Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims - Annabel Pitcher - E-Book

Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims E-Book

Annabel Pitcher

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Beschreibung

Eine beeindruckende Geschichte, die erzählt, wie es ist, zu trauern und zu lieben

Seit der zehnjährige Jamie das Spider-Man-T-Shirt von seiner Mutter geschenkt bekommen hat, wartet er nur darauf, dass sie ihn besucht und ihn darin bewundert. Schließlich hat sie das versprochen. Aber wie so vieles, was Erwachsene sagen, war auch das eine Lüge. Genauso wie jeder nach dem Tod seiner Schwester Rose beteuert hat, dass alles wieder gut werden würde. Stattdessen ist es eigentlich nur schlimmer geworden. Sein Vater trinkt und versinkt in Trauer. Seine Mutter ist verschwunden und meldet sich nicht mehr. Und seine Schwester hat beschlossen, nicht mehr zu essen. Dabei will Jamie nur, dass seine Familie wieder zueinander findet. Doch dann freundet er sich in der Schule mit Sunya an, und plötzlich nimmt sein Leben eine ganz andere Wendung.

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Seitenzahl: 293

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Annabel Pitcher

Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims

Roman

Ins Deutsche übertragen von Sibylle Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel»My Sister Lives on the Mantelpiece« bei Orion Children’s Books, London.

1. Auflage

Copyright © 2011 by Annabel PitcherCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-07689-4

www.goldmann-verlag.de

Für Mum und Dad, denen ich verdanke, dass ich hier bin.

1

Meine Schwester Rose lebt auf dem Kaminsims. Na gut, ein Teil von ihr. Drei Finger, ihr rechter Ellbogen und ihre Kniescheibe liegen in einem Grab in London. Mum und Dad haben sich furchtbar gestritten, als die Polizei nur noch zehn winzige Teile von ihr gefunden hatte. Mum wollte ein Grab, wo sie hingehen konnte. Dad wollte eine Einäscherung und die Asche ins Meer streuen. Das hat Jasmine mir erzählt. Sie kann sich besser erinnern. Ich war erst fünf, als es passiert ist. Jasmine war zehn. Sie war Rose’ Zwillingsschwester. Und für Mum und Dad bleibt Jasmine immer zehn. Nach der Beerdigung haben sie Jas jahrelang so wie Rose angezogen – Blümchenkleid, Strickjacke, flache Schuhe mit Schnallen. Und ich glaube, deshalb ist Mum vor einundsiebzig Tagen auch mit dem Mann aus der Trauergruppe abgehauen. Jas hat sich nämlich an ihrem fünfzehnten Geburtstag die Haare kurz schneiden und rosa färben und sich ein Nasenpiercing machen lassen. Danach hat sie gar nicht mehr wie Rose ausgesehen. Das haben meine Eltern nicht gepackt.

Beide haben fünf Teile bekommen. Mums Teile liegen in einem hübschen weißen Sarg, und auf einem hübschen weißen Grabstein steht »Mein Engel«. Dad hat ein Schlüsselbein, zwei Rippen, ein Stück vom Schädel und einen kleinen Zeh verbrennen lassen. Die Asche ist jetzt in einer goldenen Urne. Sie haben also beide gekriegt, was sie wollten, aber glücklicher sind sie deshalb nicht, was mich auch nicht wundert. Mum meint, der Friedhof sei zu deprimierend, sie könne da nicht hingehen. Und Dad will an jedem Jahrestag die Asche verstreuen, überlegt es sich dann aber jedes Mal anders. Immer wenn Rose ins Meer geschüttet werden soll, kommt irgendwas dazwischen. In dem einen Jahr in Devon wimmelte es von silbernen Fischen, die Rose scheinbar gleich fressen wollten. Ein andermal, in Cornwall, kackte eine Möwe auf die Urne, als Dad sie grade aufmachen wollte. Ich lachte, aber Jas sah so traurig aus, dass ich gleich wieder aufhörte.

Wir sind aus London weggezogen, um Abstand zu kriegen. Dad kannte einen, der wieder einen anderen kannte, und der hatte ihm was von einem Job im Lake District erzählt. In London hatte Dad schon ewig keine Arbeit mehr gehabt. Wir haben eine Rezession, das heißt, das Land hat kein Geld, und deshalb wird kaum was gebaut. Als Dad den Job in Ambleside bekam, verkaufte er unsere Wohnung und mietete ein kleines Haus. Mum blieb in London. Ich hatte mit Jas ganze fünf Pfund gewettet, dass Mum uns noch zum Abschied winken würde. Jas verlangte das Geld nicht, als ich verlor. Im Auto sagte sie, wir sollten Ich sehe was, was du nicht siehst spielen, aber als ich Es ist orange sagte, kam sie nicht mal auf Roger, obwohl der auf meinem Schoß saß und so laut schnurrte, als wollte er ihr einen Tipp geben.

Hier sieht es ganz anders aus als in London. Es gibt Berge, die so hoch sind, dass sie Gott in den Po pieken könnten, und haufenweise Bäume. Und es ist still. Hier sind keine Leute, sagte ich, als wir das Haus an der kurvigen Straße gefunden hatten und ich nirgendwo andere Kinder sah. Keine Muslime, verbesserte mich Dad und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Jas und ich lächelten nicht, als wir ausstiegen.

