde eine lange Sekunde. In dieser sah sie sich bis in die Nacht hinein in der kleinen Backstube Teige kneten, Backformen einpinseln und Eischnee schlagen.
Obendrein machte ihr der Ofen Sorgen. Sie hatte das Gefühl, dass er die Hitze nicht mehr gleichmäßig verteilte. Zweifellos hatte er die besten Jahre schon lange hinter sich. Aber momentan konnte sich Isabella keinen neuen Ofen leisten. Der Hauskauf und die Renovierung des Cafés hatten ihre Reserven beinahe komplett aufgefressen.
Als sie die Augen wieder öffnete, stand Renate unmittelbar neben ihr. Das Kinn ihrer Mutter hatte sich gesenkt, und sie nahm mit zusammengekniffenen Augen den Boden vor ihren Füßen in Augenschein.
»Aber wirklich jetzt«, sagte sie. »Der Teppich hier würde sich geradezu perfekt unter dem Wohnzimmertisch machen.«
Isabella lachte ungläubig auf. »Das alte mottenzerfressene Ding würdest du mit nach oben nehmen?« Mit Unbehagen betrachtete sie den großen Perserteppich, der aufgrund des Staubs der Jahrzehnte sämtliche Farbe verloren hatte. Vermutlich war er einmal rot gewesen.
Renate winkte ab. »Einmal über den Zaun gehängt und ordentlich mit dem Teppichklopfer drüber, und das Teil ist wieder wie neu.«
Isabellas Blick wechselte zum Teppich und zurück zu Renate. Worte fand sie keine mehr.
»Zugegeben«, räumte Renate schließlich ein. »An manchen Stellen ist er ein wenig abgewetzt.« Sie ging in die Hocke, zupfte am Fransenende, offenbar in dem Versuch, eine Falte aus dem Teppich zu ziehen.
Isabella sah ihr nur halbherzig dabei zu und überlegte, womit sie nun beginnen sollte. Noch immer kraftlos nahm sie die Kaffeemühle zur Hand. Sie verspürte nicht die geringste Lust, den ganzen Tag im Keller zu verbringen. Sie konnte sich wahrlich Schöneres an ihrem freien Tag vorstellen.
Obendrein hatte sie noch einen Haufen Kuchen und Torten zu backen. Doch dazu brauchte es erst einmal Florians Lieferung, die bereits einen Tag auf sich warten ließ. Seit sein Großvater im Krankenhaus war, ging es bei den Tannhöfers drunter und drüber, und sie bekam Florian kaum noch zu Gesicht.
»Ich bekomme die Falte nicht glatt gezogen«, beschwerte sich Renate. »Hilfst du mal?«
»Wozu? Ich will den Teppich nicht im Wohnzimmer haben.«
»Sei doch nicht immer so voreilig. Lass uns erst einmal das Muster in seiner Gesamtheit betrachten, wenn die Falten draußen sind. Ich bin sicher, dass es wunderhübsch aussieht. Außerdem passen die Farben hervorragend in unser Feng-Shui-Konzept.«
Mit einem Fluch auf den Lippen erhob Isabella sich von der Waschtrommel und stellte die Kaffeemühle wieder dort ab, wo sie die letzten Jahrzehnte verbracht hatte. Dann klopfte sie sich den Staub unter ihren Fingerkuppen an der Jeans ab und tat es ihrer Mutter gleich. Sie zog am anderen Ende der Fransen und wirbelte damit nur noch mehr Staub auf.
Hustend hielt sie sich die Hand vor den Mund. Dabei hatte sie den Teppich so jäh losgelassen, dass ihre Mutter mitsamt den Fransen in der Hand nach hinten kippte.
Aus dem Husten wurde ein Lachen, das erst dann erstarb, als Renate, auf dem Hosenboden sitzend, sie mit einem bösen Blick bedachte. Sie hielt den verrutschten Teppich noch immer in der Hand.
»Entschuldigung.« Isabella trat auf ihre Mutter zu, um ihr aufzuhelfen, doch sie stolperte.
»Was zum ...?«
Irritiert fiel ihr Blick auf den Betonboden des Kellerraums, und sie wunderte sich. Doch dort lag nichts, das ihr Stolpern erklärte.
»Alles in Ordnung, Liebes?«, fragte ihre Mutter mit besorgter Stimme.
