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Der junge Psychiater Dr. Uemura hat zwei Probleme. Das eine ist sein Patient, der Student Akio Tanno, der behauptet, eine Frau umgebracht zu haben. Das andere ist die attraktive Frau Owada, das vermeintliche Opfer. Sie ist quicklebendig und behauptet, Akio Tanno überhaupt nicht zu kennen. Dr. Uemura will der Sache auf den Grund gehen. Doch anstatt dass sich das Rätsel löst, verliert er sich in einem Labyrinth aus Geheimnissen, Obsessionen und Erpressung.
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Seitenzahl: 205
Veröffentlichungsjahr: 2015
Der junge Psychiater Dr. Uemura hat zwei Probleme. Das eine ist sein Patient, der Student Akio Tanno, der behauptet, eine Frau umgebracht zu haben. Das andere ist die attraktive Frau Owada, das vermeintliche Opfer. Sie ist jedoch quicklebendig … Dr. Uemura verliert sich in einem Labyrinth aus Geheimnissen, Obsessionen und Erpressung.
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Masako Togawa (1933-2016) arbeitete als Nachtclubsängerin, bevor sie zu schreiben begann und mit vierundzwanzig in einem Krimiwettbewerb den ersten Preis gewann. Ihre meisterlichen psychologischen Kriminalromane sind Bestseller und wurden vielfach preisgekrönt.
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Bettina Thienhaus lebt als Übersetzerin und Kritikerin mit Schwerpunkt Kriminalliteratur in Frankfurt am Main.
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Masako Togawa
Trübe Wasser in Tokio
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Bettina Thienhaus
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel Fukai Shissoku.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1998 im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. Sie folgt der 1995 unter dem Titel Slow Fuse erschienenen englischen Ausgabe.
Originaltitel: Fukai Shissoku (Tokio, 1976)
© by Masako Togawa 1976
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30529-8
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
TRÜBE WASSER IN TOKIO
1 — Die Frau im weißen Zimmer2 — Zwischenspiel: Schwarz-weiß3 — Die Gedächtnislücke4 — Die Bühne wird gerichtet5 — Vogelgezwitscher6 — Grüne Wasserlinsen7 — Wasserspuren8 — Eintauchen9 — Nächtliche Spiegelung10 — Weißer Dunst11 — Der Pool12 — Der Riss im BodenMehr über dieses Buch
Über Masako Togawa
Thomas Wörtche: Masako Togawa: Ein Blick in den Abgrund der Psyche
Über Bettina Thienhaus
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Für Herrn J.
Die Frau im weißen Zimmer
1
Hinter den zerzausten Zypressen neben dem Eingang des Apartmenthauses schimmerte bläulich das Wasser eines Swimming-Pools. Allem Anschein nach war es seit Monaten nicht erneuert worden und kurz vor dem Umkippen. Am Beckenrand lagen verwitterte Liegestühle und zerfetzte Sonnenschirme, eine ferne Erinnerung an den Sommer.
Vor einem weißen Schild an dem schmalen Weg, der zum Pool führte, blieb ich stehen. Es war so auffällig angebracht, dass kein Besucher die Existenz des Pools übersehen konnte. Der Inhalt besagte in etwa, der Pool sei Mitgliedern vorbehalten und von niemandem sonst zu benutzen. Mitglied konnten offenbar nur Hausbewohner werden.
Das massive quadratische Schild strahlte so etwas wie Stolz aus auf seine negative Funktion. »Angeln, Springen vom Beckenrand, Lärm, unbefugte Zuschauer verboten!« Und schon krakeelten in meinem Kopf lauter Angst machende Vorschriften und Verbote, die meine Patienten in Unruhe zu versetzen pflegten. Gewiss war auch ihm das Schild aufgefallen. Wie mochte es auf ihn gewirkt haben? Ich wusste es nicht.
Ich ging zum Hauseingang zurück und wartete ungeduldig, bis sich die Tür langsam, wie von Geisterhand öffnete. Mir fiel auf, dass mich der uniformierte Pförtner hinter seinem Tresen im Foyer aufmerksam beobachtete. Wahrscheinlich musterte er alle Menschen, die das Gebäude betraten, so genau. Ganz gewiss hatte er auch meinen Patienten gesehen. Es fragte sich nur, wie zuverlässig seine Erinnerung an einen Eindruck war, der schon Wochen zurücklag.
