Schwerelos - Jill Ciment - E-Book

Schwerelos E-Book

Jill Ciment

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Beschreibung

Das Pech ist der treueste Begleiter, meinen die fünfzehnjährige Kim und ihre Mutter Gloria. Alle Versuche, in den Einöden der USA die Segnungen der modernen Zivilisation zu verkaufen, scheitern. Der Markt für Aphrodisiakum-Parfums ist zusammengebrochen, handliche Metalldetektoren finden auch keine Abnehmer, und der Postminister der Vereinigten Staaten ist Gloria und Kim auf den Fersen. Als in einer regnerischen Nacht ein schwerer Packard, ungelenk gesteuert von dem Flugzeugingenieur Arthur, das Cabriolet der beiden rammt, scheint das Schicksal ihnen den letzten Schwinger zu verpassen. Doch der kleine Unfall wird zum Wendepunkt im Leben der drei Protagonisten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 234

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Jill Ciment

Schwerelos

Roman

Aus dem Amerikanischen von Claudia Böttger

FISCHER Digital

Inhalt

Für Arnold und in [...]Erster Teil Das Gesetz des freien Falls1234567Zweiter Teil Schwerelosigkeit891011121314Dritter Teil Der Dopplereffekt15

Für Arnold und in Erinnerung an Catherine Low

 

 

Ich möchte mich bei David Leavitt und bei Arnold Mesches für ihre großzügigen Beiträge und häufiges Lesen bedanken.

Außerdem danke ich Bernard Cooper, Lesley Carsten und Ann Patty für all ihre Hilfe und Unterstützung.

Erster Teil Das Gesetz des freien Falls

1

Als ich klein war, glaubte ich, daß die Atmosphären, die die Erde umgeben, eine zusätzliche Sphäre hätten. Es gab die blauschwarze Stratosphäre, die luftige und vom Wetter gegerbte Troposphäre und gerade unterhalb der Tischhöhe, wo ich lebte, eine Sphäre, von der ich niemandem erzählte – die Kindersphäre. Mein Physikverständnis, das ich mir aus der unorthodoxen Weltanschauung meiner Mutter zusammengesetzt hatte, zerbrach, als ich es während des Schulunterrichts anwandte. Nach Ansicht meiner Lehrer war nicht die Arithmetik für die finanziellen Probleme meiner Mutter verantwortlich, spiegelte nicht die Meteorologie ihre wechselnden Launen wider. Doch ohne diese Erklärungsmuster wurde die Welt zu einem uninteressanten Ort, und darüber hinaus hatte die Vorstellung, daß unabhängig davon, wie oft meine Mutter und ich umzogen, die Planetachse doch immer irgendwo in unserem Haus lag, etwas heimlich Fesselndes.

Wir lebten ganz allein in einem Wohnwagen aus Aluminium, den wir, bis Arthur in unsere Existenz rollte, mindestens einmal im Jahr an unser blaues Kabriolett hängten und fortbewegten, ein Flirren aus Wolken und Sonne, die sich in seiner aerodynamischen Form spiegelten. Wenn wir den Highway entlangbrausten, sah es manchmal so aus, als zögen wir an unserer verbeulten Stoßstange eine hauchdünne Scheibe des Himmels hinter uns her. Wir änderten ständig unsere Adresse, denn meiner Mutter zufolge waren sie alle hinter uns her – ihre Versandhauskunden, die Food and Drug Administration, sogar der Postminister (damals stellte ich mir darunter einen erfolgreichen Postboten mit Epauletten vor).

Meine Mutter verkaufte Aphrodisiaka. Ihr Geheimrezept wurde in Parfüm verdünnt, und wegen des durchdringenden Geruchs – einem Gemisch aus Pinien- und Blumenaerosol – vermutete ich, daß Aphrodisiaka eine Blumenart seien. Ich hatte gerade erst gelernt, die Welt in Pflanzen, Tiere, Mineralien und Gas aufzuteilen.

Meine Mutter ordnete ihre Kunden in drei Unterabteilungen ein, die meine Lehrer nicht erwähnt hatten, »die Häßlichen, die Lahmen und die Verrückten«. Sie warb für ihr Parfüm in der wöchentlichen Boulevardzeitung, auf der Rückseite mit dem Kleingedruckten.

