Schwimmen - Sina Pousset - E-Book

Schwimmen E-Book

Sina Pousset

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Beschreibung

Wer springt, hat zwei Möglichkeiten: Schwimmen oder untergehen. Milla und Jan kennen sich seit Kindertagen. In einem heißen Sommer fahren sie gemeinsam mit Jans Freundin Kristina ans Meer. Drei Tage lang schweben sie zwischen sie zwischen Angst, Liebe und Sehnsucht. Bis sich alles bei einem heftigen Gewitter katastrophal entlädt. Jan überlebt nicht. Vier Jahre später sind Milla und die kleine Emma an einem kalten Morgen durch die große Stadt unterwegs. Da findet Milla etwas, das sie an Jan erinnert und stellt sich endlich der Vergangenheit. Ein Roman voller zarter Melancholie und berührender Bilder, die einen nicht mehr loslassen.  

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Das Buch

Wer springt, hat zwei Möglichkeiten: schwimmen oder untergehen. Milla und Jan kennen sich seit Kindertagen. In einem heißen Sommer fahren sie gemeinsam mit Jans Freundin Kristina ans Meer. Drei Tage lang schweben sie zwischen Angst, Liebe und Sehnsucht. Bis sich alles bei einem heftigen Gewitter katastrophal entlädt. Jan überlebt nicht.

Vier Jahre später sind Milla und die kleine Emma an einem kalten Morgen durch die große Stadt unterwegs. Da findet Milla etwas, das sie an Jan erinnert und stellt sich endlich der Vergangenheit: Was genau ist damals passiert? Tragen Milla und Kristina Schuld an Jans Tod? Und warum sagt Emma eigentlich nicht Mama zu Milla?

Die Autorin

Sina Pousset, 1989 geboren, studierte Literatur- und Kunstwissenschaften. Sie schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, jetzt.de und Zeit Online.

Sina Pousset lebt in Berlin.

Schwimmen ist ihr erster Roman.

Sina Pousset

Schwimmen

Roman

Ullstein fünf

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ISBN 978-3-8437-1646-8

© 2017 © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München Titelabbildung: © Robin Macmillan / Trevillion Images Foto der Autorin: © Melanie Hauke

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für euch vier, für alles.

Für M., fürs Dasein.

Für A., für die Ermutigung.

Montag

Die Stadt ist groß an diesem Morgen. Eine Frau fährt auf dem Fahrrad durch den Montag, an Autoreifen und Ampeln vorbei. An der Seite tippelt ein knöchelhoher Hund über die Straße, um den Hals trägt er ein grünes Band mit kleinen Lichtern. Die Frau ist in einen Schal gewickelt, ihr langer schwarzer Mantel flattert im Wind zusammen mit den braunen Haaren. Ihr Name ist Milla Anton. Sie holt Schwung am Berg. Hält eine Hand an einen Kinderrücken. Ein kleines pinkes Rad, ein roter Helm und blonde Locken. Die Stadt ist groß an diesem Morgen. Sie stößt Rauch in Millas Lunge und kalte Luft, die brennt. Der Montag hat den Sonntag abgelöst, es war ein kurzes Wochenende. Keine Zeit zum Nägelschneiden, nur Wäsche waschen, den Müll runterbringen und den Nachbarn im Flur grüßen, ein paar Bässe durch die Wand wummern hören, nachts aufstehen, weil Emma weint. Es ist ein Alptraum. Der kleine Körper krabbelt zu ihr ins Bett und drückt sich an sie, Milla macht ihr heiße Milch und riecht an ihrem Haar. Sie riecht nach Honig, immer. Honig und Vanille. Der Schlafanzug ist ausgeleiert, die Dinos darauf sind verblasst, Emmas Augen rot. Wenn Milla sich im Spiegel sieht, sieht sie Augenringe. Die Zeitung hat sie abbestellt. Zeitung und Schlaf haben einem blonden Mädchen mit Ringelsocken Platz gemacht. Jeden Morgen, Montag bis Freitag, hat Milla die Hand an Emmas Rücken und schiebt sie den Berg nach oben bis zum Kindergarten. Das sieht man. Am genauen Abstand zwischen den zwei Rädern, ohne Schlenker. Eine kleine Einheit, kein Stocken, kein Müdewerden in den Beinen.