»Würden Sie bitte Frau Owada von der sechsten Etage benachrichtigen, dass Dr. Uemura da ist«, sagte ich zum Pförtner. Ich nannte nur meinen Namen, die Klinik blieb unerwähnt. Dazu bestand kein Anlass.
Der Pförtner drückte eine Taste und meldete meine Ankunft über die Gegensprechanlage. Aus dem Lautsprecher antwortete undeutlich eine Frauenstimme; sie hatte einen seltsam metallischen, leblosen Klang. Unmöglich, aufgrund der Stimme das Alter der Sprecherin zu erraten. Und es war sehr unwahrscheinlich, dass diese Stimme irgendein besonderes Begehren weckte. Sie hatte nichts von dem verführerischen Timbre, das Ansagerinnen in Warenhäusern und Theatern fast unbewusst einsetzen.
Neugierig, was für eine Person sich wohl hinter diesem abrupten »Bitte kommen Sie herauf« verbergen mochte, ging ich zum Lift. Das Aufscheinen berufsmäßigen Interesses in den Augen des Pförtners war wieder erloschen. Er hatte offenbar keine Ahnung, warum ich hier war.
Die Wohnung der Owadas lag am Ende eines langen Korridors. Über dem Treppenhaus im Zentrum des Gebäudes wölbte sich ein dreieckiges Skylight; das blaue Glas erinnerte an ein Gewächshaus oder ein Aquarium. Ich läutete; aus dem Lautsprecher neben der Tür ertönte erneut die metallische Stimme, unpersönlich wie zuvor.
»Wer ist dort?«
»Dr. Uemura. Ich wurde eben angemeldet, ich komme gerade hoch.«
»Einen Augenblick bitte.« Sie öffnete die Tür einen Spalt und spähte mit einem Auge hinaus. Eine stabile Kette hielt die Tür in Position.
»Ich habe vorhin von der Klinik aus angerufen. Ihr Gatte weiß, dass ich komme.« Ich zog meine Karte aus der Tasche und reichte sie durch den Türspalt. Die Frau griff danach mit ihren schlanken Fingern, betrachtete sie kritisch und ließ mich schließlich eintreten.
»Es tut mir Leid, aber in letzter Zeit bin ich etwas nervös«, erklärte sie.
»Das verstehe ich gut. Bitte machen Sie sich darüber keine Gedanken«, erwiderte ich ausgesucht höflich. Ich war mir immer noch nicht ganz sicher, wie ich mich vorstellen und welche Worte ich wählen sollte.
Die Frau führte mich in einen Wohnraum, der offenbar zugleich als eine Art Wintergarten fungierte. Ein groß gewachsener Gummibaum mit glänzenden ovalen Blättern stand neben gefällig arrangierten weißen Möbeln französischer Herkunft. Den überwältigenden Eindruck von Weiß vervollständigten eine üppige weiße Spitzentischdecke und ein weißes Schaffell auf dem Boden. Mir teilte sich sofort die unbewusste Sehnsucht des Menschen mit, der in dieser Umgebung lebte. Die Sehnsucht nach Reinheit.
»Ein wunderschöner Raum«, sagte ich.
»Danke. Auf jeden Fall ist er sonnig.«
Ich trat ans Fenster und schaute hinaus. Unten schimmerte dunkelblau der Swimming-Pool. Die Sonne zauberte Schatten auf die vom Wind gekräuselte Wasseroberfläche.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie hier, um Erkundigungen über einen Ihrer Patienten einzuziehen. Was genau wollen Sie wissen?«
Die Frau hatte sich in einem weißen Sessel niedergelassen. Unter ihrem weiten roten Pullover schaute ein enger schwarzer Rock hervor, der den Blick auf wohlgeformte runde Knie und kräftige gerade Beine erlaubte. Sie trug durchsichtige schwarze Nylonstrümpfe, die die Aufmerksamkeit jeden Mannes erregen mussten. Neben dem eher sportlichen Pullover und den lässigen Slippern aus Känguruleder wirkten die eleganten Strümpfe seltsam deplatziert. Unwillkürlich verglich ich die Frau, die da vor mir saß, mit jener Person, die mein Patient beschrieben hatte. Ich wusste, dass er besessen war von ihren Beinen. Aber so eine Wirkung erzielten solche Beine bei jedem Mann, mich selbst eingeschlossen.