Die Boulevardzeitungen faszinierten mich. Die Fotografien waren mit nichts in meiner Fibel zu vergleichen – ein unscharfer Schnappschuß einer Heizung, deren Rohrleitungen Beethovens verlorene Symphonien spielten, das Gesicht einer Frau mit und ohne Schnurrbart. Menschliches Haar wächst 0.00000001 Meilen die Stunde. Meine Damen, Wunderwachs bietet die Lösung! Die meisten Artikel waren mir unverständlich und mußten mir von meiner Mutter vorgelesen werden. »Stirbt einer Ihrer Lieben«, las meine Mutter vor, »verschenken Sie nicht sein Haustier, werfen Sie die Zimmerpflanze nicht hinaus! Wissenschaftler haben herausgefunden, daß die Seelen derer, die wir verloren haben, in weniger entwickelten Wesen gefangengehalten werden.«

Wenn ich nachts allein in meinem Aluminiumschlafzimmer lag, durch unser ständiges Umherziehen desorientiert, erschienen diese Bilder wie in einem Wirrwarr in meinem Kopf, bis eine Zimmerpflanze ihre Dornen mit Wachs entfernte und eine menschliche Seele, hinter dem Gitter eines Heizungsgerätes gefangengehalten, laut weinte und mich bei meinem Namen rief.

Ich hatte keine Phantasiefreunde. Meine Mutter vertrat die Theorie, daß meine Natur bereits im Schulalter mit allen moralischen Charakterzügen durchwoben war, über die sie verfügte. Ich war auf mich selbst gestellt. Die einzige Phantasie, der ich nachhing, war, daß die Stunden, die ich damit verbrachte, brav zu sein – indem ich meiner Mutter die Straßenkarten lesen half oder indem ich meinen Wortschatz mittels der Boulevardpresse vergrößerte –, von meinen ehemaligen Klassenlehrern zusammengerechnet wurden, denn es war ihr Nebenberuf, mittels Radiosendern, die sie mir während eines Mittagsschlafes in der Schule eingepflanzt hatten, einen Überblick über mein Leben zu behalten. Verglichen mit der Vorstellungskraft meiner Mutter, erschien mir meine eigene jedoch simpel.

Sie sagte, daß wir Millionärinnen werden würden. Sie sagte, das Vergangene sei das Vergangene. Jedesmal, wenn wir zu einem neuen Wohnwagenpark kamen, fing sie sofort damit an, unsere Leben umzubauen, indem sie mal hier ein schlechtes Jahr unterschlug, mal dort einen guten Monat hinzufügte, bis meine Erinnerungen sich um die wundersamen Sparren ihres Gerüsts rankten. Als ich zehn Jahre alt war, dachte ich, daß meine Mutter über die Grundprinzipien des Magnetismus verfügte. Wenn ich mich zwischen den unbekannten Wohnwagen verirrte, brauchte ich mich nur von dem nächsten Spektakel anziehen zu lassen – eine Auseinandersetzung über die Miete, ein Streit um einen Parkplatz: stets stand meine Mutter im Mittelpunkt. Wenn wir nachts zu den Sternen hochblickten, nachdem wir in der Boulevardpresse über fliegende Untertassen gelesen hatten, sah sie in jedem eigenartigen Lichtgebilde am Himmel eine mögliche Erscheinung. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, stand sie häufig wie angewurzelt am Fenster und starrte ins All.

»Was hast du heute in der Schule gemacht?«

Ich erklärte ihr, daß wir Wachsstifte bekommen hätten und aufgefordert worden seien, zu malen, wo wir am liebsten auf der Welt leben würden. Stolz hielt ich mein bemaltes Blatt mit einer anonymen Metropole in die Luft.

»Das ist sehr gut, Kim. Aber wo sind die Fenster? Wo sind die Türen? Es tut mir leid, aber ich kann da keine Skyline sehen.«

»Wie, meinst du, sieht es aus, Mami?«

»Wie mein Stimmungsbarometer.«

Im Laufe unserer Reisen besuchte ich zwölf Grundschulen und zwei Realschulen. Wir lebten in dreizehn verschiedenen Wohnwagenparks. Wir reisten über neunzigtausend Meilen. Ich hoffte, daß, wenn die Zahlen auf dem Kilometerzähler unseres Autos wieder null erreichten, unser Leben von neuem anfangen würde. Laut der Boulevardpresse waren solche Dinge möglich: wenn es in deinem jetzigen Leben nicht klappt, wenn dein Herz versagt oder deine Zellen zu explodieren anfangen, läßt du dich schnell einfrieren und in einer besseren Welt wieder auftauen.

»Mensch, mir wäre es ganz recht, wenn ich mich eine Weile einfrieren lassen könnte, bis man uns im Postministerium aus den Augen verliert«, sagte meine Mutter. »Du bist jetzt in der neunten Klasse, Kim – was ist ein Verjährungsstatut?«

Ich dachte, sie hätte »Verjährungsstatue« gesagt, und ich versuchte mir vorzustellen, wie die aussehen könnte. Die einzigen Skulpturen, die ich gesehen hatte, waren Dinosaurier in einem Diorama. Die einzigen Kunstobjekte, die ich kannte, waren Gemälde vom Himmel, wie sie in Motels hingen. Und deshalb stellte ich mir eine Tonnachbildung meiner Mutter vor, überlebensgroß, die unser blaues Kabriolett auf einen knallbunt gemalten und vollkommen trügerischen Sonnenuntergang zusteuerte.