Unser Haus ist das genaue Gegenteil von unserer Wohnung in Finsbury Park. Es ist weiß statt braun, groß statt klein und alt statt neu. Mein Lieblingsfach in der Schule ist Kunst, und wenn ich Häuser als Menschen malen sollte, würde unser Haus eine verrückte alte Oma sein, die einen zahnlos angrinst. Die Wohnung in London wäre ein strenger Soldat zwischen Männern, die genau gleich aussehen. Mum würde diese Bilder bestimmt toll finden und sie ihren Schülern zeigen.

Obwohl Mum in London geblieben ist, bin ich froh, dass wir weggezogen sind. Ich hatte nur ein ganz kleines Zimmer, aber Rose’ Zimmer durfte ich nicht haben, weil sie tot ist und ihre Sachen heilig sind. Das kriegte ich immer zu hören, wenn ich danach fragte. Rose’ Zimmer ist heilig, James. Du darfst da nicht reingehen, James. Es ist heilig. Ich verstehe nicht, was an einem Haufen alter Puppen, einer müffelnden rosa Decke und einem abgegrapschten Teddybär so heilig sein soll. Ich fand nichts heilig, als ich einmal nach der Schule auf Rose’ Bett rumgehopst bin. Jas hat dann gesagt, ich soll aufhören, aber sie hat mich nicht verpetzt.

Als wir aus dem Auto stiegen, blieben wir stehen und schauten unser neues Haus an. Die Sonne ging grade unter, die Berge leuchteten orange, und ich sah unser Spiegelbild im Fenster – Dad, Jas und mich mit Roger auf dem Arm. Eine Millisekunde lang hatte ich so ein hoffnungsvolles Gefühl, als würden wir wirklich ein neues Leben anfangen und alles würde gut sein. Dad nahm einen Koffer und die Schlüssel und marschierte zur Tür. Jas grinste mich an, streichelte Roger und folgte Dad. Ich setzte Roger ab, und er lief gleich in einen Busch. Nur sein Schwanz guckte noch raus. Komm schon, rief Jas auf der Veranda und hielt mir die Hand hin, als ich zu ihr rannte. Dann gingen wir zusammen ins Haus.

Jas sah es zuerst. Ihr Arm wurde plötzlich so starr. Magst du einen Tee, fragte sie, aber ihre Stimme klang piepsig, und sie starrte auf irgendwas in Dads Hand. Dad kauerte im Wohnzimmer neben seinem Koffer, und seine Kleider lagen überall verstreut herum. Wo ist der Wasserkessel, fragte Jas, als sei alles ganz normal. Dad schaute nicht von der Urne auf. Er spuckte darauf und polierte sie mit dem Ärmel, bis das Gold glänzte. Dann stellte er meine Schwester auf den Kaminsims, der beige und staubig war und genau wie der in London aussah, und flüsterte Willkommen in unserem neuen Haus, mein Schatz.

Jas suchte sich das größte Zimmer aus. Es hat einen Kamin und einen begehbaren Schrank, in dem sie ihre ganzen neuen schwarzen Klamotten unterbringen kann. An die Deckenbalken hat sie ein Windspiel gehängt, das klirrt, wenn man draufpustet. Mir gefällt mein Zimmer besser. Durchs Fenster kann man in den Garten schauen, auf einen alten Apfelbaum und einen Teich, und Jas hat ein Kissen auf das breite Fenstersims gelegt. Am ersten Abend im Haus saßen wir da ganz lange und guckten zu den Sternen hoch. In London habe ich die nie gesehen, da gibt es zu viel Licht von den Autos und Häusern. Aber hier leuchten die Sterne richtig hell, und Jas hat mir die Konstellationen erklärt. Sie kennt sich mit Horoskopen aus und liest ihres jeden Morgen im Internet. Da steht drin, was an diesem Tag passieren wird. Aber dann ist es doch keine Überraschung mehr, sagte ich mal zu ihr, als wir noch in London wohnten und Jas auf krank machte, weil im Horoskop stand, dass irgendwas passieren würde. Darum geht’s ja grade, sagte sie, ging wieder ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf.

Jas ist Zwilling im Sternzeichen, was komisch ist, denn sie hat ja keinen Zwilling mehr. Ich bin Löwe. Als wir auf dem Kissen saßen, zeigte Jas mir den Löwen am Himmel. Hatte nicht viel Ähnlichkeit mit dem Tier, aber Jas meinte, immer wenn es mir schlecht geht, soll ich an den silbrigen Löwen am Himmel denken, dann würde alles gut. Ich wollte sie eigentlich fragen, weshalb sie mir das erzählte, denn Dad hatte uns doch versprochen, dass jetzt alles anders werden würde. Aber als mir die Urne auf dem Kaminsims wieder einfiel, traute ich mich nicht mehr zu fragen. Am nächsten Morgen sah ich eine leere Wodkaflasche im Mülleimer und wusste, dass unser Leben im Lake District genauso sein würde wie in London.