»Ich möchte betonen, dass das, was ich Ihnen zu erzählen habe, absolut vertraulich ist und mir nur in meiner Eigenschaft als Arzt bekannt wurde«, begann ich zögernd.
Mir fiel meine gestelzte Ausdrucksweise auf, und ich bemühte mich, so sanft und beruhigend zu klingen wie bei meinen Patienten, allerdings ohne Erfolg. Vielleicht lag es daran, dass auch ein Arzt Mut aufbringen muss, wenn er eine Frau, zumal eine bildschöne Frau, die er gerade erst kennen gelernt hat, fragen will, ob sie vergewaltigt worden ist.
»Es geht um etwas, das sich vor vier Monaten, am 20. Dezember vergangenen Jahres, ereignet hat.« Ich zog einige Papiere aus meiner Aktenmappe und beugte mich leicht darüber, um keine Emotionen zu verraten, während ich mich vorsichtig dem Thema näherte.
2
Also, worum geht es genau?«, fragte sie. Die gepflegten Hände, die auf ihren Knien ruhten, verkrampften sich kaum merklich.
»Nun, zunächst muss ich vorausschicken, dass die Polizei vor etwa einer Woche einen Studenten festnahm, der sich das Leben nehmen wollte. Er drohte, sich vom Dach eines Kaufhauses zu stürzen. Die Zeitungen berichteten kurz darüber. Vielleicht haben Sie die Notiz gesehen?«
»Nein.«
»Der Student heißt Akio Tanno und ist zwanzig Jahre alt. Da seine Gemütslage zwischen heftiger Aggression und völliger Apathie schwankte, übergab ihn die Polizei zur Beobachtung unserer Obhut. Ich hatte die Aufgabe, den jungen Mann zu interviewen.«
Der Blick der Frau wanderte zu meiner Visitenkarte auf dem Tisch. Dort war mein Name zu lesen sowie der Name der Universitätsklinik, bei der ich beschäftigt war, und die Telefonnummer an meinem Arbeitsplatz, der Psychiatrie.
»Mit ›Interview‹ meinen Sie Psychoanalyse?«
»Ja. Wir versuchten das Motiv für den Selbstmordversuch so genau wie möglich herauszuarbeiten. Wir verabreichten ihm drei Elektroschocks, gefolgt von drei kurzen Interviews von jeweils einer Stunde Dauer. Beim dritten Gespräch erzählte er uns eine äußerst sonderbare Geschichte.«
Ich blätterte die Seiten betont langsam um. Die Frau zeigte weiterhin keine Regung.
»Dieser Geschichte zufolge hat Akio Tanno vom 5. bis zum 20. Dezember als Bote in der Geschenkabteilung eines Kaufhauses in Ginza gejobbt. Er brauchte offenbar Geld für einen Skiurlaub. Am Zwanzigsten sollte er in den Leila-Apartments einen Geschenkkarton Whisky abgeben. Kurz nach zwei Uhr nachmittags bat er den Pförtner, ihn anzumelden, und machte sich auf den Weg in den sechsten Stock, zum Apartment 601. Dort angekommen, betrat er die Wohnung, um den Whisky zu übergeben und sich den Empfang quittieren zu lassen. Bis zu diesem Moment entsprach alles einer ganz gewöhnlichen Zustellung. Tanno, ein etwas schüchterner Mensch, schaute die Kundin nur einen Sekundenbruchteil an, als er das Geschenk überreichte. Dennoch gewann er den Eindruck, es handle sich um eine ungewöhnlich schöne Frau. Die Dame hatte sich sorgfältig zurechtgemacht und schien ausgehen zu wollen.«
Dies war, leicht zusammengefasst, die Darstellung des jungen Mannes gewesen; jetzt sah ich auf und betrachtete aufmerksam die Frau, die da vor mir saß. Auf ihren Lippen lag ein Hauch Orange, und hellgrauer Lidschatten konturierte ihre mandelförmigen Augen.
