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Nach dem Tod der neunzehnjährigen Keiko Obano durchkämmt eine unbekannte Frau die Clubs und Bars von Tokio. Sie sucht den Mann mit der erotischen Stimme und dem Doppelleben; den Mann, der hier erfolgreich auf Jagd nach einsamen Frauenherzen geht und dabei so erfolgreich ist, dass er über seine Eroberungen Tagebuch führt. Auch Keiko Obano gehörte dazu. Doch plötzlich wird aus dem Spiel mit der Lust tödlicher Ernst. Die Frauen auf seiner Liste werden ermordet – der Mann wird vom Jäger zum Gejagten. Es entsteht eine tragische Verstrickung aus verlorener Liebe, verletzter Ehre und bitterer Rache.
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2017
Nach dem Tod der neunzehnjährigen Keiko Obano durchkämmt eine unbekannte Frau die Clubs und Bars von Tokio. Sie sucht den Mann, der hier auf Jagd nach einsamen Frauenherzen geht und über seine Eroberungen Tagebuch führt. Aus seinem Spiel mit der Lust wird eine tragische Verstrickung aus verlorener Liebe, verletzter Ehre und bitterer Rache.
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Masako Togawa (1933-2016) arbeitete als Nachtclubsängerin, bevor sie zu schreiben begann und mit vierundzwanzig in einem Krimiwettbewerb den ersten Preis gewann. Ihre meisterlichen psychologischen Kriminalromane sind Bestseller und wurden vielfach preisgekrönt.
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Carla Blesgen studierte Anglistik und Germanistik in Köln. Sie arbeitet als freie Journalistin und übersetzt Literatur aus dem Englischen.
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Masako Togawa
Schwestern der Nacht
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Carla Blesgen
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Originaltitel: Ryojin Nikki (1963)
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30528-1
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Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
SCHWESTERN DER NACHT
PrologErster TeilDie Jagd1 – Im Sommer werden die Bars und kleinen Restaurants …2 – Die Asia Moral University befindet sich auf einem …3 – »Empfang. Guten Tag!«Das erste Opfer1 – Er wachte kurz vor sieben auf. Ein Reisender …2 – Am Abend des 5. November nahm Ichiro Honda …3 – Fusako Aikawa, Fremdsprachensekretärin für Englisch bei der Statio-Handelsgesellschaft …4 – Gegen fünf Uhr morgens drehte sich Ichiro Honda …Das zweite Opfer1 – Am 19. Dezember um 20 Uhr befand sich …2 – Zögernd und leise klopfte er an Fusako Aikawas …3 – Ichiro Honda wartete den ganzen Tag über mit …Das dritte Opfer1 – Ichiro Honda flog Heiligabend zurück nach Osaka …2 – Am 5. Januar nahm Ichiro die Zwölf-Uhr-Maschine zurück …3 – Die schmale Straße vor Mitsuko Kosugis Apartmenthaus war …4 – In den frühen Morgenstunden des 25. Januars …ZwischenspielZweiter TeilDie Anwälte1 – Hajime Shinji löste sich hastig von der Matratze …2 – Shinji beschloss, die beiden schwierigsten Damen zuerst in …3 – Am nächsten Tag stattete er den beiden letzten …4 – Er stieg an einer Vorortstation aus und trieb …5 – Shinji stieg das höhlenartige Treppenhaus hinauf; das Echo …Die Blutbank1 – Eine Woche verstrich, bis Hatanaka Shinji wieder zu …2 – Shinji verließ das düstere Gebäude kurz vor Mittag …3 – Der Abend kam, die Sonne ging unter …4 – Er stöberte ihn in einem schmutzigen Café auf …5 – Das Café Dakko befand sich am Ende einer …6 – Es war ein recht langer Fußmarsch vom Bahnhof …7 – Von einem Café aus wählte er Hatanakas Privatnummer …Der schwarze Fleck 11 – Der Wartesaal gleich neben dem Haupteingang des Krankenhauses …2 – Shinji war mit seinem Bericht fertig, doch der …3 – Die Polizeiwache M war in einem schmutzig grauen …Ein MonologDer schwarze Fleck 24 – Seit der Veröffentlichung der Suchanzeige war eine Woche …5 – Der Warteraum des Gefängnisses war heiß und stickig …6 – Eine weitere Woche verstrich, dann entwickelten sich die …EpilogMehr über dieses Buch
Über Masako Togawa
Thomas Wörtche: Masako Togawa: Ein Blick in den Abgrund der Psyche
Über Carla Blesgen
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Sie saß allein in einer Nische im ersten Stock der Bar und schaute gedankenversunken aufs Erdgeschoss hinunter. Durch den dichten Zigarettendunst konnte sie undeutlich neben dem Eingang den Kellner in seiner weißen Jacke erkennen und den Barkeeper, der hinter der Theke einen Cocktail-Shaker schüttelte. Die übrigen Gäste saßen entweder an der Theke oder in den Nischen im Erdgeschoss; die gedämpfte Beleuchtung machte sie fast unsichtbar. Auch hier oben gab es eine Bar, hinter der der Mixer sich die Zeit damit vertrieb, Gläser blank zu wienern; an der Ecke der Theke steckten zwei junge Männer die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander.