Das war vor zwei Wochen. Inzwischen hat Dad noch das alte Fotoalbum und ein paar Klamotten ausgepackt. Die Umzugsmänner haben die großen Sachen wie Betten und Sofa aufgebaut, und Jas und ich haben alles andere aus den Kartons geholt. Nur die Kisten, auf denen HEILIG steht, haben wir nicht angerührt. Die stehen im Keller unter einer Plastikplane, für den Fall, dass es eine Überschwemmung oder so was gibt. Als wir die Kellertür zumachten, kriegte Jas nasse Augen, und ihre schwarze Schminke verlief. Macht es dir nichts aus, fragte sie. Nein, sagte ich. Warum nicht, fragte sie, und ich antwortete, Weil Rose tot ist. Jas sah aus, als wollte sie gleich losheulen. Sag das nicht, Jamie.

Ich verstehe nicht, weshalb ich das nicht sagen soll. Tot. Tot. Tot tot tot. Verschieden, sagt Mum. An einem schöneren Ort, nennt es Dad. Ich weiß nicht, warum er das so sagt, er geht nämlich nie in die Kirche. Aber vielleicht meint er mit dem besseren Ort gar nicht den Himmel, sondern einen Sarg oder eine goldene Urne.

Meine Therapeutin in London meinte, ich würde verleugnen und hätte den Schock nicht verarbeitet. Eines Tages ist es so weit, dann wirst du weinen, hat sie auch noch gesagt. Scheinbar habe ich seit dem neunten September vor fünf Jahren, als es passiert ist, nicht geweint. Letztes Jahr haben Mum und Dad mich dann zu dieser fetten Frau geschickt, weil sie es merkwürdig fanden, dass ich wegen Rose nicht weinte. Am liebsten hätte ich sie gefragt, ob sie wegen jemandem weinen würden, an den sie sich nicht erinnern konnten. Aber das habe ich mir dann verkniffen.

Das scheinen die alle nicht zu kapieren. Ich kann mich nicht an Rose erinnern. Zumindest nicht richtig. Ich erinnere mich an zwei Mädchen, die in den Ferien Wellenspringen gespielt haben, aber ich weiß nicht mehr, wo das war und ob es Rose Spaß gemacht hat. Und ich weiß, dass meine Schwestern bei der Hochzeit einer Nachbarin Brautjungfern waren, aber ich sehe nur noch die Smarties-Rolle vor mir, die Mum mir beim Gottesdienst gegeben hat. Damals fand ich auch schon die roten Smarties am leckersten und hielt sie so lange in der Hand, bis meine Haut rosa wurde. Aber ich weiß nicht mehr, was Rose anhatte, oder wie sie aussah, als sie durch die Kirche ging und all das. Als ich Jas dann nach der Beerdigung fragte, wo Rose jetzt sei, deutete sie auf die Urne auf dem Kaminsims. Wie kann ein Mädchen da reinpassen, fragte ich, und Jas fing an zu weinen. Das hat sie mir so erzählt. Daran kann ich mich nämlich auch nicht erinnern.

Einmal sollten wir als Hausaufgabe einen ganz besonderen Menschen schildern, und ich habe in einer Viertelstunde eine ganze Seite über Wayne Rooney von Manchester United geschrieben. Mum hat mich gezwungen, die Seite aus dem Heft zu reißen und stattdessen etwas über Rose zu schreiben. Aber mir fiel nichts zu ihr ein. Deshalb setzte Mum sich dann mit verheultem Gesicht zu mir und diktierte mir alles. Sie lächelte mit Tränen in den Augen und sagte: Als du auf die Welt kamst, hat Rose auf deinen Pimmel gezeigt und gefragt, ob das ein Wurm sei. Ich sagte Das schreib ich nicht in mein Heft. Mum hörte auf zu lächeln. Die Tränen tropften ihr von der Nase aufs Kinn, und ich kriegte ein schlechtes Gewissen und schrieb das doch hin. Ein paar Tage später las die Lehrerin meinen Aufsatz in der Klasse vor und gab mir ein Goldsternchen dafür. Und alle lachten mich aus und nannten mich Wurmpimmel.

2

Morgen habe ich Geburtstag, und eine Woche später gehe ich dann zum ersten Mal in meine neue Schule, die Ambleside Church of England Primary School. Die ist etwa drei Kilometer von unserem Haus weg, Dad muss mich also hinfahren. Ich kann hier nicht wie in London in den Bus oder die U-Bahn steigen, wenn Dad zu betrunken ist, um Auto zu fahren. Jas meint, wenn uns niemand mitnimmt, geht sie mit mir zu Fuß. Ihre Schule ist noch fast zwei Kilometer weiter entfernt. Dann werden wir wenigstens schön dünn, sagte sie, und ich guckte auf meine Arme und sagte Bei Jungen ist dünn aber blöd. Jas ist total schlank, aber sie isst trotzdem nur wie ein Spatz und liest auf irgendwelchen Packungen immer stundenlang die Kalorienangaben. Heute hat sie mir einen Geburtstagskuchen gebacken. Sie meint, es sei ein gesunder, mit Margarine statt Butter und kaum Zucker. Wahrscheinlich schmeckt er komisch, aber er sieht gar nicht so schlecht aus. Ich darf ihn dann morgen anschneiden, weil morgen mein großer Tag ist.