»Ich schminke mich jeden Morgen, auch wenn mein Mann nicht da ist. Ich will mich nicht gehen lassen, nur weil ich zu Hause bin.«
»Ich verstehe.« Während ich dies sagte, ließ ich meine Augen rasch über ihre hübschen Beine mit den zusammengepressten Knien wandern. Dann konzentrierte ich mich wieder auf meine Papiere.
»Als er um eine Unterschrift auf der Quittung bat, fielen ihm die nassen Hände der Frau auf. Es entspann sich folgender Wortwechsel: ›Entschuldigen Sie meine nassen Finger, aber der Wasserhahn ist nicht in Ordnung, er lässt sich nicht richtig zudrehen.‹ – ›Das liegt am Dichtungsring. Ich kenne mich aus, ich habe nämlich mal als studentischer Hilfsklempner gejobbt.‹ – ›Ach, Sie studieren?‹ – ›Ja, ich bin an der Universität.‹ – ›Das trifft sich aber gut. Ob Sie sich den Wasserhahn wohl mal anschauen könnten?‹ – ›Gern, wenn Sie es wünschen.‹ Also ging Akio Tanno in die Küche und reparierte den Wasserhahn. Das war am 20. Dezember. Weiter passierte nichts Außergewöhnliches an diesem Tag. Die Frau brachte ihm Tee und Kekse, die er aß, bevor er ging. Trifft das so weit zu?«
»Ja, absolut.« Die Frau schien heftig bemüht, eine Gefühlsregung zu unterdrücken. Ich musste an die leblose, metallisch klingende Stimme von der Gegensprechanlage denken. Seltsam, dass beide Stimmen zu ein und derselben Person gehörten.
»Vierzehn Tage später begab sich Tanno erneut zu den Leila-Apartments. Aber die Frau ließ ihn nicht heraufkommen. Er hatte das Gefühl, sie weise ihn kaltherzig zurück.«
»Er erkundigte sich nach dem Wasserhahn, und ich sagte lediglich, dass er mir keinen Ärger mehr machte«, bemerkte sie schroff.
»Wenn Sie ihn hochgebeten hätten, wären seine Gefühle nicht verletzt worden.«
»Aber ich hatte mich noch nicht zurechtgemacht und war nicht in der Lage, Besuch zu empfangen«, verteidigte sie sich.
»Hätten Sie was dagegen, den nächsten Abschnitt selbst vorzulesen?«
»Lesen Sie bitte selbst weiter.« Sie hatte sich wieder in ihre ausdruckslose Stimme geflüchtet. Ich wandte mich Akio Tannos engzeilig geschriebener Erklärung zu. Mein Plan, sie die Passage vorlesen zu lassen, um ihre Reaktion zu beobachten, hatte nicht funktioniert.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Meine anfängliche Befürchtung, es könnte mir schwer fallen, den Bericht ganz vorzulesen, war verschwunden. Ihre kalte Reaktion weckte in mir einen sadistischen Zug. Zigarettenasche fiel auf das Papier, und ich las bedächtig weiter.
»›Ich (Akio Tanno) bin fest entschlossen, die Frau wiederzusehen, koste es, was es wolle. Je länger ich darüber nachdenke, desto wilder werden meine Fantasien. Ich möchte ihr die Kleider vom Leib reißen, von ihrem schlanken, biegsamen Leib …‹«
Sie fiel mir ins Wort. »Das reicht. Ich lese allein weiter.«
»Natürlich.«
Die Frau nahm das Blatt und begann zu lesen. Die Haut um ihre Augen rötete sich wie in einem Anflug von Ärger. Ihre hübsche rechte Wange zuckte nervös. Das waren eindeutige Vorzeichen für einen hysterischen Anfall.
Sie hatte aufgehört zu lesen. Ihre Augen wanderten blicklos über die Worte. Ich hatte keine andere Wahl, als Akio Tannos Geschichte selbst weiterzuerzählen.
