Schweigen ist Goldfisch - Annabel Pitcher - E-Book

Schweigen ist Goldfisch E-Book

Annabel Pitcher

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Beschreibung

Reden ist Silber, Schweigen ist … auch keine Lösung. Denn Worte können zwar unendlich verletzen – aber sie können auch unendlich glücklich machen. »Mein Name ist Tess Turner – dachte ich jedenfalls bis vor kurzem. Und ja, ich habe eine Stimme, aber sie gehört nicht wirklich mir. Ich habe Dinge gesagt, um dazuzugehören, um meinen Eltern zu gefallen, um allen zu gefallen. Ich habe so getan, als wäre ich jemand, der ich gar nicht bin. Ich habe gelogen. Dabei ist mir übrigens nie in den Sinn gekommen, dass alle anderen auch lügen könnten. Die Lügen sind aber eigentlich gar nicht das Problem. Was wirklich weh tut, ist die Wahrheit: Sechshundertsiebzehn wahre Worte, die meine ganze Welt auf den Kopf stellen. Und weil Worte so gefährlich sind – die gelogenen und die wahren – , habe ich beschlossen, sie nicht mehr zu benutzen. Ich bin Pluto. Schweigend. Unerreichbar. Milliarden Meilen von allem entfernt, was ich zu kennen glaubte. « Tess hatte nie das Gefühl, wirklich dazuzugehören. Als sie eines Nachts am Computer ihres Vaters die Wahrheit über ihre Herkunft erfährt – nämlich dass er eben nicht ihr Vater ist – weiß sie auch, warum das so ist. Sie ist Pluto, aber ihre Eltern wollten einen Mars. Oder wenigstens eine Venus. Was soll Tess dazu noch sagen? Ihr fehlen die Worte. Und so schweigt sie. Schweigend sucht sie ihren richtigen Vater. Schweigend unterhält sie sich mit ihrem Plastikgoldfisch, Mister Goldfisch. Schweigend verliert sie ihre beste Freundin und findet einen neuen Seelenverwandten. Und sie gewinnt die allerwichtigste Erkenntnis überhaupt: nämlich, dass Schweigen Macht verleiht – aber Reden noch viel mehr. Ein großartiges literarisches Jugendbuch mit einer ganz eigenen Atmosphäre und einer wundervollen Erzählerin, die mit ihren klaren und poetischen Worten mitten ins Herz jeder Leserin trifft. Der neue Roman der Autorin von ›Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims‹ und ›Ketchuprote Wolken‹.

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Annabel Pitcher

Schweigen ist Goldfisch

Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungTeil 1Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Teil 2Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Teil 3Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Teil 4Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Danksagung

Für Isaac, der hoffentlich immer wissen wird, wohin er gehört

Teil 1

Kapitel 1

Bestimmt gibt es im Internet eine Einkaufsliste für Ausreißer, aber natürlich streikt mein Handy, wie jedes Mal, wenn es stressig wird. Bewusstlos liegt es in meiner Tasche, und ich kann nicht nachsehen, welche Dinge für das Leben auf der Straße wichtig sind. Aber eine Taschenlampe in Form eines Goldfischs scheint eine vernünftige Wahl zu sein. Sein kleines orangefarbenes Gesicht wirkt freundlich, und einen Gefährten kann ich wirklich gut gebrauchen. Also wandert er in den Korb, von wo aus er mich mit glänzend schwarzen Augen anblickt, während ich Tampons, Taschentücher, zwei Schokoriegel und eine Illustrierte dazupacke.

Die Zugfahrt von Manchester nach London dauert zwei Stunden, das heißt, ich brauche Lektüre und etwas, hinter dem ich mich verstecken kann, denn wie ich Jack kenne, verständigt er die Polizei, sobald er merkt, dass ich verschwunden bin. Wenn ich an der Euston Station ankomme, hängt garantiert schon in jedem Klo ein Foto von mir, mit der extra fetten Unterschrift: Findet meine Tessie-T. Jack ist nicht der Typ, der ein Drama herunterspielt, und das Verschwinden eines Kindes muss so ziemlich das Schlimmste sein, was Eltern passieren kann. Bei dieser Erkenntnis würde ich am liebsten den Korb hinstellen und zurück nach Hause rennen, aber dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass mein sogenannter Dad mein Feind Nummer Eins ist, seit ich diesen Text in seinem Computer entdeckt habe. Dennoch krampft sich mein Herz zusammen, wenn ich mir vorstelle, wie er in mein leeres Bett mit der Star-Wars-Decke starrt. Ich habe sie mir letztes Jahr gekauft und so getan, als wäre das ein bekichernswertes, ironisches Bekenntnis, wo ich doch in Wirklichkeit unbedingt mit Luke Skywalker schlafen wollte – kein Wunder angesichts seiner Fähigkeiten mit dem Lichtschwert.

»Komm her, Jack!«, wird Mum mit einer Stimme rufen, die für sieben Uhr morgens eindeutig zu laut ist. Um diese Zeit platzt sie nämlich mit der Regelmäßigkeit einer lästigen, aber verlässlichen Kuckucksuhr in mein Zimmer und bringt mir Tee, den ich – ungelogen – seit drei Jahren nicht ein einziges Mal angerührt habe. Den Kopf zu dieser unchristlichen Stunde vom Kissen zu heben ist einfach unzumutbar, aber ich bin ihr trotzdem dankbar, und Mum weiß das, wenn sie mir in den Fuß kneift und ich ein »Danke« krächze. Endlos viele Tassen Tee für jemanden zu machen, der ihn gar nicht trinkt, ist wahre Liebe. Heute könnte ja der Morgen sein, an dem ich doch einen Schluck nehme. Ich möchte ihr den Tee nachschmeißen und ihn gleichzeitig genießen, beides kann ich jetzt nicht mehr, weil ich sie niemals wiedersehen werde. In etwa einer Stunde wird sie merken, dass ich weg bin, und voller Entsetzen in das leere Bett starren, und Jedi wird hochspringen, um mich abzulecken, und vor Enttäuschung jaulen, wenn er mich nicht findet.

Auch ich jaule auf und schlurfe in meinen silbernen Doc Martens die Supermarktregale entlang, denn so viel Bewegung hatten sie seit gefühlten vier Jahren nicht mehr. Früher mal war es das Schönste auf der Welt, mit dem Wind um die Wette zu rennen und durch eine Zahnlücke zu pfeifen. Ich breitete die Arme aus und flog wie ein dicker Schmetterling, und wie herrlich waren meine Farben! Jetzt sind sie ausgeblichen, und ich schlurfe. Genauer gesagt schlurfe ich seit zehn nach zwei heute Morgen, als ich auf der Suche nach festem Boden unter den Füßen aus dem Haus geschlichen bin. Ich musste mich vergewissern, dass die Erde noch existiert, wo meine Welt doch gerade in sich zusammengebrochen war. Ich streifte durch vertraute Straßen, verloren in der Dunkelheit und so erschreckt von dem Zeug in meinem Kopf, dass ich mich vor dem außerhalb nicht mehr fürchten konnte. Und jetzt stehe ich hier mit einem Plan, der einen ziemlich verstört blickenden Goldfisch beinhaltet. Vermutlich hat auch er sich seinen Tag anders vorgestellt, als er heute Morgen zwischen Flaschen mit Enteisungsmittel in der Tankstelle erwachte, dem einzigen Zuhause, das er kennt.

