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"Die Wahrheit einer Geschichte ist immer die Geschichte dieser Wahrheit", sagt Erwin Wiederkehr, der rätselhafte Komplize Schweighausers in diesem Roman. Aber was heißt schon Wahrheit? Vor allem, wenn es um Zeitungsnachrichten geht. Gibt es nicht falsche Wahrheiten und ebenso wahre Lügen? Verwirrung herrscht. Am Ende ist alles ganz anders und die Wahrheit bleibt auf der Strecke. Armin Schweighauser, gelangweilter Korrektor eines Zeitungsverlages, beschließt eines Tages, seinem freudlosen Dasein 'buchstäblich' ein Ende zu setzen. Er beginnt, die Nachrichten zu fälschen. Derweilen rumort es hinter den Kulissen des Verlags. Als sich Schweighauser auf das zweifelhafte Angebot Wiederkehrs einlässt, sein falsches Spiel unter neuen Vorzeichen fortzusetzen, und ein Todesfall sein Treiben in neue Bahnen lenkt, beginnt sein Verhängnis.
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Seitenzahl: 431
Veröffentlichungsjahr: 2016
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«Die Welt in ihrem Äusseren verändern könnten die Korrektoren, wären sie nicht mit Händen und Füssen an ein weitaus gebieterisches Regelwerk gefesselt, als es das Strafgesetzbuch ist, sie könnten auf Erden das Reich des Glücks errichten, Trank spendend dem Dürstenden, Speise den Hungernden, Friede dem Unruhvollen, Freude den Traurigen, Begleitung den Einsamen, Hoffnung dem Hoffnungslosen, geschweige die behende Leichtigkeit, mit der alles Elend und alle Verbrechen sich ausrotten liessen, sie brächten das alles schlicht durch den Austausch von Wörtern zuwege, und sofern einer diese neuen handwerklichen Leistungen in Zweifel zieht, möge er sich nur daran erinnern, dass auf diese Weise die Welt erschaffen wurde, und so auch der Mensch, mit Worten, mit ganz bestimmten und nicht anderen, damit es so sei und nicht anders. Es werde, sprach der Herrgott, und schon war es getan und vollbracht.»
José Saramago
(Aus: Geschichte der Belagerung von Lissabon)
Deleatur. Armin Schweighauser strich den fehlerhaften Buchstaben im Wort kommatös und setzte das Korrekturzeichen an den rechten Rand der Zeile. Danach begannen die Worte auf der vor ihm liegenden Korrekturfahne zu verschwimmen. Der Text verwandelte sich in eine trübschwarze, zähflüssige Buchstabensuppe und trieb wie ein Brei über das weisse Papier. Schweighauser schloss seine Lider, um seinen Augen ein wenig Erholung zu verschaffen, doch nach dem Wiederöffnen begannen sich die Zeilen erneut übereinander zu schieben, wanderten von oben nach unten über das Papier wie in einem Abspann eines zu Ende gegangenen Films. Fin. Fine. The End.
Noch einmal schloss Schweighauser seine Augen, lehnte sich ein wenig zurück und nahm sich vor, beim Wiederöffnen seinen Blick auf das Fenster vor ihm zu richten und die Weite zu suchen. Das half zuweilen gegen die bekannten Anzeichen von Übermüdung nach einer länger anhaltenden und ohne Pause durchgeführten Korrekturarbeit. Die anfänglich beunruhigenden Symptome dieser in der Regel aber vorübergehenden Sehstörung waren ihm mittlerweile vertraut. Er schenkte ihnen kaum mehr Beachtung. Doch in letzter Zeit waren sie immer häufiger aufgetreten und suchten ihn in immer regelmässiger und kürzer werdenden Abständen heim. Kaum mehr eine Schicht verging, während der er nicht mit diesen plötzlich auftretenden Irritationen in seinem Gesichtsfeld zu kämpfen hatte.
In den letzten Wochen hatte sich etwas sichtlich zu verändern begonnen. Immer häufiger legte sich ein Schleier über das Gelesene. Die Schriftbilder begannen sich beim Lesen zuweilen aufzulösen, gerieten in Bewegung. Seine Augen schienen bei der Arbeit ihren Dienst zu verweigern, schienen zwischenzeitlich wie abzudriften, ganz so, als ob sie Widerstand leisten wollten gegen die Texte, die er zu lesen versuchte.
Schweighauser schaute jetzt mit offenen Augen durchs Fenster und erfasste die in ein diffuses Abendlicht gehüllten, in geringer Entfernung gelegenen Industrie- und Verwaltungsgebäude gegenüber. Die oberen Stockwerke waren von seinem kleinen Büro aus sichtbar, und manchmal – jeweils kurz vor Sonnenuntergang – tauchten die grossflächigen Glasfassaden in ein tiefes, Wehmut erzeugendes Abendrot. Dabei kam es vor, dass sein Blick auf einem der gegenüberliegenden Fenster, in dem noch Licht brannte, verweilte, und er sich fragte, wer sich wohl dahinter aufhalten könnte, wer dort um diese Zeit noch arbeitete und woran dieser gerade dachte. Und vor zwei Tagen erst war ihm bei einem dieser imaginären Streifzüge durch die Nachbarschaft plötzlich der Gedanke gekommen, dass sich die gleiche Frage auch jemand in einem der gegenüberliegenden Gebäude stellen könnte, der zu seinem abendlich erleuchteten Bürofenster herüberschaute – womöglich gar im selben Augenblick. Dieses telepathische Gedankenspiel hatte etwas verlockend Verführerisches und tröstlich Trauriges zugleich und erinnerte ihn an verregnete Kindheitstage, die er auf diese Weise stundenlang an seinem Fenster verbracht hatte, auch wenn er sich eingestehen musste, dass diese Imaginationen vor allem Indizien seiner zunehmenden Vereinsamung waren.
Für einen kurzen Moment brach sich jetzt in der linken oberen Hälfte des etwas quer stehenden Gebäudes gegenüber ein heller Lichtstrahl in der Glasfassade und sandte ein blendend-gleissendes Licht in sein Büro herüber. Die Wolkendecke vor der untergehenden Sonne musste für einen kurzen Augenblick aufgebrochen sein. Das grelle Licht zwang ihn, seine Augen erneut zu schliessen.
Unter seinen Augenlidern registrierte er jetzt ein Flimmern. Gleissende Lichtschwaden zogen durch das Dunkel seiner Augenhöhlen wie Gegenlichter beim Fahren nachts auf nasser Fahrbahn, und an einem imaginären Horizont tauchten plötzlich farbige Polarlichter auf. Entschlossen und mit festem Vorsatz, seine Konzentration wiederzufinden, öffnete er erneut seine Augen und beugte sich über die vor ihm liegende Korrekturfahne. Wo war er stehen geblieben? Deleatur m – komatös statt kom[m]atös.
Schweighauser fuhr mit dem Finger am rechten Blattrand von oben nach unten, den Korrekturzeichen entlang bis zur letzten Marginalie, von dort nach links entlang der Zeile bis zum korrigierten Wort kom[m]atös, suchte danach den eine Zeile weiter oben liegenden Satzanfang und begann noch einmal mit dem Satz von vorn:
Nach der erfolgreichen Wiederbelebung verbleibt der Mensch kom[m]atös. Die Körpertemperatur des Patienten wird in diesem Zustand…
Weiter ging‘s nicht. Die nachfolgenden Buchstaben und Worte wurden von kleinen, kreisrunden Schattenflecken verdeckt. Schweighauser riss die Augen auf und zog gleichzeitig die Augenbrauen weit nach oben in der Hoffnung, auf diese Weise sein Blickfeld zu erweitern und die fehlenden Worte des Satzes zu erhaschen. Ohne Erfolg. Immer wieder wanderten dunkle oder irisierende Farbflecken von rechts in sein Blickfeld und übers Papier hinweg. Das kurzzeitige und wiederholte Schliessen und Öffnen der Augen, mit dem er die störenden Lichteffekte in seinem Augeninneren zu vertreiben hoffte, machte alles nur noch schlimmer. Auch das Aus- und Einschalten seiner Schreibtischlampe half nichts.
Er drückte daraufhin wahllos auf eine Taste der Computertastatur und beendete den animierten Bildschirmschoner, dessen dreidimensional im Raum mäandernden Farblinien seine Irritation weiter zu verschlimmern drohte. Ein konzentrierter Blick auf das jetzt erscheinende, elektronische Seitenlayout des Artikels änderte jedoch nichts an seinem Wahrnehmungszustand. Auch zwischen Bildschirm und Auge zogen, wie auf einer Flüssigkeit gleitend, weiterhin die irisierenden Farbflecken in Gruppen vorbei. Es hatte keinen Sinn, mit der Arbeit fortzufahren. Er musste die Korrektur abbrechen, sich eine Pause gönnen oder den Raum verlassen.