Ich habe heute schon mal nach der Post geschaut, aber da war nichts außer einem Prospekt von einem Lieferservice, The Curry House, den ich versteckt habe, damit Dad sich nicht aufregt. Kein Geschenk von Mum. Auch keine Postkarte. Aber morgen kann ja auch noch was kommen. Sie vergisst es bestimmt nicht. Bevor wir aus London weggezogen sind, habe ich eine Umzugskarte gekauft und sie ihr geschickt. Ich habe nur meinen Namen und unsere neue Adresse draufgeschrieben. Mehr fiel mir nicht ein. Mum wohnt jetzt in Hampstead, mit diesem Mann aus der Trauergruppe. Er heißt Nigel. Bei so einem Gedenktreffen in London habe ich ihn mal gesehen. Hat einen langen zottigen Bart und eine Hakennase und raucht Pfeife. Er schreibt Bücher über andere Leute, die Bücher geschrieben haben, was ich sinnlos finde. Seine Frau ist auch am neunten September gestorben. Vielleicht will Mum ihn heiraten. Vielleicht kriegen sie dann noch ein Mädchen, das sie Rose nennen, und dann werden sie mich und Jas und Nigels erste Frau vergessen. Ich frage mich, ob Nigel wohl auch Teile von ihr bekommen hat. Vielleicht hat er eine Urne auf seinem Kaminsims stehen, der er dann am Hochzeitstag Blumen kauft. Das würde Mum bestimmt nicht toll finden.

Grade ist Roger in mein Zimmer gekommen. Er schläft gern nachts bei der Heizung, weil es da warm ist. Roger gefällt es gut hier. In London konnte er wegen der Autos nie raus. Hier darf er frei rumlaufen, und im Garten gibt es jede Menge Tiere, die er jagen kann. An unserem dritten Tag hier habe ich morgens etwas Kleines, Graues auf der Türschwelle gefunden. Es war eine Maus, glaube ich, und sie war tot. Ich wollte sie nicht anfassen, deshalb habe ich mir ein Blatt Papier geholt, sie mit einem Ast draufgeschoben und in den Abfalleimer geworfen. Aber dann fand ich das fies, also habe ich sie wieder rausgeholt, unter die Hecke gelegt und mit Gras bedeckt. Roger miaute die ganze Zeit, als sei er beleidigt, weil er sich doch solche Mühe gegeben hatte. Ich erklärte ihm, dass ich tote Sachen nicht ausstehen kann, und er rieb sein oranges Fell an meinem rechten Schienbein, als Zeichen, dass er mich verstanden hatte. Es stimmt. Ich fürchte mich grässlich vor toten Tieren. Das klingt zwar echt gemein, aber ich bin froh, dass Rose in Einzelteilen gefunden wurde, wenn sie schon sterben musste. Ich fände es viel schlimmer, wenn sie steif und kalt in der Erde liegen und dabei noch aussehen würde wie das Mädchen auf den Fotos.

Ich glaube schon, dass meine Eltern früher glücklich waren. Auf den Fotos grinsen sie immer und haben ganz kleine Augen, als wenn jemand gerade einen super Witz erzählt hätte. Als wir noch in London waren, hat Dad stundenlang auf diese Fotos gestarrt. Es gab Hunderte, alle vor dem neunten September aufgenommen. Sie lagen durcheinander in fünf Kartons. Vier Jahre nach Rose’ Tod beschloss Dad, die Fotos zu ordnen. Die ältesten sortierte er nach hinten, die neuesten nach vorne. Er kaufte zehn von diesen teuren Fotoalben aus Leder mit Goldschrift vorne drauf und klebte monatelang abends diese Bilder ein. In dieser Zeit redete er mit keinem und trank und trank und trank. Aber weil er so viel trank, wurden die Fotos schief, und er musste die Hälfte am nächsten Tag noch mal rausreißen. Wahrscheinlich hat Mum damals mit dieser Affäre angefangen. Das Wort habe ich im Fernsehen gehört, aber ich hätte nie gedacht, dass Dad es mal Mum an den Kopf werfen würde. Das war ein echter Schock. Ich wäre nie auf so eine Idee gekommen, auch nicht als Mum erst zweimal in der Woche, dann dreimal und später noch viel öfter in die Trauergruppe ging.

Beim Aufwachen weiß ich manchmal nicht mehr, dass sie weg ist, und wenn es mir einfällt, erschrecke ich, so wie wenn man auf der Treppe eine Stufe übersieht oder über den Bordstein stolpert. Dann erinnere ich mich wieder und sehe alles, was an Jas’ Geburtstag passiert ist, so deutlich vor mir wie auf einem dieser HD-Fernseher, die Mum als Geldverschwendung bezeichnet hat, als ich mir letztes Jahr einen zu Weihnachten wünschte.

