Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb - Gerhard Büttner - E-Book

Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb E-Book

Gerhard Büttner

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Beschreibung

Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zählen zu den permanenten Herausforderungen für Lehrkräfte und für die schulpsychologische Beratung. Ein grundlegendes Verständnis von Ursachen und Begleiterscheinungen dieser Schwierigkeiten sowie eine fundierte Kenntnis diagnostischer Vorgehensweisen und Fördermöglichkeiten sind Voraussetzungen für wirksame Beratungsangebote und Hilfestellungen. In diesem Band wird der aktuelle internationale Stand der Forschung zu Lese-Rechtschreibschwierigkeiten dargestellt. Das Erscheinungsbild von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten wird im Kontext der internationalen Störungsklassifikationssysteme und deren Umsetzung im deutschsprachigen Raum beschrieben. Konkurrierende Auffassungen zu verschiedenen Ausprägungen und Formen der Schwierigkeiten (Lese-Rechtschreibstörung vs. Lese-Rechtschreibschwäche, kombinierte Lese-Rechtschreibstörung vs. isolierte Lesestörung) werden diskutiert. Ursachen und Vorläuferbedingungen sowie sozial-emotionale Begleiterscheinungen von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten werden skizziert. Das diagnostische Vorgehen wird praxisnah erläutert und Interventionsmöglichkeiten werden beschrieben. Die Erläuterungen zur Diagnostik und zur Intervention orientieren sich an den Verhältnissen im deutschsprachigen Raum und beziehen sich bevorzugt auf Verfahren und Vorgehensweisen, die leicht zugänglich sind. Das Buch zeichnet sich durch hohe Verständlichkeit und Anschaulichkeit aus.

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Gerhard Büttner

Janin Brandenburg

Anne Fischbach

Marcus Hasselhorn

Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb

Psychologie im Schulalltag

Band 6

Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb

Prof. Dr. Gerhard Büttner, Prof. Dr. Janin Brandenburg, Dr. Anne Fischbach, Prof. Dr. Marcus Hasselhorn

Die Reihe wird herausgegeben von:

Prof. Dr. Caterina Gawrilow, Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, Prof. Dr. Ulrich Trautwein, Prof. Dr. Christina Schwenck, Dr. Anke Leuthold-Zürcher

Die Reihe wurde begründet von:

Caterina Gawrilow, Marcus Hasselhorn, Ulrich Trautwein, Christina Schwenck, Stefan Drewes

Prof. Dr. Gerhard Büttner, geb. 1954. 1979 – 1986 Studium der Psychologie und der Erziehungswissenschaften in Würzburg. 1991 Promotion. 1998 Habilitation. Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Würzburg. Vertretung von Professuren (Gießen, Frankfurt am Main, Würzburg). 2003 – 2020 Professor und seit 2020 Seniorprofessor für Pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Selbstreguliertes Lernen, Entwicklung des Arbeitsgedächtnisses und der Metakognition, Lernschwierigkeiten und intellektuelle Beeinträchtigungen.

Prof. Dr. Janin Brandenburg, geb. 1985. 2005 – 2011 Studium der Psychologie in Gießen. 2011 – 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (Frankfurt). 2016 Promotion. 2021 – 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim. Seit 2022 Universitätsprofessorin an der TU Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Ursachen und Folgen von Lernschwierigkeiten, diagnostische Kompetenz von Lehrkräften, Arbeitsgedächtnisfunktionen.

Dr. Anne Fischbach, geb. 1984. 2004 – 2008 Studium der Psychologie in Göttingen. Seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (Frankfurt). 2013 Promotion. 2022 Approbation als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Forschungsschwerpunkte: Lernstörungen im Grundschulalter, Implementation von Diagnostik und Förderung bei Lernschwierigkeiten im Primarbereich.

Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, geb. 1957. 1977 – 1983 Studium der Psychologie in Göttingen und Heidelberg. 1986 Promotion. 1993 Habilitation. 1993 – 1997 Professor für Entwicklungspsychologie an der TU Dresden. 1997 – 2007 Professor für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der Universität Göttingen. Seit 2007 Professor für Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor der Abteilung Bildung und Entwicklung am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Frühe Bildung, pädagogisch-psychologische Diagnostik, Lernstörungen.