»Ja, es ist nichts.« Isabella lachte leise und unbekümmert. »Ich bin über irgendetwas gestolpert.
Ihre Mutter richtete sich auf und betrachtete gemeinsam mit Isabella den blanken Boden, den der Teppich freigegeben hatte. »Nanu«, sagte sie. »Schau doch mal, die Falten waren gar nicht im Teppich, sondern im Boden.«
Isabella verstand sofort, was ihre Mutter meinte. Auch sie sah es nun eindeutig.
Renate runzelte die Stirn. »Das nenne ich mal schlampige Handwerksarbeit. Da hat man wohl den Beton nicht glatt gezogen.«
»Nein«, erwiderte Isabella sogleich. »Das ist nicht der Grund. Vielmehr sieht es so aus, als sei der Boden an manchen Stellen ... eingesackt.«
Sie konnte es sich nicht näher erklären, aber irgendwie wirkte es, als hätte man aus dem Boden die Luft rausgelassen. Hier und dort gab es Vertiefungen, wohingegen sich an einer anderen Stelle eine Erhebung abzeichnete. Auf Isabella wirkte es, als hätte sich etwas durch den Beton drücken wollen. Irgendetwas daran kam ihr äußerst suspekt vor.
»Wir brauchen mehr Licht.«
Ohne die Erwiderung ihrer Mutter abzuwarten, eilte sie aus dem Kellerraum und kam wenig später mit einer Baulampe in der Hand wieder, die sie in der Waschküche gefunden hatte.
Sie hatte keinen Schimmer, warum Änni im Besitz einer solchen Lampe war, und es interessierte sie auch nicht. Wichtiger war, dass sie funktionierte. Und das tat sie, wie sie schmerzhaft feststellte, als sie den Stecker in die Buchse steckte. Ein gleißend heller Lichtschein stach ihr in die Augen. Natürlich hatte sie direkt in die Lampe geschaut.
Es brauchte eine Weile, bis die Lichtblitze und grellen Sterne vor ihren Augen verschwanden. Die Zeit hatte ihre Mutter genutzt, um die Baulampe direkt auf den Boden auszurichten. Sie war bereits auf den Knien und fuhr mit den Händen die Konturen entlang, die im Beton zu erkennen waren.
Langsam erhob sie sich, sah sich suchend um, und stellte sich schließlich auf die Waschtrommel. Wieder blickte sie auf den Boden. Ehe Isabella fragen konnte, was das sollte, glitt ein stummer Schrei aus dem Mund ihrer Mutter, und sie schlug sich in der nächsten Sekunde hart auf den Mund. Erst mit der einen Hand, dann mit der anderen.
»Was hast du?« Eifrig gegen die Helligkeit anblinzelnd, sah Isabella zu ihrer Mutter auf.
Doch die antwortete ihr nicht, richtete nur den ausgestreckten Zeigefinger zum Boden. Isabellas Blick senkte sich ebenfalls. Sie versuchte, aus der Reaktion ihrer Mutter schlau zu werden. Und da erkannte sie etwas. Im harten Licht der Baulampe fügten sich die Vertiefungen und Erhebungen zu einer Kontur zusammen. Einer großen Kontur – mit den Umrissen eines ...
»Das ist ein Mensch!« Isabella klappte der Mund vor Entsetzen auf.
Ihre Mutter nickte. Das blanke Grauen stand auch ihr ins Gesicht geschrieben.
Und nun erkannte Isabella auch, über was sie da gestolpert war. Es war die Spitze eines Schuhs, der mit Beton überzogen war. Weiter oben drückte sich durch das Grau eindeutig eine Schulter, und mit gutem Willen war die Silhouette eines Schädels erkennbar, der sich direkt neben der Waschtrommel durch den Beton presste.
Isabella war von diesem Anblick fasziniert und entsetzt zugleich. Ihre Augen sahen das Eindeutige, doch ihr Verstand war noch nicht dazu in der Lage, das Gesehene wirklich zu erfassen. »Da-da-das kann nicht sein«, stammelte sie vor sich hin.
Ihre Mutter sagte gar nichts mehr, was äußerst ungewöhnlich war und die Dramatik dieser Situation nur verstärkte.