»Bei seinem dritten Besuch hatte er einen Karton dabei, der in das Geschenkpapier des Kaufhauses eingeschlagen war. Es war ein ziemlich großer Karton, ungefähr 140 Zentimeter lang und 45 Zentimeter breit. Aber es war kein Geschenk anzuliefern. In dem Karton steckte etwas ganz anderes.«
»Warum in aller Welt sollte er das tun?« Die Frau schaute plötzlich auf und starrte mir fragend ins Gesicht. Ihre Augen glühten in unterdrücktem Zorn.
»Er wollte in die Wohnung eingelassen werden. Er bat den Pförtner, eine Warenlieferung anzukündigen. Anders als beim zweiten Mal, als man ihn fortschickte, spazierte er jetzt ungehindert durch das Foyer und fuhr in den sechsten Stock. In der Annahme, es handle sich um einen Boten vom Kaufhaus, öffnete die Frau die Tür, ließ allerdings aus Misstrauen die Kette vorgelegt. Aus diesem Grund hatte er einen besonders großen Karton mitgenommen.«
»Das war wirklich schlau«, sagte sie.
»Nun, es zeigt jedenfalls seine Entschlossenheit. Er versuchte den Karton durch den Türspalt zu zwängen, aber das ging nicht, weil er zu breit war, vielleicht fünf Zentimeter zu breit. Die Frau schloss die Tür, nahm die Kette ab und öffnete. So hat er sich schließlich Zugang zu der Wohnung verschafft.«
»Ich frage mich, was sich in dem Karton befand.« Ihre Miene war ausdruckslos.
»In seiner Darstellung spricht Tanno lediglich von einer langen Waffe. Er weigert sich, auch nur ein Wort mehr zu sagen. Wir haben ihn zu diesem Punkt fast dreißig Minuten intensiv befragt. Dabei wandten wir eine Methode der freien Assoziation an, wie sie an der Universität von Los Angeles entwickelt wurde. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Art erzwungenes Geständnis. Dabei werden in rascher Folge immer wieder Fragen zum gleichen Thema gestellt, wobei nach und nach Details dessen, was der Betreffende zu verbergen sucht, offenbar werden. In diesem Fall waren wir uns zu achtzig Prozent sicher, dass es sich bei der Waffe um eine Schrotflinte oder um ein Jagdgewehr handelte.«
»Sie wollen also sagen, dass er der anderen Person einen Karton mit einer Schrotflinte in die Hand drückte?« Ihre Frage schien sich bewusst von der Darstellung meines Patienten abzusetzen. Als wollte sie mir zu verstehen geben, dass sie den Text gar nicht zu Ende gelesen hatte. Falls sie nicht … Ich ignorierte ihre Frage, so wie ich auch bei manchen Interviews den anfänglichen Widerstand eines Patienten demonstrativ nicht beachte.
»Sein Plan hatte bis dahin exakt funktioniert. Nun erzählte er ihr, er habe vor wenigen Minuten den Geschenkkarton versehentlich fallen lassen und müsse jetzt den Inhalt auf Schäden prüfen; schließlich sei er als Bote verantwortlich. Er entfernte das Einwickelpapier, hob den Deckel ab, nahm das Gewehr und richtete es auf die Frau, ein mörderisches Glitzern in den Augen. ›Schreien Sie nicht! Wenn Sie schreien, schieße ich!‹, rief er fast atemlos. Überzeugt, dass er es ernst meinte, gab die Frau jeden Gedanken an Widerstand auf und tat, was er ihr zu tun befahl. Sie verriegelte die Tür, legte die Kette vor und legte den Hörer neben das Telefon. Dann riss er mithilfe des Gewehrlaufs das Kabel des Haustelefons aus der Wand. Die Frau flehte ihn an, sie nicht zu vergewaltigen, ihr Mann käme bald nach Hause. Und wenn er sie sofort freiließe, würde sie auch nicht die Polizei verständigen und überhaupt Stillschweigen bewahren. Er schien einen Moment zu schwanken, doch dann schüttelte er den Kopf. ›Ich habe mich nach Ihrem Mann erkundigt. Er ist Pilot, und ich weiß, dass sein Flug nach London in diesem Augenblick startet.‹ Pedantisch, wie er war, hatte der junge Mann jeden seiner Schritte übergenau vorbereitet. Und wenn sich eine Tragödie zu entfalten beginnt, entwickelt sie eine Eigendynamik, die von den Beteiligten nicht mehr beeinflusst werden kann, selbst wenn sie es wollten. Als die Frau begriff, dass der Eindringling wusste, wo sich ihr Mann befand, verlor sie jeden Willen zum Widerstand. Sie schien wie erstarrt vor Angst vor dem Schrecklichen, das ihr bevorstand, und brachte keinen Ton heraus. Sie stand nur da, mit leerem Gesichtsausdruck, wie eine lebensgroße Puppe.«
»Wie schlimm für sie, wenn die Geschichte wirklich passiert ist.« Die Frau wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. Der Pool schien ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, auf seiner Oberfläche trieb ein grünlicher Pflanzenteppich, wahrscheinlich waren es Wasserlinsen. Das Sonnenlicht, das durch den Raum gewandert war, erfasste jäh die Spitze des Gummibaums.