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Umschlagabbildung: © iStock.com by Getty Images / Imgorthand

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2023

© 2023 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2855-0; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2855-1)

ISBN 978-3-8017-2855-7

https://doi.org/10.1026/02855-000

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Dem Frankfurter IDeA-Zentrum zum 15-jährigen Jubiläum gewidmet

Inhaltsverzeichnis

1  Einleitung

2  Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten

2.1  Verarbeitung von Schriftsprache – Asymmetrien zwischen Lesen und Rechtschreiben

2.2  Merkmale von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten

2.3  Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nach den internationalen Klassifikationssystemen

2.3.1  Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nach der ICD-10

2.3.2  Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nach den Diagnostischen Kriterienkatalogen der ICD-10

2.3.3  Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nach der ICD-11

2.3.4  Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nach dem DSM-5

2.4  Lese-Rechtschreibschwierigkeiten nach der S3-Leitlinie

2.5  Prävalenzen von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten

2.5.1  Einflussfaktoren auf Prävalenzschätzungen

2.5.2  Empirische Befunde zu Prävalenzen von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten

2.6  Persistenzen von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten

2.7  Kontroversen zu den Konstrukten der Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten

2.7.1  Unterschiedliche Richtlinien zum Umgang mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten in den Bundesländern

2.7.2  Lese-Rechtschreibstörung und allgemeine Leseschwäche

2.7.3  Kategoriale versus dimensionale Diagnostik

3  Ätiologie von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten

3.1  Genetische Grundlagen von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten

3.2  Neurofunktionale Grundlagen von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten

3.3  Phonologische Informationsverarbeitung

3.3.1  Befunde zur phonologischen Bewusstheit

3.3.2  Befunde zum phonologischen Arbeitsgedächtnis

3.3.3  Befunde zur Benenngeschwindigkeit

3.4  Alphabetische Kenntnisse

3.4.1  Befunde zu alphabetischen Kenntnissen

3.5  Merkmale der Familie

3.5.1  Befunde zu familialen Faktoren

4  Psychische Auffälligkeiten, schulische Risiken und langfristiger Bildungserfolg

4.1  Das Erleben und Verhalten psychodiagnostisch erfassen

4.1.1  Kategoriale und dimensionale Diagnostik

4.1.2  Diagnostische Methoden und Ablauf

4.1.3  Urteilsübereinstimmung bei Selbst- und Fremdbeurteilungen

4.2  Psychische Auffälligkeiten und Komorbiditäten

4.2.1  Externalisierende Auffälligkeiten: ADHS und Sozialverhaltensstörungen

4.2.2  Internalisierende Auffälligkeiten: Angst und Depression

4.2.3  Weitere Lern- und Entwicklungsstörungen: Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten und Sprachentwicklungsstörungen

4.3  Psychosoziale schulische Risiken

4.3.1  Schuleinstellung und soziale Integration

4.3.2  Selbstkonzept und Lernmotivation

4.4  Mittel- und langfristige Folgen für den Bildungserfolg

4.4.1  Schulerfolg

4.4.2  Berufserfolg

5  Diagnostik

5.1  Notwendige Schritte bei der testpsychologischen Diagnostik

5.1.1  Schritt 1: Bestehen Lernschwierigkeiten im Lesen und/oder im Rechtschreiben?

5.1.2  Schritt 2: Sind die Lernschwierigkeiten erwartungswidrig gemessen an der allgemeinen Lernfähigkeit des Kindes?

5.1.3  Schritt 3: Ausschlussdiagnostik und Diagnostik von (primären) Komorbiditäten

5.1.4  Schritt 4: Diagnostik psychosozialer Auffälligkeiten

5.1.5  Schritt 5: Möglichkeiten und Grenzen einer kognitiven Funktionsdiagnostik

5.2  Leistungsmonitoring über die Zeit

5.3  Diagnostik der Lesekompetenz

5.3.1  Aufgabenformate standardisierter Lesetests

5.3.2  Ein Überblick über standardisierte Lesetests

5.4  Diagnostik der Rechtschreibkompetenz

5.4.1  Aufgabenformate standardisierter Rechtschreibtests

5.4.2  Ein Überblick über standardisierte Rechtschreibtests

5.5  Diagnostik der Intelligenz

6  Fördermaßnahmen

6.1  Präventionsmöglichkeiten

6.2  Wie gut helfen kognitive Funktionstrainings?

6.3  Lesetrainings

6.4  Rechtschreibtrainings

6.5  Kombinierte Lese-Rechtschreibförderung

6.6  Wie finde ich geeignete Fördermöglichkeiten im Individualfall?

7  „LRS-Erlasse“ in den Bundesländern

7.1  Welche Kinder erhalten eine schulische Förderung?

7.2  Wie werden besondere Schriftsprachschwierigkeiten festgestellt?

7.3  Welche Maßnahmen können Schulen ergreifen?

7.3.1  Individualisierte Förderung im Unterricht und klassenübergreifende Intensivkurse

7.3.2  Nachteilsausgleich und Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung („Notenschutz“)

Literatur

|11|1  Einleitung

Fallbeispiel Lorenz (Leseschwierigkeiten)