Meine Augäpfel schwellen an wie Regenwolken. Gleich wird es einen Platzregen geben. Aber weil den garantiert niemand sehen will, tue ich so, als wäre ich eine Mittdreißigerin, die ihr Leben im Griff und wegen einer wichtigen Besprechung im Zentrum Londons ihren Zug zu erreichen hat, und nicht eine Fünfzehnjährige mit schwarz gefärbtem Haar, hellem Haaransatz und keinem Dad. Ich sage keinem Dad, obwohl es der Mann dort an der Kasse sein könnte, selbst wenn er nicht so aussieht, als hätte er stämmige Nachfahren gezeugt. Nichts gegen mich, aber ich habe nun mal einen kräftigen Knochenbau und stehe gut im Futter, er hingegen ist ein schmächtiges Hühnchen mit einem Hennengesicht. Er schaut glatt durch mich hindurch, während ich meinen Korb auf die Theke stelle, dann hackt er mit seiner mageren Hand in die Tasten, weil der Goldfisch keinen Barcode hat.

»Tut mir leid«, sage ich, als ob das meine Schuld wäre. Der Mann nimmt meine Entschuldigung nicht zur Kenntnis, was unhöflich ist, mir aber nichts ausmacht, weil es ohnehin besser wäre, wenn es mich gar nicht gäbe.

Ich weiß, welcher Planet ich bin, und ich habe keine Lust, mich ständig ins Sonnensystem zu drängeln, wo mein eigentlicher Platz doch feststeht. Die Frau an der Essensausgabe in meiner alten Schule hat das sofort begriffen. Als alle sich neue Freunde suchten, habe ich mir einen Ort gesucht, den meine Phantasie nach Belieben füllen konnte, am liebsten mit Schmetterlingen, denn die sind einfach perfekt. Wie echte Feen, bloß mit hübscheren Flügeln. Auf dem Pausenhof wurde ich selbst zum Schmetterling – und nicht bloß einer, sondern gleich Hunderte. Meine Arme waren ein Kaleidoskop aus Farben, wenn ich über das feuchte Gras tanzte. Währenddessen spielten meine Klassenkameraden Fangen und jagten sich auf ein paar Quadratmetern Asphalt. Ich verstand das nicht. Ist es denn nicht auch so schon viel zu eng?, fragte ich sie in meinem Kopf.

»Keine Sorge, Engelchen«, sagte die Frau an der Essensausgabe, als sie merkte, wie ich die anderen Kinder verständnislos ansah. »Du bist Pluto. Am liebsten fern vom Geschehen.« Sie lächelte ihr faltiges Lächeln. »Das ist schon in Ordnung so.«

Ich habe ihr geglaubt, bis ich in die Mittelstufe kam. Dort gab es für die Siebtklässler eine Willkommensparty mit einem DJ, der nicht jemandes Vater war, sondern ein richtiger Teenager mit chinesischer Tätowierung auf dem Bizeps.

»Kung-Pao-Huhn«, sagte ich zu den beiden staunenden Mädchen, die sich fragten, was das wohl heißen könne, »mit Bratreis«. Sie tänzelten stirnrunzelnd davon, und ich entfloh dem Lärm in einen Nebenraum, wo die Lehrer Süßigkeiten verkauften und die Schokoriegel in solche Unordnung geraten waren, dass ich nicht anders konnte, als sie für Mrs Miller in ordentliche Haufen zu stapeln, bevor ich mich nach draußen auf eine Mauer unter einem Baum zurückzog.

Zu Hause fragte mich Jack, ob ich Spaß gehabt hätte, und es klang, als wüsste er die Antwort schon. Doch ich widerlegte seine Erwartungen, indem ich nickte und dabei an das Mondlicht dachte, das durch die Äste schien und silberne Muster auf meine Haut malte.

»Ach, wirklich?« Seine Stimme lebte auf, genau wie sein Gesicht. »Das ist ja super, Tessie-T. Echt super. Neue Schule und alles. Neuanfang. Was hast du gemacht?«

»Unter einem Baum gesessen«, sagte ich zu ihm, und er machte ein langes Gesicht.

»Du warst mit einer Freundin draußen?«, fragte er hoffnungsvoll. »Sag mir, dass du nicht allein warst, Tess. Wir haben darüber gesprochen.«

Ich betrachtete meine Zehen durch die Strumpfhose. Vor der Party hatte Mum mir die Zehennägel grellrosa lackiert, auch wenn niemand sie sehen würde.

»Tess?«, meldete sie sich aus dem Lehnstuhl, wo sie Hefte korrigierte. »Dad redet mit dir. Du bist mit einer Freundin rausgegangen, oder?«

»Natürlich«, erwiderte Jack. »Sie erinnert sich doch an unsere Diskussion, nicht wahr, Tessie-T? Wie wichtig es ist, sich anzupassen? Genau das hast du getan, nicht wahr? Dich angepasst?«

Darauf gab es nur eine richtige Antwort, das war klar. Sie wollten keinen Pluto. Sie wollten einen Merkur oder wenigstens eine Venus. Ich nickte, mein Kopf ging rauf und runter, dann ruckte er nach vorn, weil Jack mir die Hand gegen das Schulterblatt klatschte, genau dorthin, wo früher mein linker Schmetterlingsflügel gewesen war.

»So ist’s recht!«, sagte er, und wenn seine Stimme vorhin aufgelebt war, so schwang sie sich nun förmlich nach oben, immer höher, hinweg über die Furcht, ich könnte mich niemals anpassen. »Erzähl uns von ihr. Oder war es vielleicht ein Er?« Jack blinzelte mir verschwörerisch zu, als er mich auf das Sofa zog. Es ächzte wie immer, und wir mussten wie immer die Polster zurechtrücken und stießen dann dieses übertriebene Stöhnen aus, als Mum sich auch noch dazuquetschte. Sie stupste uns mit ihrem Rotstift und sagte: »Na los, Tess. Wir wollen einen Namen hören.«

»Anna«, sagte ich, auch wenn es geflunkert war. Sie sahen einander über meinen Kopf hinweg mit Augen an, die von etwas erfüllt waren, das ich nicht verstand, bis mir schließlich dämmerte, dass es Stolz war. Er umgab mich wie eine warme, hoffnungsvolle Hülle, ein goldener Kokon, der mich in ein Wesen verwandeln würde, das noch begehrenswerter war als ein Schmetterling. Als ich ins Bett ging, kniete ich mich vor Jedi hin und schwor einen heiligen Eid. Ich würde versuchen, die ideale Tochter zu sein, wenn er versuchen würde, das ideale Haustier zu sein. Er ließ die wuscheligen weißen Ohren hängen, denn er wusste genau, was das bedeutete: Keine Kämpfe mehr mit Bobbin, seinem Erzfeind, der Andrew von nebenan gehört.

Ich hob die Hand, er hob die Pfote.

»Möge die Macht mit uns sein.«

Und ein paar Jahre war es so. Jedi hat Bobbin schon Ewigkeiten nicht mehr gebissen, und ich habe versucht, mich anzupassen und lauter, lebhafter und lustiger zu sein, als ich mich fühlte. Ich trug meine Persönlichkeit wie einen Clownshut, der jeden zum Lachen brachte, vor allem Jack.

Doch damit ist Schluss. Nach den Worten, die ich in seinem Computer gelesen habe, bin ich nicht mehr an diesen Schwur gebunden, und Jedi natürlich auch nicht. Kann also bitte jemand meinem Hund sagen, dass der Deal geplatzt ist. Ein Leopard kann seine Punkte nicht verändern, ein Hund nicht sein Temperament und ein Planet nicht seine Umlaufbahn. Ich bin Pluto, deshalb nehme ich wortlos den Kassenzettel von dem Mann in der Tankstelle entgegen, der ebenfalls schweigt. Aber das kostet – das könnt ihr mir glauben – einige Überwindung nach vier Jahren, in denen ich zuverlässig jede peinliche Stille gefüllt habe.

