"Keine Ahnung, wo wir hier gerade sind" - Sina Pousset - E-Book

"Keine Ahnung, wo wir hier gerade sind" E-Book

Sina Pousset

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Beschreibung

Ein bisschen ist das mit dem Fernbus wie mit einer durchzechten Nacht. Man kommt dehydriert und zerknautscht zu Hause an und schwört sich: nie wieder. Bis zum nächsten Mal. Denn wer billig und flexibel verreisen will, muss in den Bus. In seinem Inneren herrscht fröhliche Anarchie: Es gibt keine Sitzplatzreservierung, keine Businessclass, keine Gepäckaufgabe. Beziehungen werden kurz vor der Abfahrt in Hamburg beendet und auf dem langen Weg nach München beweint, der Fahrer steht auf Helene Fischer, und der Typ hinten links lässt garantiert seinen Geldbeutel an der Tankstelle liegen. Dennoch schwören Millionen auf den Bus. Auch Sina Pousset steigt leidenschaftlich gerne ein und erzählt in ihrem Buch hautnah vom letzten großen Abenteuer unserer Zeit – dem Fernbusfahren!

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Seitenzahl: 283

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Das Buch

»Die schönsten Geschichten des Lebens passieren im Sitzen. In einem Fernbus zum Beispiel, einem kleinen Kosmos auf Rädern. Da ereignen sich so viele absurde, witzige und wunderbare Momente, die ich einfach sammeln und aufschreiben musste. Und das Beste ist: Für die Lektüre müssen Sie noch nicht mal aufstehen!«

Sina Pousset

Sina Pousset

»Keine Ahnung, wo wir hier gerade sind«

Mit dem Fernbus unterwegs

OriginalausgabeDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Originalausgabe November 2016

Copyright © 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

und unter Verwendung von Motiven GettyImages/sorbetto

und FinePic®, München

Lektorat: Doreen Fröhlich

DF ∙ Herstellung: Str.

Layout: Tabea Gärtner

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-19060-6V001

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz:

Für Hans

Inhalt

Die Familie auf vier Rädern. Willkommen im Bus

1. Bitte einsteigen. Bereit für den Bus?

30 Dinge, die mir auf jeder Busreise passieren

2. Wo geht’s denn hier zum Bus? Vom Suchen und Finden der Haltestelle

Der Weg ist das Ziel

Je näher, desto Rucksack

Bei euch bin ich richtig, oder?

Der Berg ruft

Unterwegs in der Kompanie

Und jetzt? Da und doch nicht am Ziel

Alles nach Plan. Verwirrung am Platz

»Da! Ein Mann in Grün!« Hilfestellung an der Haltestelle

Drei Mal ist kein Mal. Man kann einen Bus verpassen. Oder drei.

Warten, dass die Zeit verstreicht. Busfahren für Fortgeschrittene

3. Auge um Auge. Der Kampf an der Ladefläche

Das passt auch noch rein. Gedanken zur Gepäckpolitik

In vier Koffern um die Welt. Der Umzug im Bus

Was man unbedingt auf einer Busfahrt dabeihaben sollte

Nicht ohne meine Playlist

Nicht ohne meine Klatschzeitschrift

Nicht ohne meine Jogginghose

4. »Ist hier noch frei?« Der Weg zum richtigen Platz

Suche: Pflegeleichten Partner für gemeinsames Sitzen

Achtung, Bagger-Hans. Wer sitzt wo im Bus?

Drei Wege zum Doppelsitz

Parfümdunst mit Tanne. Weihnachten im Bus

Antrag auf Versetzung. Wie entkomme ich meinem Sitznachbarn?