Niemand schenkte ihr auch nur die geringste Beachtung. Sonst wäre er wahrscheinlich zu dem Schluss gekommen, dass dieses Mädchen, das kein Make-up trug und zwanzig sein konnte, nicht gerade wie ein typischer Bargast aussah. Als sie hereingekommen war, hatte sie eigenartig verstört gewirkt. Unten war kein Platz mehr frei, also stieg sie die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Der Lärm, der wie eine übermächtige Meereswoge an ihre Füße gebrandet war, wich wieder von ihr zurück. Sie fühlte sich leer und einsam, gefangen in einer Welt, die so schwarz war wie Pech.
Sie nahm ihr halb leeres Glas und stürzte die amberfarbende Flüssigkeit in einem Zug hinunter. Das war ihr dritter Whisky heute Abend – der dritte in ihrem ganzen Leben. Er wärmte ihre Kehle, ihr Körper entspannte sich, und ihr Kopf wurde leicht. Sie stand auf und ging an die Theke, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, um nicht zu fallen.
Der Barkeeper sah das leere Glas in ihrer Hand und lachte.
»Sie haben aber einen drauf …«
Sie lächelte zurück. Schließlich kostete es nichts, nett zu ihm zu sein, und außerdem hatte sie nicht die geringste Vorstellung, was sie tun sollte, wenn sie die Bar verließ.
»Startklar für den vierten? Ich bring ihn gleich rüber.« Er gab vor, den Drink auf ihre Rechnung zu setzen, ließ es in Wirklichkeit aber bleiben. Den konnte sie genauso gut umsonst haben.
Sie schenkte ihm noch ein Lächeln, drehte sich um und kehrte an ihren Tisch auf der Galerie zurück. Dank dieser freundlichen Geste fühlte sie sich plötzlich viel wohler. Die Aufmerksamkeit des Barkeepers war für sie jetzt das Wichtigste in ihrem Leben. ›Bevor ich geh, muss ich ihm eine Schachtel Zigaretten geben‹, dachte sie.
Kurz darauf erschien er mit einem Kristallglas und einer Flasche Whisky, schenkte ihr ein und verschwand genauso lautlos, wie er gekommen war. Wieder war sie allein.
Sie schloss die Augen. Sie sah immer noch rote und grüne schaukelnde Lichter, doch das scharfe metallische Klirren in ihrem Kopf hatte nachgelassen. Nach einer Weile hörte sie sogar Musik, aber es war ihr unmöglich zu sagen, ob die Klänge von außen oder aus ihrem Kopf kamen. Im Grunde war es ihr auch egal; sie ließ sich durch ihre eigene Welt treiben und schlug dabei mit den Fingernägeln den Takt. Eins zwei drei, eins zwei drei … es war eine fröhliche Polka, mit Geige und Gitarre gespielt.
›Wie habe ich diese Melodie einmal geliebt‹, dachte sie. ›Damals, als ich noch keine Sorgen hatte und glücklich war.‹ Sie begann leise vor sich hin zu weinen, Tränen kollerten ihr über die Wangen, und es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass die Musik gewechselt hatte; zuerst hörte sie einen Walzer, dann einen undefinierbaren Rhythmus.
Und dann vernahm sie eine Bassstimme, die sie bis zu ihrem Tod nicht mehr vergessen sollte. Sie war edel und wunderschön – wie die tiefen Töne einer Kirchenorgel. Sie kroch auf sie zu, schlug an ihre Füße, stieg immer höher, nahm ihr Herz gefangen. Sie erkannte das Stück – es war Zigeunerleben von Schumann.
Im Schatten des Waldes, im Buchengezweig,
Da regts sich und raschelt und flüstert zugleich.
Es flackern die Flammen, es gaukelt der Schein
Um bunte Gestalten, um Laub und Gestein.
Die Stimme war tief und traurig, gefühlvoll und einfühlsam. Sie übertönte das Lallen der Betrunkenen und den schrägen Sopran der Damen an der Bar. Wer konnte das sein? Sie schlug die Augen auf und spähte über das Geländer der Galerie. Sie konnte jedoch nur zwei Musikanten sehen, einen Geiger und einen Gitarristen, die die Begleitung spielten. Schüchtern begann sie, das Lied mitzusingen, das sie im Chor ihrer Oberschule geübt hatte. Ihre Stimme und der Bass ergänzten sich perfekt. Sie sangen in vollkommener Harmonie, bis Gitarre und Geige verstummten.
Wer war dieser Mann, dessen Stimme sich so hervorragend mit der ihren ergänzte? Unfähig, ihre Neugier im Zaum zu halten, stand sie auf, stieg, von der magischen Stimme gelenkt, die Treppe hinunter und tauchte in das allgemeine Getöse ein; unsicher spähte sie ins ungewohnte Dunkel, aber alles, was sie durch den Qualm erkennen konnte, waren schwarzhaarige Köpfe, die einander zu überlagern schienen. Was sollte sie tun?
Und dann kam ihr eine Idee. Der Geiger wollte gerade die Bar verlassen; sie stürzte auf ihn zu und stellte sich ihm in den Weg.