Sie sind spät dran. Als sie in den Klosterweg abbiegen, ist es schon Viertel nach. Emma hält Millas Hand und erzählt atemlos, was sie alles denkt. Vögel singen.

Schlafen die Vögel denn nachts, Milla?

Ja, die schlafen nachts, so wie du. Und dann stehen sie mit der Sonne auf.

Warum fallen die dann nicht vom Baum?

Die sind das gewohnt, auf dem Baum schlafen. Du fällst ja auch nicht mehr aus dem Bett.

Emma gluckst, ganz hell, und reibt sich die Augen.

Und wo sind die Vögel zu Hause, Milla?

Milla sagt sie, nicht Mama.

Da, wo sie sich wohl fühlen, da bauen sie ein Nest.

So wie du?

Ja, so wie ich.

Sie laufen die niedrigen Stufen nach oben, es kleben Sonnen und Blumen an den Fenstern. Drinnen grelles Licht. Vielleicht wird Emma sich daran erinnern, später. Wie grell das Licht hier immer war, morgens, und alle sahen so blass aus, auch die Erwachsenen. So müde. Es gibt hier rote Wachsdecken und gelbe Plastikbecher, ihren Lieblingsteller und die Schublade voll Ersatzklamotten, und es stinkt auf den kleinen Klos. Das hat sie Milla schon erzählt. Vielleicht wird Emma sich daran noch erinnern, wenn sie das ist, was die Erwachsenen groß nennen. Wie sie im Sommer zelten auf der Wiese und es manchmal Milchreis gibt oder Kroketten. Wie gut warme Milch schmeckt, wenn man ein paar Zentimeter kleiner ist. Wie viel Spaß es macht, Arm in Arm mit Martha über den Hof zu hüpfen, bis das Herz schnell klopft und der Atem tief wird. Wie sehr es weh tut, wenn jemand tuschelt und lacht.

Frau Anton. Guten Morgen. In Frau Herolds Stimme klingt dunkel der Vorwurf. Frau Anton, nicht Milla.

Guten Morgen.

Statt Dinge zu erklären, die sich schon von selbst klären, zieht Milla lieber Dinge aus. Den Helm, die gelbe Jacke, sie schnürt die Stiefel auf und streicht dabei über Emmas Ringelsocken. Ein Kuss! Milla gibt ihr einen Kuss auf die zarte Wange, noch einmal Nase putzen und Vanillehaar einatmen, dann raus auf die Straße.

Weiter, zu Manuskripten und dem Chef, der seit zweieinhalb Monaten einen schlechten Tag hat. So lang schläft er schon auf der Couch. Hoffentlich fängt er wieder an zu trinken, hat Emil gesagt. Hoffentlich fängt er wieder an zu rauchen, hat Milla gesagt. Aus den Raucherpausen kam er mit roten Backen wieder, jedes Mal. Ein paar stille Minuten mit Frau Forster aus dem Sechsten.

Sie fährt Rad und atmet und findet den Rhythmus nicht. Heute nicht. Es geht schwer, und die Leute überholen sie. Die Ampel wird rot, es strömen Menschen vorbei an den Autos, Radfahrer klingeln, ein Bus brummt hinter ihr, dahinter surrt eine Bahn. Durch die Stadt klingt der Stau. Ein Mann telefoniert über die Freisprechanlage und raucht. Das Fenster ist offen, einen Spalt, und seine Worte werden zu Milla auf die Straße getragen. Er sitzt in einem Auto, dessen Räder Milla bis zur Hüfte reichen. Heute Abend gibt es Gans bei Peter, bringst du den Wein mit. Seine Frau. Jaja. Der Peter mag den Barolo so. Jaja. Passt aber nicht zur Gans. Doch, doch. Er legt auf und fährt heute Abend ohne Wein nach Hause. Milla schaut nach unten und sieht ihren Platten. Nicht heute.