Nur zweimal in all den Jahren schwankte mein Bild von meiner Mutter. Das erste Mal, als wir auf einem verlassenen Highway entlangrollten und unser Reifen platzte: Meine Mutter stellte den Motor ab.

»Ich hoffe nur, daß deine Radiosender heute nacht arbeiten, Kleines. Hoffen wir, daß deine Lehrer am Ball sind.«

Dann lehnte sie ihre Stirn gegen das Lenkrad.

Ich sagte nichts.

Um die unerträgliche Stille zu unterbrechen und uns in Sicherheit zu bringen, schaltete meine Mutter nach einem Augenblick die Zündung ein. Das Armaturenbrett leuchtete in bernsteinfarbenem Leben auf. Die Scheibenwischer, die in trägen Bogen über die schmierigen Windschutzscheiben fuhren, ließen die Sterne wie schimmernde Prismen erscheinen.

»Ich habe niemanden«, sagte sie, »niemanden, der über mich wacht.«

Wie man sieht, war es unumgänglich, daß meine Mutter weiterhin die fettigen Schlieren auf unserer Windschutzscheibe mit einer Art entferntem Regenbogen verwechselte.

Das zweite Mal standen wir in einer Schlange unter der blauen Decke des Arcadia Postamts und klebten Briefmarken auf ihre Parfümsendungen. Meine Mutter schaute hinüber zu der Pinnwand mit den Plakaten von Personen, die polizeilich gesucht wurden, und bemerkte: »Weißt du, bald werden wir hier mein Bild sehen. Wie werden sie mich wohl beschreiben? Haar: messingfarben. Augen: rot. Wurde zuletzt gesehen, wie sie in einem blauen Kabriolett nirgendwohin fuhr.«

Plötzlich begann ich zu weinen. Am Schalter drehten sich ein älterer Farmer und sein adamsapfliger Sohn um und starrten uns an.

»Bitte … bitte, weine nicht, Schatz«, murmelte meine Mutter und tupfte meine Tränen sanft mit ihrem Ärmel ab. »Ich habe nur einen Scherz gemacht.«

Ich konnte nicht aufhören. Mir war endlich klargeworden, daß meine Mutter unerwünscht war und von niemandem gesucht werden würde, und wenn ich nicht schnell etwas unternahm, wäre die einzige Zelle, in der sie landete, die Einzelhaft ihrer Illusionen.

Ungefähr sechs Monate später gerieten wir eines Nachts in einen furchtbaren Gewittersturm in den Bergen über Los Angeles. Die Straße verwandelte sich in ein blitzblaues Zittern, und Donner prallte an den Wänden der Canyons ab. Jedesmal, wenn meine Mutter durch atmosphärische Turbulenzen fuhr, erlebte sie Halluzinationen. Wir wichen einer armlosen Erscheinung aus – sie entpuppte sich als tropfender Hydrant. Sie bremste wegen eines fliegenden Skeletts im Reifrock – es verwandelte sich in einen entflogenen Regenschirm. Dann rollte Arthurs schwarzer Packard aus seiner Auffahrt und in unser Leben. Sein Auto war kein Gespenst. Wir stießen zusammen.

Es gibt zwei Gesetze, die erklären, was mit einem Gegenstand passiert, wenn er frei und ungehindert fällt. Diese werden die Gesetze des freien Falls genannt. Das erste Gesetz besagt, daß unter dem Einfluß der Erdanziehungskraft alle Körper mit der gleichen Geschwindigkeit, unabhängig von ihrem Gewicht oder ihrer Größe, fallen. Das zweite Gesetz besagt, daß in einem luftleeren Raum der Fall des Körpers weder von seiner Dichte noch von seiner Form beeinflußt wird. Folglich werden eine einhundertdreißig Pfund schwere Frau und ein fünfundneunzig Pfund schweres fünfzehneinhalbjähriges Mädchen zur gleichen Zeit auf den Boden fallen, wenn sie ihren Fall in einem vollkommenen Vakuum gemacht haben.

 

Meine Mutter und ich landeten im nassen Gras, Straßenkarten flogen um uns herum wie aufgescheuchtes Geflügel. Das Kabriolett stand tief im Gebüsch, seine Türen geöffnet, seine schwarzweißen Reifen drehten sich sinnlos weiter. Unser Wohnwagen stand in Schräglage auf dem Bordstein, sein aerodynamisches Ende war fürchterlich eingedrückt.