* * *

Ich warte, bis die rote Ampel den nicht existenten Verkehr auf dieser nicht so belebten Straße aufhält. Eigentlich muss ich nicht warten, bis irgendeine Maschine mir sagt, dass ich gehen darf. Das passt zu einem Mädchen, das verzweifelt versucht, das Richtige zu tun, ich aber versuche verzweifelt, das Falsche zu tun. Deshalb trete ich auf die Straße, ohne nach rechts und links zu schauen, und ignoriere meine Verkehrserziehung wie ein echter Rebell.

»Mach gefälligst die Augen auf!«, brüllt der Lastwagenfahrer und steigt auf die Bremse. Natürlich sehe ich ihn mir genauer an, aber er ist zu rabiat, um mein Dad zu sein, schreit bla bla dies und bla bla jenes, weil ich ihn ausgebremst habe und das seine nagelneuen Reifen ruiniert, die ihn ein Vermögen gekostet haben. »Schau, verdammt nochmal, wo du hinläufst, Schätzchen!«

Mein richtiger Dad wäre niemals so ruppig. Selbst wenn er wütend wäre, würde er entschuldigend seine Hand heben. Und ich würde entschuldigend meine Hand heben, und er würde seine etwas höher heben, um sich mehr Schuld zu geben, aber ich würde meine noch höher heben, um damit alle Schuld auf mich zu nehmen. Und wenn unsere Finger dann fast den Himmel berührten, würden wir unser identisches Lächeln lächeln, und er würde hervorstoßen: »Du bist es!«

»Ja!«, würde ich hauchen, und dann würden wir uns umarmen, mitten auf der Straße, und alle würden klatschen und johlen wie in einem Film mit einem Happy End, das es im wahren Leben niemals gibt – bilde dir bloß nichts ein, Tess.

Mit beschleunigtem Watscheln erreiche ich die andere Straßenseite. Das ist meine Art zu rennen. Seit wann das so ist? Und seit wann ist eigentlich das gestreifte Kleid, das eigentlich in einem kleidsamen A fallen sollte, aber wie ein O an mir klebt, so verdammt eng? Jack meint, es solle mir etwas ausmachen, dass ich immer dicker werde, aber ich finde meine Maße ganz in Ordnung. Manchmal, wenn ich mit meinen Möpsen in den Händen vor dem Spiegel posiere, denke ich, dass es da draußen bestimmt jede Menge Männer gibt, die gutes Geld dafür bezahlen würden, meinen Körper zu sehen, und nicht nur Fett-Fetischisten wohlgemerkt.

Ich stolziere – Bauch voran – den Gehweg entlang, als wäre Verneigt euch vor der Großen Tess mein neues Lebensmotto, während ich nach einem Taxi Ausschau halte, das mich ins Abenteuer befördern wird. Ich habe jede Menge Kleingeld in der Manteltasche, und die Aussicht auf eine Taxifahrt erscheint irgendwie magisch. Als ob ich – wow – nur mit dem Finger zu schnippen brauche, damit eine schwarze Karosse mich gegen ein paar Goldmünzen überall hinbringt – im Rahmen der Vernunft und eines Budgets von neun Pfund, versteht sich. Mein Wunschort ist die Manchester Piccadilly Station und mein Endziel der Finsbury Tower in der 103–105 Bunhill Row in London. Ich habe mir das so oft vorgesagt, dass ich selbst überrascht bin, als ich dem Taxifahrer meine eigene Adresse nenne.

»Ist das bei der Chorlton Grammar School?«, fragt er, während wir wenden. Jetzt könnte ich es mir noch anders überlegen. Ich bin bereit und der Goldfisch auch, aber stattdessen murmle ich: »Ja, genau. Die erste rechts nach der Schule. Etwa in der Mitte der Straße.«

Wir entfernen uns vom Bahnhof und sind in Nullkommanichts in meiner Straße. Eigentlich sollte mehr passieren, etwas, das das wilde Klopfen meines Herzens rechtfertigt, aber der Wagen bremst und hält vor unserer Tür. Mein Haus sieht aus wie immer. Dasselbe silberne Nummernschild an demselben silbernen Briefkasten. Dieselben Gardinen im selben Wohnzimmerfenster. Und heute Abend werde ich mit Sicherheit dasselbe Mädchen auf demselben Sofa sein, das in einem tigergestreiften Einteiler fernsieht, wo ein Mäusekostüm doch viel passender wäre.

»Macht sechs Pfund fünfzig, wenn du so weit bist.«

Ich gebe ihm das Geld, bleibe aber noch ein paar Sekunden sitzen, in denen ich etwas wahrhaft Großes vollbringen könnte in meinem ansonsten so kleinen und ängstlichen Leben.

»Ist es das richtige Haus?«

»Ja«, erwidere ich, mache aber keine Anstalten, die Tür zu öffnen. Der Fahrer wendet sich fast, aber nicht ganz zu mir um.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Es ist nett, dass er fragt, aber seine Stimme ist voller Pflichtbewusstsein, und seine Augen sind müde. Wieder so ein verkorkster Teenager, der sich die Nacht um die Ohren geschlagen hat, sagt sein Gesicht, als er mich aus der halben Drehung heraus mustert. Würde er sich ein bisschen weiter umdrehen oder den Zündschlüssel abziehen oder die Hände vom Steuer nehmen, anstatt sich daran festzuklammern, dann würde ich ihm vielleicht erzählen, was ich letzte Nacht gesehen habe.

Doch stattdessen reiße ich mich zusammen. »Alles okay.«

Der Himmel weint, ob aus Erleichterung oder Enttäuschung über meine Rückkehr, ist schwer zu sagen. Ich stehe im Regen, starre das Haus an und registriere, dass die Vorhänge von Mums und Jacks Schlafzimmer noch geschlossen sind und sie demnach nie erfahren werden, dass ich eine Stunde und dreizehn Minuten lang eine Ausreißerin war. Das Taxi fährt weg, während ich die Haustür aufschließe. Auf Zehenspitzen betrete ich das Haus, verwundert darüber, dass ich mich hier noch immer zu Hause fühle.

Kapitel 2

In der Küche riecht es nach verbrannten Spaghetti, der Beweis dafür, dass es den gestrigen Abend tatsächlich gegeben hat, er lässt sich nicht leugnen. Ich lausche auf Mum und Jack, und schleiche mich unter Vermeidung knarrender Dielen zum Spülbecken, um mir ein Glas Wasser zu holen. Der Kaltwasserhahn hat seine Tücken, aber es gelingt mir, ihn genau richtig aufzudrehen, perfekter Durchlauf ohne Spritzer.

Im Haus ist es ruhig. Keine totale Stille, aber nur Geräusche, die mir durch ihre Vertrautheit schon gar nicht mehr auffallen.

Ich höre genauer hin und verwandle das Knarren, Ächzen und Platschen in etwas Fremdes, dann zwinge ich mich, genau hinzusehen. Die Tür von Jacks Arbeitszimmer ist offen, so dass ich von hier aus seinen Computer sehen kann, diesen stinknormalen Laptop, in dessen hinterstem, dunkelstem Winkel sich eine Datei namens DCNetwork Blog befindet, die genau sechshundertsiebzehn geheime Wörter enthält.

Und Jack hat sie gestern geschrieben.

Jack hat sie geschrieben, diese unverrückbare Tatsache sitzt in meinem Hirn und verursacht meinen Gedanken ätzendes Sodbrennen, besonders hinter der rechten, hämmernden Schläfe.