Sie steigt ab und drückt sich an die nächste Mauer, der Strom fließt auf der Straße ohne sie vorbei. Sie bückt sich und hätte gern, dass ihr auch mal jemand die Nase putzt. Sie wischt sich mit dem Handschuh über das Gesicht, hantiert in ihren Kleiderschichten, plötzlich ist ihr heiß, so heiß. Das Ventil geht auf, Gott sei Dank, und Milla pumpt, so gut sie es mit ihren engen Ärmeln kann. Der Reifen wölbt sich, genug für den Rest des Weges. Weiter. Sie muss weiter. Sie greift nach der Ventilkappe in der Manteltasche, aber ihre Finger stoßen auf mehr, Papier. Sie zieht es hervor. Auf dem Zettel ist Jans Handschrift. Milch, Tomatensoße, Orangen und Eier. Das wollte Jan mal einkaufen, als sie noch zusammenwohnen in der kleinen Wohnung unterm Dach, er ihr nachts Spaghetti kocht, das Radio anmacht und mitsingt beim Brot schneiden, alles nass macht beim Duschen und er atmet und sein Herz schlägt. Die Eier hat er durchgestrichen. Es ist sein alter Mantel, den Milla heute trägt, das erste Mal seit vielen Jahren. Es sticht, und Milla wird schlecht. Sie liest Jans schiefe Worte auf dem Papier mit ein paar Rissen, bevor der Montagmorgen vor ihren Augen verschwimmt. Einen Moment steht sie still. Sie hält es fest, das unverhoffte bisschen Jan. Dann steuert sie auf das große grüne Licht zu und lässt sich vom Strom auf die Straße tragen. Weiter. Sie muss weiter.

Fast zehn Uhr, als Milla über den glatten Steinboden geht, auf dem sich die Salzflecken ausbreiten. Sie durchquert die Halle, grüßt den Pförtner, der dasitzt, bevor sie kommt und nachdem sie geht, an dessen Anzug ein goldener Knopf fehlt, dort, wo sich sein Bauch am meisten wölbt, und mit dem sie in der Mittagspause manchmal ihren Apfel teilt. Frau Milla, wie geht‘s? Seinen Blick sieht sie nicht.

Sie steht im Lift und hält den warmen Zettel in der Hand. Der Fahrstuhl fährt mit ihr und anderen nach oben, Aftershave und gekämmtes Haar, Kaffee und Pudelmütze. Die Anzeige zeigt zwei, dann vier, dann fünf, die Tür geht auf. Grauer Teppich und gelbes Halogen. Millas Stockwerk. Sie steigt aus. Von hier oben kann man die Dächer sehen.

Ein paar Schritte, und Milla steht vor ihrem Zimmer. Auf der weißen Tür steckt ihr Name in einem Plastikschild, provisorisch wie so vieles hier. Dahinter ist noch alles so wie Freitag. Die Regale voller Bücher, der Wasserkocher auf dem Sideboard. Papierstapel, ein paar Kaffeeflecken, Krümel, Notizen, ein Energyriegel auf Millas Schreibtisch. Der Platz gegenüber ist leer. Tijs ist im Vaterschaftsurlaub. Nur seine Kopfhörer hat er vergessen und sein altes kariertes Sakko an der Tür. Sachen. Das war für sie am schlimmsten, fast. All die Sachen, die Jan zurückgelassen hat, an all den Stellen. Seine Haare auf ihrem alten Pullover im Schrank, Postkarten an der Wand, alles Jan. Seine Fahrradpumpe. Der Blazer, den sie nur gekauft hat, weil er mal gesagt hat, Dunkelblau sei zeitlos.