Ich setzte mich aufrecht hin.

Ein paar Fuß entfernt kam in einem Wirbelwind von Dreck, Chrom, Gummi und Regen Arthurs Packard schleudernd zum Stillstand, und er stolperte ins Freie, seine hochgewachsene, dunkelhaarige Figur schwankte ein bißchen, bevor er neben uns in den durchweichten Rasen sank. Sein Kinn hatte Schnittwunden, und er zitterte. Ein paar Minuten lang sagte niemand etwas. Die einzigen Geräusche waren ab und zu ein Donnerknall und unsere Autoradios, die den trommelnden Regen mit ihrem Knacken übertönten: seins spielte eine melodische Symphonie, unseres zischte und stritt sich mit einer Talk-Show, bei der die Hörer anrufen sollten: »Nachteulen, greift zum Telefon. Das Thema heute abend lautet Bombenschutzeinrichtungen. Würden Sie Ihren Nachbarn aufnehmen?«

Er rieb seine Augen, schaute mich an, blinzelte und starrte dann meine Mutter an. »Ist mit euch alles in Ordnung?« fragte er nervös.

Ich nickte, aber meine Mutter rührte sich nicht und sagte kein Wort. Ihr Mohairpullover war zerrissen, und einer ihrer Lederclogs fehlte. Umgeben von vom Wind aufgefächerten Straßenkarten, erschien mir ihr nackter, weißer Fuß als der stillste, blasseste Punkt auf Erden.

»Bleib ruhig sitzen und paß auf, daß sie sich nicht bewegt«, sagte er. »Ich bin gleich wieder da.« Er löste seinen Blick von ihr und zeigte auf das gelbe Verandalicht unter einem zitternden Eukalyptus. »Ich gehe nur kurz nach Hause, um die Polizei zu rufen.«

»Wirklich«, sagte meine Mutter, »das wird nicht nötig sein.«

Sie suchte nach meiner Hand. Sie setzte sich langsam auf. Benommen schaute sie sich um, eher überrascht als verängstigt. Dann berührte sie mit grasbefleckten Fingern die blaurote Beule, die auf ihrer Stirn anschwoll.

Arthur schälte sich aus seinem Regenmantel und bedeckte meine Mutter mit seinen glänzenden Falten. »Wie heißen Sie?« fragte er.

Ihre blauen Augen starrten zu ihm hoch, ohne ihn zu sehen, und wanderten dann zu mir. Einen Augenblick lang klärte sich ihr konfuser Blick. »Gloria«, sagte sie weich.

»Wissen Sie, was passiert ist, Gloria? Wissen Sie, wo Sie sind?«

Ihr Blick sank zurück in ein sumpfiges Durcheinander. Sie schüttelte den Kopf.

Arthur holte tief Luft. »Gloria, können Sie mir sagen, welchen Wochentag wir haben? Wer ist unser Präsident?«

Für meine Mutter war Zeit dehnbar. Wir hatten keine feste Anschrift, an die man uns Wahlunterlagen schicken könnte.

»Fragen Sie mich, wer der Postminister ist«, schlug sie vor.

Arthur drehte seinen Kopf sehr langsam zur Seite und schaute mich an, seine großen blauschwarzen Augen füllten sich mit wilder Furcht. »Ich denke, wir sollten Gloria ins Krankenhaus bringen«, sagte er. Dann bemerkte er die Abschürfungen an meinem linken Knie und sagte: »Ist dir wirklich nichts passiert?« Ich sagte, es sei nichts. Wir beide beugten uns über meine Mutter. »Gloria«, sagte er, »glauben Sie, Sie können bis zu meinem Auto gehen?«

Meine Mutter sagte, sie könne gehen, aber daß sie nicht ins Krankenhaus gehen würde. Sie wollte unser Auto aus dem Gebüsch holen. Sie sagte, wenn sie nur einmal tief Luft holen und ihren anderen Schuh finden könnte, wolle sie wieder auf den Highway zurück und bei Morgendämmerung in Indio sein.

Ihr Gesicht sah blutleer aus.

Offensichtlich hatte meine Mutter nicht die Katastrophe des Unfalls begriffen, und ich fror so, war so benommen, naß und verängstigt, daß ich nur noch nach Hause wollte.

Ich bat Arthur, mir zu helfen, meine Mutter aus dem Regen in unseren Wohnwagen zu bringen.

