Schweig, Julia, schweig - Inge Mischke - E-Book

Schweig, Julia, schweig E-Book

Inge Mischke

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Beschreibung

Ein Kommissarenteam, das sich zusammenraufen muss. Eine junge Rechtsreferendarin, die glaubt, die Polizei bräuchte ihre Hilfe. Ein Mord, der Fragen aufwirft. Verdächtige, Motive, falsche Alibis und eine verzweifelte Wohnungssuche in Münster halten die Ermittler Ubbo Dierks, Anke Breider und ihre ungebetene Helferin Kati Hülsberg auf Trab.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Münster und der Regen

 

Inge Mischke

 

 

Schweig, Julia, schweig

 

 

 

 

Über das Buch:

 

Ein Kommissarenteam, das sich zusammenraufen muss.

Eine junge Rechtsreferendarin, die glaubt, die Polizei bräuchte ihre Hilfe.

Ein Mord, der Fragen aufwirft.

Verdächtige, Motive, falsche Alibis und eine verzweifelte Wohnungssuche in Münster halten die Ermittler Ubbo Dierks, Anke Breider und ihre ungebetene Helferin Kati Hülsberg auf Trab.

 

 

Über die Autorin:

 

Inge Mischke ist glücklich verheiratet und Mutter von vier Kindern. Zusammen wohnen sie in der schönsten Stadt Deutschlands.

Sie überlegen, welche das sein könnte? Dann waren Sie noch nie da!

Inge Mischke lebt dort seit ihrem Jurastudium. Nach einigen Jahren als Vollzeitmutter ist dies heute nur noch eine Teilzeitbeschäftigung ohne Jobgarantie für die Zukunft. Die freigewordenen Ressourcen nutzte sie zunächst, um ihrer Liebe zu Münsters Stadtgeschichte zu frönen und als Stadtführerin zu arbeiten. Dann entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Krimischreiben ...

 

 

Inge Mischke

 

 

 

Schweig, Julia, schweig

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, 2021

Copyright © 2021 Inge Mischke – alle Rechte vorbehalten.

Gestaltung & Coverdesign: Inge & Lothar Mischke

ISBN: 978-3-9823463-2-8

 

Inge Mischke

Sentruper Straße 211

48149 Münster

Deutschland

 

[email protected]

www.muenstermord.de

 

Münstermord

Band 1: Schweig, Julia, schweig

 

 

 

 

Für meine Familie.

Jeder hat seine individuelle Definition von Glück. Ihr seid meine.

 

 

 

 

 

 

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Einige der in diesem Buch beschriebenen Orte gibt es allerdings tatsächlich. Doch so sehr ich das auch bedaure, habe ich für die Erwähnung von touristischen oder gastronomischen Einrichtungen oder die Verwendung von Markenbezeichnungen für Produkte weder Vergünstigungen noch eine Bezahlung erhalten.

 

 

 

 

Kapitel 1

„Ich verstehe dich einfach nicht.“ Mit schriller Stimme zischte Stefanie Hülsberg ihrer Tochter dieses Urteil entgegen, während sie dabei routiniert ihren mattschwarzen SUV durch die Innenstadt Münsters lenkte.

Gequält schloss Kati die Augen und spürte, wie der dumpfe Kopfschmerz hinter ihren Schläfen stärker wurde.

„Ich weiß“, versuchte Kati ihre Mutter zu beschwichtigen. Ein sinnloses Unterfangen wie sie sehr wohl ahnte.

Stefanie holte langsam Luft und schürzte ihre Lippen. Dabei erschienen in ihrem makellos geschminkten Gesicht tiefe Falten. In diesem Moment sah man ihr jedes ihrer 58 Jahre deutlich an. Sie setzte den Blinker, um schwungvoll auf die rechte Fahrspur zu wechseln, und fing an zu lamentieren: „Statt dich von deiner Mutter um elf Uhr durch die Stadt kutschieren zu lassen, nachdem du auf der Couch deiner Schwester geschlafen hast, könntest du in einer schönen Wohnung mit Blick auf den Hafen zusammen mit Jörg den Tag genießen. Nach dem Frühstück würdet ihr gemeinsam ins Büro fahren. Aber nein, du musstest ihm ja den Laufpass geben ...“

„Mutter, ich habe ihn in flagranti ertappt.“

Kati spürte, wie sich Tränen der Wut und der Trauer in ihren Augen sammelten und sie eine Woge des Schmerzes bei der Erinnerung daran überkam. Sie atmete tief ein und klimperte konzentriert ihre Tränen weg. „Nur keine Schwäche zeigen“ war ihr Mantra der letzten Wochen.