Sie wusste nicht, wie lange sie da stand. Das Kinn gesenkt, die Augen auf die Silhouette gerichtet. Sekunden? Minuten? Jahre?
Als sie sich endlich aus ihrer Schockstarre gelöst bekam, eilte sie aus dem Kellerraum und rannte noch einmal zur Waschküche, wo sie erst gestern den Werkzeugkasten abgestellt hatte, um den Wasserhahn zu reparieren.
Wobei das Wort Reparieren nicht wirklich zutraf, da er lediglich vor sich hin getropft hatte und die Ventilschraube fester angezogen werden musste. Trotzdem war sie nicht wenig stolz auf sich, das Problem allein gelöst bekommen zu haben.
»Isabella!«, hörte sie ihre Mutter aus dem Nebenraum rufen. Der Tonfall klang leicht hysterisch. »Du kannst mich doch hier nicht allein lassen!«
Ehe ihre Mutter einen Nervenzusammenbruch bekam, war Isabella auch wieder zurück, hielt kurz inne, indem sie einmal schnaufte und sich davon überzeugte, dass ihr die Augen keinen Streich gespielt hatten. Schwerfällig ließ sie sich auf die Knie fallen, öffnete den Werkzeugkasten und wühlte durch das Werkzeug.
Renate stand noch immer auf der Waschtrommel und sah sie eine ganze Weile ausdruckslos an. Auf Isabella wirkte sie wie ein Elefant, der sich vor einer Maus in Acht nahm. Endlich fand sie, wonach sie gesucht hatte.
»Himmel, was hast du vor?«, fragte ihre Mutter schließlich.
Isabella nahm den Meißel in die linke und den Hammer in die rechte Hand. »Was wohl? Ich will uns Gewissheit verschaffen.«
Ohne Renates Antwort abzuwarten, setzte sie den Meißel an und begann zu hämmern.
»Auf jeden Fall können wir ihn nicht hier unten liegen lassen.« Isabella schüttelte es eisig durch. »Allein der Gedanke, dass eine Leiche hier unten liegt, wird mich nie wieder ruhig schlafen lassen.«
Übelkeit oder Faszination. Isabella wusste nicht, welche Empfindung sich stärker an die Oberfläche drängte.
Bewaffnet mit Hammer und Meißel hatte sie vorsichtig den unter dem Zement erkennbaren Schuh freigelegt. Ihre Mutter kniete neben ihr und war ausnahmsweise mucksmäuschenstill, während sie mit großen Augen und schwerem Atem dabei zusah, wie Isabella behutsam zu Werke ging.
Dem Schuh folgte ein Hosenbein, von dem sie nicht sagen konnte, ob es zu einer Stoffhose oder einer Jeans gehörte. Tatsache aber war, dass das Hosenbein nicht leer war. Ebenso wenig wie der Schuh.
Als sie die Höhe des Knies erreicht hatte, hielt sie inne und wischte sich die schweißnassen Haare aus der Stirn. Durch das kleine Kellerfenster drückte sich ein dicker Sonnenstrahl, in dem die aufgewirbelten Staubpartikel des gelösten Zements munter vor sich hin tanzten. Der Geruch des alten Betons erfüllte die Luft, vermischt mit etwas anderem, über das Isabella gar nicht erst nachdenken wollte.
»Wir haben tatsächlich eine Leiche im Keller.« Ihre Mutter starrte sie mit einem entgeisterten Ausdruck im Gesicht an, der nicht entgeisterter hätte sein können, wenn ein Ufo im Vorgarten gelandet wäre und drei kleine grüne Marsmenschen unter den Klängen einer Mariachi-Band eine Piñata an den Kirschbaum gehängt und mit einem bunten Stock munter drauflosgeschlagen hätten. »Was machen wir denn jetzt?«
Isabella kniff die Lider zusammen, weil ihr Zementstaub in die Augen geflogen war. Es war eine berechtigte Frage, auf die sie jedoch keine Antwort wusste. Insgeheim hatte sie die Hoffnung gehegt, dass die eindeutigen Konturen im Fußboden einer in Zement gegossenen Schaufensterpuppe gehörten. Doch wer sollte so etwas tun? Wer versenkt eine Puppe im Kellerboden?