Jas kam zu ihrer eigenen Geburtstagsfeier eine Stunde zu spät. Mum und Dad stritten sich. Christine hat gesagt, du wärst nicht mir ihr zusammen gewesen, sagte Dad gerade, als ich in die Küche kam. Ich hab sie angerufen. Mum sank auf einen Stuhl neben den Sandwiches, was ich schlau von ihr fand, weil sie dann als Erste aussuchen durfte. Es gab welche mit Rindfleisch und mit Hühnchen und andere mit einem gelben Belag, von dem ich hoffte, dass es Käse und nicht Eiersalat war. Mum hatte ein Partyhütchen auf, aber ihre Mundwinkel hingen so herunter wie bei diesen traurigen Clowns im Zirkus. Dad machte den Kühlschrank auf, holte sich ein Bier raus und knallte die Tür wieder zu. Auf dem Küchentisch standen schon vier leere Dosen. Wo zum Teufel hast du gesteckt, fragte er jetzt. Mum machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber in diesem Moment knurrte mein Magen ganz laut. Mum zuckte zusammen, und die beiden fuhren herum und starrten mich an. Kann ich welche von den kleinen Würstchen haben, fragte ich.

Dad grunzte und griff nach einem Teller. Obwohl er so wütend war, schnitt er sorgfältig ein Stück Torte ab und packte noch Würstchen, Sandwiches und Chips auf den Teller. Dann mischte er mir ein Glas Tritop mit schön viel Sirup, so wie ich es mag. Als er fertig war, wartete ich darauf, dass er mir beides geben würde. Aber er ging an mir vorbei zum Kamin im Wohnzimmer, und das machte mich total wütend. Dass tote Schwestern keinen Hunger mehr haben, weiß doch wohl jeder. Als ich grade dachte, mein Magen würde sich selbst aufessen, ging die Haustür auf. Du kommst zu spät, brüllte Dad. Mum keuchte nur erschrocken. Jas lächelte nervös. An ihrer Nase funkelte ein Diamantstecker, und ihre Haare waren so pink wie Kaugummi. Ich lächelte auch, aber dann WUMM gab es einen Riesenknall, als Dad den Teller fallen ließ und Mum zischte Was soll denn das.

Jas lief feuerrot an. Dad schrie irgendwas von Rose, zeigte auf die Urne und verschüttete dabei Tritop auf dem Teppich. Mum stiegen Tränen in die Augen, während sie Jas anstarrte. Ich stopfte mir schnell zwei Partywürstchen in den Mund und versteckte ein Brötchen unter meinem T-Shirt.

Tolle Familie, knurrte Dad und schaute von Jas zu Mum. Ich verstand nicht, warum er so traurig aussah. Jas hatte nur eine andere Frisur, und Mum hatte doch gar nichts falsch gemacht. Roger leckte Torte vom Teppich und fauchte wütend, als Dad ihn am Nacken packte und in den Flur rausschmiss. Jas rannte in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Während Dad mit zitternden Händen Rose’ Geburtstagsessen vom Teppich klaubte, schlang ich schnell ein Sandwich und drei Brötchen runter. Mum starrte auf die Tortenflecken auf dem Teppich. Das ist alles meine Schuld, murmelte sie. Ich schüttelte den Kopf. Er hat es doch fallen lassen, nicht du, flüsterte ich und deutete auf den Tritop-Fleck.

Dad feuerte die Reste mit einem Riesenkrach in den Mülleimer und fing wieder an herumzuschreien. Mir taten die Ohren weh, und ich lief zu Jas in ihr Zimmer. Sie saß vor dem Spiegel und zupfte an ihren grellrosa Haaren herum. Ich gab ihr das Brötchen, das ich unter dem T-Shirt hatte. Du siehst echt hübsch aus, sagte ich, aber sie fing an zu weinen. Mädchen sind echt komisch.

Später gab Mum alles zu. Jas und ich hockten auf dem Bett und lauschten, was nicht schwer war. Mum schluchzte laut, und Dad brüllte. Jas heulte sich die Augen aus, aber meine blieben trocken. AFFÄRE, schrie Dad immer wieder, als müsse er das Wort so oft wiederholen, um es zu kapieren. Mum sagte Du verstehst mich nicht, und Dad antwortete Aber Nigel, wie? Dann sagte Mum Jedenfalls besser als du. Wir reden miteinander. Er hört mir zu. Er macht mich … Sie sprach nicht mehr weiter, weil Dad laut fluchte.

So ging es ewig weiter. Mein linker Fuß schlief ein. Dad stellte zig Fragen. Mum schluchzte immer lauter. Dad sagte, sie habe ihn belogen und betrogen, und das sei nun der Gipfel. Mum versuchte, sich zu verteidigen, aber Dad schrie noch lauter. Hast du dieser Familie nicht schon genug angetan, brüllte er. Da hörte Mum plötzlich mit dem Weinen auf und sagte etwas, das wir nicht hören konnten. Was, sagte Dad erschrocken. Was hast du gesagt.

Schritte im Flur. Mums Stimme, leise, direkt vor der Tür zu Jas’ Zimmer. Ich halte das nicht mehr aus, sagte sie, und ihre Stimme hörte sich an, als sei sie tausend Jahre alt. Jas packte meine Hand. Es ist besser, wenn ich gehe, sagte Mum jetzt. Mir taten die Finger weh, weil Jas sie zusammenquetschte. Besser für wen, fragte Dad. Besser für alle, antwortete Mum.