„Pah, wenn ich bei jedem Seitensprung deines Vaters gleich an Trennung gedacht hätte, wärst du ohne männlichen Elternteil aufgewachsen“, giftete Stefanie. Kleine hektische rote Flecken ließen sich unter ihrem Make-up erahnen und zeigten, wie aufgebracht sie mittlerweile war. „Sieh doch, wohin dich das bringt, Kati. Keine Wohnung, keine Arbeit, nicht mal mehr ein Auto.“

„Mein Wagen steht in der Werkstatt“, entgegnete Kati eine Spur zu laut. „Und du hast gesagt, du wolltest mich fahren. Es würde keine Umstände machen, du hättest in der Bahnhofsgegend einen Termin.“

„Ach, darum geht es hier jetzt gar nicht. Denk doch an deine Zukunft.“

„Ich arbeite dran. Ich suche verzweifelt eine Wohnung. Aber der Wohnungsmarkt in Münster ist eine Katastrophe.“ Erschöpft lehnte Kati ihren Kopf an die Kopfstütze.

„Wir haben dir unser Gästezimmer angeboten, aber das war dir ja nicht gut genug ...“

Katis Kopfschmerzen dehnten sich jetzt im gesamten Kopfbereich aus. Einen Moment gönnte sie sich, an das herrliche Gästezimmer bei ihren Eltern zu denken. Boxspringbett, Kaltschaummatratze. Ein ruhiges Zimmer, geschmackvoll eingerichtet. Stattdessen hatte sie die Nacht auf einer alten durchgelegenen Couch verbracht, auf der sie vor dem Einschlafen auf der Armlehne den durchgeweichten Babykeks ihres Neffen gefunden und abgekratzt hatte. Bäh! Selbst der Gedanke daran ließ Kati vor Ekel erschaudern. Schnell dachte sie an etwas Angenehmes. Sie stellte sich vor, in dem riesigen Bett ihres ehemaligen Kinderzimmers zu liegen und ...

Da keifte ihre Mutter ihr auch schon von der Fahrerseite ins Ohr: „Unser Gästezimmer, du erinnerst dich?“

Kati erinnerte sich tatsächlich wieder, warum sie das Angebot ihrer Eltern ausgeschlagen hatte und stattdessen das unbequeme Sofa bei ihrer Schwester nebst Schwager und Kindern vorzog. Ihre Mutter ertrug sie nur in homöopathischen Dosen und nach dieser Autofahrt war ihr Bedarf für Monate gedeckt.

„Es ist schön bei Monika“, log sie.

„Und die Arbeit läuft so gut wie die Wohnungssuche“, stichelte ihre Mutter.

„Besser. Ich bin froh, dass mein Referendariat am Landgericht endlich angefangen hat, und wenn es mit dem Apartment hier heute klappen sollte, bin ich zufrieden.“

„Pah, eine Zwei-Zimmer Wohnung in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof.“ Verächtlich rümpfte Stefanie ihre Nase.