Jack hat sie geschrieben, als er sich – vermutlich mit dem üblichen Seufzer – für ein paar Stunden am Schreibtisch niedergelassen hat, den Kaffeebecher auf dem Master-of-the-House-Untersetzer, den er sich in diesem Theaterfoyer mit den glitzernden Lüstern gekauft hat, denn als dort Les Misérables gegeben wurde, trug selbst die Decke ihre besten Klunker.

Das war ein wirklich schöner Abend damals, aber vielleicht nicht unbedingt für Jack. Vielleicht hat es ihn ja enorme Überwindung gekostet, mich während der stehenden Ovationen anzugrinsen und zu klatschen, bis uns die Hände brannten. Ich stieß ihn vielsagend mit dem Ellenbogen an, und der Stoß meines Knochens an seinen Arm sollte heißen: Das ist der schönste Augenblick meines Lebens. Er knuffte zurück, wie um zu sagen: Meiner auch. Aber inzwischen frage ich mich, ob er mich nicht eher vom Balkon stoßen wollte, denn ganz zweifellos wäre er glücklicher, wenn es mich nicht gäbe.

Jacks hinten heruntergetretene Hausschuhe liegen noch unter dem Schreibtisch, wo ich sie hingepfeffert habe, als ich die Wahrheit entdeckte. Jacks Hausschuhe. Dads Hausschuhe. Dads alte, vertraute Hausschuhe, die ich immer anzog, wenn ich kalte Füße hatte, denn Väter und Töchter haben kein Fußschweißproblem miteinander. Ich werde sie nie wieder anhaben, und plötzlich scheint mir das das Traurigste von der Welt zu sein. Die Zehen in meinen Stiefeln pochen vor Trauer, als ich mich von Jacks Arbeitszimmer abwende und immer noch nicht glauben kann, dass er diesen Blogpost geschrieben hat.

 

Als Tess nach zwei Stunden Wehen schließlich auftauchte, konnte ich nur Abscheu empfinden, und es gelang mir ebenso wenig, dieses sonderbare Wesen in den Armen meiner entzückten Frau zu lieben, wie den Hass zu verbergen, der in mir brannte. Das war nicht meine Tochter. Das war ihre Tochter – ihre und die eines Samenspenders, den ich nie getroffen hatte. Doch was konnte ich tun? Sie war nun mal da und sie gehörte zu meiner Frau, und ich liebte meine Frau, auch wenn ich dieses hässliche rote Ding nicht lieben konnte, das an ihrer Brust nagte …

 

»O nein! Hilfe!«, kreischte Mum, als der Feuermelder losging. Jack kam aus seinem Arbeitszimmer gestürzt und ich aus dem Wohnzimmer. Mum wedelte mit den Händen über den Spaghetti, die aus dem Topf schauten, der auf dem Gasherd gerade Feuer gefangen hatte. »Wie lautet die Vorschrift?«

»Pass auf deine Finger auf, Helen!«

»Wie lautet die Vorschrift?«

»Wovon redest du?«

»Von den Vorschriften bei Feuer!«, schrie Mum, und der Feuermelder schrillte: DAS IST EIN NOTFALL DAS IST EIN NOTFALL DAS IST EIN NOTFALL. »Man darf bestimmte Feuer nicht mit Wasser löschen. Bei manchen braucht man einen Feuerlöscher. Was ist das hier? Ich kann mich nicht erinnern. Schnell! Brauchen wir einen Feuerlöscher?«

»Was? Wir haben gar keinen Feuerlöscher.« Jack ging zum tückischen Wasserhahn und drehte ihn gekonnt auf, perfekter Durchlauf ohne Spritzer. Er füllte einen Krug mit Wasser.

»Schütte das nicht da drauf. Es könnte eine Explosion geben. Ist das ein Gasfeuer? War es Gas, das Kohlendioxyd oder so was braucht? Ist das richtig? Wir müssen nachsehen! Ich glaube, das war bei Gasfeuern.«

»Du hast das verdammte Gas doch längst abgedreht, Helen. Es ist kein Gasfeuer. Ein ganz normales Feuer. Feuer braucht Wasser«, sagte Jack, zögerte aber noch und starrte auf den Brenner. »Das Gas ist doch aus, oder?«

»Aber das Feuer wird größer!« Genau wie Mums fahrige Bewegungen. Sie waren dermaßen lächerlich, dass ich beim Anblick des Spektakels grinsen musste. Den Alarmruf VERLASSEN SIE DIE UNFALLSTELLE ignorierte ich.

»Das sehe ich selbst«, erwiderte Jack, während Mum wie ein Hampelmann vor dem Topf auf und ab hüpfte, und der Feueralarm – lauter jetzt – kreischte: SIE SIND IN GEFAHR. Nicht, dass mich das gekümmert hätte. »Das sehe ich, aber ich kann –«

»Schnell, Jack!«

»Du bist diejenige, die zögert –«

»Nun gieß schon!«

»Nein, ich kann nicht. Wir müssen das erst checken.«

»Dazu haben wir keine Zeit.«

»Jetzt sieh nach!«

Und da kam ich ins Spiel. Ich schlüpfte in Jacks Arbeitszimmer – normalerweise verbotenes Terrain, aber das war schließlich ein Notfall. Außerdem waren meine Eltern viel zu sehr mit Diskutieren beschäftigt, ein hitziges Geplänkel, das die Scheiben beschlagen ließ. Ich zog Jacks Hausschuhe an, die unter dem Schreibtisch zurückgeblieben waren, setzte mich in die Kuhlen seiner Pobacken und drückte ein paar Tasten, um seinen Laptop aufzuwecken.

»Mach schon«, sagte ich und schob hektisch die Maus hin und her, als nichts geschah. Beinahe hätte ich das gerahmte Gedicht von Robert Frost umgeworfen – Der unbegangene Weg. Ich starrte auf die Worte, ohne sie zu sehen, denn ein wunderbares Bild stand vor meinem inneren Auge: ich als Retterin der Situation, die im Handumdrehen die richtige Information zur Hand hat.

»Gieß!« Ich stellte mir vor, wie ich es herausschrie, eine Millisekunde bevor der Topf explodierte. »Gieß, Dad, vertrau mir!«

Ich wollte meinen Dad beeindrucken, deshalb trommelte ich mit den Fingern auf seinen Notizblock, um den lahmen Computer aufzuwecken, bevor mir diese Chance durch die Lappen ging. Ich ruckelte wieder an der Maus, aber der Bildschirm blieb für eine gefühlte Ewigkeit dunkel. Ich werde mich immer daran erinnern, an dieses wonnige Dunkel des Unwissens, bevor der harsche Lichtschein der Wirklichkeit mich zwischen die Augen traf, während der Alarm PIEPTE und PIEPTE und PIEPTE, weil schließlich ein Notfall vorlag – aber der hatte nichts mit den verbrannten Spaghetti zu tun.

Kapitel 3

Mum sieht mich nicht an, als sie meine Lieblingsferkeltasse auf mein Sudoku-Heft stellt. Sie sieht mich nicht an, als sie die Vorhänge aufmacht und den Regen anstöhnt. Sie sieht mich nicht an, als sie die Lunchbox aus meiner Schultasche nimmt, um sie abzuwaschen und anschließend mit Salat zu füllen, weil Jack jegliches Brot daraus verbannt hat, nicht nur weißes. Sie sieht mich nicht an, weil ich an den vergangenen tausend Morgen, an denen sie mir Tee brachte, immer tief und fest geschlafen habe, den Kopf im Kissen vergraben.

Doch heute Morgen ist es anders.