»Doch was dann geschah, entsprach keineswegs unseren Erwartungen.« Ich beugte mich wieder über das Papier und las weiter, so langsam, als wäre es Akio Tanno selbst, der da läse.
»In dem Augenblick verspürte ich plötzlich ein Brennen in meinem Kopf, das an die Oberfläche drängte. Schweiß lief mir übers Gesicht, brannte mir in den Augen. Ich hatte nicht die leiseste Absicht, der Frau nahe zu kommen; ich war nur glücklich, sie vor mir zu sehen. Während ich sie anschaute, konnte sich ihr Bild in meine Seele brennen. Zuerst schämte ich mich. Aber dann verwandelte sich die Scham in Ekstase. Ich hatte sie so lange angestarrt, dass sie in meiner Seele feste Gestalt angenommen hatte, beinahe wie eine Statue, und da bemächtigte sich meiner das Gefühl, die lebendige Frau, die vor mir stand, vernichten zu müssen. Von dem Gefühl überwältigt, drückte ich ab und spürte den heftigen Rückstoß in der Armbeuge. Der weiße, nackte Frauenkörper fiel in sich zusammen. Ich dachte, nun habe ich also jemanden getötet. Meine Welt war durch diesen Schuss zerstört. Aber ich kam rasch wieder zu mir, warf das Gewehr fort und floh über die Feuertreppe.«
Hysterisch kichernd stand die Frau auf. Ich hörte auf zu lesen.
»Aber wenn das stimmt, wieso bin ich dann noch am Leben?«
»Nun, aus genau diesem Grund haben wir Tannos Erklärung nicht der Polizei übergeben. Wir meinen, dass diese Geschichte ein Produkt seines Verfolgungswahns ist. Er hat den Mord erfunden, um sich selbst zu strafen.«
Die Frau schwieg.
3
Im Westen ging die Sonne unter. Ihre letzten Strahlen ruhten auf der Frau, die mit dem Rücken zu mir am Fenster stand. Ihr Körper warf einen langen Schatten, und mich durchzuckte der Gedanke, dass sich unter diesem roten Pullover ihr geschmeidiger, biegsamer Leib verbarg. Hatte Akio Tanno sie wirklich mit einer Waffe bedroht und zum Sex gezwungen? Mir dämmerte, was für eine schreckliche Erfahrung das gewesen sein mochte.