Kati kannte die Vorurteile, die ihre Mutter diesbezüglich hatte. Als Geschäftsfrau, Mitinhaberin einer Galerie und Anwaltsgattin wusste Stefanie Hülsberg alles über Geld, Wohngegend und gesellschaftliche Stellung in und um Münster. Und die Bahnhofsgegend war in ihren Augen nicht gerade die erste Adresse in dieser Stadt. Kati erwiderte mit süffisantem Lächeln: „Die jetzige Mieterin, das ist die zukünftige Schwiegertochter von Elvira Schönfelder. Die kennst du doch noch.“

Abrupt nahm Stefanie Hülsberg ihren Fuß vom Gas und starrte überrascht ihre Tochter an. Das brachte ihr das wütende Hupen des Autofahrers hinter ihr ein, der sie erbost überholte und ihr gestenreich durch das Seitenfenster zu verstehen gab, was er von ihrem Fahrstil hielt. Stefanie nahm ihn gar nicht wahr, besann sich wieder aufs Autofahren, beschleunigte eifrig und fragte neugierig nach: „Elvira Schönfelder? Die Schönfelder, Vorsitzende des Münsterclubs?“

„Genau die.“

„Welcher Sohn heiratet denn, Felix oder Maximilian?“

„Felix.“

„Und der wohnt hier in der Achtermannstraße am Bahnhof? Hat er sich denn mit seiner Familie überworfen?“

„Nein, hier lebt seine Verlobte Julia. Er ist Banker und wohnt zur Zeit in Frankfurt. Die beiden suchen sich eine gemeinsame Wohnung in Münster.“

Mittlerweile hatte der SUV die Achtermannstraße erreicht. Wie immer war weit und breit kein Parkplatz in Sicht.

„Park ruhig in zweiter Reihe, ich springe schnell raus.“

„Ja, aber ich habe da noch ein paar Fragen.“

„Die klären wir beim nächsten Mal.“ Die Aussicht darauf, die Autofahrt beenden zu können und eine überraschte Mutter zurückzulassen, gab Kati einen Energieschub.

Seufzend brachte Stefanie den Wagen abrupt zum Stehen, was ihr einmal mehr das wilde Hupen eines Autofahrers hinter ihr einbrachte.

„Bis dann“, rief Kati und stieg aus.

„Ich rufe dich später an“, versprach Stefanie, während ihre Tochter die Autotür zuschlug.

„Droh nicht“, murmelte die leise vor sich hin.

Schon brauste ihre Mutter davon.

 

Es nieselte. Kati zog sich die Kapuze ihrer olivgrünen Daunenjacke tiefer ins Gesicht und umklammerte ihre prall gefüllte Ledertasche. Angespannt suchte sie die richtige Hausnummer, 248c, 4. Stock, ganz oben. 238, 244, 246, ah, sie hatte 248c erblickt und ging entschlossen auf das Gebäude zu. Sobald sie es erreicht hatte, fiel ihr der leicht abgewrackte Mann in der Nähe der Eingangstür auf, der sein Gewicht unruhig von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Auch wenn es ihr schwerfiel, es einzugestehen, ihre Mutter hatte recht. Die Wohngegend hier hatte ihre Schattenseiten. Schade, die Häuser waren ansehnlich und gepflegt. Die Nähe zur Innenstadt und zur Promenade sogar unschlagbar. Die Promenade in Münster, das war ein Grüngürtel für Radfahrer und Jogger, der sich rings um das Stadtzentrum zog. Herrlich! Aber die geringe Entfernung zum Bahnhof brachte auch Nachteile. Da gab es schon ein paar dunkle Gestalten. Während sie diesem Gedanken nachhing, kam der nervöse, ein wenig ungepflegte junge Mann auf sie zu. Kati erwartete, dass er um Kleingeld bitten würde. Stattdessen fragte er verschwörerisch mit niederländischem Akzent: „Na, ein Tütchen?“

Einen Moment überlegte Kati, was er mit Tütchen meinen könnte, dann wurde ihr klar, dass ihr soeben Drogen angeboten wurden. Überrascht und etwas entsetzt entgegnete sie: „Ich versuche es heute mal ohne.“ Dabei drückte sie auf den Klingelknopf, der mit „Julia Brink“ beschriftet war.

Der Drogendealer schlenderte ein paar Meter weiter, blieb dann stehen und beobachtete Kati interessiert.