Milla schaut aus dem Fenster. Bei einem der Altbauhäuser steht eine Palme in Schutzfolie auf dem Wohnzimmerbalkon. Ein Mann in Anzug raucht hier manchmal, schaut auf die Uhr, kippt den Kaffee mit einem Ruck, streicht die Haare glatt und schließt die Tür. Ihn sieht Milla selten, er ist einer von den Menschen, die immer früh dran sind, bei der Arbeit, wahrscheinlich auch an der Kinokasse und bei der Silvesterplanung.

Nur ein Mal hat er verschlafen. Es lag ein gelbes Kleid auf dem Fußboden im Wohnzimmer neben seinen schwarzen Schuhen, der Aschenbecher stand voll neben den Weingläsern auf dem Balkon. Milla hat neben Korrekturen und E-Mails immer wieder hochgeguckt und die Frau beobachtet, die ein paar Stunden später in der fremden Wohnung erschien. Fühl dich wie zu Hause, vielleicht hat er das gesagt. Dann ist er verschwunden, ins Büro. Sie war ein gutes Stück älter als er, die Frau mit dem gelben Kleid. Sie stand kurz vor dem Balkonfenster, die Arme hinter dem Rücken ausgestreckt, ohne Socken und im Männerhemd. Er hat immer frisch gebügelte Hemden, das weiß Milla, zweimal die Woche kommt jemand für die Hausarbeit. Vielleicht bemerkt an diesem Morgen keiner im Büro das verknitterte Jackett und das zerzauste Nackenhaar über dem gestärkten Kragen. Heute ist niemand in der Wohnung. Millas Blick schweift. Alles ruhig hinter den Fenstern gegenüber, ein Kinderzimmer, ein Frozen-Poster und eine große Obstschale auf einem runden weißen Küchentisch. Spitzenvorhänge und Holzmöbel daneben, Kunstprint gegen Waldmotiv in Öl. Eine lange Knoblauchstange am Fenster, Petersilie und Basilikum. Eine aufgeschlagene Zeitung auf dem Tisch, Schlappen auf dem Balkon.

All das kann Milla von ihrem Schreibtisch aus beobachten, der über der Stadt schwebt wie ein Aussichtsturm aus Glas. Es ist ihr Platz. Sie hat Socken in der Schublade, an denen sie strickt, wenn ihr die Augen zu sehr weh tun. Das kann Milla, ohne hinzusehen. Sie schließt die Augen oder schaut über die Stadt, die Dächer und Balkone, die engen Gärten und die Blumentöpfe. Sie sieht, wie mit der Sonne die Lichter an- und ausgehen. Die Menschen rausgehen. Weg sind und wieder da, manchmal. Neben Millas Schreibtisch klebt ein Foto von Emma an der Wand, ein großer behaarter Arm ist um sie geschlungen, fast könnte es Jan sein, aber es ist Millas Vater.

Milla streift ihre Tasche von der Schulter, schält sich aus den Schichten und macht sich einen Tee. Sie wartet. Alles ruhig. Chef ist in der großen Besprechung. Chef. So heißt Melzer hier, er ist Abteilungsleiter. In der Montagskonferenz sollte Milla jetzt auch sitzen, Luftraum füllen, Notizen machen. Präsenz zeigen, nennt Chef das. Milla wartet stattdessen. Milla ist M. Auch weil sie immer Ähm sagt, wenn sie überlegt. Oder Mi. So wie heute. Mi, das kommt von der Tür – sie kann nichts tun, sie steht so da, wie sie ist, am Fenster, mit dem Tee in der Hand. Und lässt es passieren, eine Sekunde länger ruht sein Blick auf ihr. Heute erst um elf, wegen Buckmann, ja? Dann ist er aus der Tür. Buckmann. Der große Chef hat einen roten Kopf und muss deswegen zum Arzt. Dann kommt er zu spät und schnauft. Er raucht seit achtunddreißig Jahren Kette, sein Büro riecht wie eine Clubtoilette, reimt Milla im Kopf. Um elf also. Fast eine Stunde Zeit. Manchmal kriegt man von irgendwoher Zeit geschenkt. Sonst lässt sie um diese Uhrzeit ihre Hände und Augen machen, was sie sonst so tun, wofür sie bezahlt werden, E-Mails schreiben und lesen. Heute schaut Milla aus dem Fenster. Trinkt den Tee. Und dann noch einen. In der Wohnung gegenüber tickt die Küchenuhr über einer ungeliebten Zimmerpflanze. Das Geschirr stapelt sich in der Spüle. Im selben Haus gehen unten beim Bäcker die Menschen ein und aus. Die Bäckerin hinter der Theke lacht beim Bedienen, sie hat Falten in den Augenwinkeln davon. Das sieht Milla, wenn sie sich manchmal Einback in der Pause kauft. Nicht immer Zeit für warmes Essen.