Doch es war keine Puppe. Und damit wurde die sorgfältig nach hinten geschobene Frage wieder nach vorn gerückt und verlangte noch drängender nach einer Antwort. Wer verscharrte eine Leiche im Kellerboden und goss Zement darüber?
»Es sieht auf jeden Fall nach einem Männerbein aus«, befand Renate mit fachmännischem Blick.
Isabella wollte gar nicht so genau hinschauen, zwang sich aber dennoch zu einer ausführlichen Inspektion. »Das ist ganz klar ein Herrenschuh«, stellte sie pragmatisch fest. Dabei erschrak sie selbst ein wenig über den sachlichen und emotionslosen Klang ihrer Stimme. Zwei Attribute, die in keiner Weise ihr Innerstes widerspiegelten.
Sie betrachtete das Hosenbein, um ganz, ganz sicher zu gehen, dass all dies nicht doch einfach nur ein schrecklicher Irrtum war. Zum Vorschein kam eine irgendwie ausgemergelt aussehende Wade, die ganz und gar nicht von einer Modepuppe stammte.
Und als ihr Hirn von irgendwo ganz weit hinten die Assoziation mit Schwarzwälder Schinken hervorkramte, wusste sie, welche Empfindung stärker an die Oberfläche drängte. In diesem Augenblick beschleunigte die Übelkeit mit Schallgeschwindigkeit.
Es war dem gänzlich überraschenden Geräusch der aufschrillenden Haustürklingel zu verdanken, dass Isabella es noch gerade rechtzeitig geschafft hatte, den Würgereiz zu unterdrücken. Sie warf ihrer Mutter einen besorgt-fassungslosen Blick zu.
Renate stellte die Frage aller Fragen: »Wer kann das sein?«
Es klingelte wieder.
Und wieder.
Und dann wurde aus dem einzelnen Klingeln ein penetranter Dauerton.
»Da ist jemand wirklich hartnäckig«, befand Renate.
Isabella war noch immer nicht zu einer Regung in der Lage. Zu sehr war sie damit beschäftigt, das Unwohlsein im Zaum zu halten. Es kam ihr vor, als tose ein Unwetter in ihrem Magen – wie in einem wütenden Meer. Und ihre Magenwand war die Kaimauer, über der die Wellen brachen.
»Brechen«, raunte Isabella. »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«
Renate fuchtelte ihr mit den Armen entgegen. »Nicht auf den Teppich!« Ihre Stimme überschlug sich panisch.
Isabella wedelte ihrerseits die Hände ihrer Mutter fort. Dann sprang sie geradezu auf und stürmte aus dem Kellerraum.
»Du kannst mich doch hier nicht allein lassen!«, hörte sie ihre Mutter überreizt rufen. »Mit dem ... Ding im Boden.«
Isabella antwortete nicht. Doch mit der Bewegung wurde die Übelkeit nach unten gedrückt. Während sie über ihre letzte Mahlzeit nachdachte, fiel ihr ein, wer da an der Tür Sturm klingelte.
»Es ist Florian«, rief sie über ihren Rücken hinweg. »Ich wimmele ihn ab. Hämmer du weiter!«
»Waaaaas?«, drang es scharf aus dem Kellerraum, gefolgt von einem nicht minder schrillen »Iiiiiich?«.
Isabella eilte die Treppen hoch. Aus dem spitzen Dauerton der Klingel wurde nun ein rhythmisches Schrillen – als würde Florian das Morsealphabet rauf und runter klingeln.
Mit Schwung riss sie die Tür auf und schnappte nach Luft.
»Hi!« Florian reckte sein Kinn und nickte ihr zu. »Ich bringe das Mehl und die Hefe.« Während er sprach, hielt er ihr eine orangefarbene Brotkiste entgegen.
Im Reflex wollte Isabella nach ihr greifen, doch Florian wich zurück. »Lass nur, die ist irre schwer. Ich trage sie dir rein. Ich hab dir noch ein paar Liter Milch draufgepackt.« Florian grinste gut gelaunt. »Ich war nämlich gerade beim Bauer Adams.«
Sein Gesicht kam ein Stück weiter auf sie zu. »Außerdem gibt es da noch etwas, was ich dir unbedingt mitteilen muss.« Er legte bei seinem Grinsen noch eine Schippe drauf, was Isabella umso unsicherer machte. »Es wird dich aus den Socken hauen.«
Hinter ihr ertönte ein Klopfen. Als ihr bewusst wurde, was das für ein Geräusch war, fuhr ein Schauer über ihren Rücken. »Du kannst nicht rein!« Sie schrie ihm die Worte förmlich entgegen.