Ich liege mit durchgedrückter Wirbelsäule auf dem Rücken, klammere mich mit beiden Fäusten an der Decke fest und starre sie an. Als sie es endlich merkt, schrickt sie zusammen, weil sie das Weiße in meinen Augen sieht. Ich kann direkt fühlen, wie es in der Dunkelheit leuchtet.

»Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Bist du tatsächlich wach?« Sie besteht nur aus Lächeln und langem braunen Haar, als sie sich über mich beugt und mir scherzhaft den Puls an der falschen Stelle meines Halses fühlt. »Tja, dein Körper muss wegen dieses unerwarteten Vorfalls in Schockstarre geraten sein. Lass mal sehen.« Sie packt mein Handgelenk und fühlt dort ebenfalls den Puls, indem sie – tick, tock – auf einer nicht existierenden Armbanduhr mitzählt. »Ja, ja, ein bisschen zu schnell. Wie ich vermutet habe. Fühlst du dich gut?«, fragt sie mit gespielter Sorge. Und da ist sie, die Gelegenheit, aus vollem Hals Nein zu schreien.

Ich warte, dass es passiert, aber das Wort formt sich nicht mal ansatzweise.

Mum legt mir die Hand auf die Stirn.

»Leicht erhöhte Temperatur, aber das ist kaum verwunderlich bei all der Kraft, die es kostet, um diese Tageszeit die Augen aufzukriegen. Du musst völlig erschöpft sein. Möchtest du dich hinlegen? Ach, Moment. Du liegst ja schon. Gott sei Dank! Überanstrengung ist in jedem Fall zu vermeiden.« Sie grinst über ihren Scherz, dann reicht sie mir die Teetasse mit dem Griff voran. »Kannst du das ausnahmsweise schaffen? Komm schon. Mach mich glücklich!«

Sie jubelt, als ich ihr die Tasse abnehme, und ich lächle dieses riesige Lächeln und frage mich ungläubig, was zum Teufel ich hier tue. Ich sollte nicht brav mitspielen, sondern eine Szene machen, aber stattdessen lasse ich Mum mein Star-Wars-Kissen aufschütteln und nehme einen Schluck Tee, der nach meinem missglückten Ausreißversuch richtig gut schmeckt. Ich umfasse die Tasse fester, erleichtert, dass ich nicht am Bahnhof irgendeine Plörre aus einem anonymen Pappbecher trinken muss, während ich auf den Zug warte, der mich weg von allem bringt, was ich bisher kannte.

Doch dann schaut Jack zur Tür herein. Ich verschlucke mich und fange an zu husten. Ich kann es nicht ertragen, ihn anzusehen, aber genauso wenig kann ich den Blick abwenden, also starre ich ihn wider Willen an und ärgere mich, dass er so viel Macht über meine Augäpfel besitzt. Sein rotes Haar ist nass von der Dusche, die rosigen Wangen sind frisch rasiert, und er sieht sauber aus, zu sauber für jemanden, der düstere Bekenntnisse über seine sogenannte Tochter ins Netz stellt.

Wieder erwischt mich sein Verrat mit voller Wucht, und es kostet Überwindung, mich nicht unter der Decke zusammenzurollen, wie ich es gestern Nacht getan habe, bevor ich wegrannte. Ich habe DCNetwork in mein Handy getippt und herausgefunden, dass es für Donor Conception Network steht. Mit angehaltenem Atem ging ich auf ihre Webseite, auf der es um Samen- und Eizellenspenden geht. Sie erklären die Prozedur, und Leute schreiben, wie sie sich dabei fühlen, durch künstliche Befruchtung schwanger zu werden. Es gibt jede Menge Erfahrungsberichte, aber in keinem ist von Hass die Rede. Offenbar hat Jack die Lücke erkannt und beschlossen, sie mit seiner Geschichte zu füllen. Er war bereit, der Welt sein Geheimnis zu offenbaren, nicht aber mir, seinem eigenen Fleisch und Blut – oder eben nicht, das muss ich mir jetzt immer wieder vorsagen, denn die Tatsache, dass er nicht mein richtiger Vater ist, scheint bei mir noch nicht angekommen zu sein.

»Sieh dir das an«, sagt Mum. »Ein Wunder ist geschehen.«

»Na, so was sieht man wirklich nicht alle Tage.«

Jack betritt mein Zimmer und trocknet sich das Gesicht, aber die Maske des perfekten Vaters bleibt nicht am Handtuch hängen. Jetzt benutzt er sie, um mich anzugrinsen, weil er angeblich so verdammt begeistert ist, mich wach in meinem Zimmer vorzufinden, das er angestrichen hat, als ich zehn war. Ich durfte mir in einem Hochglanzprospekt die Farbe aussuchen, und natürlich war die einzig mögliche Wahl ein mystisches Mitternachtsblau. Ungeduldig hüpfte ich von einem Fuß auf den anderen, während er meine Möbel abdeckte. Unterm Tisch entstand das ideale Versteck und ich kroch hinein, obwohl ich eigentlich schon zu alt war, um so zu tun, als wäre das eine Höhle und ich ein Troll.

»Möchtest du vielleicht eine Prinzessin sein?«, fragte Jack, und ich kratzte meine Warzen, rülpste und rieb mir mit haariger Hand den Bauch.

»Ich verspeise Prinzessinnen zum Frühstück.«

Jack scheuchte mich kopfschüttelnd raus. Ich kletterte auf das Dach des Anbaus im Hinterhof und reckte den Hals, um in mein Zimmer schauen zu können. Ich sah, wie Jack sich hinunterbeugte und die Farbe anrührte, die perfekte Farbe der Magie. Als er mich entdeckte, drohte er mir mit dem Finger, und ich lachte. Dann sprang ich vom Dach, denn ich wollte mir die Überraschung nicht verderben. Nicht wirklich.

Es war ein Schock, als ich nach seinem einladenden »Voilà« durch meine Tür in mein neues blaues Zimmer rannte, das nicht blau war, sondern hellgelb.

»Die Farbe heißt ›Morgendämmerung‹«, verkündete er, während sich meine Brust verengte, »nicht ›Mitternachtsblau‹. Ich dachte, das wäre hübscher. Viel passender für ein Mädchen. Schau mal, wie sie das Licht einfängt, Tessie-T. Dieses Blau wäre zu dunkel gewesen. So wirkt das Zimmer viel größer, findest du nicht?«

Ich nickte, obwohl die Wände auf mich herabzustürzen drohten und mir den Sauerstoff raubten. Jedenfalls bekam ich keine Luft mehr. Tränen baumelten an meinen Lidern, Tropfen der Enttäuschung, die ich um jeden Preis verbergen musste, denn Jack erwartete Begeisterung von mir. Irgendwie, ich weiß nicht mehr wie, gelang es mir, die Augen offen zu halten, bis sie brannten, und die Worte zu sagen, die er hören wollte.

»Danke, Dad, gefällt mir sehr gut.«

»Dein alter Herr weiß es eben doch am besten, was?«

Ich habe meine gelben Wände noch nie so gehasst wie in diesem Moment, als Jack sich das Handtuch an die Brust drückt und so tut, als bekäme er einen Herzinfarkt.

Zugegeben, seine Darbietung ist überzeugend. Mum lacht sich scheckig, und normalerweise würde ich das auch tun, vielleicht sogar meinerseits in einen kumpelhaften Herzstillstand verfallen. Ich biete meine ganze Willenskraft auf, um meine Augen in Felsen zu verwandeln und meine Miene versteinern zu lassen, während Jack, die Hand aufs Herz gepresst, zu meinem Schreibtisch taumelt. Ungerührt sehe ich zu, wie er mit zittrigen Fingern nach dem Mantel greift, den ich gestern beim Weglaufen anhatte. Er ist feucht, und Jack wird das bemerken – aber nein. Es ist nur ein Requisit, er lässt sich auf meinen Stuhl fallen und stirbt, das Gesicht in meine Kapuze gedrückt, ohne sich zu wundern, warum sie nass ist.