Schweighauser rückte mit seinem Stuhl leicht nach hinten und stand auf, wobei ihn unerwartet ein Schwindel erfasste. Er verspürte plötzliche Blutleere im Kopf, geriet ein wenig ins Wanken und sah sich deshalb gezwungen, sich mit beiden Händen auf seinem Arbeitstisch abzustützen. Er liess seinen Kopf hängen, atmete mehrfach tief durch und beugte sich danach leicht nach vorn, um durchs Fenster nach unten schauen zu können. Draussen hatte die Dämmerung eingesetzt. Während er in die Tiefe, in den Hof des Verlagsgebäudes blickte, wo er einem Lieferwagen folgte, der sich in Richtung Ausfahrt entfernte, verschwanden allmählich die beunruhigenden Lichtpunkte und -flecken vor seinem Auge. Der Schwindel legte sich.
Auf dem kleinen Familiengartenareal, das an den Verlagshof angrenzte und bis zum Kanal reichte, der das anschliessende, weiträumige Gelände der Industrie- und Verwaltungsgebäude von demjenigen des Verlages teilte, waren noch ein paar wenige Unverdrossene am Werk. Vor der langen Bank, in unmittelbarer Nähe des Geräteschuppens neben dem Haupthaus mit gehisster Schweizer Fahne, konnte er zwei Gestalten erkennen: den Vorstandspräsidenten des Familiengartenverbandes Kleinhüningen, Erwin Wiederkehr, und Ferdinand Hodler, dessen Stellvertreter; beide wild gestikulierend, jeder mit einer Flasche in der Hand. Sie schienen sich zu streiten. Daneben rauchte ein Grill. Er kannte die beiden.
Anfang dieses Sommers hatte er spätabends nach einer anstrengenden Schicht beschlossen, dem Kanal entlang zu Fuss nach Hause zu gehen und dabei einen nur wenigen bekannten Schleichweg durch das Familiengartenareal benutzt, der zum Kanal führte. Unterwegs war er dann auf die beiden Alten gestossen, die die warme Sommernacht offenbar zum Anlass genommen hatten, einige Flaschen mehr über den Durst zu trinken als sonst und deswegen ihre selbst auferlegte Aufsichtspflicht über das Gartenareal bis zum Einbruch der Dunkelheit und darüber hinaus ausgedehnt hatten. Ihrem angeheiterten Zustand hatte er es auf jeden Fall zugeschrieben, dass die beiden keinen Missmut erkennen liessen, als sie ihn des Weges sehen kamen, zumal die Benutzung dieser Abkürzung durch das Familiengartenareal durch Verlagsangestellte von den Gartenbesitzern zwar toleriert, jedoch nicht gern gesehen wurde.
«Schau mal, Erwin, da schleicht sich ein Verdächtiger heran!», hatte Hodler mit leicht angetrunkener Stimme und einem breiten Grinsen zu Wiederkehr gesagt, der neben ihm auf der Bank gesessen war, und diesem einen leichten Stoss mit dem Ellbogen versetzt. Er, Schweighauser, hatte sich aufgrund der zwar hörbar nicht ernst gemeinten, aber doch etwas zweideutigen Bemerkung Hodlers gezwungen gesehen, kurz stehen zu bleiben. Er hatte die beiden höflich gegrüsst, und – um jede andere unterstellbare Absicht seines Aufenthaltes auf dem Areal auszuschliessen – entschuldigend hinzugefügt, dass er sich lediglich auf dem Heimweg von der Arbeit befinde. Er habe zufällig beim Vorbeigehen gesehen, dass das Tor vorne am Eingang noch offen gestanden sei, weswegen er diesen Weg genommen habe.
«Da hast du aber noch mal Glück gehabt», hatte Hodler daraufhin erwidert, wobei er Wiederkehr kurz von der Seite angeblickt hatte, und in scherzhaftem Ton hinzugefügt: «Sogar grosses Glück! Was glaubst du, was ein offenes Tor hier bei uns um diese Zeit wohl bedeutet? – Tag der offenen Tür! Und Freibier für jeden unverdächtigen Besucher! Oder nicht, Erwin?», wobei er lachend Wiederkehr erneut einen leichten Stoss in die Rippen versetzt hatte.
«So ist es», hatte dieser das offensichtliche Ansinnen Hodlers, den fremden Besucher zu einem Bier einzuladen, bestätigt, vielleicht auch, weil er durch die bevorstehende erweiterte Gesellschaft eine willkommene Gelegenheit gesehen hatte, sich eine weitere Flasche zu genehmigen.
Die ausgelassene Stimmung der beiden Alten, insbesondere Hodlers, dessen warmherziger Stammtischhumor und die unerwartet offene Art gegenüber einem Fremden waren es wohl gewesen, die ihn veranlasst hatten, das Angebot der beiden nicht auszuschlagen und sich zu ihnen zu setzen. So wenigstens hatte er es sich in einer ersten Nachbetrachtung dieses Abends, der ihm auf unerklärliche Weise nachhaltig in Erinnerung geblieben ist, zu erklären versucht. Andererseits: Es hatte keinen Grund gegeben, es nicht zu tun. Er war zwar auf dem Heimweg gewesen, aber wie jeden Abend ohne Ziel oder Vorsatz, noch irgendetwas erledigen oder jemanden treffen zu wollen. Ob er ein oder zwei Biere hier mit den beiden Alten in einem Schrebergarten trank oder in einem der noch geöffneten Lokale bei ihm um die Ecke, was hätte den Unterschied gemacht?
Worüber er mit den beiden in dieser Nacht alles gesprochen hatte, konnte er sich nicht mehr in allen Einzelheiten erinnern. Über Gott und die Welt, hätten Wiederkehr und Hodler gesagt. Doch einiges war ihm in Erinnerung geblieben und hatte Spuren hinterlassen – Spuren in seiner Seele. Auf jeden Fall war es nicht bei einem Bier geblieben. Man hatte sich schnell auf ein Du geeinigt, den aussergewöhnlichen Sommer gepriesen und die behagliche Idylle des Familiengartens am Rande der Stadt.
Wiederkehr war seit zwei Jahren Vorstandspräsident des Gartenverbandes, Hodler – früher jahrelang selbst Präsident – sein Vize und Geräteverwalter. Das hatte er bald einmal in Erfahrung gebracht. Die Lust am Erzählen, das Mitteilungsbedürfnis – namentlich jenes Hodlers – war gross gewesen. Hodler schien gleichsam für beide zu sprechen, erzählte mit ausschweifenden Worten die Höhepunkte ihrer beider Leben, mehrheitlich aber jene Wiederkehrs: unter anderem von einer abenteuerlichen Kreuzfahrt über den Atlantik, von Wiederkehrs Reise mit der transsibirischen Eisenbahn und einem Besuch der Chinesischen Mauer war die Rede, von einer wundersamen Rettung während einer gemeinsamen Bergwanderung und von einem zehrenden, aber gewonnenen Rechtsstreit gegen einen intriganten Arbeitgeber. Immer wieder hatte sich Hodler in seinen Erzählungen bei Wiederkehr mit einem «Oder nicht?» oder «So war’s doch?» abzusichern versucht, was dieser zumeist, aber mit einem wenig überzeugenden und eher gelangweilten «Ja, sicher» oder «So ungefähr, ja» quittiert hatte. Nur selten hatte Wiederkehr während den Erzählungen Hodlers eine Information ergänzt, wirkte insgesamt etwas mürrisch, aber dennoch konzentriert und nachdenklich. Wiederkehr, so schien es, war der Denker, Hodler der Erzähler; auf jeden Fall wirkten die beiden wie ein eingeschworenes Team, das war ihm nicht entgangen, konnte einem nicht entgehen. Äusserlich waren die beiden auf der spärlich beleuchteten Bank kaum zu unterscheiden gewesen mit ihren markanten Backenbärten. Hodler hatte einen Strohhut getragen und schien der Jüngere von beiden zu sein, doch wirklich zu entscheiden gewesen war das nicht.