»Er hat sehr starke Schuldgefühle. Wenn wir klären können, was wirklich geschah, wird er eine Chance haben. Aber wenn wir die Dinge auf sich beruhen lassen, wird er die Mordgeschichte weiter dazu benutzen, seine sexuellen Bedürfnisse zu verleugnen, und sie tief in seinem Unbewussten begraben.«
»Ich soll also bezeugen, dass er mich vergewaltigt hat?«
»Auch wenn sich die Geschichte am Ende womöglich außergerichtlich regeln lässt, möchte ich Sie doch bitten, den Vorfall bei der Polizei anzuzeigen. Natürlich wird man die Angelegenheit absolut vertraulich behandeln. Der einzige Weg, dem Jungen zu helfen, besteht darin, ihn nach Recht und Gesetz zu bestrafen. Es tut mir Leid, Ihnen zusätzliche Unannehmlichkeiten zu bereiten, aber es ist absehbar, dass Akio Tanno erneut versuchen wird, sich das Leben zu nehmen, wenn wir keine Lösung finden. Als Arzt verstehe ich Ihr Unbehagen nur zu gut. Dennoch muss ich Sie um Ihre Hilfe bitten.«
Sie wandte sich langsam zu mir um. Mir schien, als habe sie sich die Sache sorgfältig und gründlich durch den Kopf gehen lassen. Das Zimmer lag jetzt im Schatten, und ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen.
»Wie alt sind Sie?«, fragte sie.
»Siebenundzwanzig.« Ich wusste nicht, warum sie mir diese Frage gestellt hatte. Sie bedachte mich mit einem düsteren Blick. Ich schätze, dass sie meine jugendliche Unkenntnis der Welt bedauernd registrierte.
»Aha. Nun, ich habe Ihre Worte verstanden, aber ich kann einfach nicht behaupten, dass etwas Bestimmtes geschehen ist, wenn dem nicht so ist. Gewiss, der Junge tauchte ein zweites Mal auf, aber es gab weder ein drittes Mal noch eine Lieferung aus dem Kaufhaus oder etwas anderes in der Art. Das kann nur seiner Fantasie entsprungen sein.«
Sie kam zu mir herüber und gönnte mir ein leises Lächeln. Es war die wortlose, gleichwohl deutliche Aufforderung, mich zu verabschieden. Die wachsende Spannung, die mich eine Zeit lang gepackt hatte, war verflogen. Waren all meine Gespräche mit Akio Tanno wirklich so sinnlos und absurd gewesen?
Ich erhob mich widerwillig und kündigte ihr an, sie erneut aufzusuchen, falls mein Patient mir neue Informationen lieferte. Die Frau begleitete mich zur Tür und sagte lächelnd, natürlich könne ich jederzeit wiederkommen. Als ich mich bückte und mithilfe des Schuhanziehers in meine Schuhe schlüpfte, sah ich unter der Fußmatte einen Fetzen Kaufhauspapier hervorlugen. Ich widerstand der Versuchung, ihn aufzuheben, richtete mich auf und verließ die Wohnung. Hinter mir wurde die Tür abgeschlossen und die Kette vorgelegt.
Vor dem Haus ging ich zum Swimming-Pool und schaute suchend an der Seitenfassade empor. Ich war neugierig, ob ich die Wohnung der Owadas herausfände, die sich mehrere Etagen über den vorspringenden Veranden befinden musste. In diesem Augenblick fiel mir ein, dass Frau Owada mit Vornamen Hisako hieß. Ich hatte stets nur den Ausdruck »die Frau« im Kopf gehabt, so wie Akio Tanno sie in seiner Erklärung durchgängig bezeichnet hatte.
Ich ging an einer mit Efeu überwachsenen Mauer entlang einen kleinen Abhang hinunter und stieß vor einer Apotheke schließlich auf eine Telefonzelle. Ich rief in der Klinik an, um mich nach meinem Patienten zu erkundigen. Die Dienst tuende Schwester wirkte angespannt und nervös.
»Doktor Uemura, Ihr Patient aus Zimmer sieben, Akio Tanno, ist verschwunden, schon seit einer Stunde. Wir glauben, dass er weggelaufen ist. Bitte kommen Sie so schnell wie möglich …«
Zwischenspiel: Schwarz-weiß
1
Der Flughafen war gähnend leer. Nur ein junges Paar stand andächtig vor einem fabrikneuen Auto auf einem mit Plastikrosen geschmückten Podest, und ein Mann mittleren Alters saß zusammengesunken vor einem Fernseher, aus dem die Abendnachrichten dröhnten. Die letzten Maschinen aus Europa über die Südroute via Hongkong oder über die Polarroute via Anchorage waren fast alle schon gelandet.
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