Lorenz ist anfangs sehr gerne in die Schule gegangen. Schon im Kindergarten war er sehr wissbegierig und lernte mit Freude etwas Neues. Bei seiner Einschulung kannte er bereits einige Zahlen und konnte seinen Namen schreiben. Doch mittlerweile – er besucht bereits die dritte Klasse – hat er kaum mehr Freude an der Schule. Das Lesen sei sehr mühselig für ihn, erzählt seine Mutter. Lorenz lese sehr stockend und er brauche viel Zeit. Das Erlesen der einzelnen Wörter dauere so lange, dass er häufig am Ende eines längeren Satzes nicht mehr wisse, was am Anfang stand. Lesen mache ihm keinen Spaß, sagt Lorenz, doch leider müsse er zu Hause jeden Tag üben. Die Mutter erklärt, das Lesen-Üben sei für ihn zu einer unangenehmen Pflichtaufgabe geworden, durch die er sich regelrecht durchquälen müsse, und das führe auch manchmal zu Streit. Seine Deutschlehrerin habe berichtet, dass Lorenz von Anfang an langsamer darin gewesen sei, die Buchstaben-Laut-Verbindungen zu erlernen und deren Abruf zu automatisieren. Buchstabe für Buchstabe erlese er sich die einzelnen Silben und Wörter. Gelegentlich erschließe er sich die Wortenden und lese daher ungenau. Das Schreiben falle ihm hingegen nicht so schwer. Die Lehrerin habe beobachtet, dass es ihm besser gelinge, Wörter, die er bereits im Kopf habe, zu verschriftlichen und dabei Laute in Buchstaben zu übersetzen, als umgekehrt geschriebene Wörter zu entschlüsseln. Mittlerweile falle ihm seine geringe Lesefertigkeit auch in anderen Schulfächern zur Last. In Mathe sollen Textaufgaben gelöst und im Sachunterricht Informationen aus Büchern entnommen werden. Hierfür brauche Lorenz deutlich mehr Zeit als die anderen Kinder in seiner Klasse. Die Lehrerin zweifle mittlerweile, ob der normale Deutschunterricht ausreiche, um Lorenz in seiner Leseentwicklung zu unterstützen. Sie empfehle daher weiter abklären zu lassen, ob eine Lesestörung vorliege und ob Lorenz einer intensiveren Unterstützung (z. B. einer Lerntherapie) bedürfe.

Fallbeispiel Lea (Rechtschreibschwierigkeiten)

Lea besucht die 8. Klasse einer Realschule. Sie berichtet, dass sie sich Sorgen um ihre Noten mache und sogar manchmal richtig traurig sei und befürchte zu dumm für die Schule zu sein. Es falle ihr zwar nur das Schreiben schwer,|12|aber leider sei das in fast jedem Schulfach wichtig. Ihre Mutter erinnert sich, dass Lea von Anfang an mit dem Rechtschreiben so ihre Probleme gehabt habe. Als Lea in der Grundschule das Schreiben lernte, sei es ihr deutlich schwerer als ihren Geschwistern gefallen, die Laute in Wörtern zu erkennen oder ähnlich klingende Laute zu unterscheiden und lautgetreu zu schreiben. Anfangs habe sie diese Schwierigkeit jedoch noch gut kompensieren können, indem sie sich die Schreibweise von Wörtern durch viel Üben einprägte und Diktate auswendig lernte. Dadurch seien die Schwierigkeiten im Rechtschreiben erst in der dritten Klasse deutlich zu Tage getreten, als die Ansprüche stiegen, kleine Aufsätze geschrieben und zunehmend Rechtschreibregeln eingeführt worden seien. In der vierten Klasse sei die Rechtschreibstörung aufgrund des bevorstehenden Schulwechsels auf die weiterführende Schule durch eine testpsychologische Diagnostik festgestellt worden. Obwohl die Diagnostik ergab, dass Lea über eine gute Intelligenz im oberen Durchschnittsbereich verfügt, muss sie selbst oft an sich zweifeln. Lea erzählt, dass sie im Rechtschreiben die schlechteste Schülerin der Klasse sei und sich deshalb auch nicht traue, im Unterricht etwas an die Tafel zu schreiben. Zu oft sei sie schon von anderen ausgelacht worden.