Beide waren sie im gleichen Jahr – vor vier Jahren – Witwer geworden, erfuhr er später. Alzheimer und Krebs, im Endstadium. Eine schwere Zeit sei das für beide gewesen, hatte Hodler erklärt – davor und danach. Die plötzliche Einsamkeit, die bleierne Leere, die in dich hineinkriecht, die quälenden Fragen und das antwortlose Schweigen – eine harte Prüfung, so Hodler. «Dafür sind wir Freunde geworden. Geteiltes Leid ist halbes Leid, oder nicht?», hatte Hodler darauf gesagt und dabei ein wenig verunsichert zu Wiederkehr hinübergeschaut.
«Der Tod rückt ja immer näher», hatte dann auf einmal Wiederkehr nach einer längeren Pause laut in die Nacht deklamiert. «Da macht man sich schon so seine Gedanken, wenn du verstehst, was ich meine. Über das eigene Leben. Ich meine, über das Leben, das vergangen ist, nicht mehr darüber, was noch kommt. Was kommt, das kommt», hatte Wiederkehr gesagt, «und was kommen muss, sowieso. – Was danach kommt? Nun ja, was soll einer, der Wiederkehr heisst, dazu sagen?» Solange der Kopf etwas dagegen habe, abzudanken, gebe es nichts zu befürchten. «Denken, Erinnern, Kombinieren, das ist das Salz des Lebens. Man nimmt nur seine Gedanken und Erinnerungen mit. Man behält, was gewesen ist, was vorbeigegangen ist, das Schöne und das Traurige, ja, auch was gefehlt hat, und staunt über die Zusammenhänge… »
«… und erfindet manchmal einfach etwas dazu», hatte Hodler schmunzelnd ergänzt und dabei Wiederkehr mit leichtem Stirnrunzeln angeschaut, «… ich meine, damit das Ganze einen Sinn ergibt, nicht wahr, Erwin?», worauf Wiederkehr leicht verächtlich abgewinkt und sich in Schweigen gehüllt hatte.
Mit der Malerei und der Kunst habe er, Hodler, nicht viel am Hut, hatte Hodler erklärt, als sie nach einer längeren Pause zwangsläufig auf seinen Namen und den gleichnamigen Schweizer Maler zu sprechen gekommen waren. Er habe nichts mit Ferdinand Hodler, dem Maler, zu tun, so Hodler, ausser dass er diesem vielleicht seinen Vornamen verdanke, wenn die Geschichte wahr sei, wonach sein Vater – der Waldarbeiter gewesen sei – ihm diesen Namen gegeben habe, weil diesem die damals im Umlauf gewesene, grüne 50-Franken-Banknote mit dem Holzfäller von Ferdinand Hodler hinten drauf so gut gefallen habe; worauf Wiederkehr einwarf, «ich sage ja, man staunt über die Zusammenhänge», und Hodler entgegnete, er glaube nicht, dass die Geschichte wahr sei, was wiederum Wiederkehr zu der leicht entrüsteten Bemerkung provoziert hatte: «Du hast ja überhaupt keine Ahnung!» Dass Hodler ein Poster von Hodlers Holzfäller in seinem Gartenhaus aufgehängt habe, sei doch kein Zufall und für ihn Beweis genug, dass ihm, Hodler, an der Wahrheit der Geschichte etwas gelegen sei. «Die Wahrheit einer Geschichte ist immer die Geschichte dieser Wahrheit. Ohne Ferdinand Hodler wärst du ein Anderer», schloss Wiederkehr.
Hodler hatte daraufhin geschwiegen. Sein Schweigen hatte die Form eines resignierten Protestes. Vielleicht war es aber auch das nicht anders als durch Schweigen formulierbare Einverständnis gewesen, dass gegen Wiederkehrs Fähigkeit oder Obsession, Dinge oder Ereignisse in einen Zusammenhang zu bringen, die keine unmittelbar wahrnehmbare oder verbürgte Berührungsfläche aufwiesen, kein Kraut gewachsen war. Wiederkehrs Sätze waren beeindruckend und hinterliessen Wirkung. Sie gaben zu denken, weil sie selbst Produkte des Nachdenkens waren, doch weit mehr wog vielleicht, dass man sie von einem wie Wiederkehr nicht erwartet hätte.
Wiederkehr war es dann gewesen, der das zwischenzeitliche Schweigen durchbrochen und die Rede auf ihn, Schweighauser, gelenkt hatte. Er hatte wissen wollen, welche Aufgabe er denn im Verlag habe, die ihn so spät abends noch aufhalte, worauf er geantwortet hatte: «Ich bin Korrektor und korrigiere Texte des Verlages und Artikel der Tageszeitung.»
«So, so, du korrigierst die Zeitung!», hatte sich darauf Hodler wieder zurückgemeldet und mit einem breiten Grinsen hinzugefügt: «Und trotzdem steht nichts Richtiges drin», worauf sie alle drei – nachdem sich Wiederkehrs und Hodlers Blicke zuerst eine kurze Zeit prüfend getroffen und danach beide Schweighauser angegrinst hatten – in ein grosses Gelächter ausgebrochen waren.
Es war schon spät in der Nacht gewesen, als er die beiden Alten, die trotz Übernachtungsverbot beschlossen hatten, in ihren Gartenhäusern zu schlafen, verlassen hatte. Man hatte sich herzlich verabschiedet und ihn eingeladen, doch wieder mal vorbeizuschauen. Zu Fuss nach Hause zu gehen, dem Kanal entlang Richtung Rheinhafen und von dort stadteinwärts dem Rheinufer entlang, hatte er keine Lust mehr gehabt, weil auch er das eine oder andere Bier zu viel getrunken hatte. Er war deswegen zum Verlagsgebäude zurückgekehrt, wo er sich beim Haupteingang ein Taxi bestellt hatte, das ihn nach Hause brachte.
Das war eine ungewöhnliche Nacht gewesen, die Begegnung mit den beiden, hatte er damals auf der Heimfahrt bei sich gedacht, während der er die vergangenen Stunden hatte Revue passieren lassen, und das gleiche dachte er auch jetzt wieder beim Anblick der beiden Alten dort unten, die sich womöglich gerade in diesem Augenblick wieder lustvoll über mögliche oder unmögliche Zusammenhänge austauschten oder stritten.
Sein Leben war ereignislos und leer. Das war es gewesen, was ihm in dieser Nacht durch das Gespräch mit den beiden kauzigen Alten ins Bewusstsein gerufen worden ist. Seine Erinnerungen, die Erinnerungen an seine zweifellos gewesene Vergangenheit waren wie ausgelöscht, waren bis zur Unwirklichkeit verdrängt, lagen unwirksam brach – seine Gegenwart war ein blinder Fleck. Kein aufkeimender Schmerz, kein leidenschaftlicher Eifer und kein zur Überzeugung gereifter Gedanke mischte sich mehr in ein Gespräch ein oder war Triebfeder seines Tuns und Wirkens. Sein Leben war berührungslose Hinnahme und glich den Texten, die er tagtäglich korrigierte, die er Wort für Wort, Zeile für Zeile, mechanisch und lautlos durchbuchstabierte, ohne dass er deren Inhalt wirklich noch wahrzunehmen vermochte, und wenn, dann nur wie ein vorübergehendes, kurzzeitiges In-Erscheinung-Treten einer längst in Vergessenheit geratenen Sprache.
Draussen wich allmählich die Dämmerung der Dunkelheit. Am Horizont war nur noch ein schmaler heller Streifen zu erkennen, über dem sich der Himmel zuerst in ein lichtes Hellblau, danach in ein immer dunkler werdendes Blau-Schwarz verfärbte. Die von seinem Büro aus sichtbaren Gebäude hatten sich binnen Minuten in riesige schwarze Schablonen verwandelt, die wegen der vereinzelt erleuchteten Fenster aussahen wie überdimensionierte Adventskalender.
Schweighauser wandte seinen Blick vom Fenster ab und nahm erst jetzt wahr, dass auch sein Büro zwischenzeitlich in völlige Dunkelheit eingetaucht war. Nur die mäandernden Farblinien des wieder aktivierten Bildschirmschoners, die wie Leuchtspuren eines unbekannten Tiefsee-Lebewesens schwerelos durch den Raum trieben, waren zu sehen. Er schaltete die Schreibtischlampe ein, warf, immer noch stehend, einen Blick auf die vor ihm liegende Druckfahne und markierte mit einem Leuchtschreiber das zuletzt korrigierte Wort kom[m]atös. Sein Blick war wieder klar und ungetrübt, stellte er fest. Nichtsdestotrotz beschloss er, die Korrekturarbeit nicht fortzusetzen, in der Pausenzone des Stockwerks eine Zigarette zu rauchen, und verliess das Büro.