»Verzeihen Sie, mein Herr. Würden Sie das bitte noch mal spielen?«
»Sicher, junge Dame, so oft Sie möchten.« Der Geiger, dessen Haaransatz bis an die Schädelkuppe zurückgewichen war, gaffte sie und den Hundert-Yen-Schein, den sie ihm entgegenstreckte, neugierig an. Dann nahm er das Geld und rief seinen Kollegen zurück. Sie begannen wieder zu spielen, und plötzlich ertönte über das Stimmengewirr hinweg wieder die fantastische, eindringliche Bassstimme. Ihr Besitzer entpuppte sich als ein Mann, der im Schatten am Tisch hinter ihr saß. Sie reckte vorsichtig den Hals, um ihn besser sehen zu können, ohne dabei allzu neugierig zu erscheinen.
»Warum setzen Sie sich nicht zu mir?«, fragte die tiefe Stimme, und sie gehorchte, als ob es das Natürlichste der Welt wäre. Es war, als hätten sie sich hier verabredet.
»Spielt weiter!«, rief der Mann, und dann sangen sie beide in vollkommener Harmonie.
Sie tauschten die ganze Zeit über Blicke aus; als würden sie sich schon seit Jahren kennen.
»Los, Leute, wir wollen zur Abwechslung mal was anderes hören!«, kreischte ein Gast.
Der Geiger ließ sein Instrument sinken und fragte: »Tja, soll ich ein anderes Stück spielen?«
Sie sah ihren Begleiter an und wandte sich dann dem Musiker zu.
»Nein danke, das reicht. Sie können gehen.«
Kurz darauf ging auch sie, in Begleitung des Fremden, der ihre Rechnung bezahlt hatte. Als sie aus der Bar traten, fiel das Licht einer Straßenlaterne auf ihn, und sie konnte ihn zum ersten Mal richtig sehen. Sie schätzte ihn auf etwa dreißig; er hatte ein schönes, klares Gesicht; sein Anzug war geschmackvoll und elegant. Alles in allem sah er wie die Verkörperung eines Jungmädchentraumes aus, und sie dachte mit Bedauern, dass sie ein recht ungleiches Paar abgeben mussten.
Einige Stunden später sanken sie auf den Rücksitz eines Taxis. Jetzt hielt er ihren dünnen Körper in seinen langen Armen und wühlte mit dem Kinn in ihrem Haar.
»Fahren Sie uns irgendwohin, wo wir uns ordentlich ausschlafen können«, sagte er zum Fahrer. Seine Stimme klang erschöpft, fast monoton.
»Wird gemacht, mein Herr. Lieber was im westlichen oder im japanischen Stil?« Dann stürzte sich der Fahrer mit einem gefährlichen Manöver in den Verkehr. Vielleicht hatte sie den Wortwechsel zwischen dem Fahrer und ihrem Partner wirklich gehört, vielleicht auch nicht. Sie lag reglos und mit fest geschlossenen Augen in seinen Armen.
Sechs Monate später.
Sie hing mit den Händen am Fenstersims, aber ihre Gedanken waren ganz woanders; sie weilten bei der Begegnung in der Bar vor sechs Monaten. Ein kalter Wind strich über ihre Füße.
›Es tut mir nicht Leid, dass ich mit ihm geschlafen habe‹, dachte sie. Aus ihrem trüben Alltag, dieser Hölle, ragte die Begegnung einsam und vollkommen heraus.
Sie presste sich an die raue Betonwand. Der Stein drückte gegen ihre Nase, ihre Wangen, ihre kleinen Brüste und den schwellenden Bauch hinab zu ihren Knien. Mit jedem Moment zog ihr Körper stärker an den dürren Armen. Wenn ihre Arme das Gewicht nicht mehr halten konnten, ihre jetzt schon tauben Finger unter der Belastung nachgaben, dann würde sie loslassen und vom siebten Stock in die Tiefe stürzen. Nur noch ein wenig Geduld – zwei Minuten, vielleicht drei …
Sie fragte sich, weshalb der Mann mit der tiefen Stimme nach dieser einen Nacht wieder aus ihrem Leben verschwunden war. Trotzdem hegte sie keinen Groll gegen ihn – sie war ihm sogar dankbar, denn er war das einzige Licht in ihrem kurzen grauen Leben gewesen.
›Er kann nichts für die Krämpfe, die ich nach der Arbeit in den Fingern kriege‹, dachte sie, ›genauso wenig für die Schmerzen abends in meinem ganzen Körper. Ihn trifft keine Schuld.‹ Dass sie tausendmal am Tag auf diese Tasten hämmern musste, das war schuld. ›Nur seinetwegen habe ich dieses Leben wenigstens noch ein halbes Jahr ausgehalten. Die Erinnerung an seine Stimme gab mir die Kraft weiterzumachen. Nur sie hat den Lärm in meinem Kopf, dieses Dröhnen wie ein Motor, erträglich gemacht und gedämpft. Seine tiefe Stimme hat mich verzaubert: Körper, Seele, alles. Warum hat er seinen Samen in mich gepflanzt – nur um mich zu verlassen?‹ Aber auf diese Frage gab es keine Antwort.
Das Kind in ihrem Leib bewegte sich. War es das Leben in ihr, das diesen gewaltigen Druck ausübte, oder war es nur die Wand?