Unvermittelt fahre ich hoch und knete meine Wut zu einem schwarzen Ball, eine gefährliche, machtvolle Waffe in meiner Hand. Eine Granate, die diesen normalen Tag in die Luft jagt und meine perfekte Familie in tausend Stücke reißt. Ich muss nur den Zünder ziehen.

Mum sieht, wie ich mich im Bett aufsetze. Sie simuliert ein Keuchen und boxt Jack, der ebenfalls keucht. Sie starren mich aus Augen an, die exakt das gleiche Blau haben – etwas, das ich mein ganzes Leben lang wusste, und das nun eine völlig neue Bedeutung hat. Hier ist der Beweis, dass jemand anderer an meiner Zeugung beteiligt war. Auch wenn ich in Biologie nicht immer aufpasse, bin ich mir doch ziemlich sicher, dass zwei blauäugige Elternteile kein braunäugiges Kind hervorbringen können.

»Ich …«

»Sie spricht«, sagt Jack. »Sie ist wach und spricht.«

»Ich …«

»He, sei vorsichtig!«, lacht Mum.

Jack kommt an mein Bett. »Überanstreng dich nicht unseretwegen, Tessie-T.« Er berührt meine Schulter mit Fingern, die diese sechshundertsiebzehn Wörter getippt haben. Zwischen uns besteht Kontakt, und das Komische ist, dass es sich überhaupt nicht komisch anfühlt, denn er ist ja seit fünfzehn Jahren mein Dad, und erst seit zwölf Stunden Jack. »Entspann dich, Tessie-T. Leg dich wieder hin, leg dich hin. Warum an alten Gewohnheiten rütteln?«

Er drückt mich in mein Star-Wars-Kissen, und ich tauche in ihr vertrautes Universum ein, als wäre nichts gewesen.

Kapitel 4

Ich tue, als wäre alles wie immer. Ich muss das tun, bis ich herausgefunden habe, was ich stattdessen tun soll. Ich esse das Porridge, das Jack mir jeden Morgen macht, während er meine Hausaufgaben durchsieht. Mit seinem dünnen Finger fährt er die Zeilen in meinem Matheheft entlang und findet keine Fehler, obwohl mich das Ganze nur zwölf Minuten gekostet hat – so gut bin ich in Trigonometrie. Er reicht mir das Heft mit einem Lächeln zurück, das ich normalerweise erwidern würde. Dann erinnert er mich daran, die Flöte einzupacken für eine Musikstunde, zu der ich vielleicht gar nicht gehen werde, sollte ich beschließen wegzulaufen. »Es ist immer noch möglich«, sage ich zu dem Goldfisch in meinem Kopf, auch wenn der Plan im grellen Licht des Tages absurd erscheint. Ich stelle mir vor, wie er unter meinem Bett geduldig hin und her flitzt und sich die Adresse der Human Fertilisation and Embryology Authority merkt, wo die Informationen über die Samenspender aufbewahrt werden: Finsbury Tower, 103–105 Bunhill Row in …

»Tess?«

Als ich wieder ganz da bin, sehe ich Jack, der sein Porridge isst und sich im Stuhl zurücklehnt.

»Nun, was hältst du davon?«

»Ja?«

In neun von zehn Fällen ist Ja die richtige Antwort. So auch diesmal, denn Jack nickt und stellt unsere Schüsseln in den Geschirrspüler. Das ist sein Job. Er hat nämlich großen Spaß daran, Teller und Tassen so anzuordnen, dass der Geschirrspüler voll ausgelastet ist, den Kopf hin- und herdrehend ermittelt er die beste Position für die einzelnen Teile.

Heute ist es eine Plastiktasse, die aus der Reihe tanzt. Jedi kommt angerast, er jagt über den Küchenfußboden, damit er seine Nase ins Besteck stecken kann. Jack hasst das, aber ich liebe es, wenn seine rosa Zunge das Buttermesser ableckt, ohne sich um die Regeln zu kümmern.

»Weg da, Junge! Mach schon. Du weißt genau, dass du das nicht darfst. Ja, das dachte ich, Tessie-T. Frag doch mal nach. Es hat ja keinen Sinn, Flöte zu lernen, wenn du keine Punkte dafür bekommst, findest du nicht? Suzie hatte gerade einen. Hast du nicht auch Lust? Schließlich wollen wir dein Licht ja nicht unter den Scheffel stellen, nicht wahr? Du sollst deinen Auftritt bekommen. Sollst zeigen, was in dir steckt. Aus der Masse herausstechen.«

»Was denn jetzt? Ich dachte, ich soll mich anpassen«, sage ich und bin selbst überrascht, aber nicht so sehr wie Jack. Er stellt die Tasse weg und steht auf.

»Wer möchte sich schon anpassen? Gewöhnlich sein?«, fragt er und klingt echt schockiert. Mit ihm Schritt zu halten, ist ermüdend, und ich bin erleichtert, dass ich es jetzt nicht mehr muss. »Willst du wirklich in der zweiten Reihe stehen, Tess? Ist es das, was du möchtest?«

Ich murmle eine passende Erwiderung, aber es fällt mir schwerer als sonst. In meiner Brust, wo früher Stille herrschte, schrillt jetzt Protest, und meine Augen lodern. Das ist neu, diese Hitze, die in Jacks Rücken brennt, als er kopfschüttelnd nach oben verschwindet.

Ich gehe in mein Zimmer und ziehe mich an. Weil meine Hose in der Wäsche ist, greife ich nach einem alten Schulrock und schätze ab, ob er noch passt. Ich vermute nein, denn er war schon vor einem halben Jahr zu eng, aber mit ein bisschen Ziehen und Zerren zwänge ich mich in das grüne Teil. Meine Füße stecken in den schwarzen Doc Martens, die ich in der Schule trage. Ich betrachte meine untere Hälfte und sage mir, dass Kurven schön sind, bis ich es selbst glaube und stolz darauf bin, dass mein Hintern aus dem türkisfarbenen Stoff ragt wie ein gigantischer Berg. Ich bin groß, und ich bin stark, und ich bin kräftig – ein Mädchen mit den Proportionen eines Mount Everest, das sich nicht so leicht bezwingen lässt. Energisch bürste ich mein Haar und putze meine Zähne extragründlich. Im Spiegel sehe ich ein Gesicht, das in Flammen steht.

Etwas kündigt sich an. Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist gewaltig.

»Fertig, Tess?«, ruft Jack aus der Diele. »Ich fahr dich, es sieht nach Regen aus.«

Ich nehme meine Flöte und meine Tasche und hole mir den Salat aus der Küche, bevor ich in den Mantel schlüpfe, der immer noch feucht ist von einem Abenteuer, das Jahrmillionen zurückzuliegen scheint.

»Scheußliches Wetter, nicht wahr?«, sagt Andrew, der gerade aus dem Nachbarhaus tritt. »Da schau einer unseren Jack an, du wirst ja der reinste Workaholic.« Er verschließt seine Tür mit einer raschen Drehung des Schlüssels.

»Nicht wirklich, Kumpel«, entgegnet Jack, während er mit unserem Hausschlüssel herumfummelt.