Jetzt fing Dad an zu weinen. Er bat Mum hierzubleiben. Er entschuldigte sich für alles. Stellte sich in die Wohnungstür, aber Mum sagte Geh mir aus dem Weg. Dad flehte sie an, ihm noch eine Chance zu geben. Er versprach, sich mehr Mühe zu geben, die Fotos wegzupacken und sich Arbeit zu suchen. Als Mum rausging, schrie er Ich hab schon Rose verloren, ich kann nicht auch noch dich verlieren. Wir brauchen dich. Und Mum antwortete aber nicht so sehr, wie ich Nigel brauche. Als sie weg war, schlug Dad so heftig an die Wand, dass er sich einen Finger brach und vier Wochen und drei Tage einen Verband tragen musste.

3

Die Post ist noch nicht da. Es ist dreizehn nach zehn, und seit hundertsiebenundneunzig Minuten bin ich zweistellig. Vor einer Sekunde habe ich was an der Tür gehört, aber es war nur der Milchmann. In London mussten wir unsere Milch selbst kaufen. Und sie war immer alle, weil man zum Supermarkt eine Viertelstunde fahren musste und Dad sich weigerte, in dem Laden bei uns in der Straße einzukaufen, weil der Muslimen gehörte. Ich hatte mich irgendwann an trockene Cereals gewöhnt, aber Mum jammerte immer, weil sie Milch für ihren Tee brauchte.

Bis jetzt sind meine Geschenke nicht so toll. Von Dad habe ich Fußballschuhe bekommen, die mir anderthalb Größen zu klein sind. Ich trage sie jetzt, und meine Zehen fühlen sich an wie in einer Mausefalle. Dad hat zum ersten Mal seit Ewigkeiten gelächelt, als ich die Schuhe angezogen habe. Ich wollte ihm nicht sagen, dass sie zu klein sind, weil er den Kassenzettel bestimmt schon weggeworfen hat. Deshalb habe ich so getan, als würden sie passen. Ich werde sie ohnehin kaum anziehen, weil mich keine Mannschaft aufnimmt. In meiner Schule in London habe ich es jedes Jahr wieder probiert, aber es hat nie geklappt – bis auf das eine Mal, als Mr. Jackson mich ins Tor stellte. Ich hatte Dad gebeten, dass er zum Spiel kommt, und er wuschelte mir durch die Haare, als sei er stolz auf mich. Wir haben dann dreizehn zu null verloren, aber ich war nur an sechs Toren schuld. Als das Spiel anfing, war ich enttäuscht, weil Dad nicht da war, aber am Ende war ich dann froh drüber.

Von Rose habe ich ein Buch bekommen. Wie üblich lag ihr Geschenk neben der Urne im Wohnzimmer. Ich hätte fast laut gelacht, als ich es da liegen sah, weil ich mir vorstellte, wie die Urne Arme, Beine und einen Kopf bekam und zum Laden marschierte, um mir ein Geschenk zu kaufen. Aber Dad schaute mich ernsthaft an, also riss ich das Papier auf und versuchte, nicht enttäuscht auszusehen, weil ich das Buch schon kannte. Ich lese ziemlich viel. In London ging ich in der Mittagspause immer in die Schulbücherei. Bücher sind bessere Freunde als Menschen, sagte der Bibliothekar. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Luke Branston war vier Tage lang mein Freund, als er sich mit Dillon Sykes zerstritten hatte, weil der sein Lineal von FC Arsenal zerbrochen hatte. Luke und ich saßen dann beim Essen zusammen und spielten Trumpfkarten auf dem Spielgelände, und fast eine ganze Woche lang nannte mich niemand mehr Wurmschwanz.

Jas wartet unten auf mich. Wir wollen gleich in den Park gehen und Fußball spielen. Jas hatte Dad gefragt, ob er mitkommt. Dann kannst du sehen, wie Jamie seine neuen Schuhe ausprobiert, sagte sie, aber Dad grunzte nur und schaltete den Fernseher ein. Er sah verkatert aus, und als ich in den Abfalleimer schaute, lag eine leere Wodkaflasche drin. Jas flüsterte mir zu Wir brauchen ihn nicht und rief dann Los, wir gehen spielen, als gäbe es nichts Tolleres auf der Welt.

Jetzt hat sie grade von unten gerufen, ob ich fertig bin. Gleich, habe ich geantwortet, aber ich sitze immer noch auf dem Fensterbrett, weil ich auf die Post warte. Sie kommt immer zwischen zehn und elf. Ich glaube nicht, dass Mum meinen Geburtstag vergessen hat. Wichtige Geburtstage sind in meinem Gedächtnis so unauslöschlich, als hätte man sie mit einem Paketstift an ein Whiteboard geschrieben. Aber vielleicht ist Mum anders, seit sie mit Nigel zusammen ist. Vielleicht hat Nigel eigene Kinder, und Mum hat jetzt deren Geburtstage im Kopf.