In den langgezogenen, schmalen und nicht beleuchteten Gang, der von seinem Büro aus schnurgerade zur Pausenzone führte, fiel Licht aus dem zweiten, nahe zu seinem Büro gelegenen Türeingang auf der rechten Wandseite und warf ein Trapez auf den Flurboden. Ein Zeichen, dass seine Arbeitskollegin Friederike Roth noch anwesend war. «Der Rotstift», wie Friederike von den Mitarbeitern ein wenig spöttisch und ehrfürchtig zugleich genannt wurde – nicht nur ihres Namens wegen, sondern weil sie ausserdem rot gefärbte Haare trug –, arbeitete stets bei offener Tür. Ihr Büro gehörte zu den zahlreichen gefangenen Räumlichkeiten auf dem Stockwerk, die über keine Fenster verfügten. Die stets geöffnete Tür war deswegen so etwas wie eine Öffnung zur Aussenwelt, wie sie zu sagen pflegte, auch wenn diese Aussenwelt erst durch labyrinthartige Gangverzweigungen von ihrem Büro aus wirklich erreichbar war und man deshalb korrekterweise hätte sagen müssen, dass die Aussenwelt, wie sie sie nannte, die Innenwelt des Verlages war.
Schweighauser setzte sich Richtung Pausenzone in Bewegung, an der halb geöffneten Tür seiner Kollegin vorbei. Er verspürte kein Bedürfnis nach Gesellschaft und verzichtete deswegen darauf, seine Rauchpause beim Vorbeigehen hörbar anzukündigen, wie er dies sonst tat. Erst nachdem er aus dem Restlicht des Roth’schen Büros heraus endgültig in den schummrig-dunklen Gang eingetaucht war, fiel ihm ein, dass er ganz vergessen hatte, den Lichtschalter zu betätigen, was ihn jedoch nicht zur Umkehr veranlasste. Während er den jetzt völlig in Dunkelheit gehüllten Gang entlang schritt, den beleuchteten Zigarettenautomaten am Ende des Ganges als Orientierungspunkt benutzend, bemerkte er, wie sich der von seinem Schuhwerk herrührende, hallende Klang seiner Schritte überdeutlich im Gang ausbreitete. Er durchschritt den Gang wie ein Unsichtbarer, wie ein körperloser Geist und für einen kurzen Moment schien es ihm gar, als rührten die gehörten Schritte von woanders her, als käme ihm jemand entgegen. Furcht hätte ihn beinahe gepackt, wäre da nicht die Gewissheit gewesen, dass die merkwürdig schwer verortbaren Schritte seine eigenen waren. Nichtsdestotrotz warf er instinktgetrieben einen kurzen Blick hinter sich, um sich zu versichern, dass sich da auch wirklich niemand befand, bevor er schliesslich den Zigarettenautomaten und damit die Pausenzone erreichte.
Schweighauser drückte den roten Nachtlichtschalter, der sich rechts neben dem Automaten befand. Zögerlich flackernd und zeitlich leicht versetzt sprangen hintereinander die an der Decke hängenden Neonröhren an. Sein Blick folgte den Lichtern, die sich aus dem offenen Raum der Pausenzone in die Fluchten der zahlreichen, von hier abgehenden Gänge fortsetzten und so das Ausmass des weitverzweigten Gangsystems auf dem Stockwerk offenbar werden liessen. Das Stockwerk glich einer Parkhausetage, deren riesige Fläche mit zahllosen, nach keinem erkennbaren System aufgerichteten, teils verglasten Stellwänden in ein begehbares Labyrinth aus Gängen und Büroräumen verwandelt worden war. Ein stetes Provisorium überdies, denn alle paar Monate wechselten die Abteilungen, veränderte sich die Raumaufteilung und damit die Führung der Gänge, so dass es durchaus geschehen konnte, dass man eines Tages auf dem verzweigten Weg zu seinem Büro vor einer verschlossenen Türe stand, wo sich gestern noch ein Durchgang befand.
Er setzte sich an einen der Tische in der offenen Pausenzone und zündete sich eine Zigarette an. Um diese Zeit befand sich kaum noch jemand auf dem Stockwerk. Die Stille des Raumes wurde lediglich untermalt von einem gleichförmigen und leisen Brummen, das höchstwahrscheinlich von der Belüftungsanlage herrührte, dessen man aber nur gewahr wurde, wenn man sich vollständig der eigenen Anwesenheit überliess. Von weit unten her waren weitere Geräusche auszumachen. Ein dumpfer, mechanisch pulsierender Rhythmus, der – von den Druck- und Versandmaschinen im Untergeschoss des Gebäudes verursacht – über die Liftschächte nach oben drang. Schweighauser wähnte sich in einem grossen Schiffsbauch, in dem man den stampfenden Antrieb der Schiffsmotoren von tief unten vernahm. Es trieb ihn fort. Seine Gedanken drifteten ab, ins Uferlose.
Vielleicht müsste er wieder mal eine Reise machen, dachte er. Ein Tapetenwechsel würde ihm womöglich guttun, würde ihn auf andere Gedanken oder besser gesagt aus seiner Gedankenlosigkeit bringen. Die Monotonie seines alltäglichen Tuns hatte mittlerweile einen Wirkungsgrad erreicht, der alles gegenwärtig Wahrgenommene augenblicklich auslöschte, ohne dass sich dabei Melancholie breit gemacht hätte. Während die traurige Wehmut oft als letztes Band wirkt, wenn zwischen dem Erlebten, den Dingen und dem Bewusstsein sich eine schmerzliche Distanz einstellt, dieser Abstand jedoch in der reinen Dauer dieser Empfindung immerhin noch eine Wahrnehmung ermöglicht, drohte jetzt immer öfter, dass er sich zuweilen als Beobachter seiner selbst abhandenkam. Komatös – ja, dieses Wort, dessen Schreibweise er vor wenigen Minuten noch als Letztes orthografisch richtig gestellt hatte, beschrieb im Grunde auf treffende Weise seinen derzeitigen Zustand, stellte er jetzt fest. Eine merkwürdige Teilnahmslosigkeit, ein Unbeteiligtsein am Leben hatte sich seit langem in ihm breit gemacht, vergleichbar mit dem Zustand eines Traumbeobachters, der – in der Gewissheit, einem nicht realen Geschehen zuzuschauen und deswegen keine Möglichkeit besitzt, einzugreifen – sein Dasein dennoch einzig und allein dem Umstand verdankt, dass jemand träumt. – Und was wäre, wenn der Traumbeobachter sich plötzlich entschliessen würde, einzugreifen? Was würde dann geschehen?
Schweighauser spürte, wie sich bei diesem Gedanken etwas in ihm zu regen begann, als ob ein sanfter Windstoss in der Asche eines längst erloschen geglaubten Feuers eine Restglut zum Glimmen gebracht hätte. Er spürte, wie etwas in ihm Besitz zu ergreifen versuchte, etwas, das – von weit her kommend – zum Greifen nahe und doch noch nicht bereit war, in Erscheinung zu treten; etwas, das wie ein bekanntes gesuchtes Wort oder ein gesuchter Begriff bereits auf der Zunge lag, einem jedoch nicht einfallen wollte. Was würde geschehen, wenn er sich entschliessen würde, einzugreifen?
Er zündete sich eine zweite Zigarette an. Seine Gedanken suchten sich einen Weg durch unbekanntes Gelände zu bahnen, während seine Augen die kahlen Wände der Pausenzone nach einem Orientierungspunkt absuchten. Er befand sich innerlich wie auf der Lauer, in einer merkwürdigen Mischung aus Furcht und freudiger Erwartung, der lediglich das Objekt fehlte, auf das sie sich richten konnte, als plötzlich das Licht im Raum erlosch. Deleatur. Kleiner Filmriss. Die Zeitschaltuhr der Nachtbeleuchtung musste das Ende des eingestellten Intervalls erreicht haben. Für einen kurzen Moment fühlte er sich wie verschluckt von der Finsternis, gefangen im Bauch des Schiffes, eingeschlossen in einem Stockwerk einer Tiefgarage, jäh unterbrochen auf dem Weg zu einer Erkenntnis, zu einer Entscheidung, vor verschlossener Tür. Die Glut seiner Zigarette, der in einiger Entfernung stehende leuchtende Zigarettenautomat sowie der rot leuchtende Nachtlichtschalter daneben waren die einzigen Orientierungspunkte im Raum, der jetzt in der Dunkelheit um ein Vielfaches grösser wirkte.