Er starrte das verbogene Aluminium auf dem Bordstein an, sein gelbes Verandalicht, dann wieder unseren Wohnwagen. Welche Wahl hatte er wirklich? Mit sanftem Überreden und festem Griff stellte er uns auf unsere Füße und, den hängenden Arm meiner Mutter um seinen Hals legend, brachte er uns halb führend, halb tragend über den rutschigen Rasen in sein Haus.

Es gab eine puderblaue Diele und ein weinfarbenes Wohnzimmer mit Bambusrollos, mit Möbeln aus Hawaii und einem Kaffeetisch aus versteinertem Holz, auf dem drei grelle rotblaue Life-Magazine sehr sorgfältig aufgefächert lagen. Meine Mutter und ich ließen uns auf ein Sofa fallen. Arthur eilte in die Küche und kam mit einem Eisbeutel für die Beule meiner Mutter zurück.

War sie sich sicher, daß sie ihre Meinung bezüglich des Krankenhauses nicht ändern wollte?

Sie war sich sicher.

Er bat mich, sie im Auge zu behalten, während er schnell einen Anruf machte.

Meine Mutter schaute unter ihrem frostigen Beutel hervor und wollte wissen, wen er anriefe.

Einen befreundeten Arzt, um sicherzustellen, daß er richtig vorgehe.

Es war genau acht Minuten nach zwei auf den Messingzeigern der Wanduhr, die die Form eines Sonnenaufgangs hatte. Einen Augenblick lang schloß ich meine Augen und ruhte meinen Kopf auf der Schulter meiner Mutter aus. Draußen klapperte etwas Lautes und Metallisches – ein Abfalleimerdeckel? eine unserer Radkappen? – auf dem Asphalt.

Arthur kam mit einem Erste-Hilfe-Kasten und einer hastig gekritzelten Liste zurück und setzte sich neben uns. »Gloria«, sagte er, »ist Ihnen übel? Glauben Sie, daß Sie sich übergeben müssen?«

Meine Mutter legte ihren Kopf auf die Seite und dachte einen Moment lang nach. Im Gegenteil; sie glaubte, daß sie hungrig sei.

Arthurs Gesicht entspannte sich. Anscheinend war dies ein gutes Zeichen. Er bereitete uns einen warmen Tee und gab uns beiden je zwei Aspirin. Meine Mutter und ich begannen von Kopf bis Fuß zu zittern. Er schenkte uns einen Schuß Brandy aus einer Karaffe ein. Meine Mutter kippte ihren runter und leckte die letzten Tropfen mit ihrer Zungenspitze aus dem Schnapsgläschen. Er brachte uns Decken und Handtücher und half uns aus unseren durchweichten Jacken. Er schien ein Dutzend Hände zu haben, um den Erste-Hilfe-Kasten zu öffnen, die Wunde auf meinem Knie zu behandeln, unter den Eisbeutel zu blicken, um zu prüfen, ob die Beule so geblieben wäre. Er fragte sie immer wieder, ob ihr schwindlig sei. Seine Schritte waren unsicher, seine Augen rot umrändert, sein zerzaustes schwarzes Haar war mit Regentropfen wie mit Edelsteinen besetzt. Auf einmal hielt er inne, rieb seine Augen mit seiner Faust, holte tief Atem und sank neben uns beiden auf das Sofa. Ein paar Minuten blieb er da einfach sitzen, den Kopf in den Händen. Meine Mutter und ich schauten einander an, dann starrten wir geradeaus: sie auf die im Eisbeutel schwebenden blauen Blasen, ich auf die durch die neblige Fensterscheibe sichtbaren Phantomautomobile.

»Es tut mir leid«, sagte er endlich, »so sehr leid.«

Er erzählte uns, daß er unser Auto nicht hatte kommen sehen. »Es tauchte einfach auf. Aus dem Nichts. Riesig. In meiner Windschutzscheibe. Ich versuchte zu bremsen, aber es war alles wie ein verrückter Traum – das Pedal, die Hupe, nichts war da, wo es sein sollte. Wenn ich nur –«

Er beugte seinen Kopf und beruhigte sich. Sollte er irgend jemanden heute nacht anrufen? Verwandte? Freunde? Erwartete uns jemand?

Meine Mutter und ich hatten niemanden, aber ich wollte ihm nicht das Gefühl vermitteln, daß uns niemand vermißte, und deshalb sagte ich ihm, ich würde Tante – ich schaute mich im Zimmer nach einer Eingebung um: Eddie Fischer war auf dem Titelblatt vom Life-Magazine – Tante Liz am Morgen anrufen.

Die Augen meiner Mutter bewegten sich ein wenig nach links, starrten mich erstaunt an und schlossen sich daraufhin.