Der Feind von nebenan

Der Bus-Knigge: Immer höflich bleiben

In 24 Entschuldigungen zum Ziel

Die Zerreißprobe. Gemeinsam reisen

Laterne, Laterne. Zusammen durch die Nacht

Gut unterhalten. Begegnungen im Bus

13 Ausreden dafür, warum ich im Bus nicht mit Fremden rede

»Ich liebe dich, wie heißt du noch mal?«

Die Quelle der Weisheit. Unterwegs mit Elise

»Hallo, liebe Fahrgäste« Der Mensch am Mikrofon

Von Automat bis Serienmörder

»Someone need of English?« Die schönsten Fernbus-Ansagen

»Die Bremse ist rechts!« Beifahrer im Bus

Flutlicht und Schichtbeton. Liebeserklärung an den Rastplatz

Das Rastplatzparadies

5. My Sitz is my Castle. Auf einem halben Quadratmeter häuslich werden

Die Reise, auf der ich nichts fand, aber dafür alles vergaß

Hautnah. Die Grenzen der Nachbarschaft

6. Trockenbrot und Totgekühltes. Kulinarische Genüsse

Heiße Maroni mit Caprisonne. Das Zufallsmenü

In voller Fahrt. Ich und mein Snickers

Falafeltasche. Mein Leibgericht!

Der perfekte Proviant

Zwei Hamsterbacken

7. »Ich bin in zehn Stunden da!« Impulsivität für Anfänger

Anleitung zum Spontanverreisen

Alles für die Katz

8. »Wo ist hier die Steckdose?« Entertainment auf Rädern

Ghostwatching und Fensterstarren. Improvisieren im Bus

Was guckst du so?

Smartphone Romance. Liebe für Millennials

Die Playlist-Apotheke für jeden Gemütszustand

Das fahrende Büro. Vom Versuch, im Bus zu arbeiten

Eine für alle. Wie ich einmal neben der einzig funktionierenden Steckdose im Bus saß