Die beiden Fallbeispiele veranschaulichen einige der Probleme, die bei Kindern und Jugendlichen mit Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb auftreten können. Von besonderer Bedeutung ist, dass die Schwierigkeiten nicht durch unzureichende Lernmotivation oder fehlende Leistungsbereitschaft bedingt sind, sondern durch Faktoren, die außerhalb der Kontrolle der betroffenen Kinder und Jugendlichen liegen. Um die Schwierigkeiten adäquat einordnen zu können, ist es hilfreich, mehr über die Hintergründe ihres Entstehens und über Begleiterscheinungen zu wissen. Beim Lesen und beim Rechtschreiben sind spezifische kognitive Funktionsmechanismen beteiligt (u. a. Sprachverarbeitung, Gedächtnis, auditive und visuelle Informationsverarbeitung), die eine biologische Grundlage haben. Sie variieren interindividuell und tragen bei ungünstiger Konstellation zur Entstehung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten bei. Vielfach treten Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb nicht isoliert, sondern in Kombination mit anderen Lern- und Verhaltensschwierigkeiten auf und gehen mit emotionalen und sozialen Belastungen einher. Befunde zur Persistenz der Schwierigkeiten, zu Komorbiditäten und zu sozial-emotionalen Begleiterscheinungen können dazu beitragen, unrealistische Erwartungen zu vermeiden und die Tragweite der Schwierigkeiten für den Bildungserfolg der betroffenen Kinder und Jugendlichen realistisch abschätzen zu können. Von Bedeutung ist ferner die Einsicht, dass es sich bei Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten um wissenschaftliche Konstrukte handelt, die in verschiedenen aktuellen Ansätzen in unterschiedlicher Weise definiert und operationalisiert werden. Die divergierenden Operationalisierungen führen nicht nur dazu, dass empirische Befunde (z. B. zu Häufigkeiten, mit denen Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten diagnostiziert werden) teilweise sehr un|13|terschiedlich ausfallen und so zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen können (z. B. im Hinblick auf Zusammenhänge zwischen Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten und Geschlecht), sondern sie können im schulischen Alltag auch praktische Auswirkungen haben auf das diagnostische Vorgehen und die Identifikation von Kindern und Jugendlichen, denen schulische und außerschulische Fördermaßnahmen angeboten werden (sollten).

Im vorliegenden Band werden die skizzierten Hintergründe mit der Zielsetzung thematisiert, ein psychologisch fundiertes Verständnis von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten zu vermitteln. Es soll die Leserinnen und Leser in die Lage versetzen, kompetent die wissenschaftliche Diskussion über Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb zu verfolgen, alternative Sichtweisen gegeneinander abzuwägen, im schulischen Alltag die Auswirkungen von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten für betroffene Schülerinnen und Schüler sensitiv wahrzunehmen, Anlässe zu diagnostischen Untersuchungen zu erkennen und angemessene Unterstützungsangebote zu unterbreiten.

Die nachfolgenden Kapitel sind in zwei Teile gegliedert:

In Kapitel 2 bis 4 werden zunächst theoretische Grundlagen, Definitionen und Operationalisierungen von Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten erörtert und anschließend wird auf den aktuellen Forschungsstand zu Prävalenzen, Persistenzen, Ursachen, Komorbiditäten und sozial-emotionalen Begleiterscheinungen von Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb eingegangen.

In Kapitel 5 bis 7 steht der praktische Umgang mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten im Mittelpunkt. Erörtert werden Vorgehensweisen und Verfahren der Diagnostik, evidenzbasierte Fördermaßnahmen in Schule und Lerntherapie sowie die Regelungen in den LRS-Erlassen der verschiedenen Bundesländer.

|14|2  Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten

2.1  Verarbeitung von Schriftsprache – Asymmetrien zwischen Lesen und Rechtschreiben

Unter Schriftspracherwerb versteht man den Erwerb des Lesens und des Rechtschreibens. Sowohl beim Lesen als auch beim Rechtschreiben werden Schriftzeichen (Grapheme) und Laute (Phoneme) einander zugeordnet. Während beim Lesen Grapheme in Phoneme umgewandelt und zu Wörtern zusammengesetzt werden, besteht beim Rechtschreiben die Anforderung darin, Wörter in Phoneme zu zergliedern und die Phoneme in Grapheme zu transformieren. Lesen ist jedoch nicht exakt der spiegelbildliche Prozess von Schreiben und die beim Lesen und beim Schreiben beteiligten kognitiven Prozesse sind nicht völlig identisch. Die Asymmetrie der kognitiven Prozesse trägt dazu bei, dass Lese- und Rechtschreibkompetenzen intraindividuell divergieren können. Wer eine der beiden Fertigkeiten ausreichend gut beherrscht, ist in der anderen Fertigkeit nicht notwendigerweise in ähnlichem Ausmaß kompetent. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass manche Kinder gravierende Probleme nur im Lesen haben, andere Kinder nur im Rechtschreiben und wieder andere Kinder in beiden Bereichen.