Das Grinsen bröckelte aus Florians Gesicht, als würde es ihm eine unsichtbare Kraft im Rhythmus der Schläge, die aus dem Keller ertönten, aus den Zügen meißeln.
»Himmel, Isabella, was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!« Er riss die Augen auf. »Ist jemand im Haus, der dich bedroht?« Den Augen folgte der Mund. »Ist die Baldegg zurück?!«
»Geh, Florian. Bitte!«
»Den Teufel werd ich! Ich sehe dir doch an, dass etwas nicht stimmt! Und außerdem: Was ist das für ein Gehämmer?«
In ihrer Verzweiflung fiel Isabella nichts Gescheiteres ein, als ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Wie im Reflex ging ihre Hand nach vorn, doch Florian kam ihr zuvor und stellte seinen Fuß dagegen – als unüberwindbaren Widerstand.
»Sag mir, was los ist!«, forderte Florian energisch. Seine rehbraunen Augen funkelten zornig auf. Seine eben noch freundliche Stimme klang nun beinahe wütend.
Mit einem Mal fühlte Isabella sich daran erinnert, dass sie ihn im Kindesalter stets um eine halbe Kopflänge überragt hatte. Noch immer war es ungewohnt für sie, ihren Kindheitsfreund als erwachsenen Mann vor sich zu haben. Sie schüttelte den Kopf, versuchte sich an einem Lächeln, doch es ging auf dem Weg zu ihrem Gesicht verloren.
»Steckst du in der Klemme?« Irgendwie schaffte er es, sich die große Kiste unter den linken Arm zu klemmen und mit dem rechten die Tür ein Stück weiter aufzudrücken.
»Nein«, erwiderte Isabella. »Es ist nicht so, wie du denkst. Ich ...«
»Isilein?« Die Stimme ihrer Mutter schallte dumpf durch den Flur. »Alles in Ordnung da oben?«
»Renate!«, rief Florian über Isabellas Schulter hinweg – so laut, dass es in ihren Ohren dröhnte. »Geht es euch gut?«
»Natürlich geht es uns gut«, erwiderte Isabella erbost. »Was denkst du denn?« Allmählich packte sie eine leichte Wut.
Was bildete der Mann sich ein? Dass sie und ihre Mutter nicht allein in einem Haus klarkamen und einen Samariter brauchten, der sie vor was auch immer beschützte?
Das grelle Organ ihrer Mutter ertönte wieder: »Komm runter, Florian! Das musst du dir anschauen!«
»Nein«, schrie Isabella zurück und stellte sich mitten in den Türrahmen. »Muss er nicht.«
»Was muss er nicht?« Florians Brauen schossen so weit nach oben, dass sie beinahe unter den fransigen Haaren verschwanden, die ihm in die Stirn fielen. Ehe sie sich versah, drückte er ihr die Kiste gegen die Brust.
Isabella war so verdutzt, dass sie sie entgegennahm und sich mit offenem Mund von ihm zur Seite schieben ließ.
»Wo bist du denn, Renate?«
Mit der Kiste in der Hand starrte sie ihm hinterher. Sie war wirklich schwer.
»Im Keller.«
Isabella schloss kurz die Augen, dann die Haustür und folgte Florian die Stufen hinab. Die Kiste stellte sie achtlos im Treppenhaus ab. Nichts war weiter in die Ferne gerückt als das Backen irgendwelcher Kuchen, Gebäckstücke und Torten. Im Flur kam es ihr vor, als hätte sich der Geruch des staubigen Zements bereits überall ausgebreitet. Darüber legte sich der würzig-zitronige Duft von Florian, der wie eine Wolke hinter ihm herzog.
»Tut mir leid, dass ich gerade an der Tür so besorgt war.« Er warf den Kopf zurück und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. Zumindest glaubte Isabella das. Im schummrigen Flurlicht ließen sich seine Züge gerade mal erahnen. »Aber seit damals bin ich einfach übervorsichtig, was deine körperliche Unversehrtheit angeht.«
»Die Baldegg ist hinter Gittern«, stellte Isabella klar. »Sie wird mir nichts mehr anhaben können.« Mit dem Aussprechen des Namens legte sich Schwermut auf ihr Herz.