Schoßstarrer und Alltagsvoyeuristen. Lesefreuden

Stielauge trifft Buslektüre

Schöner Mann plus Buch

Mein Busdiplom

Lob ans Fensterstarren

Zurück in der Zukunft

9. Nicht empfangsbereit. Moderne Kommunikationshürden

Drei Versuche, im Bus zu telefonieren

Mitgehört. Telefonate im Bus

Freundliche Übernahme. Allein mit dem Handy

Stromlos glücklich

10. Geruhsame Nacht. Vom Versuch, im Bus zu schlafen

Schockstarre und Sabberphase. Gefangen auf dem Sitz

Fünf beliebte Schlafpositionen, die garantiert fast funktionieren

Schlafen neben Goliath

11. Fernbus-SOS. Auf den Ernstfall bestens vorbereitet

Anhalten! Die Notdurft auf Reisen

Bittere Notdurft

Fix und fertig. Ausgehfein auf der Bustoilette

Von Polarkreis bis Äquator. Das Klima im Bus

Krank im Bus

Die kleine Reiseapotheke. Helfer für unterwegs

Hochsommer im Bus

Das fahrende Elend. Die Katerfahrt

Wege aus der Reiseübelkeit

Checkliste für schwache Mägen

Schuhe an, Schuhe aus

Mach die Fliege

Was vergessen? Kurierdienst auf Rädern

Ankommen ohne liegen lassen

Duschgel für alle. Absurde Funde

In der Warteschleife

Topfit ans Ziel. Busgymnastik für jede Gelegenheit

Weißes Rauschen. Unterhaltung ganz ohne Hilfsmittel

12. Liebe auf Rädern

Flirten im Bus

Endstation. Die Bustrennung

Nie wieder Doppelsitz. Sich trennen im Bus

Von Herzklopfen bis Herzschmerz. Die Fernbeziehung

Frisch getrennt im Bus

Mit Verliebten im Bus

Verlieben im Bus

13. Epilog. Zur Zukunft des Personentransports

Die Familie auf vier RädernWillkommen im Bus

Es ist schwer zu sagen, welcher Moment es war. Vielleicht, als der Kiss-Fan mit Kampfwampe seinen Kopf zum vierten Mal auf meine Schulter sinken ließ und mir dobermannähnliche Schnarcher ins Ohr pustete. Vielleicht, als ich ruckartig die Klotür aufriss und dahinter eine verschleierte Frau auf der Schüssel vorfand, die plötzlich sehr spitz schrie. Vielleicht war es aber auch später, als der langhalsige Vierzehnjährige Sean Paul auf Repeat hörte und daneben ein Herr im Anzug hektisch Aktienkurse herunterdeklinierte, während im Hintergrund ein Baby weinte. Nein, wahrscheinlich war es dann, als die Sonne langsam hinter der Horizontlinie verschwand und der Vordersitz mit solcher Wucht in die Schlafposition schoss, dass sich der Rest meines Rastplatzkaffees in wässrigen Flecken auf meinen Schoss ergoss. Während mir der kalte Hauch der Klimaanlage, die mit ihrer Überfunktion vermutlich die Unterfunktion des WLAN auszugleichen versuchte, in den Nacken wehte, während irgendwo im Hintergrund wieder saugglockenartige Kussgeräusche zu hören waren, dachte ich: Das muss mal jemand aufschreiben.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe Reisen. Reisen ist schön. Das Auto hat die heimelige Geselligkeit, den vollgepackten Kofferraum und den ersten italienischen Kaffee hinter dem Brenner. Die Bahn hat die Landschaft und die freie Fahrt, das Flugzeug die Wolken, die Vogelperspektive, die warmen Handtücher. Liebe ich! Alles! Aber wie immer, wenn Liebe im Spiel ist, gibt es auch ein paar weniger liebenswerte Eigenarten: Das Auto hat durchwachte Nächte, Rückenschmerzen, Geplärre auf dem Rücksitz. Das Flugzeug hat die unbequeme Armlehne, die Bordtoilette und eingeschweißtes Essen. Die Bahn hat die Streiks und den Großraumwagen. Doch, so lehrt die Liebe, Macken gehören dazu. Der Fernbus hat nur besonders viele.

Er ist langsam, eng, stickig oder kalt, stauanfällig und voll mit Fremden, die man definitiv nicht liebt. Eigentlich erstaunlich, dass hier klappt, was schon im Auto mit der Familie eine Herausforderung ist: sich während der Fahrt nicht die Köpfe einzuschlagen. Ein bisschen ist das mit dem Busfahren wie mit einer durchzechten Nacht. Man kehrt davon zurück, dehydriert und zerknautscht, und schwört sich: nie wieder. Bis zum nächsten Wochenende.

Denn wer billig und flexibel verreisen will, muss in den Bus. Obwohl der Fernbus also eher ein Restpostenmaß an Begehrlichkeit versprüht, sitze ich immer wieder drin, versuche, elegant über fremde Schöße zu steigen, über der Kloschüssel die Balance zu halten und die dreißig Minuten auf dem Rastplatz maximal unterhaltsam zu gestalten.

Während er so dahinschaukelt, der Maulesel der Straße, spielen sich in seinem Inneren größere und kleinere Dramen ab. Die Toilette ist verstopft, der Fahrer steht auf Schlager, und der Typ hinten rechts lässt garantiert seinen Geldbeutel an der Tankstelle liegen. Fernbeziehungen werden in Hamburg an der Haltestelle beendet und danach auf der langen Fahrt nach München vom Rücksitz aus beweint. Sowieso ist irgendjemand immer frisch verliebt, verkatert oder getrennt. Nichts davon entweicht, alles zirkuliert. Denn eines hat man im Bus zum Überfluss: Zeit, zu beobachten.

Gerade zum Beispiel, im Bus von Berlin nach Karlsruhe: Dritte Reihe links, rasselnder Raucherhusten, tauscht mit achte Reihe Fenster, adipös und Freund von Handyspielen ohne Lautlostaste, über den Gang die Nummern aus. Vorletzte Reihe rechts hat eine Vorliebe für Körnerbrot und Reiscracker, freut sich sehr auf »Schatzbär« und die Party bei Nina (sie macht Kartoffelsalat, Schatzbär holt noch Mayo). Der Zartgliedrige am Fensterplatz isst geschnittene Karotten aus Tupperware und teilt die Kopfhörer mit der Rothaarigen, obwohl er doch in Würzburg von der Blonden zum Bus geküsst wurde. Und der Mann mit Hosenträgern zweite Reihe links, demonstrativ neben dem leeren Fensterplatz am Gang sitzend, verspeist gerade eine Wurst von der Dicke seiner Finger und schnalzt mit den Hosenträgern, während seine Frau eine Reihe weiter vorn Kreuzworträtsel löst. Ein Bus ist ein kleiner Kosmos auf Rädern.