Ihre Arme waren inzwischen völlig gefühllos geworden. Wenn sie nur noch einmal von ihm träumen, noch ein einziges Mal seine Stimme hören könnte, die Tortur wäre noch ein wenig länger zu ertragen. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sein Bild war verschwunden. Stattdessen setzten in ihrem Kopf wieder die Geräusche ein, ganz schwach zuerst, wie das Summen eines Mückenschwarms. Und neben sich spürte sie nur die harte Betonwand.
Plötzlich und zum ersten Mal wurde sie von Entsetzen gepackt; es war die Furcht vor dem nicht mehr zu verhindernden Ende. Sie versuchte verzweifelt, ihren Griff zu verstärken, aber ohne Erfolg: Ihre Finger hatten jegliches Gefühl verloren. Auch die Arme waren taub, die Schultern wie tot. Der eisige Wind fuhr unter ihr Kleid, ließ auch die untere Hälfte ihres Körpers gefühllos werden. Einer nach dem anderen gaben ihre Finger das Fensterbrett frei.
Die romantische Begegnung in der Bar war vergessen, ebenso das strampelnde Wesen in ihrem Bauch. In diesen letzten Sekunden wurde sie an die Ufer ihrer Kindheit zurückgespült. Sie hing am Reck in der Turnhalle und versuchte, jede einzelne Muskelfaser schmerzhaft angespannt, sich wieder hochzuziehen. Wie unendlich lang sich damals jede Sekunde hingezogen hatte, wie lang jetzt …
Als letzter rutschte der schwielige Finger ab, den eines Tages ein Ehering hätte schmücken sollen. Jeglichen Bezug zur Realität verloren, stürzte sie der Erde entgegen.
Kurz nach ein Uhr morgens am Erwachsenentag – dem 15. Januar, einem gesetzlichen Feiertag – wurde von einem Sicherheitsbeamten direkt neben dem Firmengebäude die zerschmetterte Leiche von Keiko Obana, Schreibkraft bei der K-Lebensversicherungsgesellschaft, gefunden.
War es Selbstmord? Oder vielleicht gar Mord? Es gab eine Menge Gerede darüber, bis die Polizei endlich das Ergebnis ihrer Ermittlungen bekannt gab. Nach der Autopsie wurde erklärt, es liege Selbstmord infolge einer Neurose vor. Man hatte festgestellt, dass der Ringfinger der Toten eine leichte Sehnenscheidenentzündung aufwies, die typische Berufskrankheit von Schreibkräften.
Der Sicherheitsbeamte erklärte im Verlauf seiner Vernehmung, er habe Keiko Obana trotz des Feiertages in ihr Büro gelassen, weil sie angeblich ein paar Notenblätter für ihren Chor kopieren wollte. Das Unternehmen musste die Selbstmordthese natürlich zurückweisen und berief sich darauf, dass ein Abschiedsbrief fehlte. Der Raum war erst kurz vorher mit einem starken Insektenvertilgungsmittel behandelt worden; Keiko musste versucht haben, das Fenster zu öffnen, und hatte sich dabei zu Tode gestürzt.
Die Polizei hatte zwei Gründe, von einem Selbstmord auszugehen. Erstens sprachen die Abdrücke auf dem Fenstersims eindeutig dafür. Der zweite Grund war ein Faktum, das nicht öffentlich bekannt gegeben wurde. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Keiko Obana im sechsten Monat schwanger.
Obwohl das wahrscheinlich jedermann von der Richtigkeit der polizeilichen Vermutung überzeugt hätte, durfte nicht ein einziges Wort darüber der Presse gegenüber laut werden. Diese Entscheidung hatte der Chef der örtlichen Polizeistation getroffen, dem der Obana-Fall übertragen worden war. Sein Taktgefühl hatte ihn zu diesem Schritt veranlasst; nur Keikos ältere Schwester setzte er über ihre Schwangerschaft in Kenntnis, als sie aufs Revier kam, um als einzige Hinterbliebene die Leiche in Empfang zu nehmen.
»War sie verlobt oder so?«, fragte er umständlich. Die Schwester saß ihm gegenüber und knetete nervös ihr Taschentuch.
»Nicht, dass ich wüsste. Sie hat nie vom Heiraten gesprochen, sie hat auch nie etwas von einem Freund gesagt. Sie könnte es natürlich vor mir verheimlicht haben – ich bin immer noch allein stehend, wissen Sie, aber … Ach, sie war doch noch ein Kind.« Die Schwester sah zögernd zu dem Polizeibeamten auf.
»Sie waren wie eine Mutter für sie, nicht wahr?«
»Ja. Unsere Eltern kamen bei dem Atombombenangriff auf Hiroshima ums Leben. Ich brachte sie mit meinem Einkommen als Schneiderin durch. Sie wusste, wie schwer mir das fiel, und tat ihr Bestes, mir keinen Kummer zu machen. Außerdem glaube ich wirklich, dass sie mir immer alles erzählt hat.«
Die ältere Schwester, Tsuneko Obana, hatte etwas Altjüngferliches an sich, war schlicht gekleidet, ungeschminkt und trug das Haar am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Ihre Augen mit den überhängenden Lidern strahlten eine gewisse Erotik aus, doch im Großen und Ganzen schien sie eine recht stille Person zu sein. Sie saß mit hängendem Kopf da und war anscheinend vom Schmerz über den plötzlichen Verlust überwältigt.