Nach all den Wochen fühlte es sich nur noch wie ein schlechter Traum an, dass sie vergiftet worden war und kurz davorgestanden hatte, sich für immer die Radieschen von unten anzuschauen.
Bei Florian hatte dieser Umstand jedoch das reinste Trauma ausgelöst. Er hatte es sich noch immer nicht verzeihen können, dass ausgerechnet er es war, der Isabella an der Villa der Baldeggs abgesetzt hatte. Isabella vermutete zudem, dass er es noch weniger verkraften konnte, dass nicht er, sondern André sie gerettet hatte. Ausgerechnet der Mann, den Florian so gar nicht mochte.
»Du machst dich absolut lächerlich!« Um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen, stampfte sie bei jeder Treppenstufe laut auf. »Es ist ja nicht so, dass Zapfbach ein Moloch wäre, in dem sich nur Mörder und Sittenstrolche tummeln.«
Sie hörte Florian auflachen.
Er wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch da erschien Renate auf der untersten Stufe. »Gut, dass du da bist, Florian. Wir können wirklich Hilfe gebrauchen. Der Meißel liegt doch schwerer in der Hand, als ich dachte.« Sie hielt ihm den Hammer und das Stahlwerkzeug hin.
Florian blieb stehen und warf Isabella einen fragenden Blick zu. »Was habt ihr vor?«, fragte er. »Wollt ihr eine Wand hier unten einreißen?« Er lächelte unsicher.
Isabella trat seufzend an ihm vorbei. »Nicht ganz. Am besten, du siehst selbst.«
Mit kleinen Schritten näherte sie sich dem grellen Licht der Baulampe, das aus dem Kellerraum kam, und machte sich auf den Anblick gefasst, der sie dort erwartete.
Renate hatte tatsächlich die letzten Minuten genutzt, um weiter auf den Boden einzuhämmern. Ihr war es gelungen, den gesamten Schuh freizumeißeln. Ein Luftzug blies ihr in den Nacken und bescherte ihr eine Gänsehaut.
»Was macht ihr denn mit dem Boden?« Florian trat mit Schwung an Isabella vorbei. Er hielt jedoch in der Bewegung inne, als hätte sich unmittelbar vor ihm ein unüberwindbarer Abgrund aufgetan. »W-was ... ist das?« Er ruderte mit den Armen, als versuche er, das Gleichgewicht wiederzuerlangen.
»Ein Toter«, sagte Renate trocken und fügte mit einem Hauch Vorwurf hinzu: »Das ist doch ziemlich eindeutig. Aber keine Sorge, Florian, der war schon vor uns hier.«
Über die Kaltschnäuzigkeit ihrer Mutter konnte Isabella sich nur wundern. »Renate meint damit, dass wir ihn gerade erst gefunden haben. Also ... die Leiche, meine ich.«
Florian schwieg. Sein Blick saugte sich geradezu am Kellerboden fest.
Renate hielt ihm wieder Hammer und Meißel entgegen. »Wir versuchen, ihn freizulegen, um ...« Sie sprach nicht weiter, vermutlich weil sie selbst nicht wusste, was weiter geschehen sollte. Isabella wusste es ebenso wenig.
»Wisst ihr denn, wer es ist?«, fragte Florian nach einer ganzen Weile eisernen Schweigens.
Sowohl Isabella als auch Renate schüttelten den Kopf.
»Oder wie lang er schon hier unten liegt?«
Wieder ein synchrones Kopfschütteln.
»Wir wissen überhaupt nichts«, gab Isabella zu, »wir sind gerade erst beim Aufräumen ... darauf gestoßen.« Sie wollte das Wort Leiche nicht in den Mund nehmen. Als würde der Schrecken des Unumstößlichen damit abgemildert.
Aber man konnte nichts abmildern. In ihrem Keller lag eine Leiche. Einzementiert. Allem Anschein nach war sie nicht die Einzige, die diesen Schock zu verdauen hatte. Eine sprichwörtliche Totenstille herrschte im Keller.