Bedingt durch die verschiedenartigen Anforderungen, die das Lesen und das Rechtschreiben charakterisieren, sind in der deutschen Sprache die Schwierigkeitsniveaus der beiden Fertigkeiten unterschiedlich hoch. Der Leseprozess ist leichter zu bewältigen als das Rechtschreiben (Schneider, 2017). Dies hat damit zu tun, dass in der deutschen Schriftsprache die Möglichkeiten der Transformation von Graphemen in Phoneme (relevant fürs Lesen) weniger zahlreich sind als umgekehrt von Phonemen in Grapheme (relevant fürs Schreiben). Schriftsprachen unterscheiden sich darin, wie eindeutig die Transformationen zwischen Phonemen und Graphemen geregelt sind. In sogenannten transparenten Sprachen ist diese Eindeutigkeit relativ hoch. Die deutsche Sprache gilt (im Unterschied z. B. zur englischen Sprache, in der es viele Unregelmäßigkeiten gibt) als vergleichsweise transparent, wobei die Regelmäßigkeit beim Schreiben jedoch geringer ist als beim Lesen. Zum Beispiel kann das Phonem/ks/in sechs verschiedene Grapheme transformiert werden:

|15|He<x>e, E<chs>e, zwe<cks>, Ke<ks>, le<gs>t und e<ggs>t.

In jedem Einzelfall muss entschieden werden, welche der sechs alternativen Schreibweisen die richtige ist. Umgekehrt kann jedes der sechs Grapheme

<x>, <chs>, <cks>, <ks>, <gs> und <ggs>

ausschließlich in das Phonem/ks/transformiert werden.

Ein zweiter Grund dafür, dass Rechtschreiben ein höheres Schwierigkeitsniveau als Lesen aufweist, liegt in den unterschiedlichen Gedächtnisanforderungen, die mit den beiden Fertigkeiten verbunden sind. Beim Lesen besteht die Anforderung darin, Wörter anhand einer visuellen Vorlage wiederzuerkennen, während beim Rechtschreiben die richtige Schreibweise ohne externe Hilfsmittel frei abgerufen werden muss. Das Wiedererkennen beim Lesen gelingt in der Regel einfacher und mit weniger Fehlern als der freie Abruf beim Rechtschreiben.

2.2  Merkmale von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten

Den meisten Kindern gelingt es, Lesen und Schreiben während der Grundschulzeit in ausreichendem Maße zu erlernen. Aber ein nicht unbeträchtlicher Teil erreicht dieses Ziel nicht. In der 2021 durchgeführten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigten sich bei ca. 25 % der Viertklässlerinnen und Viertklässler unzureichende Lesekompetenzen, die den Kompetenzniveaus I und II entsprachen (Lorenz, McElvany, Schilcher & Ludewig, 2023). Kinder auf Kompetenzstufe II können in einem längeren Text Informationen nicht hinreichend miteinander verknüpfen und sie sind kaum in der Lage, aufgrund von Vorwissen Schlussfolgerungen zu ziehen, die über die Textbasis hinausgehen. Als Folgen sind Schwierigkeiten in der Sekundarstufe zu erwarten, da in den meisten schulischen Fächern ausreichende Lesekompetenzen von großer Bedeutung sind.

Unter den Kindern mit unzureichenden Kompetenzen befinden sich auch diejenigen mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten im engeren Sinn, mit denen wir uns in den nachfolgenden Kapiteln beschäftigen. Diesem Teil der Grundschulkinder fehlt es an den basalen Grundlagen, um in hinreichendem Maße und angemessener Zeit Lese- und Rechtschreibfertigkeiten zu erwerben. Ihre Lese- und Rechtschreibleistungen sind nicht annähernd altersangemessen.

Im Lesen äußern sich die Schwierigkeiten darin, dass Wörter und Sätze nur stockend gelesen werden und trotz des verlangsamten Lesens viele Lesefehler auftreten (z. B. Auslassen, Ersetzen oder Hinzufügen von Wortteilen), die teilweise so gravierend sind, dass gelesene Wörter nicht mehr wiedererkannt werden können (z. B. furchsteufel für fuchsteufelswild). Schwierige Wörter, die in einem Text |16|mehrfach enthalten sind, werden oft auf unterschiedliche Weise falsch gelesen. Darüber hinaus sind Wort- und Satzmelodie nicht adäquat und die Bedeutung der gelesenen Wörter und Sätze wird nicht oder nur unzureichend erfasst.