Seine einzige Schwester auf diese Weise zu verlieren, war wirklich tragisch, fand auch der Inspektor und versuchte, seine Fragen so vorsichtig wie möglich zu formulieren.
»Ist Ihnen irgendwas Ungewöhnliches an ihr aufgefallen?«
»Wie meinen Sie das? Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«
»Nun ja, ist sie zum Beispiel nachts manchmal nicht nach Hause gekommen?«
»O nein, nie … doch, ein einziges Mal. Da kam sie erst morgens zurück. Sie sagte, sie habe den letzten Bus verpasst und die Nacht mit einer Freundin in einem Café verbracht.«
»Wann ungefähr war das?«
»Lassen Sie mich mal nachdenken … ja, ich glaube, vor einem halben Jahr oder so. Aber ist denn das irgendwie von Bedeutung?«
»Hm, ich fürchte, das ist es. Ich muss Ihnen leider sagen, dass Ihre Schwester schwanger war.«
Ihr fielen vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf. »Das ist doch unmöglich!«, war alles, was sie herausbrachte.
»Es stimmt aber. Um genau zu sein: Sie war im sechsten Monat. Vor lauter Kummer hat sie sich offenbar das Leben genommen.«
Tsuneko Obana brach in Tränen aus. Der Inspektor wandte den Blick ab; es war ihm nicht leicht gefallen, aber er hatte es ihr einfach sagen müssen. Er sah aus dem Fenster. Wenn Keiko eine ehrbare junge Frau gewesen war, ein Mädchen ohne Männergeschichten, das jeden Abend sofort nach Hause ging, musste sie an jenem Abend in dem Café von einem gewissenlosen Kerl verführt worden sein. So etwas passierte tagtäglich, doch diesmal hatte sich das Mädchen umgebracht. Wie konnte er die Schwester trösten, jetzt, wo sie die Wahrheit wusste?
»Selbstverständlich ist diese Information nur für Sie bestimmt. Ich garantiere, dass kein Wort davon an die Öffentlichkeit kommt.«
Wenn der Selbstmord auf eine Berufskrankheit zurückgeführt werden konnte, überlegte er, hatten die Verwandten wenigstens Anspruch auf eine Abfindung.
Tsuneko Obana betupfte ihr Gesicht mit dem Taschentuch und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Plötzlich blickte sie auf und begann zu sprechen, als ob ein Damm gebrochen wäre.
»Sie hatte einen Geliebten … Ich habe ihr Tagebuch gelesen … Sie lernte ihn in einer Bar kennen … Sie haben Zigeunerleben zusammen gesungen … Wie konnte sie nur so dumm sein? … Armes dummes Ding …«
›Dazu gibts nicht viel zu sagen‹, dachte der Inspektor, während er sich das alles anhörte. Er erhob sich, um das Gespräch zu einem Ende zu bringen. Das Leid der Hinterbliebenen fiel schließlich nicht in den Kompetenzbereich der Polizei.
»Gut, das wäre dann alles, Fräulein Obana. Ich habe keine weiteren Fragen an Sie.«
Als sie ihre Sachen zusammenpackte und sich zum Gehen wandte, fiel ihm zum ersten Mal der Leberfleck am rechten Nasenflügel auf. Bis dahin war er hinter dem Taschentuch verborgen gewesen, doch jetzt konnte er ihn klar und deutlich sehen. Sie bemerkte seinen Blick, sodass er schnell wegschaute, wegen seiner eigenen Unverschämtheit peinlich berührt.
»Es tut mir Leid, dass Sie so viele Unannehmlichkeiten hatten.« Die Schwester hatte zwar die angemessene Höflichkeitsfloskel herausgebracht, wirkte aber von Leid erschlagen, als sie die Polizeiwache verließ.
Während er ihr nachsah, kochte der Inspektor vor Wut. Seine Brust schnürte sich vor Zorn auf den Unbekannten zusammen, der so leichtfertig eine Neunzehnjährige geschwängert hatte. Die Tatsache, dass der Mann unbekannt war, verstärkte seine Erbitterung noch. ›Wenn sie meine Tochter wäre‹, dachte er, ›würde ich den Kerl jagen, zur Strecke bringen und ihm genau die Strafe zukommen lassen, die er verdient.‹
Aber in solchen Fällen war es noch schwerer, den Täter zu ermitteln, als in einem Mordfall. Der Gedanke deprimierte ihn. Man konnte im Grunde gar nichts tun; er begann schon zu bereuen, dass er der Schwester von Keikos Schwangerschaft erzählt hatte.
Im Sommer werden die Bars und kleinen Restaurants in Kabuki-Cho, Shinjuku, gegen vier Uhr nachmittags von den ersten Gästen besucht. Das Geschäft läuft zu dieser Stunde allerdings nur sehr mäßig; man hat gerade erst geöffnet, die Klimaanlage macht ihrem Namen noch keine Ehre, die Böden glänzen feucht vom Putzwasser. Die wenigen Gäste rotten sich am Ende der Theke zusammen und vertiefen sich in das ernste Geschäft des Trinkens. Keinesfalls feiern sie zu dieser Tageszeit oder werfen Musikanten Geld in den Rachen.