Schweighauser tastete mit beiden Händen nach dem Aschenbecher auf dem Tisch, drückte die Zigarette darin aus und wollte sich aus seinem Stuhl erheben, als er von weit hinten das hohl metallene Geräusch der Lifttür hörte, die mit grossem Schwung geöffnet worden sein musste. Kurze Augenblicke danach sprangen die Neonlichter an der Decke wieder an. Hinter ihm näherten sich feste Schritte auf dem langen Gang Richtung Pausenzone, begleitet vom klimpernden Geräusch eines stattlichen Schlüsselbundes. Der Nachtwächter befand sich offenbar auf seinem ersten Kontrollgang und würde jeden Moment auftauchen. Schweighauser hatte es jetzt eilig, in sein Büro zurückzukehren, vor allem aber keine Lust auf die üblichen Begrüssungsrituale oder einen faden Smalltalk. Er stand auf und bewegte sich entschlossenen Schritts zurück zu seinem Arbeitsplatz.
Als er das Büro Friederikes passiert hatte und gerade im Begriff war, die Tür des seinigen zu öffnen, hörte er ihre Stimme rufen: «Hey, Armin! Was schleichst du im Dunkeln allein auf den Gängen herum? Du hättest mich ruhig mitnehmen dürfen. Hattest wohl auch Ärger mit den Fehlerteufelchen, was?»
Schweighauser drehte sich um. Den Rücken in den Türrahmen gelehnt, grinste Friederike zu ihm herüber – barfuss wie immer –, ihre Lesebrille vorne auf die Nasenspitze geklemmt, die Arme über einem verbleichten, knielangen schwarzen Kleid verschränkt.
«Ich habe bloss eine kurze Rauchpause gemacht», antwortete Schweighauser, «ich musste meinen Kopf ein wenig auslüften.»
«Auf meinen Lokalseiten ist heute ganz schön der Teufel los, sag ich dir», versuchte Friederike ein Gespräch in Gang zu bringen. «Ganz schön schlampig, was die Lokalredaktion derzeit abliefert. Was ich heute Leichen begraben musste, das glaubst du gar nicht. Dazu ungewöhnlich viele Hochzeiten, Witwen und Hurenkinder. Wenn die noch mehr Personal abbauen, können sie demnächst gleich Blindtext drucken. Zum Glück ist bald Feierabend. Kommst du morgen auch an die Versammlung?»
Schweighauser wusste nicht sofort, was er antworten sollte. Eine falsche Antwort und er wäre in ein längeres Gespräch verwickelt worden. Der Rotstift wollte reden, das war offensichtlich. Doch er war nicht in Gesprächslaune, hing noch seinen Gedanken von vorhin nach, steckte wie in einem Kokon, dem er noch nicht entschlüpfen wollte. Andererseits konnte er sie jetzt nicht einfach stehen lassen, ohne etwas zu sagen. Er schätzte seine deutsche Kollegin, die Pausengespräche mit ihr, die immer sehr persönlich waren, ohne dass man sein Innerstes preisgeben musste. Vor allem aber liebte er ihre aus der Druckersprache stammenden Wortschöpfungen, die sie als gelernte Typographin alten Schlags noch beherrschte und gerne in ihre Sätze einflocht. Wenn sie von «Augenpulver» sprach, von «Bleiläusen», «Zwiebelfischen», von «Lausehaaren» und «Hasenöhrchen» oder sich zum «Ahlen stechen» bereit machte, wie sie es nannte, wenn sie in eine Auseinandersetzung mit Gerold Brenneisen, ihrem Chef, ging.
«Ja, ich werde morgen kommen», antwortete Schweighauser, während er gleichzeitig die Tür zu seinem Büro öffnete und sich anschickte, einzutreten.
«Du musst mich aber jetzt entschuldigen. Ich habe leider keine Zeit zum Plaudern. Die Wochenendbeilage ruft. Thema Medizin. Ein Schnellschuss. Das reinste Augenpulver. Gott grüss die Kunst!»
Noch während er die Tür von innen schloss, hörte er das «Gott grüsse sie!», mit dem der Rotstift standesgemäss das alte Drucker-Grusswort erwidert hatte. Sie hatte verstanden. Ein«Schnellschuss»: ein eiliger Termin; das reinste «Augenpulver»: ein schwer leserlicher Text. Schweighauser hatte sich selbst einige Begriffe aus dem Wortschatz der Typografen angeeignet und genoss es, diese von Zeit zu Zeit in seine Rede einzustreuen, auch wenn er sie diesmal für eine Lüge missbraucht hatte.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch, dessen Arbeitsfläche im Lichtkegel der noch brennenden Schreibtischlampe wie eine kleine beleuchtete Theaterbühne wirkte. Er war jetzt fest entschlossen, die abgebrochene Korrekturarbeit so rasch wie möglich zu Ende zu bringen, beugte sich über die Fahne und setzte die Lektüre an der zuvor markierten Stelle fort. Kom[m]atös, deleatur m.
Seine Augen folgten jetzt problemlos den sich anschliessenden Worten und diktierten den Text, während gleichzeitig eine innere Stimme das Diktat wie eine Souffleuse mitlas, um nötigenfalls einzugreifen, wenn das Gedruckte nicht mit der korrekten Schreibweise übereinstimmte. Er kam rasch vorwärts, etwas trieb ihn an, hielt seine Konzentration wach, aber anders als sonst. Es schien ihm, als gelte seine Anstrengung, den vor ihm liegenden Text nicht aus den Augen zu verlieren, etwas ganz anderem, als ob die Leichtigkeit, mit welcher er jetzt dem Diktat seiner Augen folgte, etwas anderem Raum verschaffen wollte, das gleichzeitig in ihm vorging. Er streifte Worte wie irreversibel, Ad-hoc-Entscheidung und Hirntod-Konzept, korrigierte eine aktive Tö[t]tung, ein St[e]rbenlassen, zweimal reakt[i]onslos und dreimal Beatmung (Beam[tung), setzte zwei Gedankenstriche anstelle zweier Kommas und eliminierte im Wort Lebens[ ]simulation den vorhandenen, zwischen undendlich den fehlenden Wortzwischenraum, um schliesslich ans Ende des Artikels zu gelangen.
Schweighauser fühlte sich erleichtert, aber gleichzeitig in stiller innerer Aufruhr, denn es war ihm klar, dass dies noch nicht das Ende des Tages war, dass noch etwas bevorstand, was er jetzt in die Tat umsetzen würde.
Er speicherte seine korrigierte Version des Artikels und leitete den Text an den zuständigen Redaktor weiter. Das Schicksal des Textes war damit besiegelt. Nur selten kam es vor, dass an einem Text in diesem Stadium weitere Änderungen vorgenommen wurden. Die Schlussredaktoren warfen in der Regel einen letzten kontrollierenden Blick über den bereits fertig gesetzten Text, prüften – wenn überhaupt – ein letztes Mal die Titel und Zwischentitel und ob der Umfang des Textes durch die Korrektur nicht verändert worden war. Danach schickten sie den Text in die Druckvorstufe. Das war‘s. Für eine letzte inhaltliche Überprüfung fehlte schlicht die Zeit. Das wusste Schweighauser. Er hatte lange genug selbst in der Redaktion gearbeitet, bevor er vor zwei Jahren – nach der ersten von seither wiederholten Restrukturierungsmassnahmen – ins Korrektorat relegiert worden war.
Von einer unvermittelten Neugierde getrieben, entschloss er sich jetzt, einen Blick auf die kurz vor Drucklegung sich befindlichen, fertigen Lokalseiten der morgigen Zeitungsausgabe zu werfen. Es war jetzt kurz vor 23 Uhr. Die Nacht hatte längst die Regie über das Geschehen übernommen. Schweighauser versuchte, sich im Licht der Schreibtischlampe gegen die Dunkelheit zu behaupten, die seine Gedanken umfing. Noch war ihm nicht klar, was er sich von seinem Vorhaben versprach. Aber er spürte, dass er im Begriff war, etwas zu tun, was nicht ohne Folgen bleiben würde, dass er einer inneren Stimme folgte, die genau wusste, was er jetzt zu tun hatte.