Niemand öffnete. Kati schauderte unter den Blicken des jungen Mannes. Sie betätigte die Klingel erneut. Diesmal energisch und etwas länger. Nichts. Frustriert checkte sie im Nieselregen ihr Handy, ob Tag und Zeit des Termins stimmten. Freitag, 11 Uhr. Es war 11:04 Uhr. Fast pünktlich. Resigniert ließ Kati den Kopf sinken. In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür des Mehrparteienhauses und ein junger Mann, vermutlich ein Student, stand ihr gegenüber. Lässig, mit Jeans und Lederjacke gekleidet und einem Rucksack auf den Schultern, schenkte er Kati ein gutgelauntes Lächeln.

„Möchtest du rein?“, fragte er und hielt ihr bereitwillig die Tür auf.

Ohne große Erklärung schlüpfte Kati in den Hausflur, murmelte ein „Dankeschön“ und stieg die Treppen hinauf. „Einen Versuch ist es wert“, flüsterte sie, froh dem Nieselregen und der unangenehmen Beobachtung durch den Dealer zu entkommen. Manchmal streiken die Klingelanlagen. Vielleicht öffnet Julia Brink oben die Tür, dachte Kati. Entschlossen stieg sie Stufe um Stufe hinauf. Altbau, ohne Fahrstuhl. Was finden Leute nur daran? Klar sind hohe Decken ein Hingucker, aber das heißt doppelt so viele Treppen.

Keuchend erreichte Kati Julias Wohnungstür und wollte gerade läuten. Doch dann erstarrte sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Damit hatte sie nicht gerechnet.

 

Die Tür war angelehnt und in Höhe des Schlosses sah man eindeutig Einbruchspuren. Das Holz hatte tiefe Kratzer und war eingedellt. Unentschlossen und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, überlegte Kati hektisch, welche Optionen sie hatte. Polizei rufen, hineingehen, Angst haben. Was sollte sie nur machen und in welcher Reihenfolge? Was, wenn jemand in der Wohnung Hilfe brauchte? Dann traf sie ihre Entscheidung.

Vorsichtig drückte Kati die Tür auf und lugte in den Flur. Nichts Verdächtiges war zu sehen. Laut pochte ihr Herz und in ihren Ohren rauschte es. Sie holte tief Luft und trat ein. Langsam schlich sie durch den Korridor, immer geradeaus. Ihre große schwere Handtasche stellte sie auf dem Flurboden ab und tastete sich auf Zehenspitzen entlang der Wand bis zur nächsten Tür. Der Laminatboden unter ihren Füßen knarrte. Das Geräusch schickte einen Adrenalinstoß durch ihren Körper. Sie hätte Julias Namen gerufen, aber ihr Mund war wie ausgedörrt. Sie war sich sicher, keinen Ton herauszubekommen. Ihr Herz raste und Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Es gibt bestimmt eine harmlose Erklärung, redete sie sich ein. Sie nahm den leichten Duft von Rosen wahr, atmete ihn tief ein und spürte, wie die Anspannung ein wenig nachließ.

Die Wohnzimmertür stand sperrangelweit offen. Vorsichtig spähte Kati in den Raum. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Aufschrei.

Inmitten einer dunkelroten Blutlache lag ein lebloser Körper. Bücher, Kissen und eine zerbrochene Vase mit roten Rosen waren überall auf dem Boden verstreut.

Kati taumelte mit zittrigen Knien ein paar Schritte weiter und blickte in die leicht geöffneten Augen von Julia Brink, die starr geradeaus schauten. Überall im Gesicht waren kleine stecknadelkopfgroße Einblutungen. An Katis Armen bildete sich Gänsehaut. Hilfe kam für Julia zu spät. Trotzdem kniete sich Kati nieder und suchte nach einem Pulsschlag, um sicher zu sein.

Nichts. Der Körper war bereits kalt und erstarrt. Hektisch kramte sie in ihrer Jackentasche nach ihrem Handy. Dabei registrierte sie den zerbrochenen Bilderrahmen mit dem Foto von Julia und einem Mann, vermutlich ihrem Verlobten Felix. Neben der Couch, inmitten von Scherben, lagen zwei offene Schmuckschatullen. Vom Inhalt fehlte jede Spur.