Von Oma werde ich auf jeden Fall was kriegen. Oma lebt in Schottland, wo auch Dad herkommt, und sie vergisst nie was, obwohl sie schon einundachtzig ist. Ich würde sie gern öfter sehen, weil sie der einzige Mensch ist, vor dem Dad Angst hat und der ihn vielleicht vom Trinken abbringen könnte. Dad fährt nie mit uns zu ihr, und sie kann uns nicht mehr besuchen kommen, weil sie zu alt ist. Ich glaube, ich bin Oma ziemlich ähnlich. Sie hat rote Haare und Sommersprossen und ist so tough wie ich. Bei Rose’ Begräbnis war Oma der einzige Mensch außer mir in der Kirche, der nicht geweint hat. Das hat Jas mir erzählt.

Der Park ist über einen Kilometer von unserem Haus weg, und wir sind fast den ganzen Weg gerannt. Ich habe gemerkt, dass Jas wieder Kalorien verbrennen wollte. Wenn wir fernsehen, reißt sie manchmal plötzlich ihr Bein hoch, und nach der Schule macht sie immer endlos Sit-ups. Sie sah echt komisch aus, wie sie mit ihren rosa Haaren und dem langen schwarzen Mantel an den Schafen vorbeilief, die sie anglotzten und Bäääh machten. Ich hielt immer noch Ausschau nach dem Postboten, weil es schon fast elf war und ich ihn noch nicht gesehen hatte.

Als wir in den Park kamen, saßen auf den Schaukeln drei Mädchen. Sie starrten uns an, und ihre Blicke fühlten sich wie Brennnesseln an. Ich wurde rot und blieb am Tor zum Spielplatz stehen. Jas kümmerte sich nicht um die Mädchen, sondern lief an ihnen vorbei und stellte sich mit ihren pechschwarzen Stiefeln auf eine Schaukel. Die Mädchen guckten sie an, als sei sie ein Monster, aber Jas schaukelte ganz wild und hoch und lächelte dabei, als könne nichts ihr Angst einjagen.

Jas versteht mehr von Musik als von Fußball, und es war nicht schwer, sie zu schlagen – sieben zu zwei. Mein bester Treffer war ein Volleyschuss mit links. Jas meint, dieses Jahr könnte ich es in die Schulmannschaft schaffen. Sie hat gesagt, meine neuen Schuhe seien echte Zauberschuhe, mit denen könnte ich spielen wie Wayne Rooney. Meine Zehen kribbelten wirklich, als seien sie verzaubert worden, und einen Moment lang dachte ich, dass Jas recht hätte. Aber dann merkte ich, dass der Fuß blau angelaufen war, weil das Blut abgeklemmt war. Sind die Schuhe zu klein, fragte Jas, und ich antwortete Nein, sie sind prima.

Auf dem Rückweg war ich ziemlich aufgeregt. Jas erzählte mir von den ganzen Piercings, die sie noch haben wollte, aber ich konnte immer nur an die Fußmatte im Flur denken. Ich stellte mir vor, dass ein Paket draufstand. Ein großes Paket, in glänzendes Geschenkpapier verpackt, mit einer Fußballkarte obendrauf. Ohne Nigels Namen, aber mit vielen Küssen von Mum.

Als ich die Haustür aufmachte, merkte ich sofort, dass was nicht stimmte. Sie ging zu leicht auf. Zuerst wagte ich es nicht mal, nach unten zu gucken. Ich dachte daran, was Oma immer sagt. Dass in kleinen Päckchen die wertvollsten Sachen stecken. Ich versuchte, mir all die kleinen Sachen vorzustellen, die auch toll wären, obwohl sie nicht die Tür blockierten. Aber irgendwie war das einzig Kleine, woran ich denken konnte, Rogers tote Maus, und davon wurde mir übel, also hörte ich mit Denken auf.

Ich schaute auf die Fußmatte. Da lag ein Brief. Mit der schnörkligen Handschrift von Oma. Obwohl ich schon merkte, dass nichts darunter lag, schob ich den Brief mit der Fußspitze zur Seite. Vielleicht hatte Mum ja irgendwas wirklich Winziges wie einen Button von Manchester United oder einen Radiergummi oder so was geschickt.

Ich merkte, dass Jas mich beobachtete, und schaute zu ihr hoch. Als ich mal erlebt hatte, wie ein Hund auf eine Straße mit viel Verkehr rauslief, hatte ich erschrocken den Kopf eingezogen und die Augen aufgerissen. So sah Jas jetzt aus, als ich auf die Matte schaute. Ich bückte mich rasch, riss den Umschlag von Oma auf und lachte übertrieben laut, als zwanzig Pfund auf den Boden flatterten. Überleg doch mal, was du davon für coole Sachen kaufen kannst, sagte Jas, und ich war froh, dass sie mich nichts fragte, weil ich nämlich einen riesengroßen Kloß im Hals hatte.