»Dann hat das Leben dich also nicht kleingekriegt?«

»Ganz und gar nicht.«

Andrews herzliche Lache kollidiert mit Jacks falscher. »Freut mich zu hören. Den großen Traum von der Schauspielkarriere noch nicht begraben?«

»Fürchte nein. Bleibe bei der Stange.« Jack deutet auf seinen Anzug. »Nichts Ernstes. Nur ein Aushilfsjob drüben in Ashton. Ein bisschen Taschengeld für Weihnachten verdienen, während mein Agent mir die nächste Rolle besorgt.« Und plötzlich wirkt es lächerlich, dass ein fünfundvierzigjähriger Mann Telefondienst in einer Volvo-Vertretung macht, der sonst über jeden lästert, der in der Tretmühle steckt, oder im Hamsterrad rennt und die Nase über Leute rümpft, die sich abrackern, während er auf Einladungen zu Castings wartet, die nie kommen werden. »Wir müssen dann los. Einen schönen Tag.«

Wir gehen zu unserem Wagen, der auf der anderen Straßenseite geparkt ist. »Du verwöhnst sie!«, ruft Andrew uns nach. »Sind doch bloß zwei Minuten bis zur Schule. Ich fahre unsere Suzie nie.«

»Wie auch immer.« Jack deutet zum Himmel. »Da braut sich was zusammen.«

»Frische Luft tut ihnen gut! Ein bisschen Bewegung vor der Schule und so.«

Beide starren mich an, und derselbe Gedanke springt sie an wie der Knopf an meinem Rock, der gleich aufs Straßenpflaster hüpfen wird. Jacks Gesichtsausdruck gibt mir das Gefühl, noch größer zu sein, größer als das Auto, größer als die Straße, größer als ein Land vom Ausmaß Afrikas, nachdem der Hunger dort besiegt wurde.

»Wofür hast du denn in letzter Zeit vorgesprochen?«, fragt Andrew und kommt angeschlendert. »Werden wir dich demnächst wieder in diesem Krimi sehen? Wie hieß er noch gleich? Morse?«

»Lewis«, verbessert ihn Jack, während er das Auto aufschließt.

»Lewis. Genau. Die schreiben dich bestimmt wieder rein, oder?«

»Eher nicht. Aber egal. Ein bisschen Abwechslung im Lebenslauf kann nicht schaden. Würde sowieso ablehnen, wenn sie wieder ankämen«, lügt Jack.

»Und was gibt’s sonst?«, bohrt Andrew weiter und scheint nicht mitzukriegen, dass Jack in den Wagen steigt und den Motor anlässt. »Werbespots oder was? Werden wir dich als Honigmonster erleben?«

»Das ist doch längst passé. Außerdem ist Werbung nicht mein Ding. Zu seelenlos. Derzeit konzentriere ich mich mehr aufs Theater. Ich mache da bei diesem Laienspiel mit. Greife denen ein bisschen unter die Arme. Diese Woche ist Premiere. Morgen um sieben, und an den folgenden drei Samstagen. Solltest du dir nicht entgehen lassen. Die Didsbury Players. Hab mich breitschlagen lassen, den Captain Hook zu spielen. Tess ist auch dabei. Du findest es doch gut, oder? Gar nicht schlecht für eine Laienaufführung. Ziemlich hohes Niveau.«

»Hmm.«

Jack sieht mich merkwürdig an, weil ich nicht wie sonst reagiere.

»Schläft noch halb«, sagt er zu Andrew mit einer Stimme, die Verzweiflung über lethargische Teenager zum Ausdruck bringt. »Du weißt ja, wie das ist.«

»Suzie ist ein Morgenmensch. In dieser Hinsicht haben wir Glück.«

»Da seid ihr zu beneiden«, sagt Jack auf eine Art, die mich drittklassig erscheinen lässt. »Kann sein, dass noch die eine oder andere Karte übrig ist, falls du Interesse hast.«

»Klingt gut. Werde versuchen, es einzurichten«, sagt Andrew, obwohl er das bestimmt nicht tun wird.

»Spitze«, entgegnet Jack und meint genau das Gegenteil. »Bis später dann, Kumpel.«

»Ja, Kumpel, bis später. Und du Tess, genieß die Fahrt mit deinem Chauffeur – ich meine, mit deinem Dad.«

Kapitel 5

Wir winken Andrew zu, aber ich sehe nicht ihn, sondern betrachte unsere Hände. Meine sind breit mit kurzen Fingern, und die von Jack sind schmal mit langen Fingern. Sie bilden unterschiedliche Muster, als sie durch die Luft fliegen, wie Vögel, die definitiv nicht zur selben Gattung gehören. Ich entdecke einen frischen Schnitt vom Rasieren auf Jacks Kinn, das definitiv nicht wie meines aussieht. Das ist nämlich zu groß, behaupten die Mädchen in der Schule und nennen mich »Männerschädel« wegen meines wuchtigen Kiefers und der großen Nase, größer jedenfalls als die von Jack, wie mir plötzlich auffällt, denn wir weisen keinerlei Ähnlichkeiten auf: er dünn, ich fett; er klein, ich groß; er rothaarig, ich naturblond.

Panik flattert in meiner Brust. Wir fahren jetzt, also kann ich nicht aus dem Wagen springen, lehne mich aber so weit wie möglich von Jack weg und starre unverwandt aus dem Fenster. Er ist nicht mein Vater. Ich sitze neben einem Fremden. Einem Lügner. Das Flattern wird zu einer Erschütterung, die die ganze Welt erbeben lässt. Ich klammere mich am Sitz fest und versuche, die Fassung zu bewahren. Da ist ein Gehweg. Da sind Leute. Pfützen. Ich sehe das alles und nehme es trotzdem nicht wahr. Als Jack etwas sagt, schrecke ich auf.

»Immerhin eine Sache, über die Andrew und ich uns einig sind. Das Wetter ist scheußlich.« Ich mache den Mund auf – doch nein, dass das klar ist, ich werde keinen Smalltalk mit dem Feind machen. Ich beiße mir auf die Zunge und sitze auf meinen Händen, bis sie zu prickeln beginnen. »Natürlich wird er morgen nicht kommen, da kannst du sicher sein. Männer wie Andrew haben nichts übrig für Kunst. Denen ist nicht zu helfen, was Tessie-T? Du hast doch bestimmt Anna gefragt, ob sie eine Karte möchte. Gran ist zu alt für so was, aber ich habe es Onkel Paul und Tante Susan gegenüber erwähnt, falls sie es einrichten können, dann sind wir schon ein paar mehr. Was ist los, Tess? Du bist so still.«

Jetzt prickelt auch der Rest von mir. Die Haut, die Knochen. Das Blut. »Alles in Ordnung.«

Jack verlangsamt, als wir die Schule erreichen. Er späht auf den Parkplatz und steuert dann geradewegs an der Einfahrt vorbei, denn – Teufel auch – er wird es wieder tun, obwohl ich ihm schon tausendmal gesagt habe, dass das absolut nicht erlaubt ist.

»Das ist doch lächerlich«, sagte er, als ich ihm den Brief vorlas, während er in irgendeiner rätselhaften Soße rührte, die er nach der Arbeit im Naturkostladen besorgt hatte, zusammen mit anderen, beliebig zusammengerafften Lebensmitteln. »Gib mal das Salz rüber, Helen. Diese Soße braucht ein Gegengewicht zur Süße der Pflaumen. Striktes Parkverbot an der Bushaltestelle zu jeder Tageszeit. Mrs Austin mag eine wunderbare Schulleiterin sein, aber hat sie sich mal den Parkplatz angesehen? Da geht überhaupt nichts mehr. Was erwartet die denn?«

»Dass du dich an die Regeln hältst«, erwiderte ich so leise, dass Jack es nicht hören konnte. Für ihn gelten weder Rezepte noch Regeln.