Milla setzt sich an den Tisch, schaut auf den Stapel, den Bildschirm und zurück. Schaut auf die Uhr, auf der sie die Stunden verstreichen sieht, fast jeden Tag seit fast drei Jahren. Fast jeden Tag wird der Stapel größer, obwohl es dem Verlag nicht gutgeht. Sie verlegen jetzt auch E-Books, bieten Dienstleistungen an, für Menschen, die selbst verlegen wollen. Und jetzt zeigen wir den Idioten auch noch, wie’s geht, hört sie Melzer murmeln. Der hohe Stapel liegt vor ­Milla. Sie erinnert sich noch, dass sie es aufregend fand, ein ganzer Turm voller neuer Ideen, dazwischen einen Schatz zu finden, manchmal Gänsehaut zu kriegen nach den ersten Absätzen. Ein paar Mal war das so. Jetzt liest sie oft mechanisch, schnell, über ein paar Seiten, liest Kapitel an, manchmal nur den ersten Absatz. Draußen spiegelt sich der graue Himmel in den Fenstern. Der nächste Tee ist leer, ein nasser Beutel klebt am Grund. Milla schaut auf die Umschläge vor ihr, die meisten weiß, manche Adressen handgeschrieben, manchmal mit Exposé oder, selten, mit der Schreibmaschine abgetippt wie ein Roman über einen Historiker, der seiner Jugendliebe jeden Abend nach Hause folgt und der nach Kapitel zwei den Faden verliert.

Das Papier schlägt gegen Millas Nägel, sie fährt mit dem Finger an den Umschlägen entlang. Ihr Blick bleibt an einem dunklen Grau hängen, zerfledderte Ecken und ein Fettfleck am Rand. Sie zieht den Brief aus dem Stapel. Er ist immer noch da. Sie kennt die Adresse. Die Handschrift, die engen i-Punkte und wie die Buchstaben sich nach rechts schieben, als hätten sie es eilig. Manche Linien weich, ein bisschen unsicher beim »An« und »Frau«. Die Anschrift ist in die Ecke gequetscht, als hätte sie sie am liebsten in die Luft geschrieben. Ungefähr seit sechs Wochen liegt der Umschlag da, ungeöffnet. Über ihm wächst der Stapel. Jedes Blatt Papier, das dazukommt, beruhigt Milla. Immer tiefer vergräbt sie den Umschlag unter den vielen Worten, die anderen ein Versteck bauen, die zu ihren Komplizen werden und davon nichts wissen. Sie zieht ihn ein Stückchen, der Stapel schwankt, die Fettecke ist größer als gedacht. Milla schaut nach rechts durch die Stadt, die Fassaden und jemanden, der gerade den Fernseher anhat und dabei die Wäsche aufhängt, der Häkeldeckchen auf der Anrichte hat und Bilder von Blumen. Milla schaut durch die Kirchtürme und die grauen Wolken. Und dann ist sie woanders, weiter weg, bei Bergen und Feldern und einem großen weiten Meer dahinter. Dort, wo Jan vielleicht wieder ihre Hand nimmt und seine schlanken Finger an ihre drückt.

Mi!

Millas Kopf fährt hoch. Die Konferenz.