Dieses fahrende Volk taucht für gewöhnlich erst nach acht im Vergnügungsviertel auf. An diesem Tag machte sich ein Geiger, bereits seit seiner Kindheit als ›Ossan‹ oder ›der alte Knabe‹ bekannt, schon früher auf den Weg und klapperte die Lokale bereits um sechs, als die Sonne noch hoch am Himmel stand, ab. Er hatte sich nämlich den vergangenen Tag frei genommen und brauchte dringend Geld. Die ausgelatschten Schuhe des alten Knaben mit ihren papierdünnen Sohlen und die Sandalen seines Kollegen waren dick mit Staub bedeckt.
»He! Alter Knabe!« Sie kamen gerade an der Boi Bar direkt hinter dem Koma-Theater vorbei, als ein Kellner herausschoss und ihnen hinterherbrüllte. »Hier ist jemand ganz versessen auf Musik. Sie will unbedingt ’nen Geiger.«
»Sie will wirklich einen Geiger? Na so was!« Heutzutage schien niemand mehr Geigen hören zu wollen, alle waren verrückt nach Gitarren. Sie folgten dem Kellner in die kühle und fast leere Bar.
Er führte sie an den Tisch einer Frau mit dunkler Sonnenbrille und breitkrempigem Hut. Der alte Knabe verbeugte sich vor ihr.
»Was darf ich für Sie spielen, meine Dame?« Er musterte das Gesicht seiner Auftraggeberin und bemerkte dabei den großen Leberfleck an ihrer Nase.
»Können Sie Zigeunerleben?«
»Oh, wenn sie was Klassisches hören möchten, da kann ich Ihnen alles Mögliche vorspielen.«
»Dann legen Sie mal los. Lassen Sie hören.« Ihre Stimme klang sonderbar tonlos.
Während er sein Instrument aus dem Koffer holte, fiel dem alten Knaben ein, dass ihm ein paar Kollegen von einer Frau mit diesem Sonderwunsch erzählt hatten. Bedauerlicherweise hatte keiner von ihnen das Stück gekannt, denn sie hatte tausend Yen geboten, nur für diese eine Melodie. Das hier musste diese Frau sein! Der alte Knabe war in klassischer Musik viel besser als in moderner Musik, und als der Gitarrist die Saiten anschlug, flocht er die Melodie mühelos ein.
Die Frau saß einfach da und lauschte. Sie machte nicht den geringsten Versuch mitzusingen. Trotzdem, betrunken war sie nicht, nur seltsam. Als sie zum Ende kamen, sagte sie bloß: »Noch mal.«
Der alte Knabe tat, wie ihm befohlen, und fragte anschließend: »Wie wärs jetzt mit was anderem?«
Doch die Frau schwieg: Wie seltsam die war – vielleicht sogar verrückt! Da saß sie hier in einer Bar in Shinjuku mit einer Sonnenbrille und einem riesigen Hut, als wäre sie am Strand! Es war unmöglich, ihre Miene zu erkennen.
Schließlich brach sie ihr Schweigen; ihre Stimme klang künstlich. »Spielen Sie das oft?«
»Na ja, es wird nicht gerade oft gewünscht.«
»Aber ab und zu spielen Sie es doch?« Ihr Ton war fast aggressiv, als ob sie eine Antwort verlange. ›Die Sorte kenn ich‹, dachte der alte Knabe. ›Ist sicher Kindergärtnerin, die sind alle so!‹
»Früher hab ichs oft gespielt«, sagte er laut.
»Und in letzter Zeit? So vor einem Jahr zum Beispiel?«
Die Frage war so absurd, dass sich der Alte ein Lachen nicht verkneifen konnte.
»Wenn Sie es sagen – ich meine, ich arbeite jeden Tag und weiß wirklich nicht, was ich wann gespielt habe!«
»Natürlich wissen Sie es. Es war genau in dieser Bar. Hier.«
»Hier?«
»Ja, im ›Boi‹, im Erdgeschoss. Ein Mann und eine Frau sangen dazu, immer nur zu diesem Lied, mehrmals hintereinander.«
»Kannst du dich daran erinnern?«, wandte er sich an seinen Partner, einen wesentlich jüngeren Mann mit einer Menge Pomade im Haar.
»Was weiß denn ich.« Dem Gitarristen schien die Situation ganz und gar nicht zu behagen.
Da stand sie abrupt auf und wies in eine Ecke des Raumes. Sie wirkte jetzt wie ein Staatsanwalt vor Gericht.
»Es war da drüben. Dort hat ein Mann gesessen und sich dieses Stück gewünscht. Denken Sie nach! Er sah ein bisschen ausländisch aus – hatte sehr scharfe Gesichtszüge. Sie müssen sich an ihn erinnern, er sah außerordentlich gut aus.«
Die beiden Musiker waren verblüfft. Sie starrten sie verständnislos an, aber sie fuhr fort, ohne sich irritieren zu lassen: »Er hat hier unten gesungen. Und oben stand ein junges Mädchen. Sie fiel in den Gesang ein, kam nach dem ersten Duett runter, und dann sangen sie das Lied noch einmal gemeinsam. Sie müssen sich doch daran erinnern! Denken Sie nach!«
Der Alte bemühte sich nach Kräften, doch sein Partner wirkte lediglich gelangweilt.