Mit eiskalten, zittrigen Fingern tippte sie die Notrufnummer, räusperte sich und hoffte darauf, dass ihre Stimme nicht versagen würde. Während sie angespannt wartete, dass sich jemand am anderen Ende der Leitung meldete, hörte Kati Geräusche aus dem Treppenhaus. Energische Schritte, die näher und näher kamen.

„Julia? Julia, die Tür ist auf!“

Kati spürte, wie eisige Kälte ihren Rücken hinaufkroch und sie lähmte.

„Polizeinotrufzentrale, was kann ich für Sie tun?“

Der Klang der ruhigen Stimme am anderen Ende der Telefonleitung holte Kati für einen Moment aus ihrer Erstarrung.

Panisch flüsterte sie in ihr Handy, so schnell sie konnte: „Mein Name ist Katerina Hülsberg, ich bin in der Achtermannstraße 248c, im 4. Stock. Hier liegt eine Leiche und gerade kommt jemand in die Wohnung.“

In ihrer Angst starrte sie mit weit aufgerissenen Augen in Richtung Tür, unfähig, sich von der Stelle zu bewegen. Wie ein Reh, gebannt vom Scheinwerferlicht eines heranrasenden Autos, wartete sie auf das Unvermeidliche. Ihr Gehirn hatte jeglichen Dienst aufgegeben. Ein Durchdenken ihrer Situation oder eine Reaktion waren unmöglich. Kein klarer Gedanke ließ sich formen. Stattdessen hockte sie da und wartete.

Kati hörte die Schritte immer lauter durch den Flur hallen. Dann stand ein Mann an der Schwelle zum Wohnzimmer. Er schien den ganzen Türrahmen auszufüllen. Kati senkte angsterfüllt ihren Blick und ergab sich ihrem Schicksal.

„Was ist hier los?“, brüllte der Fremde wütend. Grob zog er Kati hoch und zerrte sie von Julia weg. Dabei stieß er sie unsanft gegen den Wohnzimmerschrank. Das Handy entglitt Katis Händen und landete mitten in der Blutlache.

Die Stimme des Polizeibeamten ertönte deutlich aus dem Smartphone: „Reden Sie bitte mit mir. Können Sie mir sagen, was gerade passiert?“

Der Mann kniete sich selbst neben den Körper. Er versuchte die Leiche an sich zu ziehen und schrie immerzu ihren Namen.

„Julia, Julia, was ist los?“

Alles sah unnatürlich aus. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt. Es war unmöglich, die Tote in den Arm zu nehmen.

Auf Kati wirkte es so, als ob der Fremde eine Schaufensterpuppe umklammerte. Außerstande, sich zu bewegen, verharrte sie unbeteiligt in ihrer Position. Sie starrte auf ihr Handy, ihre Schuhspitzen, die die Blutlache berührten, und die muskulösen Hände des fremden Mannes. Julias seltsam starre Augen schienen sie anzusehen, genauso leer und teilnahmslos, wie sie sich fühlte.

Eine Schramme war auf Julias Wange zu sehen. Ihr langes blondes Haar war überall mit Blut verklebt. Kati war unfähig, etwas zu sagen oder zu tun, und sei es nur, ihren Schuh aus der Blutlache zu heben. Der Eindringling schluchzte mittlerweile und wiegte sich rhythmisch hin und her. Ihr Gehirn verarbeitete die Informationen nur langsam. Es schien wie mit Watte gefüllt zu sein.

Sie starrte auf das Foto in dem zerbrochenen Rahmen, der auf dem Fußboden lag. Das Bild zeigte eine lachende Julia, die einen Ring in die Kamera hielt, in den Armen eines Mannes.

Der Fremde – das war der auf dem Foto! Schlagartig begriff Kati, dass es Julias Verlobter Felix Schönfelder war, der vor ihr im Blut kniete. Eine Woge des Mitgefühls durchflutete sie und voller Traurigkeit sah sie auf das Opfer und ihren verzweifelten Freund.