Im Fahrstuhl, Melzer bleibt still, kurz bevor die Tür aufgeht. Mi. Heute aber …

Präsenz zeigen, sagt Milla, und sie bekommt ein bisschen Lächeln von ihm.

Er sieht dabei aus wie ein Vater, dessen Sohn ihm im Vollsuff auf den Teppich gekotzt hat und ihm dafür morgens Kaffee ans Bett bringt.

Im langen Raum ist es immer kalt und riecht nach Farbe. Die hohen Fenster geben ein bisschen Welt frei, das Leben zieht weiter, während man hier am großen Tisch Notizen macht. Melzer und Milla nehmen wortlos nebeneinander Platz, gemeinsam in der Runde. Alle sind da, bis auf Buckmann. Ein dramatischer Augenaufschlag, daneben rückt sich jemand wiederholt das Dekolleté zurecht. Zwei müde Augen versuchen sich am Tag, daneben braucht jemand zwischen den Wörtern Atempausen. Als Buckmanns massiger Körper sich zur Tür hereinwuchtet, ist es schon zwanzig nach. Sein roter Kopf positioniert sich mittig am Tisch. Buckmann ist der Verleger, Chefs Chef. Er schnauft und kramt nach Unterlagen, Milla denkt an die Krabben, die sie als Kinder am Strand mit Stöcken auf den Rücken warfen und dann im Kreis drum her­um standen. Das Tier ärgerlich und hilflos, die Beine in der Luft. Und Milla tat es immer ein bisschen zu sehr leid, bis sie irgendwann eine Krabbe aufhob und zurück ins Wasser trug. Ein schrilles Quieken und in ihrem Finger ein blutiger Schnitt. Sie fährt sich über den Finger. So. Dann wollen wir mal, sagt Buckmann in die Stille. Ein Husten zerschellt daran. Buckmann beginnt. Und Melzer rückt etwas unglücklich auf seinem Stuhl hin und her. Milla hört Buckmanns tiefen Bariton und Melzers ruhigen Alt, ein paar schwere Atmer, ein paar Takte Luft anhalten, dann weitersprechen. Es geht um die Jahresbilanz. Um den Aufbau der Fremdsprachenabteilung. Sie wissen ja, dass es mein höchstes Anliegen ist, das Fortkommen des Verlages zu sichern.

Erst ein Gerücht auf den Gängen, von Tür zu Tür, über Kaffeetassen geflüstert, und jetzt spricht er es aus. Es ist das, was alle fürchten. Wir werden im kommenden Jahr großflächig umstrukturieren müssen. Müssen. Wir. Aber wir werden natürlich eine … angemessene Lösung finden, für alle. Milla blickt von Dekolleté zur Lungenkranken, auf ihr bleiches Gesicht in der Fensterscheibe, daneben Melzers quadratischer Rahmen, und fragt sich, was das ist, eine angemessene Lösung. Wir müssen da jetzt nach vorne schauen, sagt er. Doch Milla schaut aus dem Fenster. Auf der Straße schiebt sich ein Kinderzug vorbei. Bunte Jacken, kurze Schritte, Hand in Hand gehen sie langsam über die Straßenbahngleise, zwei Erwachsene, einer vorne, einer hinten, auf ihren Rücken kleine Gestalten. Es sieht aus, als zögen sie in ein neues Königreich, weg von hier, als führen keine Bahnen und keine Autos mehr, als könne man einfach so in der Stadt über Straße laufen und die Welt müsse still stehen. Milla zuckt bei ihrem Namen zusammen, oder, Frau Anton, Melzers Arm auf ihrem. Sein mahnender Vaterblick.

Oder haben wir nicht einige vielversprechende junge Autoren in Aussicht?, fragt er nach.

Milla sammelt sich und streicht ihren alten Pulli glatt. Und dann passiert das, was ihr immer passiert, was sie in der Schule schon vor der Vier in Geschichte bewahrt hat, in der Bachelorprüfung vor dem Durchfallen und hier, an diesem Tisch, in diesen ganzen letzten drei Jahren dafür gesorgt hat, dass sie trotz allem noch da sitzt und ihre blasse Haut in der Scheibe reflektieren sieht. Milla improvisiert.