Es war heute nicht seine Aufgabe gewesen, den Lokalteil zu korrigieren – das hatte längst Friederike erledigt –, es ging jetzt um eine ganz andere Art von Korrektur; eine Korrektur immerhin, ja, aber es ging um eine Richtungskorrektur, um eine Korrektur seiner Haltung. Es ging darum, sich endlich wieder auf etwas einzulassen, etwas zu wagen, die Dinge nicht einfach hinzunehmen – etwas zu verändern. Dass er sich in unerlaubtes Terrain begeben würde, war ihm klar. Doch die innerliche Hemmschwelle, die ihn von seinem Vorhaben hätte abbringen können, hatte er bereits überschritten, das spürte er. Er befand sich bereits auf der anderen Seite – dort, wo sich die Frage nach richtig oder falsch nicht mehr stellte.
Schweighauser, dessen Blick jetzt suchend den Bildschirm von oben nach unten durchforschte, dabei die Seiten per Tastendruck von links nach rechts und zurück blätterte, befand sich plötzlich in einer Art rauschhaftem Zustand, in einem inneren Sog. Ein Gefühl von Allmacht ergriff ihn, als ihm die Tragweite seines Vorhabens bewusst wurde, das jetzt immer deutlicher Gestalt annahm. Sein Entschluss – und als solchen musste er das bezeichnen, was ihn jetzt antrieb – stand fest. Er war bereit, nein, er war entschlossen, eine inhaltliche Korrektur in einem der Zeitungsartikel vorzunehmen. Was würde geschehen, wenn er jetzt einen Artikel verändert, Teile seines Inhalts um eine Nuance verschiebt, durch eine Wortersetzung auf die Tonalität Einfluss nimmt oder gar durch Streichungen oder Hinzufügungen gänzlich neue Sachverhalte schafft? Sein Vorhaben war kühn und gewagt, dreist und unverschämt, dessen war er sich bewusst. Doch allein schon die Idee bereitete ihm ein derart grosses inneres Vergnügen, dass jegliche Zweifel in den Hintergrund rückten.
Schweighauser hielt für einen Moment inne und dachte nach. Dass ein Eingriff so kurz vor Drucklegung entdeckt werden würde, war äusserst unwahrscheinlich. So viel stand fest. Er musste sich lediglich als Administrator einloggen, um seinen Eingriff als Redaktor zu autorisieren. Über Administratorenrechte verfügte er noch aus der Zeit seiner Redaktionstätigkeit. Ein guter Arbeitskollege aus der Informatikabteilung hatte sie ihm damals vertraulich erteilt, als man festgestellt hatte, wie gut er sich mit der Architektur des Systems auskannte, und es sich deshalb auszahlen würde, wenn er, Schweighauser, die kleineren, oft täglich aufgetretenen systembedingten Störungen innerhalb der Redaktion direkt bereinigen könnte, und man sich damit so manchen Weg oder Anruf zwischen Redaktion und Informatik sparen konnte. Die Stelle des Arbeitskollegen war inzwischen den anhaltenden Kosteneinsparungen innerhalb des Verlages zum Opfer gefallen und ersatzlos gestrichen worden. Schweighausers Administratorenrechte hingegen waren geblieben. Keiner wusste davon.
Er loggte sich deshalb neu als Administrator ins System ein und öffnete die Lokalseiten der morgigen Zeitungsausgabe, als es plötzlich an der Tür klopfte. Ein Schreck durchfuhr seinen Körper. Reflexartig schloss er das Programmfenster, als er hörte, dass sich die Tür öffnete, wendete seinen Kopf in Richtung Eingang und erkannte im Halbdunkel Friederike, die den Kopf zur Tür hereinstreckte.
«Ich mach jetzt Schluss», sagte sie, «wie sieht’s bei dir aus? Kommst du auch oder willst du heute hier übernachten?»
Schweighauser überlegte kurz, zögerte mit der Antwort, wie wenn er nach einer Ausrede suchen müsste, und sagte dann: «Nein, ich bin noch nicht ganz fertig. Ich muss das hier noch zu Ende bringen. Ich brauche wohl noch eine halbe Stunde. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Wir sehen uns morgen, in Ordnung?»
«Alles klar. Dann bis morgen. Ciao, Gott grüss die Kunst!»
«Gott grüsse sie!», erwiderte Schweighauser, während Friederike die Tür wieder schloss. Er erhob sich aus seinem Stuhl und schritt langsam, vorsichtig und leise auftretend, Richtung Tür, wo er eine Weile auf Geräusche lauschend stehen blieb. Er hörte, wie sich Friederike schlurfend Richtung Pausenzone und Ausgang entfernte, wartete einige Momente, öffnete danach behutsam und geräuschlos die Tür, warf einen prüfenden Blick in die dunklen Gänge und verschloss danach die Tür von innen.
Eilig kehrte er jetzt an seinen Schreibtisch zurück und öffnete erneut die Lokalseiten. Wenn er noch irgendeinen Artikel verändern wollte, musste er sich beeilen. Die Druckerei hatte bereits mit der Belichtung der Platten begonnen. Auf einzelne Bogen und Seiten war kein Zugriff mehr möglich, die Wirtschafts- und Kulturnachrichten waren schon weg. Er begann mit Lesen und sprang dabei auf den Seiten beliebig von Absatz zu Absatz:
… Meist vergehen mehrere Tage zwischen dem Zeitpunkt, an dem jemand in Basel im Rhein verschwindet, und dem Moment, in dem ihn die Rechenreinigungsmaschine in Kembs aus dem Wasser holt…
… Vor dem Friedhof am Hörnli wurde am Mittwoch um 10.40 Uhr eine 83-jährige Fussgängerin von einem Auto erfasst und schwer verletzt… Die Polizei sucht Zeugen…
… In der Privatwirtschaft werden in einem solchen Fall Arbeitskräfte entlassen und später wieder neue eingestellt…
… Die Sektion Basel der Gewerkschaft Medien und Kommunikation denkt über konkrete Massnahmen nach, falls der Verwaltungsrat der Stadtzeitung Medien AG den von der Geschäftsleitung angekündigten weiteren Sparmassnahmen zustimmt…
… Regierungsrätin Evelyn Ruckstuhl hat bei diesem Anlass noch einmal Gerüchte dementiert, wonach sie sich im Zusammenhang mit der geplanten Überbauung der Hafenzone 4 abschätzig über die heute dort ansässigen Zwischennutzer geäussert habe…
… Diskussionslos hat der Grosse Rat hingegen einen Kredit über sieben Millionen Franken für die Revitalisierung des Flussbetts im Unterlauf der Wiese bewilligt. Damit soll der Fluss aufgewertet werden…
… Drei Überfälle auf gleiche Tankstelle in fünf Tagen… Die Kriminalpolizei spricht von einer «auffälligen Gewalt», mit der die Raubüberfälle verübt worden sind…
Schweighauser las sich kreuz und quer durch die Artikel, stieg an beliebigen Stellen in die Texte ein, brach wieder ab, um gleich darauf in der nächsten Spalte, am linken unteren Seitenrand oder auf einer Seite davor eine Textpassage zu überfliegen. Er hoffte auf eine Eingebung, auf eine Stimme, die ihm sagte: Hier kannst du eingreifen, das ist eine geeignete Stelle! Doch die gelesenen Sätze sperrten sich auf merkwürdige Weise gegen eine Veränderung. Ja, es schien ihm gar, als beanspruche und verteidige jedes einzelne Wort, das er las, nicht nur die Stelle, an welcher es stand, sondern ebenso seine Gestalt und seinen Gehalt – als kämpfe es um seine Existenzberechtigung.
Er spürte, wie sich Ärger in ihm breit zu machen begann. Die Zeit lief ihm davon. Hatte er sich das doch zu leicht vorgestellt? Kamen ihm jetzt doch Skrupel? Fürchtete er die möglichen Folgen oder war es die Einsicht, wie lächerlich und armselig im Grunde sein Vorhaben war? Was war sein Motiv, was wollte er mit seinem Tun bezwecken? Mit welchen Konsequenzen musste er rechnen? Lohnte es sich, darüber nachzudenken?
Wenn er ehrlich war, so interessierten ihn diese Fragen zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Er musste die Widerstände, die sich einstellten, sobald das Nachdenken über sein Vorhaben einsetzte, brechen. Es gab jetzt kein Zurück mehr. Das Ganze ist nicht mehr als ein Experiment, sagte er sich, ein frecher Einfall, ein Wagnis. Wie weit konnte man gehen, ohne dass beziehungsweise bis jemand etwas bemerkt? Das war das Spiel, auf das er sich einlassen wollte. Er hatte lange genug die Fehler der anderen korrigiert oder treffender gesagt, dafür gesorgt, dass sie fehlerfrei blieben.