Er biegt links ab und hält exakt in der Mitte des Busparkplatzes, weil er sonst nirgendwo parken kann. Wut überschwemmt mein Gesicht und rast durch meinen Körper wie ein glühend heißer Tsunami.

»Nicht schlecht, was, Tessie-T?«, sagt er und merkt überhaupt nicht, welch eine Welle von Zorn ihm entgegenschlägt. Eigentlich müsste sie ihn jeden Moment aus den Latschen hauen, das schwöre ich. Ich warte darauf, dass es passiert, doch da ist nicht mal das leiseste Platschen. »Tür-zu-Tür-Service.«

Er schaut sich nach einer Stelle um, wo er mich rauslassen kann. Es gibt immer noch keine freie Parkbucht, aber auch keine Möglichkeit zurückzusetzen, denn jetzt ist ein Bus hinter uns, der die Ausfahrt blockiert. Also bleiben wir für eine Minute, die sich deutlich länger anfühlt als sechzig Sekunden, wo wir sind.

Als ich noch klein war, fand ich Autofahren mit Jack genauso toll wie mich im Bett zu verkriechen. Ich liebte es, mich nach der Schule unter meine Decke zu kuscheln. Das war meine Höhle. Mein Kokon. Genau wie das Auto.

»Unsere eigene kleine Welt auf Rädern«, pflegte Jack zu sagen und mich im Rückspiegel anzugrinsen, denn ich saß mit baumelnden Beinen im Kindersitz. Er stellte Musik ein und sang die Musicalsongs mit, sogar die weiblichen Rollen, um mich zum Lachen zu bringen. Was gäbe ich darum, jetzt diese Falsettstimme zu hören.

Endlich steigt eine Abgaswolke von einem Bus auf, der sich in Bewegung setzt. Sofort okkupiert Jack dessen Platz und schert sich nicht um das Hupen des Busses hinter uns. Kaum zieht er die Handbremse, öffne ich die Tür.

»Mach den Reißverschluss zu, Tess.« Normalerweise würde ich dieser Aufforderung nachkommen, doch heute zögere ich. »Nun mach schon. Gleich legt es los, und du willst doch nicht den ganzen Tag in einer nassen Schuluniform rumsitzen. Du wirst dich erkälten. Wir müssen an unseren Auftritt denken. Morgen ist Premiere. Du und dein alter Herr, was? Da willst du doch nicht mit Grippe im Bett liegen«, erklärt er mir, während ich mich schnäuzen und schniefen sehe. Die Vorstellung erheitert mich.

Ich wollte von Anfang an nicht mitmachen. Jack hatte durch seinen Freund Derek, der Regie führt, von dem Vorsprechen erfahren und mir davon erzählt, indem er sich mitten in meinem Blickfeld auf dem Kaffeetisch niederließ. Ich sah mir gerade Peinliche Körper im Fernsehen an, und es war diese interessante Stelle, wo sie, wie angekündigt, den Hodensack zeigten. Während Jack weiterquasselte, versuchte ich, ihm diskret über die Schulter zu schauen und hasste mich ein wenig dafür, dass ich unbedingt diese Hoden sehen wollte, die angeblich die Größe einer Orange hatten.

»Das Vorsprechen ist am Samstag«, sagte Jack, aber ich hörte nicht zu. Das Ding im Fernsehen hatte eher die Größe einer Melone, ungelogen. »Derek hat mich gefragt, ob ich dabei bin, und ich habe zugesagt. Mehr ein Gefallen für ihn. Ist ja bloß eine Amateuraufführung. Geld gibt’s natürlich auch nicht, nicht mal für die Profis. Aber das wird ein Spaß. Hab seit Hamlet auf keiner Bühne mehr gestanden. Das war im Abschlussjahr der Schauspielschule. Damals in den Achtzigern, als ich noch lange Haare hatte.«

»Ich mochte deine langen Haare«, sagte Mum. »Fliegende Locken und Shakespeare. Meine Vorstellung vom Paradies. Und ich hatte meine Haare rot gefärbt und einen Nasenstecker in Form einer Blume.« Sie lachte, und Jack lachte auch. »Dieser ganze Text, Liebling. Es ist mir ein Rätsel, wie du das alles behalten konntest. Weißt du noch – Yorick, das Maskottchen?«

»Ein Bursch von unendlichem Humor und Klebeband.« Ich liebte es, wie sie einander ansahen, meine Mum und mein Dad, noch immer zusammen nach so langer Zeit. »Er war gruselig, aber er war perfekt. Wo hattest du ihn noch mal her?«

»Von einem Marktstand in Oldham, wo ich diese schreckliche Lehrervertretung machen musste. Gott, die Kinder dort waren krass. Ich war auf dem Heimweg von der Schule. Die Aufführung war kurz vor Halloween, erinnerst du dich? Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ein Plastikschädel an einem Marktstand! Er war ein bisschen ramponiert, aber wir haben ihn wieder zusammengeflickt.«

»Und er hat gewirkt. Der Abend bekam großartige Besprechungen.«

»Du bekamst großartige Besprechungen, meinst du.«

»Ich muss ihn mal wieder raussuchen«, sagte Jack. »Er muss irgendwo auf dem Speicher sein.«

»Schön, dich wieder auf der Bühne zu sehen, Schatz.«

»Ja, ich freue mich schon darauf. Zumal die Auftragslage derzeit etwas mau ist. Ich wette, du wirst auch deinen Spaß haben, was, Tess? Peter Pan? Du und dein alter Herr auf den Brettern, die die Welt bedeuten?«

Er erwartete ein Ja von mir, also setzte ich ein fröhliches Gesicht auf und nickte. So lief das immer. Jack schlug etwas vor, und ich stimmte zu, weil ich ja meinem Schwur verpflichtet war, einem Schwur, den ich als Elfjährige geleistet hatte, als die Musik der Schulparty noch in meinen Ohren klang. Ich hatte einem fluffigen weißen Hund versprochen, ein besseres Mädchen zu sein, eine perfekte Tochter für meinen perfekten Dad. Seither habe ich an mir herumgemeißelt und versucht, etwas von dem alten Stein abzuklopfen, aber wie sehr ich mich auch zu verformen suchte, es gelang mir nie so richtig.

Inzwischen weiß ich auch, warum.

»Ich sag’s nicht noch mal, Tess. Und sieh mich bitte nicht so an. Du warst diejenige, die sich bei diesem Wetter für einen Rock entschieden hat. Wie absurd. Heute ist kein Rock-Wetter, und außerdem ist er …«, er hält inne und räuspert sich, »… zu kurz für meinen Geschmack.«

Ich werfe einen Blick auf meinen Rock. Er reicht mir fast bis zu den Knien.

»Hast du deinen Salat?«, fragt er, der Beweis, dass es hier nicht um die Länge, sondern um die Enge meines Rockes geht. »Ich will ja schließlich nicht, dass du hungern musst.«

Bisher hätte ich eine solche Lüge akzeptiert, aber heute durchschaue ich sie – das ist ein klarer Fall von Manipulation, denn im Grunde will er natürlich, dass ich hungere. Das ist schließlich der Zweck der Übung, wenn man mir statt Sandwiches Salat mit in die Schule gibt.

Er lächelt. »Ich hab ein bisschen Ananas reingetan.« Pause. »Es ist nur, weil Mitschüler ganz schön gemein sein können. Sie machen sich gegenseitig fertig. Dieser Rock. Ich will nicht, dass du auffällst, das ist alles. Dass du zur Zielscheibe wirst.«

»Was?«, schnaube ich laut.