Er fand, in dem Fall sei es das Beste, wenn man meine Mutter jetzt schlafen ließe. Er könne sich denken, daß ich auch schlafen wollte.

Ich sagte, ich sei erschöpft.

Wortlos ging er ins Schlafzimmer, ich konnte am Quietschen der Federn und dem Rascheln der Laken hören, daß er die Bettwäsche auswechselte. »Gloria«, sagte er und half meiner Mutter, die mit Teppich ausgelegte Treppe hinaufzusteigen und sich auf seine übergroße Matratze zu legen, »machen Sie sich bitte heute nacht um nichts Sorgen. Ich bin im anderen Zimmer, wenn Sie oder Kim etwas brauchen.«

Er deckte sie mit einer Patchworkdecke zu. »Morgen früh werden wir schon alles regeln. Was wir mit den Autos machen sollen, dem Arzt. Wir können all die praktischen –«

Der ganze Bettrahmen wurde vom Gähnen meiner Mutter geschüttelt.

»Das ist jetzt auch nicht wichtig«, sagte Arthur.

Er warf eine zusätzliche Wolldecke über das wagenradgeformte Bettende und gab mir ein Zeichen, ihm in die Diele zu folgen.

Ich entschuldigte mich für die Unordnung: Meine Mutter und ich hatten beide nasse Abdrücke auf seinen Sofakissen hinterlassen. Er sagte, das mache nichts. Das Wichtigste sei, daß meiner Mutter und mir nichts passiert wäre.

Sein Kopf war an den Türpfosten gelehnt, seine Hände hingen an den Seiten herab. Er trug sandbraune Hosen und schwarze Schuhe. Er war Mitte Vierzig und sehr gutaussehend, er glich fast der Statue eines Indianers in einem Zigarrenladen. »Hör zu«, sagte er, »deine Mutter schläft wahrscheinlich die Nacht durch, aber« – seine Stimme wurde leiser, »wenn sie aufwacht oder sich in irgendeiner Weise eigenartig benimmt, solltest du mich sofort aufwecken.«

Ich sollte auf die folgenden Anzeichen achten: Schwindelgefühle, Stimmungsveränderungen, Halluzinationen.

»Meinst du, du bist in Ordnung?«

Ich dachte, ja.

Ich ging in das Zimmer zurück, und er schloß die Tür leise hinter mir.

»Kim?« rief meine Mutter zärtlich.

Ich setzte mich neben sie.

»Kann ich ein Glas Wasser haben?«

Ich holte ihr ein Glas Wasser; sie trank es aus, fiel auf die Kissen zurück und schlief sofort ein.

Ich kroch neben ihr unter die Decke.

Irgendwann vor Sonnenaufgang, als ich mich im Schlaf rührte, stellte ich fest, daß sie aufrecht im Bett saß, dieser Welt ganz entrückt. Der Regen hatte aufgehört, und alles war sehr still und leise und dunkel, mit Ausnahme des getupften Mondlichts, das durch die Bambusrollos fiel.

Sie wollte wissen, wo sie war.

Ich sagte es ihr.

Sie wollte wissen, was passiert war und warum sie solche Kopfschmerzen habe.

Ich erklärte es ihr.

Sie wollte wissen, wann wir abfahren würden.

Mittags, log ich.

Dann überredete ich sie, sich wieder hinzulegen, und entfernte den Eisbeutel (jetzt nur eine ruhige blaue Lache in einem durchsichtigen Beutel), schüttelte ihr Kissen auf und breitete die Decke aus und holte ihr noch ein Glas Wasser. Ich wollte, daß sie sich in diesem großen Bett mit diesen unbekannten Laken, in diesem fremden Haus so wohl wie möglich fühlte, denn eigentlich gab es keinen anderen Ort, an den wir hätten gehen können.

2

Am nächsten Morgen erinnerte sich meine Mutter nicht, wo sie war oder was ich ihr erzählt hatte. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie so aus, als erwache sie aus einer Narkose. Ihr Gesicht war blaß, ihr Blick glasig, und in der Nacht war ihre Beule blauschwarz angelaufen und auf die Größe einer Kinderfaust angeschwollen.

Ich ging zu Arthur. Er hatte die Nacht in seinem Arbeitszimmer verbracht, in einen Lehnstuhl gezwängt, seine langen Beine auf einem Kniekissen, eine Leselampe brannte neben ihm.

Ich ging über den Teppich und rüttelte ihn behutsam wach.

Einen Augenblick lang schien auch er nicht zu wissen, wo er war und wer ihn ins Tageslicht zurückholte.