Schweighauser sammelte sich und dachte nach. Fang mit etwas Marginalem an, sagte er sich; mit einer Meldung am Rande, die wenig Interesse auf sich ziehen wird. Finger weg von den Titeln, von den Leads!, sagte er sich; zumindest im Lokalteil, wo jeder regionale Leser ein potentieller Zeuge des publizierten Sachverhalts oder Geschehens sein oder sich zum Richter über Entscheidungen und Meinungen aufspielen konnte, wie die zahlreichen Leserbriefe belegten, die tagtäglich in der Redaktion eintrafen. Andererseits…?
Er spürte, wie unsicher er, wie unausgereift sein Vorhaben zu diesem Zeitpunkt war, wie er mit sich kämpfte. Such dir einen Satz aus, einen Nebensatz, ein einziges Wort!, versuchte er sich anzutreiben. Streich es, ersetze es, formuliere um, negiere! Deleatur. Das kann doch nicht so schwer sein, sagte er sich. Doch es war schwer. Alles Schriftliche hat den Charakter des Manifesten. Je mehr er las, desto mehr verfestigte sich dieser Gedanke. Aber er wollte nicht aufgeben. Noch verblieben ihm rund zehn bis fünfzehn Minuten.
Er entschloss sich, die Artikel absatzweise rückwärts zu lesen, in einem letzten Abschnitt irgendeine geringfügige Änderung vorzunehmen, dort, wohin das Auge des Durchschnittslesers selten gelangt, weil die anfängliche Neugierde oder das Interesse bereits erlahmt oder durchs Faktische befriedigt worden ist. Er suchte und las weiter:
Die Kommission schlägt vor, die Vorlage zu genehmigen. Die Regierung soll verpflichtet werden, die strittigen Zahlungen mit den Gemeinden nochmals zu verhandeln.
So lauteten die beiden letzten Sätze eines längeren Artikels mit dem Titel Das Feilschen um die Millionen nimmt kein Ende, auf den er jetzt sein Augenmerk gelenkt hatte. Er überflog den Artikel, in dem es um eine strittige Finanzvorlage ging, und in dem die Pro und Kontras mehrerer Gemeindepräsidenten aus der Region in einer nicht enden wollenden Aneinanderreihung von Statements aufgeführt wurden. Welche Rolle in dieser Sache die erwähnte Kommission spielte, war nicht ersichtlich – ein klares Versäumnis des Verfassers. Schweighauser öffnete in einem Anflug von Entschlossenheit den Artikel und änderte in sehr schnell ausgeführter Tastenfolge den ersten der beiden Sätze wie folgt:
Die Kommission schlägt vor, die Vorlage nicht zu genehmigen.
Speichern. Schliessen. Weiterleiten. Schweighauser hatte die Befehle schneller ausgeführt, als ihm lieb war. Sein Herz begann jetzt heftig zu pochen, seine Hände zitterten. Er spürte kalten Schweiss auf der Stirn. Noch hätte er alles rückgängig machen können. Noch hätte er den Text wieder zurückholen und die Korrektur rückgängig machen können. Er hätte zum Hörer greifen und der Druckerei mitteilen können, dass er einen schwerwiegenden Fehler entdeckt habe, dass man ihm bitte den Text noch einmal in den Korrekturstatus zurückgeben solle. Aber sein Entschluss stand fest. Es gab kein Zurück mehr, sollte kein Zurück mehr geben. Fin. Fine. The End.
Um jeder Versuchung, den Text in seinen ursprünglichen Zustand zurückzubringen, zu widerstehen, loggte er sich aus dem System aus, beendete sämtliche geöffneten Programme und fuhr anschliessend den Computer herunter. Er wartete, bis sich der Computer ausschaltete und starrte danach eine Zeitlang regungslos auf den erloschenen Bildschirm. Wenig später löschte er auch das Licht der Schreibtischlampe, lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen weit in seinen Stuhl zurück und hob den Blick in Richtung Fenster. In der Dunkelheit war in nicht mehr abschätzbarer Entfernung lediglich das Blinken eines roten Warnlichts zu erkennen. Schweighauser schloss seine Augen.
Am nächsten Morgen wurde er durch das Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen und war augenblicklich wach. Sein Körper fühlte sich schwer an. Etwas unterhalb seiner linken Schläfe verspürte er ein sanftes, aber unangenehmes Pochen, das sich langsam Richtung Augenbraue und Stirn hochzuarbeiten versuchte. Der Geruch von abgestandenem kaltem Schweiss stieg ihm in die Nase. Er spürte die Nässe seiner Achselhaare, die Unterwäsche klebte an seinem Körper. Während das Telefon im Zimmer nebenan unerbittlich weiterklingelte, griff er nach dem Wecker, der neben seinem Bett auf dem Boden stand. Ein kurzer Blick genügte, um festzustellen, dass es bereits kurz nach zehn war. Er hatte sich gestern nicht mehr in der Lage befunden, den Wecker zu stellen.
Endlich verstummte das Telefon. Schweighauser dachte nach. Wer hatte versucht, ihn telefonisch zu erreichen? Er erhielt nur noch selten Anrufe, zumindest in letzter Zeit. Hatte man seine Tat von gestern bereits entdeckt? Hatte der zuständige Redaktor heute Morgen die falsche Aussage in seinem Artikel bemerkt und wohlwissend, dass ihm kein solcher Fehler unterlaufen sein kann, Nachforschungen betrieben, wie es dazu gekommen war? Hatte er sich bei der Druckerei informiert, Meldung in der Chefredaktion gemacht? Oder hatte sich ein Mitglied besagter Kommission empört an die Redaktion gewandt, nachdem es bei der morgendlichen Zeitungslektüre auf diese eklatante Fehlinformation gestossen war? Gesetzt der Fall, jemandem war der Fehler aufgefallen, war es möglich, dass man durch Schlussfolgerungen in so kurzer Zeit darauf kommen konnte, dass der Urheber im Korrektorat zu suchen sei? Obwohl ein solches Szenario nicht völlig auszuschliessen war, die Wahrscheinlichkeit war gering. Trotzdem, Schweighauser war beunruhigt. Er wusste, dass die Sache sehr schnell entdeckt werden, dass er jederzeit in Verdacht geraten konnte. Die Angst aufzufliegen würde ihn ab sofort auf Schritt und Tritt begleiten. Aber hatte er nicht genau das gewollt? Immerhin, so viel stand fest: Sein Bubenstreich oder wie auch immer man es nennen wollte, was er da gestern in die Tat umgesetzt hatte, hatte seiner vertrauten Gedankenleere ein Ende gesetzt.
Schweighauser zwang sich jetzt aufzustehen, obwohl sich das Pochen in seinem Kopf immer mehr zu einem Stechen ausweitete. Durch die undichten Lamellen der Fensterrollläden drangen vereinzelt gleissende Lichtstrahlen ins Schlafzimmer, in denen sich massenweise Staubpartikel tummelten. Draussen schien sich ein strahlender Spätsommertag breit zu machen. Doch Schweighauser war nicht nach Licht zumute, sah sich nicht veranlasst, die Rollläden hochzuziehen und dem Tag Einlass zu gewähren. Die Hände schützend vor die Augen haltend und das einfallende Licht abwehrend stand er auf, verliess das Schlafzimmer und trat durch den Seiteneingang in den völlig verdunkelten Nebenraum, der rundum von oben bis unten mit Büchern vollgestopft war. Auf dem Schreibtisch am Fenster blinkte die Telefonanzeige. Er nahm das Telefon aus der Ladestation und schaute auf die Anzeige: eine o81er-Nummer, kein lokaler Anruf also. Die Nummer war ihm nicht bekannt, auch die Vorwahlregion konnte er nicht zuordnen. Er schaltete seinen Computer auf dem Schreibtisch ein und verliess danach, ohne das Aufstarten abzuwarten, den Raum in Richtung Küche, um sich einen Kaffee aufzusetzen und etwas gegen seine Kopfschmerzen einzunehmen, die nicht nachlassen wollten. Wieder am Schreibtisch zurückgekehrt, startete er das Internet, gab die unbekannte Telefonnummer in die Suchmaske des Online-Telefonbuches ein und schickte die Anfrage ab. Er wollte wissen, wer ihn angerufen hatte, er wollte ausschliessen, dass der Anruf etwas mit seiner gestrigen Tat zu tun haben könnte. Kurzes Warten. Dann das Suchresultat: Dr. Lorenz Capaul (-Schweighauser), wohnhaft in Vals, Graubünden. Der Name seines Schwagers.