Aus dem Wohnzimmer hörten wir, wie eine Dose aufgemacht wurde, und Jas hustete, um zu vertuschen, dass Dad an meinem besonderen Tag Bier trank. Komm, lass uns Kuchen essen, sagte sie und zog mich in die Küche. Kerzen waren keine da, dafür steckte Jas ein paar von ihren Räucherstäbchen in die Torte. Ich kniff die Augen fest zu und wünschte mir, dass Mums Geschenk bald ankommen würde. Ich wünschte mir das größte Paket der Welt, so schwer, dass der Postbote davon einen Hexenschuss kriegen würde. Dann machte ich die Augen wieder auf. Jas lächelte mich an. Ich kam mir ein bisschen egoistisch vor und wünschte mir rasch noch, dass Jas ihr Nabelpiercing kriegen sollte, bevor ich tief Luft holte. Die Stäbchen gingen nicht aus, überall war nur Rauch, und deshalb werden meine Wünsche wohl auch nicht erfüllt werden.

Ich schnitt den Kuchen ganz vorsichtig an, um ihn nicht kaputt zu machen. Er schmeckte wie salziger Pfannkuchen. Echt lecker, sagte ich, und Jas lachte. Sie wusste, dass ich flunkerte. Sie rief Dad, willst du auch Kuchen, aber niemand antwortete. Dann fragte sie Fühlst du dich jetzt älter, und ich sagte Nee, weil sich nichts verändert hat. Auch wenn mein Alter jetzt zweistellig ist, fühle ich mich wie mit neun. Ich bin genau so wie in London. Jas auch. Und Dad. Er war nicht auf der Baustelle, obwohl der Mann ihm in zwei Wochen fünf Nachrichten auf Band gesprochen hat.

Jas knabberte an einem winzigen Stück Kuchen und fragte, ob ich mein Geschenk haben wolle. Als wir die Tür zu ihrem Zimmer aufmachten, klingelte das Windspiel. Jas sagte Ich hab’s nicht eingepackt und gab mir eine weiße Plastiktüte. Ich holte ein Zeichenbuch und echt schöne Stifte raus, die tollsten, die ich je gesehen habe. Die erste Zeichnung mach ich von dir, sagte ich. Jas streckte die Zunge raus und schielte. Nur wenn du mich so zeichnest.

Nach dem Mittagessen schauten wir Spider-Man. Das ist der beste Film aller Zeiten. Wir hatten die Vorhänge zugezogen, obwohl es erst Nachmittag war, und kuschelten uns in Jas’ Bettdecke. Roger rollte sich auf meinem Schoß ein. Er ist eigentlich mein Kater. Ich versorge ihn. Früher hat er Rose gehört. Sie hat ewig gebettelt, dass sie ein Haustier haben wollte, und als sie sieben war, hat Mum es erlaubt. Sie hat das Kätzchen in einen Karton gesetzt und eine Schleife obendrauf geklebt, und als Rose ihr Geschenk auspackte, schrie sie vor Freude. Diese Geschichte hat Mum mir bestimmt hundertmal erzählt. Ich weiß nicht, ob sie vergessen hatte, dass ich sie schon kenne, oder ob sie sie einfach noch mal erzählen wollte. Aber sie hat dabei gelächelt, und deshalb habe ich sie reden lassen. Es wäre super, wenn Mum mir ein Tier zum Geburtstag schenken würde. Am liebsten hätte ich eine Spinne. Die könnte mich beißen, und dann hätte ich solche Superkräfte wie Spider-Man.

Als ich nach dem Film runterging, war der Kuchen fast weg. Ein einziges Stück lag noch auf dem Teller, aber das war nicht ordentlich abgeschnitten, wie ich es gemacht hatte, sondern ganz zerstückelt. Ich ging ins Wohnzimmer. Dad lag schnarchend auf dem Sofa, und an seinem Doppelkinn hingen Krümel. Auf dem Boden lagen drei leere Bierdosen, und an einem Kissen lehnte eine Wodkaflasche. Er hatte anscheinend gar nicht gemerkt, dass der Kuchen komisch schmeckte, weil er so betrunken war. Ich wollte grade wieder nach oben gehen, als mir etwas auffiel. Neben der Urne stand ein Stück Kuchen. Das machte mich irgendwie total sauer. Ich ging zu Rose rüber, und obwohl ich weiß, dass sie tot ist und nichts mehr hören kann, flüsterte ich Heute hab ich Geburtstag, nicht du, und stopfte mir den Kuchen in den Mund.

Zwei Tage später saß ich hinten im Garten, zeichnete den Goldfisch im Teich und versuchte, nicht dauernd auf den Postboten zu lauern. Ich sagte mir immer wieder, dass kein Paket mehr kommen würde, doch sobald ich Schritte auf dem Weg hörte, rannte ich sofort ins Haus. Ein paar Briefe fielen auf die Türmatte. Nichts von Mum. Aber dann klopfte es an der Tür, und ich riss sie so schnell auf, dass der Postbote erschrocken zusammenzuckte. Ein Päckchen für James Matthews, sagte er, und meine Hände zitterten, als ich es ihm abnahm. Unterschreib hier, sagte der Postbote, und er hörte sich so gelangweilt an, als wisse er nicht, dass grade etwas Wunderbares passierte. Ich kam mir vor wie Wayne Rooney und unterschrieb so schnörklig, als gäbe ich ein Autogramm. Dann drehte sich der Postbote um und ging ganz normal weg, worüber ich froh war. Ich hatte nämlich kurz Angst, Wünsche könnten in Erfüllung gehen. Dann hätte der Postbote einen Hexenschuss gekriegt.