Dann ging er an unser Bett, untersuchte die Beule meiner Mutter und rief den befreundeten Arzt an. Als dieser ankam, war meine Mutter wieder ohnmächtig geworden, eine rosafarbene Hand schützte ihre Augen vor dem Mittagslicht. Der Freund, ein Mann mit den Hängebacken einer Bulldogge und in karierten Hosen, warf einen Blick auf ihre dunkle Quetschung und öffnete seine schwarze Tasche.

Meine Mutter hob ihren verletzten Kopf. Sie sagte, sie wolle nicht untersucht werden.

Als der Arzt es endlich schaffte, daß sie aufrecht saß, die kalte Muschel seines Stethoskops unter ihr linkes Schulterblatt haltend, sagte sie, es sei nicht notwendig. Als er sie bat, hoch und runter zu schauen, nach links und rechts, den Strahl seines Kugelschreiberlichts auf ihren glasigen Blick richtete, sagte sie, daß sie sich ganz in Ordnung fühle. Sie fummelte herum, während er ihre Reflexe untersuchte, und sie wich allen Fragen bezüglich ihrer Krankengeschichte aus. Aber als er sie bat, ihre Arme auszubreiten, und sie nicht die Spitze ihrer Nase mit irgendeinem ihrer Finger mit den abgekauten Nägeln berühren konnte – egal, wie sehr sie sich auch konzentierte –, sah ich einen Ausdruck nackter Angst auf ihrem Gesicht.

Mit einem liebevollen Schulterklopfen erklärte ihr der Arzt, daß sie eine Gehirnerschütterung habe und daß er leider nichts anderes für sie tun könne, außer ihr vollkommene Bettruhe zu verordnen.

Meine Mutter stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie wollte wissen, für wie lange.

Der Arzt zuckte mit den Schultern. So etwas könne dauern.

Sie wollte Daten. Sie wollte, daß er genaue Angaben machte.

»Gloria«, sagte er und setzte sich neben sie. Hatte sie etwas dagegen, daß er sie Gloria nannte?

Meine Mutter sagte, sie habe nichts dagegen.

»Ich muß mit Ihnen ganz ehrlich sein, Gloria. Bei dieser Art von Gehirnerschütterung, die durch eine eher starke Quetschung kompliziert wird« – er tastete nochmals ihre verletzte Stirn ab –, »wird es mindestens zwei oder drei Wochen dauern. Es tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten für Sie.«

Als nächstes bat er, daß ich mich setzte, und führte die gleichen Untersuchungen an mir durch. Mein Ergebnis war gut. Er tätschelte meinen Kopf und sagte, daß ich mich ein oder zwei Tage lang nicht überanstrengen und bei auftretendem Schmerz etwas Eis auf mein abgeschürftes Knie legen solle.

Dann machte er seine schwarze Tasche zu, und Arthur am Arm nehmend, führte er ihn hinter die geschlossenen Arbeitszimmertüren, wo er ihn laut dafür rügte, daß er uns letzte Nacht nicht direkt in ein Krankenhaus eingeliefert, uns den Händen von Spezialisten übergegeben habe und sich somit nicht – wie sollte er es nennen? – in diese unglückselige, aber auch lächerliche Situation gebracht hätte. Was um Gottes willen hatte Arthur mit uns vor?

Ich wandte mich an meine Mutter, aber sie war schon wieder schwächer geworden, ihr blasser Arm lag ausgestreckt auf der Decke.

Einen Augenblick später erschien Arthur im Zimmer und fragte mich, ob ich jetzt meine Tante oder irgend jemand anderen anrufen wollte.

Ich erwiderte, wir hätten niemand anderen.

Er blickte auf meine geschwächte Mutter hinunter. Ich könne das Telefon in seinem Arbeitszimmer benutzen.

Ich setzte mich auf seinen Schreibtisch aus Walnußholz, meine Füße, die in Socken steckten, stellte ich auf den Drehstuhl. Einen Augenblick blieb Arthur im Schatten stehen, er hörte nicht mit, aber er brannte darauf, zu hören und zu erfahren, daß Tante Liz ihn entlasten würde.

Ich nahm den Hörer ab (blickte in seinen Atlas: Von Alaska bis Zululand), tat so, als ob ich ein Gespräch mit einer Vermittlung für Ferngespräche führte – in Fairbanks – (Arthurs Gesicht wurde länger), wartete ein paar Sekunden, sprach ein warmes Hallo und versicherte dem Signalton, daß es meiner Mutter und mir gutginge.

Dann ging ich zurück zu meiner Mutter, legte mich auf die Decke neben sie und meine Hand an ihre Wange.