Ja, auf jeden Fall. Es hat sich viel getan.

Es hat sich wirklich viel getan, sie muss fast lachen, so ist es, nur nicht hier. Sie erzählt von den paar Manuskripten, die sie gerade mal angelesen hat, formt Geschichten und Lebensläufe zu einem zusammenhängenden Märchen, das nicht danach klingt. Einen sehr vielversprechenden Kriminalroman an der Genregrenze von Thriller zu Historie, der die jüngste Vergangenheit mit Blick aus der Zukunft beschreibt. So hangelt sich Milla, bis ihr nichts mehr einfällt und sie in ein ausdrucksloses Schweinchengesicht blickt. Hm, sagt Buckmann und räuspert sich. Das Räuspern kennt Milla, das heißt: Nein. Melzer tippelt neben ihr mit dem Fuß, das heißt: Reicht nicht.

Milla hört sich tief Luft holen und sagen: Und dann haben wir da noch einen autobiographischen Roman eines jungen österreichischen Autors, der in seinem Text seine Drogensucht verarbeitet. Buckmanns enge Augen blitzen kurz, er stützt das weiche Kinn auf den gebogenen Zeigefinger.

Hmmm, sagt er. Das heißt: Weiterreden.

Er hat vor einigen Jahren einen Freund umgebracht und auf unzurechnungsfähig plädiert. Stand auch in der Zeitung, glaube ich.

Aha. Kann der denn schreiben, fragt Buckmann trocken.

Milla versucht sich an ihrem Sitz festzuhalten, der gerade mit ihr nach hinten wegkippen will.

Ja, sagt sie.

Und zum ersten Mal zittert ihre Stimme ein bisschen. Alles erfunden, was sie sagt. Sie braucht etwas, von woanders, denn auf ihrem Schreibtisch ist nichts Brauchbares, schon seit Monaten. Und irgendwie muss sie Chef überzeugen, dass sie auch nächste Woche hier sitzen sollte. Also lügt sie. Es gibt keinen österreichischen Autor. Kein Manuskript, nur einen Fetzen von etwas, an das sie sich erinnert. Vielleicht war es ein Zeitungsartikel, vielleicht auch die Spätnachrichten, zu denen sie auf dem Sofa einschläft, nachdem sie Emma ins Bett bringt.

Gut, sagt Buckmann. Bleiben wir dran. Milla nickt, und ihr steigt Hitze ins Gesicht. Nächste Woche wird er ein Manuskript sehen wollen.

*

Der graue Umschlag ist dick. Sie kann den starken Einband darunter fühlen, als sie ihn aus dem Stapel zieht und das Papier aufreißt, endlich. Sie weiß, was darin ist. Es fühlt sich an, wie einen Sarg zu öffnen, und Milla hat Angst. Angst vor den Gesichtern, vor den ersten Buchstaben, die erscheinen und die sie vielleicht nicht mehr erkennt. Ein Post-it klebt auf dem schwarzen Buch, Kristinas Schrift: »Für dich.« Milla kämpft gegen das Karussell in ihrem Kopf. Ein kleines schwarzes Buch. Jans Tagebuch. Früher liegt es auf seinem Schreibtisch, neben Kohlestiften und leeren Müslischüsseln, manchmal trägt er es bei sich, den ganzen Tag. Zwei laute Stimmen rattern über den Flur, Absätze gedämpft von dünnem Teppichboden, eine Stimme, die nach zu viel Nacht und Rauch klingt, ruft zu ihr: Mi, das war super, die Aktion von dir mit Buckmann! Das Dekolleté lehnt jetzt an ihrem Türrahmen, darüber schwarz ummalte Augen. Julia.

Keine Ahnung, wie du das immer machst. Aber irgendwas machste richtig, Mädchen.