Abrupt sprang Felix auf, blickte Kati zornig an und schrie wutentbrannt: „Was haben Sie mit ihr gemacht? Warum haben Sie Julia umgebracht?“

Völlig unerwartet stürzte er sich auf sie und schüttelte sie heftig. Er stieß sie an die Wand, wobei sie sich den Kopf anschlug und für einen Moment Sterne sah.

Kati wollte schreien, sich wehren. Ihr Mund öffnete sich, aber sie brachte keinen Laut heraus. Mit glasigen Augen sah sie entsetzt ihren Angreifer an, der sie immer noch anbrüllte.

Sie vernahm sein Geschrei nur wie aus weiter Ferne. Zu laut war das Rauschen in ihren Ohren. Ihr wurde schwindelig und es flimmerte vor ihren Augen. Langsam, mit dem Rücken an der Wand, sackte sie zusammen. Schließlich wurde alles schwarz.

 

Ihre Ohnmacht währte nur wenige Momente. Als sie wieder zu Bewusstsein kam, stand Felix immer noch drohend und tobend über ihr. Doch dann hörte Kati Sirenengeheul und stampfende, lauter werdende Schritte aus dem Treppenhaus. Sie schöpfte Hoffnung.

 

Nur Minuten später waren unzählige Menschen in der kleinen Wohnung. Polizisten, Rettungssanitäter, ein Notarzt, der Katis Blutdruck maß und ihr eine Decke und ein Glas Wasser anbot. Trotz Schweißausbruchs war ihr kalt und sie zitterte. Selbst die Sanitäter bemühten sich um sie. Das schien ihr alles surreal. Julia Brink war doch die Ermordete, warum kümmerte man sich um sie statt um das Opfer?

Kati fiel es schwer, nicht auf den Leichnam zu starren. Langsam spürte sie, dass ihr Kreislauf seine Arbeit aufnahm und ihr Gehirn wieder funktionierte. Ihre Beule am Hinterkopf, die pochte gewaltig, aber alles andere schien ihr in Ordnung zu sein.

„Möchten Sie vorsorglich ins Klinikum gebracht werden? Vermutlich haben Sie eine Gehirnerschütterung“, fragte der Notarzt fürsorglich.

„Nein, nein, es geht schon. Ich brauche nur ein paar Minuten“, antwortete Kati leise aber entschieden.

Der Notarzt schien nicht zufrieden mit ihrer Antwort, doch dann lenkte er ein und schlug vor: „Wir setzen Sie am besten in die Küche. Dort ist es ein wenig ruhiger.“

Damit meinte er wohl den noch immer lautstark klagenden Felix Schönfelder, auf den mehrere Beamten beruhigend einwirkten.

Ein Sanitäter begleitete Kati in die Küche, reichte ihr ein Glas Wasser, ermunterte sie, es zu trinken, und verschwand wieder im Wohnzimmer. Stimmengewirr war zu hören. Weitere Menschen waren angekommen, das Brüllen des Verlobten war verstummt. Minuten vergingen und Kati starrte vor sich hin. War ihr größtes Problem vor wenigen Stunden nicht noch ihre Wohnungssuche und die durchgelegene Couch ihrer Schwester gewesen?

 

Kapitel 2

Schweigend gingen die Kommissare Ubbo Dierks und Anke Breider an den uniformierten Polizeibeamten vorbei, die vor dem Wohnhaus in der Achtermannstraße standen. Anke grüßte und wurde zurückgegrüßt, während niemand von Ubbo Dierks Notiz nahm. Sie durchschritten die Hauseingangstür mit der Nummer 248c und stiegen die Treppen hinauf.

Anke spürte den kratzigen Kragen ihres Mantels an ihrem Hals. Kein Wunder, dass ich ihn so selten trage, dachte sie. Sie nestelte an ihrem Schal herum, damit ihre Haut geschützt war. Langsam ging sie die Treppe hinauf. Bis auf das monotone Klackern ihrer Absätze auf den Stufen war nichts zu hören.