Nach ungefähr zwanzig Minuten kam Arthur herein, zwei Tabletts mit Abendessen tragend. Er setzte sie auf den Ahornnachttischen ab und zog einen Stuhl heran. Er sprach nicht darüber, daß wir gehen sollten. Er sprach nicht darüber, daß wir sein Bett in Beschlag genommen hätten. Er saß einfach nur da mit uns und ging die Vorbereitungen durch, die er getroffen hatte, um unseren Wohnwagen und unser Auto reparieren zu lassen, während ich schweigend meine Suppe und meine Eier verzehrte (meine Mutter war zu müde, um ihre anzurühren). \Und als sie wieder ohnmächtig wurde, ihr Gesicht in der Armbeuge vergraben, konnte man sehen, daß er mir unbedingt etwas Beruhigendes sagen wollte. Er hob ihre Papierserviette vom Fußboden auf; er fing an zu sprechen, schüttelte dann aber nur seinen Kopf.

Auf den weißen Oberflächen der Tabletts mit dem Abendessen waren Szenen aus dem Pionierleben abgebildet – eine Holzhütte, eine Feuerstelle, ein Indianer, die Prärie –, und um das lange Schweigen in dem schnell schwächer werdenden Tageslicht zu füllen, während ich den Rest meiner Suppe auslöffelte, sprachen er und ich über das Leben in der Prärie. Er zeigte auf den Kachelofen und sagte, daß sein Urgroßvater genau so einen gebaut hätte. Ich zeigte auf die Prärie und dachte darüber nach, wie es wohl da draußen gewesen sein mußte, im Niemandsland, von Gefahr und Staub umgeben.

Sobald meine Mutter und ich an dem Abend wieder allein waren, versuchte ich mit ihr zu sprechen und herauszufinden, was jetzt mit uns geschehen würde. Ich fragte sie, ob sie glaubte, daß Arthur uns vielleicht eine Zeitlang hierbleiben ließe. Ich wollte wissen, wohin wir gehen würden, wenn er es nicht täte.

Die Lichter gingen aus, und nur der blasse Bogen einer Straßenlampe drang durch die Dunkelheit. Meine Mutter lag zusammengerollt auf der Seite (meine Wange lag auf dem Kissen neben ihr), und jedesmal, wenn sie anfing, ihre Augen zu schließen, stieß ich ihr sanft gegen die Schultern, um ihr nicht weh zu tun, zog an ihrem Ärmel und versuchte, sie aus ihrer Trägheit zurückzuholen. Ich wollte, daß sie mit mir sprach.

Einmal versuchte sie, sich aufzusetzen und, sich an meine Schulter anlehnend, mich zu umarmen und zu trösten, aber ich konnte sogar in diesem fahlen Licht sehen, daß sie viele Meilen weit entfernt war.

Ich legte ihren Kopf wieder auf die Kissen. Ich ließ sie wegdämmern. Dann saß ich, wie mir schien, stundenlang da, benommen von meiner Einsamkeit, und starrte auf mein aufgeschürftes Knie (zwei rote Striemen formten einen lila Isthmus zwischen sich). Um zwei konnte ich es nicht mehr ertragen, weiter dazusitzen. Ich zog meine Leggings an und ging in den Flur hinaus und setzte mich auf die Stufen, die mit Teppich belegt waren. Ich mußte irgendein Geräusch gemacht haben, denn einen Moment später erschien Arthur oben an der Treppe und knotete seinen karierten Morgenmantel zu.

»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte ich schnell.

»Ich auch nicht«, sagte er.

Aber man konnte sehen, daß er gerade erst aufgewacht war; sein Haar war zerzaust, und als er die Stufen herunterkam, ging er mit unsicheren Schritten, wie jemand, der immer noch auf dem Gummifußboden des Schlafes herumtritt.

Er setzte sich einige Stufen oberhalb von mir hin, und zusammen starrten wir in das dunkle Wohnzimmer. Ein Flugzeug dröhnte über uns, und irgendwo ein paar Häuser weiter konnte ich das Klappern eines Abfalleimerdeckels hören, der zugemacht wurde, gefolgt von dem Klirren einer Kette, mit der er am Eimer befestigt war.

Arthur tat so, als blickte er aus dem Fenster, aber ich sah, wie er versuchte, wach zu werden, indem er sich mit dem Handrücken die Augen rieb.

»Kim, hast du Hunger?«

»Eigentlich nicht.«

»Etwas Tee?«

Ich sagte, daß sich das gut anhörte, und folgte ihm in die gelbgestrichene, hell erleuchtete Küche. Es gab ein Erkerfenster und eine eingebaute Eßecke mit Abermillionen von Puzzleteilen, die auf ihrer Formicaoberfläche ausgebreitet waren: Blätter und Ziegel und Formen, die entweder schiefergrauer Himmel oder Wasser waren.