»Eine unvergessliche Stimme«, bohrte sie nach. »Ungewöhnlich tief, keinesfalls typisch japanisch. Strengen sie sich an und erinnern Sie sich. Ich spreche von einem Mann mit tiefer Bassstimme.«
»Ach«, sagte der Alte erleichtert, »Sie meinen Herrn Honda. Ja, das muss er sein. Hab ihn in letzter Zeit nicht mehr gesehen.«
»Womit verdient er denn seinen Lebensunterhalt, dieser Herr Honda?«
»Oh, das weiß ich wirklich nicht. Wissen Sie, ich nenne alle meine Kunden entweder ›Professor‹ oder ›Präsident‹ und denk nicht weiter darüber nach. Ihn hab ich immer ›Professor‹ genannt, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Er singt sehr gern und hat eine gute Stimme. Ich glaub, er hat mir mal erzählt, dass er auf dem College Chorleiter war.«
»Und welche Universität war das?«
»Sekunde … ABC. – kann das sein? Nein, nicht ganz, aber irgendwas in der Art. Drei Buchstaben. Vielleicht war es nicht mal in Japan, sondern in Übersee, bei dem Namen.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Wenn ichs mir so recht überlege, muss es schon eine ganze Weile her sein. Er verkehrte mal regelmäßig in den hiesigen Bars, aber jetzt nicht mehr. Ist wohl in eine andere Gegend gezogen.«
Die Frau wirkte enttäuscht, öffnete aber trotzdem ihre Handtasche und zog einen Tausend-Yen-Schein heraus. Sie überreichte ihn mit den Worten: »Bitte sagen Sie mir, ob es hier in der Nähe noch andere Bars gibt, wo er öfters war.«
»Andere Bars? Doch, da waren ein oder zwei … lassen Sie mich überlegen.« Nach einer kurzen Pause zählte er die Namen mehrerer Bars auf. Die Frau hielt alle sorgfältig in einem Notizbuch fest und ging dann.
»Wird schon in Ordnung gehen, dass wir ihr das erzählt haben«, sagte der Alte.
»Glaubst du, sie ist vielleicht hinter dem Professor her?«
»Ja, aber ich glaub nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen. Schließlich hat alles gestimmt, was ich über ihn gesagt hab, und es war ja auch nichts Schlechtes dabei. Sie sah gar nicht wie eine Polizistin aus.« Er schob den Geldschein in seine Tasche. »Hauptsache, sie hat uns gut bezahlt.«
Von diesem Zeitpunkt an erkundigte sich der alte Knabe jedes Mal nach der sonderbaren Frau, wenn er in einer der Bars spielte, die er ihr genannt hatte – immer ohne Erfolg.
»Nie gesehen? Eine, die nach dem Professor fragt? Dem Typ mit der tiefen Bassstimme?« Die Antwort lautete stets nein.
»War schon ein komischer Vogel. Wir haben jedenfalls unser Bestes getan, ihr zu helfen. Trotzdem würd ich gern wissen, was sie vorhat.« Er zermarterte sich das Hirn, aber ohne Erfolg. »Tja, so ist wohl das Leben. Heute sind die Leute da, morgen sind sie wieder weg. Die Menschen sind wie der Wind. Kommen und trinken eine Zeit lang immer am selben Ort, dann verschwinden sie spurlos. Wenn man sichs genau überlegt, passiert das ständig.«
»Ja ja«, pflichtete sein junger Kollege nachdenklich bei, »so geht es im Showgeschäft eben zu. Wirklich ein riskantes Gewerbe, wenn die Kunden kommen und gehen.«
Dabei beließen sie es. Nach einer Weile hatten sie die Frau mit dem Leberfleck an der Nase vollkommen vergessen.
Die Asia Moral University befindet sich auf einem Hügel vor den Toren Tokios; man erreicht sie am besten durch eine fünfzehnminütige Busfahrt von der Station K der Chuo-Linie aus. Die Universität wird allgemein AMU genannt.
Sie liegt inmitten eines großzügig angelegten Geländes im Waldgebiet der Musashi-Ebene. Im Herzen des Campus erhebt sich ein prächtiges dreistöckiges Gebäude, das Studienzentrum, um das sich Wohnheime für die Studenten und Lehrer gruppieren, die allesamt auf dem Universitätsgelände wohnen. Die Studenten stammen aus allen Teilen Asiens und sogar aus Afrika, weshalb man auf dem Campus nicht viel Japanisch zu hören bekommt. Englisch ist die gebräuchlichste Sprache an der AMU.
An Sonn- und Feiertagen dürfen sich die Studenten in den umliegenden Vergnügungszentren amüsieren, ansonsten konzentrieren sie sich in dieser klösterlichen Atmosphäre voll und ganz auf das Studium.
Um 13 Uhr am 10. Oktober hielt ein Bus an der Haltestelle vor der Universität und setzte einen einzigen weiblichen Fahrgast ab. Zurzeit waren Semesterferien. Nachdem sich die Staubwolke, die der Bus aufgewirbelt hatte, verzogen hatte, nahm die Frau das Taschentuch aus ihrem Gesicht. Sie steckte es in ihre Handtasche und strich den Kragen ihres Kimonos glatt, bevor sie sich auf den Weg machte.