Schweighauser war überrascht und irritiert. Damit hatte er am allerwenigsten gerechnet, mit einem Anruf seiner Schwester. Was konnte der Grund dafür gewesen sein? Der Kontakt war nach dem Tod des Vaters vor drei Jahren praktisch abgebrochen. Es war nach der Beerdigung zu Streitigkeiten gekommen, unter anderem wegen des Erbes. Nicht ganz zu Unrecht hatte ihm seine Schwester damals vorgeworfen, dass er sich um nichts kümmere, dass er wie immer, wenn es um die Familie ging, alles ihr überlasse – die Formalitäten, den Verkauf des Elternhauses; dass er sich hinter seiner Schwermut verschanze, hinter seinem verpatzten Leben und den Gleichgültigen spiele. Als sie sich danach auch noch bemüssigt gefühlt hatte, die bevormundende Stimme ihrer Mutter zu imitieren, um ihm zu sagen, dass er endlich Verantwortung für sein Leben übernehmen solle und dass sie mittlerweile sehr gut verstehen könne, warum ihn seine Frau verlassen habe, war ihm der Kragen geplatzt. «Du kannst mich mal!», hatte er in den Hörer geschrien und aufgelegt. Danach hatte es noch zwei, drei schriftliche Kontakte gegeben in Sachen Erbschaft: sein Einverständnis zur Veräusserung des Elternhauses, eine Mitteilung über die Überweisung seines Anteils, als letztes – vor gut einem Jahr – dann überraschend eine Ansichtskarte von der Therme Vals mit den Worten: «Wir haben hier in Vals ein Hotel übernommen. Lass uns unseren Streit begraben. Besuch uns mal, wenn Du möchtest. Ich wünsche Dir alles Gute. Deine Doris.»
Schweighauser beschloss den Anruf vorläufig zu ignorieren, obwohl dies ein ungutes Gefühl hinterliess. Was, wenn mit Doris etwas geschehen war, wenn sie in ernsthaften Schwierigkeiten steckte? Merkwürdig, wie auf einmal alles in Bewegung zu geraten schien, dachte er sich, selbst die Vergangenheit. Aus der Küche war das röchelnde Geräusch der Espressomaschine zu hören. Schweighauser verliess das Bürozimmer, schenkte sich in der Küche eine grosse Tasse Kaffee ein, kehrte ins Schlafzimmer zurück und legte sich noch einmal aufs Bett. Das stechende Pochen im Kopf hatte sich noch nicht gelegt. Er hoffte auf eine baldige Wirkung des Aspirins. Er hätte jetzt gerne die Wohnung verlassen, um sich möglichst schnell eine Zeitung zu besorgen, im Café an der Ecke oder am Kiosk vorne bei der Tramhaltestelle, doch sein Kopf liess das im Moment noch nicht zu. Er bereute in diesem Moment, dass er kein Abonnement mehr besass. Er hatte die Stadtzeitung vor Monaten abbestellt, obwohl er sie als Verlagsangestellter zum halben Preis beziehen konnte. Ein stiller Protest, gegen die verlagsinterne Entwicklung, den schleichenden Stellenabbau, die seichte Berichterstattung, den diffusen, rechtskonservativen Kurs.
Er wollte ihn jetzt schwarz auf weiss sehen, diesen einen Satz, den er gestern Nacht verändert hatte. Ob aus einer Laune heraus, aus reiner Willkür, aus Überdruss oder aus einer Art inneren Notwendigkeit, die einer länger anhaltenden Kränkung erwachsen war, war ihm nach wie vor nicht klar. Gefühle zwischen Zweifel und Genugtuung, Angst und Freude, zwischen Allmacht und Ohnmacht hatten ihn gestern auf dem Heimweg begleitet und ihn fast um den Schlaf gebracht. Die Quartierbar, in der er oft nach Arbeitsschicht noch einkehrte, hatte er kurz nach Betreten wieder verlassen. Es hatte bereits gähnende Leere geherrscht, normalerweise kein Grund nicht zu bleiben. Im Gegenteil: Er liebte diese nächtliche Tristesse, den Blick durch das grosse Fenster auf die schwach beleuchtete leere Strasse, das fast schon heimatliche Gefühl, das dieser bedeutungslose Ort in ihm zu wecken vermochte. Doch gestern war das anders gewesen. Er hatte sich nach dem Eintreten plötzlich merkwürdig fremd gefühlt und beobachtet – wie ein Verirrter. Valéry, die Bardame, war gelangweilt hinter der Theke gestanden und hatte Bierdeckel abgezählt. Ein unbekannter Gast, der in der Ecke vor einem fast leeren Bierglas gesessen war und in seiner Tasche nach Kleingeld kramte, hatte ihm einen misstrauischen Blick zugeworfen, als er in der Mitte des Raumes stehen geblieben war und für einen kurzen Moment innegehalten hatte, bevor er rechtsumkehrt gemacht und das Lokal grusslos wieder verlassen hatte. Er war danach auf direktem Weg nach Hause gelangt.
Zuhause hatte er sich ein grosses Glas Wein eingeschenkt und in einem Zug ausgetrunken, danach ein zweites. Er war längere Zeit zwischen Küche, Gang und Bürozimmer hin und her gewandelt und hatte auf die Wirkung des Alkohols gehofft, die sich dann allmählich einzustellen begann. Er war beim Auf- und Abgehen in ein Wechselbad der Gefühle geraten. Leise, sarkastische Lachanfälle, die er vergeblich zu unterdrückten versuchte, hatten sich mit Gefühlen der Angst und Scham abgewechselt. Er hatte beim Gehen laut vor sich hin zu deklamieren begonnen, um die innere Aufruhr, in der sich sein ganzes Wesen befand, zu besänftigen, hatte Nonsens skandiert wie «deleatur igitur» oder trunkene Verse gereimt:
«Ein Nicht, ein Nein,
kommt selten allein
Trink noch einen Wein
Das kann doch keine Sünde sein…»
Immer wenn er in der Küche angekommen war, hatte er jeweils einen kräftigen Schluck Wein genommen und das Glas wieder gefüllt, um sich danach wie ein eingesperrtes abgestumpftes Tier in einem Käfig wieder in Richtung Büro aufzumachen, von wo er wenige Sekunden später wieder zurückkehrte, bis er sich schliesslich in einem so angetrunkenen Zustand befunden hatte, dass er sich gerade noch seiner Kleider entledigen konnte und sich in sein Bett fallen gelassen hatte. Es hatte noch eine ganze Weile gedauert, bis das Kreisen seiner Gedanken in einen Zustand der Bewusstlosigkeit überging und er Schlaf gefunden hatte.
Die Kopfschmerzen begannen jetzt deutlich nachzulassen. Schweighauser beschloss, eine Dusche zu nehmen, sich zu rasieren und die Kleider zu wechseln. Er fühlte sich nach wie vor schwer und müde, aber er wollte sich jetzt dem Tag stellen. Die Neugierde trieb ihn aus dem Bett. Er stand auf, öffnete das Fenster und zog mit zwei kräftigen Zügen die Rollläden hoch. Das Schlafzimmer wurde augenblicklich mit Licht geflutet und eine angenehme Wärme strömte in den Raum.
Er verschwand im Badezimmer, duschte lange abwechselnd kalt und heiss, fühlte sich danach und nach der Rasur deutlich erfrischt, zog sich frische Kleidung an und verliess darauf die Wohnung.
Als er die Strasse betrat und sich in Richtung Capri Bar aufmachte, wo er für gewöhnlich einen Teil seines Morgens verbrachte, sofern er es schaffte, vor Mittag aufzustehen, war alles anders als sonst, zumindest anders als in den letzten Wochen und Monaten. Es lag nicht am spätsommerlichen und strahlenden Wetter, dem warmen Luftstrom, der angenehm und in sanften Wellen durch die Strassen glitt und die Blätter an den Bäumen wie Daunenfedern in einen schwebenden Zustand versetzte. Es war seine innere Gestimmtheit, eine Mischung aus ungewisser Erwartung und ängstlicher Neugier, vergleichbar mit dem Gefühl, das jemand in sich trägt, der auf ein Prüfungsresultat wartet und weiss, dass sich, ganz gleich wie die Entscheidung ausfällt, etwas verändern wird. Er fühlte sich auf einmal leicht und getragen, in eine wenn auch ungewisse Zukunft getragen; ganz anders als in letzter Zeit, die einem bleiernen Stillstand geglichen hatte, einem Treten an Ort.