Beim Schreiben (auch beim Abschreiben) treten viele Rechtschreibfehler bis zur Wortunkenntlichkeit auf, Groß- und Kleinschreibung sind nicht korrekt, ähnlich aussehende Buchstaben wie <d> und <b> und ähnlich klingende Phoneme wie/e/und/ä/oder/g/und/k/werden verwechselt, die Buchstabenreihenfolge wird vertauscht, teilweise werden Buchstaben oder ganze Silben weggelassen. Auch Rechtschreibfehler treten oft inkonsistent in dem Sinne auf, dass dasselbe Wort immer wieder anders und in unterschiedlicher Weise falsch geschrieben wird (z. B. Ferd und Pfärd für Pferd).

In Abbildung 2.1 ist beispielhaft wiedergegeben, wie ein Kind mit Rechtschreibschwierigkeiten zu Beginn der vierten Klasse Aufgaben aus dem Diagnostischen Rechtschreibtest für 3. Klassen – DRT 3 (Müller, im Druck) bearbeitet hat.

Abbildung 2.1:  Rechtschreibleistungen eines Kindes mit besonderen Rechtschreibschwierigkeiten (Aufgaben aus dem Diagnostischen Rechtschreibtest für 3. Klassen – DRT 3;Müller, im Druck)

|17|Die skizzierten Fehler treten mit unterschiedlicher Häufigkeit bei allen Kindern auf, die das Lesen und das Rechtschreiben erlernen. Während die meisten Grundschulkinder die anfänglichen Fehler aber relativ rasch überwinden, gelingt dies den Kindern mit besonderen Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nicht. Die Fehlerarten sind deshalb nicht typisch für Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Die Fehler werden von ihnen aber häufiger gemacht und die Probleme bleiben bei ihnen über einen langen Zeitraum mit gravierenden Folgen für die weitere schulische Entwicklung erhalten.

2.3  Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nach den internationalen Klassifikationssystemen

Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten sind bereits seit einigen Jahrzehnten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Verschiedene Disziplinen (Psychologie, Medizin, Erziehungswissenschaften) haben sich dem Thema aus unterschiedlicher Perspektive genähert und legen teilweise divergente Kriterien an, nach denen sie Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten definieren. In der Psychologie hat sich eine Auffassung etabliert, die an den internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der American Psychiatric Association (APA) orientiert ist.

Die internationalen Klassifikationssysteme weisen in der Definition von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten große Gemeinsamkeiten auf, setzen jedoch auch unterschiedliche Akzente. Seit 2022 gilt in der Nachfolge von ICD-10 offiziell die ICD-11 (auch wenn sie erst nach einer mehrjährigen Übergangszeit die ICD-10 endgültig ablösen wird) und auch zwischen diesen beiden Klassifikationssystemen gibt es neben Überlappungen divergierende Festlegungen zu den Störungsbildern im Schriftspracherwerb. Nachfolgend werden die Positionen zu Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten in der ICD-10, der ICD-11 und dem DSM-5 skizziert.

2.3.1  Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nach der ICD-10

In der ICD-10 werden gravierende Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81) gezählt. Entwicklungsstörungen sind dort allgemein durch drei Kriterien definiert:

Ihre Anfänge liegen in der Kindheit.

Die Entwicklungseinschränkung hängt mit der Reifung des Zentralnervensystems zusammen und ist die Folge einer neurobiologischen Dysfunktion.

|18|Der Entwicklungsverlauf ist stetig, ohne dass es zu Spontanerholungen und anschließenden Rückfällen kommt (Dilling, Mombour & Schmidt, 2015).

Übertragen auf Lese-Rechtschreibschwierigkeiten bedeuten diese Kriterien:

Die Schwierigkeiten werden in den ersten Schuljahren (und nicht erst im Jugend- oder im Erwachsenenalter) offenkundig.

Die Schwierigkeiten basieren auf biologisch bedingten Besonderheiten in der (neuro)-kognitiven Verarbeitung von Schriftsprache.

Die Lese-Rechtschreibleistungen unterliegen im schulischen Entwicklungsverlauf nicht einer großen Schwankungsbreite, sondern bewegen sich weitgehend stabil im unterdurchschnittlichen Bereich.

Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten sind in der ICD-10 definiert als schulische Leistungen, die

unzureichend sind,

erwartungswidrig auftreten und

nicht ausschließlich durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder durch eine Hirnschädigung oder durch mangelnde Lerngelegenheiten (z. B. durch unzulängliche Beschulung) bedingt sind.

Als unzureichend werden individuelle schulische Leistungen dann angesehen, wenn sie in einem standardisierten Schulleistungstest substanziell unter dem Mittelwert der Altersnormen bzw. der Klassennormen liegen.