Sie ging etwa fünf Minuten die schmale Landstraße entlang, dann hatte sie das Tor und die breite Auffahrt der Universität erreicht. Sie blieb eine Weile stehen und schaute auf das Gelände, schien dann ihre Meinung zu ändern und marschierte denselben Weg zurück, den sie gekommen war. Gleich hinter der Bushaltestelle befand sich ein schäbiger Laden, in dem es Süßigkeiten, Brot, Zigaretten und andere Dinge des täglichen Bedarfs gab.
Außerdem war dort ein öffentlicher Fernsprecher. Eine dünne, wenig ansprechende Staubschicht lag über den Waren; der Laden schien nicht gerade viele Kunden anzulocken.
Die Frau ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. Augenblicklich tauchte eine Alte aus dem rückwärtigen Teil des Ladens auf; ihre Brille saß schief auf der Nase.
»Nach Tokio?«, bellte sie. »Ferngespräche muss ich durchstellen.«
Die Frau schüttelte den Kopf und hielt sich das Taschentuch vors Gesicht. Die Alte verschwand wieder im Dunkel, aber ohne sie aus den Augen zu lassen. Die Frau wollte offenbar in der Universität anrufen.
Sie wählte die Nummer der Zentrale. Vor sich hatte sie eine Liste der Angehörigen des Lehrkörpers liegen.
»Professor Matsuyama, bitte. Er ist doch für den Chor zuständig?«
»Ja. Augenblick bitte, ich verbinde.«
Saburo Matsuyama, Professor für Geschichte der Kirchenmusik, war gerade in der Bibliothek mit klassischen Partituren beschäftigt, als ihn der Anruf erreichte. Er war eine anerkannte Kapazität auf seinem Gebiet, aber inzwischen über siebzig, und das Unterrichten fiel ihm schwer. Zudem war er mittlerweile ziemlich taub, deshalb bestanden seine Hauptvergnügen im Orgelspielen und dem Dirigieren des Chors.
»Hallo«, sagte er in die Sprechmuschel. »Hier Matsuyama. Wer spricht, bitte?«
»Professor Saburo Matsuyama?«
»Ja ja, wer ist denn da?«
»Ich bin von einem Ehevermittlungsinstitut, Professor. Ich möchte einige Erkundigungen über einen Ihrer ehemaligen Schüler einholen, Herrn Ichiro Honda. So viel ich weiß, hat er den Chor geleitet.«
»Sprechen Sie lauter, ich verstehe kein Wort.« Obwohl ihre Stimme freundlich klang, schien die Frau durch die Nase zu sprechen. Sie wiederholte ihr Anliegen zweimal mit jeweils erhobener Stimme, bis er sie endlich verstand.
»Aha, ich begreife. Ja, fragen Sie nur, was Sie wissen möchten.«
Auf ihre Fragen hin begann er sich über Ichiro Hondas Universitätslaufbahn auszulassen. Glücklicherweise war Honda ein ausgezeichneter Schüler gewesen, sodass sich der Professor gut an ihn erinnerte. Außerdem fielen ihm Lobreden nicht schwer, was bei einer solchen Gelegenheit von großem Vorteil war. Er schwärmte voller Enthusiasmus von dem Fleiß, dem musikalischen Talent, ja sogar dem guten Aussehen seines ehemaligen Schülers. Gab es sonst noch was zu berichten?
»Ach ja, da fällt mir noch etwas ein, das zeigt, was für ein feiner junger Mann er ist. Honda hat eine sehr seltene Blutgruppe – ich glaube, sie kommt nur einmal unter mehreren Tausend vor. Als Student hat er Blut gespendet und dadurch einem Baby das Leben gerettet. Das ging damals wie ein Lauffeuer durch die Presse. Woher wir seine Blutgruppe kannten? Sehen Sie, meine Dame, wir haben hier ein amerikanisches Institut für Biologie, auf das wir sehr stolz sind. Wir notieren die Blutgruppe jedes Studenten.«
»Welche Blutgruppe war es denn? Können Sie mir das sagen?«
»Das weiß ich leider nicht. Wenn Sie aber im Institut anrufen, kann man Ihnen sicher weiterhelfen.«
Plötzlich schoss dem Professor durch den Kopf, dass eine seltene Blutgruppe einer Eheschließung möglicherweise nicht gerade förderlich war, und er versuchte seinen Fehler wieder gutzumachen.
»Na ja, eine ungewöhnliche Blutgruppe muss sein Eheleben ja nicht beeinträchtigen. Rufen Sie einfach im Institut an. Sie können sich gern auf mich berufen, wenn Sie möchten. Die Zentrale wird Sie verbinden. Übrigens – wie geht es Honda denn? Ich glaube, er ging in die Staaten und studierte dort Computerwissenschaften. Soweit ich weiß, arbeitet er heute in diesem Bereich und hat sehr viel zu tun. Wir haben ihn seit Jahren nicht gesehen.«
»Oh … ich werde ihm ganz bestimmt ausrichten, dass er Sie mal besuchen soll«, erklärte die nasale Stimme hastig. Dann legte die Frau mit einer Entschuldigung auf und schnitt dem Professor das Wort ab.