Mädchen. Im Hintergrund klammert sich Regine von der Buchhaltung an ihre rosa Kaffeetasse namens Regine. Milla lächelt halbanwesend Richtung Tür, bekommt noch ein Augenzwinkern von Julia, die es mag, wenn man sie Juli nennt.

Sie ruft über den Gang: Melzer, Mensch, das war aber harter Tobak bei der Konferenz heute!

Regine verschwindet in ihr Büro, Julis Absätze poltern weiter zu Chefs Tür. Dass sie dabei ein kleines bisschen wankt und sie unter all dem scharfen Zigarettenrauch auch noch nach etwas anderem riecht, etwas Dumpfem, Dunklem unter süßem Parfüm, das sagt keiner. Vielleicht auch wegen dieser Rundgänge, wegen ihrem lauten Lachen und dem Augenzwinkern, wegen ihrer zu hohen Schuhe. Alles ist ein bisschen zu viel, aber ohne wäre es ein bisschen zu still. Viel zu still.

Millas Blick schweift wieder aus dem Fenster. Unten beim Bäcker öffnen sich die Türen, eine Frau tritt ein. Ein Stockwerk höher schlurft ein hagerer junger Mann in die Küche und reibt sich die Augen. Milla hält das Tagebuch in ihren Händen. Es kribbelt an ihren Handflächen. Der Mann nimmt den silbernen Kaffeekocher aus der Spüle. Als er das Kaffeepulver in den Mülleimer pustet und eine Hand beim Bäcker eine Tüte über die Theke reicht und sich die Absätze aus dem Flur Richtung Treppenhaus verabschieden, steht Milla auf, nimmt ihren Schal und ihren Mantel, klemmt den Umschlag mit dem Buch unter den Arm und ruft zu Chefs Tür: Ich bin weg.

Draußen geht das Leben weiter. Beim Bäcker gehen die Menschen ein und aus und tragen Duft auf die Straße. Ein Kind baut im Kindergarten Klötze aufein­ander und will mittags Kroketten mit den Fingern ­essen. Milla ist dazwischen, irgendwo.

*

Wohin jetzt. Wohin. Milla kann nur an einen Ort denken. Sie muss weg. Zu ihr, endlich. Sie braucht ein Auto. Sie setzt sich zum dritten Mal an diesem Tag aufs Rad, viele Stunden früher als geplant, und fährt in eine Richtung, in die sie sonst nie fährt. Das Auto steht bei Max, Jans bestem Freund.

Zwanzig Minuten später lehnt ihr Rad an einer vollgesprayten Wand. Sie hat nicht angerufen. Max kommt sofort runter, als sie klingelt. Er steht neben dem alten Golf auf der Straße und tätschelt den Kotflügel, während Milla auf dem Fahrersitz sitzt und den Schlüssel umdreht. Das Auto springt nicht an. Auf dem Dach sammeln sich Blätter und Vogeldreck, über der Fahrertür rosten ein paar Dellen, vom Hagel und den Kastanien im Herbst.

Ich nehm es nur zum Einkaufen für die WG, vielleicht zweimal im Monat, sagt Max. Aber hat mich immer gut gefahren.

Er berührt den roten Lack mit einer blassen Hand, die seit vier Jahren keine Gitarre gehalten hat. Lass mich noch mal, sagt er und geht um das Auto herum zur Fahrertür. Milla rutscht umständlich auf den Beifahrersitz und wartet auf die Tränen, die nicht kommen. Max steigt ein. Er schaut an ihr vorbei, wenn er mit ihr redet, als habe er Angst. Was er in ihren Augen fände, sieht er auch so. Sie ist müde, seit Wochen und Monaten, sie schläft zu wenig, trinkt zu viel Kaffee und schwarzen Tee. Sie hat noch ein paar zarte Sommersprossen. Die Wochenenden mit Emma auf dem Spielplatz, ihre kleine Hand, die ihr Schätze in den Schoß drückt: eine Schnecke, einen Kieselstein, ein Kastanienblatt.

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