Schweigen, immer nur Schweigen. Anke würde es nicht brechen, komme, was da wolle. Sie hatte im Revier versucht, ein Gespräch zu beginnen. Sie hatte während der Autofahrt einen Versuch gestartet. Der Erfolg war immer derselbe. Vor ihr lag ein weiterer wunderbarer Tag mit ihrem neuen Kollegen Ubbo Dierks. Yeah! Toll, einfach toll. Der große schweigsame, muskulöse Mann mochte im Kino der Hit sein, aber im wahren Leben – als Teamkollege – war er scheiße.

Ja, ein hartes Urteil. Immerhin war Ubbo höflich, kompetent in seinem Job, er war intelligent, und schlecht aussehen tat er auf gar keinen Fall. Genaugenommen sah er sogar blendend aus, groß, mindestens einen Meter neunzig, mit breiten Schultern, grauen, traurigen Augen und dichten braunen Haaren. Er war erst Anfang dreißig, trotzdem hatten sich tiefe Sorgenfalten in seine Stirn eingegraben. Eine geheimnisvolle Aura, das klang faszinierend, aber im Fall von Ubbo Dierks war geheimnisvoll das falsche Wort. Ihn umgab Dunkelheit wie eine düstere Wolke der Resignation. Es war, als ob er in einem schwarzen Loch saß und jeden um sich herum hineinsog. Darüber hinaus schwieg er, zu allem. Immer!

Nur für die unmittelbare Arbeit, bei Befragungen oder Terminabsprachen, hob sich der Schleier der Teilnahmslosigkeit für wenige Augenblicke und seine sonore tiefe Stimme war zu hören. Um gleich darauf wieder für Stunden zu verstummen.

Stufe für Stufe stapften die beiden Kommissare nach oben, eintönig, Tritt für Tritt, Schritt für Schritt. Der Treppenaufstieg schien Anke wie ihre Zusammenarbeit mit Ubbo, mühsam, monoton, eine einzige Qual.

Die Arbeit mit ihm war zäh. Er verschluckt mich, dachte Anke resigniert, mit Haut und Haaren.

Sie war froh, als sie endlich oben angekommen waren. Dass ich mich auf die Ankunft an einem Tatort freuen würde, hätte ich mir vor meiner Zusammenarbeit mit Ubbo nicht vorstellen können, kam ihr in den Sinn.

Vor der Wohnung zogen sie sich Schutzkleidung über und betraten den Tatort.

Dort grüßte Anke den Leiter der Spurensicherung, Peter Finne. Sein Gesicht erinnerte sie an eine Bulldogge. Er hatte runde braune Augen, Hängebacken, eine kurze Nase und ausgeprägte Gesichtsfalten. Peter war ein untersetzter Mann Ende fünfzig mit Halbglatze. Seine Stimme hingegen war höher, als man es anhand seines Äußeren erwarten würde. Anke war jedes Mal aufs Neue überrascht von ihrem piepsigen Klang.

Peter führte sie ins Wohnzimmer. Er wies sie darauf hin, dass die Zeugin, die das Opfer gefunden hatte, leicht verletzt und mitgenommen in der Küche sitze. Der Verlobte des Ermordeten sei auf dem Weg ins Revier.

Im Wohnzimmer fanden Ubbo und Anke einen katastrophalen Tatort vor. Spuren eines Kampfes, eine Leiche und Blut waren zu sehen. Dunkelrote Fußabdrücke zeigten ausgehend von der Blutlache in alle Himmelsrichtungen.

„Warum habe ich denn überhaupt Überschuhe und alles angezogen, spurentechnisch ist das hier ja wohl der Super-GAU“, giftete Anke los.

Der Notarzt, der seine Utensilien zusammenpackte, reagierte scharf: „Wenn wir an einen Tatort kommen, geht es für uns um schnelle Hilfe, da können wir nicht auf eine Tatortsicherung Rücksicht nehmen.“

„Ist ja gut.“ Beschwichtigend hob Anke ihre Hände hoch. Immer das Gleiche, alle trampeln durch den Tatort und kontaminieren jedes verwertbare Indiz. Und dann werden von der Spurensicherung und der Polizei wahre Wunder erwartet, dachte sie.

---ENDE DER LESEPROBE---