Als erwartungswidrig gelten schulische Leistungen dann, wenn sie deutlich unter dem Niveau liegen, das aufgrund der kognitiven Leistungsfähigkeit einer Schülerin bzw. eines Schülers erwartet werden kann. Die kognitive Leistungsfähigkeit wird mit Hilfe eines Intelligenztests erfasst. Fallen die Leistungen in einem Schulleistungstest substanziell schlechter aus als in einem Intelligenztest, wird davon ausgegangen, dass die Beeinträchtigungen in den schulischen Leistungen spezifisch sind und nicht durch eine Beeinträchtigung der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit erklärt werden können.

Eine allgemeine Intelligenzminderung wird in der ICD-10 angenommen, wenn der IQ < 70 ist. Unzureichende schulische Leistungen werden in diesem Fall nicht als domänenspezifische Beeinträchtigungen im Sinne der o. g. Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten angesehen, sondern auf die allgemein beeinträchtigte kognitive Leistungsfähigkeit zurückgeführt.

In der ICD-10 werden drei Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten unterschieden, die für den Schriftspracherwerb relevant sind:

Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0), bei der entweder nur das Lesen oder sowohl Lese- als auch Rechtschreibleistungen beeinträchtigt sind

Isolierte Rechtschreibstörung (F81.1), bei der nur die Rechtschreibfertigkeiten betroffen sind

|19|Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten (F81.3), die dadurch charakterisiert sind, dass nicht nur im Lesen und Rechtschreiben, sondern zusätzlich auch im Rechnen Minderleistungen vorhanden sind. Kombinierten Störungen können in den beiden Varianten Lese-Rechtschreibstörung plus Rechenstörung sowie Rechtschreibstörung plus Rechenstörung auftreten.

2.3.2  Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nach den Diagnostischen Kriterienkatalogen der ICD-10

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 1992 und 1993 zur ICD-10 zwei Kataloge zur Beschreibung und zur Definition von Störungsbildern veröffentlicht, die auch für Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten relevant sind: (1) Forschungskriterien (in der ICD-10 als Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis bezeichnet) und (2) Klinisch-diagnostische Leitlinien für die Diagnosestellung in der Praxis. Die beiden Kataloge haben mit Ergänzungen und Modifikationen auch heute noch Gültigkeit. Sie dienen unterschiedlichen Zielsetzungen und unterscheiden sich in der Vorgehensweise, wie Störungen definiert werden.

Die Forschungskriterien enthalten strenge und präzise Operationalisierungen von Lernschwierigkeiten (Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort, 2016). Das Ziel der Kriterien besteht darin, in empirischen Studien mit homogenen Stichproben arbeiten zu können, die sich aus Fällen zusammensetzen, deren diagnostische Zuordnung gesichert ist. Zweifelsfälle sollen nach Möglichkeit aus den Studien ausgeschlossen werden, um die Aussagekraft von Studienergebnissen zu erhöhen.

Mit den Klinisch-diagnostischen Leitlinien ist eine größere Flexibilität im klinischen Alltag und der pädagogisch-psychologischen Beratung verbunden. Sie sollen sicherstellen, dass auch weniger eindeutige Fälle, bei denen nicht alle Definitionskriterien vollständig erfüllt sind, einem Störungsbild zugeordnet werden können, sofern der klinische Eindruck dies begründet, und Personen mit einer weniger eindeutigen Zuordnung somit nicht von einer Behandlung und Unterstützung ausgeschlossen werden.

Forschungskriterien

Der Grad der Beeinträchtigung, der gefordert wird, damit von einer Störung des Schriftspracherwerbs ausgegangen werden kann, ist in den Forschungskriterien populationsabhängig definiert. Lese- und Rechtschreibleistungen verteilen sich in der Bevölkerung kontinuierlich in Form einer Normalverteilung (vgl. Abbildung 2.2). Die Verteilung der Lese- und Rechtschreibleistungen in der Gesamtpopulation bildet die Grundlage für die Festlegung der Kriterien zur Bestimmung von Störungen des Schriftspracherwerbs.

|20|Eine Normalverteilung zeichnet sich dadurch aus, dass präzise spezifiziert werden kann, wie groß der Prozentsatz an Fällen ist, der in einen definierten Bereich fällt. Die Bereiche lassen sich mit Hilfe des statistischen Verteilungsparameters Standardabweichung festlegen. In die Bereiche zwischen Mittelwert und einer Standardabweichung unter- bzw. oberhalb des Mittwerts fallen bei einer Normalverteilung jeweils 34.1 % aller Fälle. In den Extrembereichen nehmen die Auftretenshäufigkeiten drastisch ab. In den beiden Bereichen, die mehr als zwei Standardabweichungen vom Mittelwert entfernt sind, liegen jeweils nur etwa 2.3 % der Fälle.