Dann kam ihr ein Gedanke. Sie hob den Kopf und sah Florian mit zusammengezogener Stirn an. »Du hast gesagt, du musst mir etwas Dringendes sagen?«
Er drehte den Kopf in ihre Richtung und sah sie derart befremdet an, als würde sie Swahili sprechen.
»Oben, vor der Tür.«
Noch immer war die Verwirrung in Florians weiche Züge gemalt, aber dann erhellte sich sein Blick. »Ach ja.« Er lächelte, anscheinend über sich selbst. Noch einmal senkte sich sein Kinn, und er nahm die einzementierte Leiche in den Fokus, schüttelte voller Unglauben den Kopf, und nun hatte Isabella seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Es ist der Wahnsinn!« Seine Stimme klang eine Oktave höher als sonst, was Isabella in Alarmbereitschaft versetzte. Begeisterter Wahnsinn war nichts, was ihr gefiel. »Du wirst es nicht glauben!«
Sie hob eine Braue. Die Rechte. So hoch, dass ihr eine Haarspitze ihres Ponys ins Auge fiel. »Was werde ich nicht glauben?«
Florian schmunzelte. Er nahm den Blick nicht von ihr. Ohne Vorwarnung schossen seine Arme nach vorn, und er packte sie an den Schultern. »Ich hab mich heimlich in deinem Namen bei Süß & Lecker beworben.« Seine Augen waren mit einem Mal weit aufgerissen, doch Isabella verstand nicht.
Sollte ihr das irgendwas sagen? Sie horchte tief in sich hinein, fand aber keine Verbindung.
»Die Backsendung?«, fragte Renate voller Erstaunen. »Die vom Regionalsender? Schwarzwald TV?«
»Genau die!« Florian grinste. Mit einem Mal schien der Tote zu seinen Füßen vergessen zu sein. »Aber so regional ist der Sender gar nicht mehr. Mittlerweile wird er in ganz Baden-Württemberg empfangen.«
Isabella verstand es noch immer nicht.
Dafür geriet Renate ins Schmunzeln und setzte ein versonnenes Lächeln auf. »Ich mag die Moderatorin sehr.«
Florian nickte voller Zustimmung. »Simone Sommerwind. Ja, die ist wirklich spitze.« Ruckartig wandte er sich Isabella zu. »Und du wirst sie kennenlernen.«
Isabella fuhr zusammen. »Wer? Ich?? Wen???«
»Simone Sommerwind und das ganze Team von Süß & Lecker«, erklärte er ihr noch einmal voller Euphorie. »Mann, wie ich dich beneide. Ich liebe diese Backsendung.«
»Schön und gut.« Allmählich verlor Isabella die Geduld. »Aber was habe ich damit zu tun?«
»Hab ich doch bereits gesagt«, sagte Florian.
Renate nickte zustimmend. »Hat er.«
Diese Verräterin!, dachte Isabella und versuchte sich an einem verkrampften Lächeln. Worüber sprachen sie hier überhaupt? Zu ihren Füßen lag ein Toter. Nichts konnte wichtiger sein, als sich dieses dringlichen Problems anzunehmen.
Über ihre Gedanken hinweg holte Florian zu einer ausführlichen Erklärung aus: »Süß & Lecker veranstaltet in jedem Quartal einen Backwettbewerb, in dem sich die besten Bäcker und Konditoren des Schwarzwalds miteinander messen.«
»So?«
Isabella unterdrückte ein Gähnen, was Florian nicht davon abhielt, weiter und überschwänglich zu skandieren: »So! Jeder versierte Hobbybäcker, jede Backstube, jedes Café und jede Konditorei, die was auf sich hält, nimmt an diesem Wettbewerb teil. Ich selbst habe vor Jahren daran teilgenommen und den zweiten Platz belegt.«
Seine Brust schwoll vor Stolz an. »Und jetzt, dachte ich mir, ist es an der Zeit, dass wir herausfinden, wer von uns beiden der beste Kuchenbäcker in Zapfbach ist.« Er sah sie fest an. Eine leichte Röte verbreitete sich auf seinen Wangen. »Deshalb, Isabella, habe ich dich bei der Sendung angemeldet.«
»Nein, das hast du nicht ...« Sie stockte und funkelte ihn warnend an.
»Himmel, er hat doch gerade gesagt, dass er es getan hat.« Ihre Mutter rollte genervt die Augen.