Abbildung 2.2:  Normalverteilung mit Angabe prozentualer Anteile innerhalb definierter Bereiche

Doppeltes Diskrepanzkriterium

Die WHO hat in den Forschungskriterien der ICD-10 festgelegt, dass Minderleistungen in den schulischen Fertigkeiten nur dann Störungscharakter haben, wenn sie mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb des Niveaus liegen, das aufgrund des chronologischen Alters und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten wäre (Dilling et al., 2016).

Es hat sich etabliert, die geforderte Abweichung der schulischen Fertigkeit von der nach dem Alter und der Intelligenz zu erwartenden Leistung als doppeltes Diskrepanzkriterium zu bezeichnen.

Die altersbezogene Diskrepanz wird populationsorientiert bestimmt (Diskrepanz zwischen Kind und Peergruppe) und ergibt sich als Abweichung der individuellen Leistung in einem standardisierten Schulleistungstest von dem Mittelwert der Peergruppe. In Deutschland sind viele Schulleistungstests nicht nach dem chronologischen Alter, sondern nach der Klassenstufe normiert. Der Grund hierfür liegt darin, dass schulische Leistungen stärker vom Grad der Beschulung als vom chronologischen Alter abhängig sind. Nach den Forschungskriterien muss die individuelle Leistung in dem Test in den Extrembereich fallen, der mindes|21|tens zwei Standardabweichungen unterhalb des Mittelwerts der Peergruppe liegt, damit die Abweichung das erforderliche Ausmaß für eine Störung erfüllt.

Die intelligenzbezogene Diskrepanz ist eine Diskrepanz innerhalb des Kindes und spiegelt die Abweichung zwischen den Testergebnissen in einem Schulleistungs- und einem Intelligenztest wider. Das Ergebnis im Schulleistungstest muss nach den Forschungskriterien mindestens zwei Standardabweichungen schlechter ausfallen als die Leistung im Intelligenztest, damit von einer Störung ausgegangen werden kann.

Das doppelte Diskrepanzkriterium erfordert den Vergleich von Leistungen aus zwei Testverfahren, die unterschiedlich skaliert sind. Zur Erfassung der Intelligenz wird zumeist eine Skala mit einem Mittelwert (M) von 100 und einer Standardabweichung (SD) von 15 verwendet. Sie wird als IQ-Skala bezeichnet (IQ ist die Abkürzung für Intelligenz-Quotient). Demgegenüber ist bei Schulleistungstests eher eine Skala mit M = 50 und SD = 10 üblich, die als T-Skala bezeichnet wird. Die Abkürzung T geht auf McCall (1922) zurück und wurde zu Ehren der beiden Psychologen Edward L. Thorndike und Lewis M. Terman gewählt, um deren Beiträge zur Entwicklung psychologischer Testverfahren zu würdigen. Ein Vergleich von Werten aus den beiden Skalen ist jedoch unmittelbar möglich, weil die Normwerte standardisierter Testverfahren an eine Normalverteilung angepasst sind. Skalenwerte verschiedener Testverfahren können dadurch mit Hilfe einer linearen Transformation eindeutig ineinander umgerechnet werden. Aufgrund der skizzierten Zusammenhänge lässt sich bei einem gegebenen IQ-Wert der für die Diagnose einer Lernstörung kritische Wert in einem Schulleistungstest eindeutig bestimmen. Die Formel zur Umrechnung von IQ-Werten in T-Werte findet sich in Kapitel 5.1.

Die strengen Festlegungen in den diagnostischen Kriterien für die Forschung haben zur Folge, dass nur ein sehr geringer Prozentsatz an Kindern diese Kriterien erfüllt. Geht man von einer Normalverteilung der Lese- und Rechtschreibleistungen in der Bevölkerung aus, weisen nur etwa 2.3 % der Personen Leistungen auf, die mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb des Mittelwerts der Bevölkerung liegen. Dieser Anteil reduziert sich noch, wenn als zusätzliches Kriterium erfüllt sein muss, dass die Leistungen im Lesen bzw. Rechtschreiben mindestens zwei Standardabweichungen schlechter sind, als nach dem Intelligenzniveau des Kindes zu erwarten wäre. Nach den strengen Forschungskriterien müssten in empirischen Studien Screenings mit mehr als tausend Personen durchgeführt werden, um auf adäquate Stichprobengrößen mit Kindern zu kommen, die den Kriterien entsprechen. In der Forschungspraxis haben sich deshalb liberalere Kriterien durchgesetzt. Üblich sind Diskrepanzwerte von 1.5, 1.2 oder nur einer Standardabweichung. Teilweise wird zur Definition von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten sogar ein Prozentrang von ≤ 20 % akzeptiert, was einem Diskrepanzwert von nur 0.8 Standardabweichungen entspricht.