Auf diese Beobachtungen der Mitreisenden folgt übrigens meist die unangenehme Erkenntnis, dass man selbst nicht weniger anstrengend ist. Gerade zum Beispiel, im Bus von Berlin nach Karlsruhe: ich, frisch erkältet, laut atmend und krümelmonsternd, wie immer mit zu viel Gepäck und im Taschenhenkel verheddert. Die ersten zwei Lektionen des Busverkehrs: Toleranz und Selbsterkenntnis.

Unbequem, unwürdig ist das, das Kinn auf dem Klapptisch, die Hand im Salat, den Sabberfleck auf der Bluse, umgeben von Flachbässen und Kussgeräuschen. Unschön, ja, aber irgendwie auch sehr menschlich. Und genau davon lebt das Reiseerlebnis. Eine Busfahrt ist erst dann authentisch, wenn ein bisschen Würde verloren und die Schmerzgrenze leicht überschritten ist. Im Gegenzug kann der Bus die besten Geschichten erzählen. Und das ist doch schon wieder liebenswert.

Während sich all diese Geschichten ereignen, während wir whatsappen, Musik hören, den Kater ausschlafen, uns streiten, trennen, Filme schauen oder gedankenverloren aus dem Fenster starren, schaukelt der Bus unaufhaltsam und gemütlich dem Ziel entgegen. Die Welt zieht an uns vorbei, und in diesem Moment gibt es nur eine Möglichkeit: sich zurücklehnen und fahren lassen. Auf seine ganz eigene Art und Weise ist der Bus wie eine Familie: Er nervt, aber am Ende des Tages ist er der Ort, an dem man sich geborgen fühlt. Auch wenn man weiß, dass man selbst nicht weniger anstrengend ist.

1. Bitte einsteigen Bereit für den Bus?

Im Prinzip ist es ja ganz einfach. Ich klicke auf ein paar Symbole, gebe ein paar Daten ein und habe jetzt ein elektronisches Busticket im Posteingang. Doch dieser simple Buchungsvorgang trügt, denn er lässt annehmen, Fernbusreisen sei ein einfaches Unterfangen für sehr bequeme Menschen, die nicht mehr können müssen als ein bisschen Internet. Tatsächlich ist es eine hochkomplexe Angelegenheit für hochkomplexe Menschen.

Ein Fernbusfahrer muss ähnliche Charakteristika aufweisen wie ein Mitglied des Sondereinsatzkommandos. Während der durchschnittliche Reisende eher der Sylter Dorfpolizei gleicht und sich bei der Fortbewegung auf die Hilfe von Reisebüros oder automatisiertem Schienenverkehr verlässt, stürzt sich der Fernbusreisende ins Abenteuer. Er gibt sich völlig hin: dem Schicksal, den Gezeiten, den Gesetzen der Straße. Er lässt sich fahren. Und dabei muss er ziemlich viel leisten.

Der Fernbusreisende muss in der Lage sein, Mahlzeiten in zusammengefalteter Körperhaltung über mehrere Gepäckstücke hinweg oder idealerweise durch sie hindurch einzunehmen. Er muss überteuerte, kartonartige Fertigwürstchen vom Rastplatz und sorgsam rationierte Softdrinks klecker- und beschwerdefrei zu sich nehmen. Ebenso muss er fähig sein, in fledermausartiger Falthaltung zu schlafen. Ein überdurchschnittliches Maß an Koordination und Fitness sind beim Besuch der Bordtoilette, dem kunstvollen Übersteigen des Nebensitzers und dem Sprint zur Haltestelle unbedingt gefragt. Gegebenenfalls muss der Reisende fähig sein, mehrere Kilometer mit dem Bus mitzujoggen und sein Gepäck im Laufen in die offene Gepäckmündung zu werfen. Er darf sich von der immensen Geräuschkulisse – die sich irgendwo zwischen Kindertagesstätte, Bollywoodfilm und Fußballstadion bewegt – weder vom Tiefschlaf noch von wichtigen Geschäftskorrespondenzen abhalten lassen. Körperkontakt mit Unbekannten sollte ihn nicht annähernd abschrecken. Außerdem behält er uneingeschränkt seine Würde, wenn er mit einem »Dürfte ich mal kurz …?« zwischen fremden Schenkeln verschwindet, um sein heruntergefallenes Handy aus dem Sitzbereich des Nebensitzers zu entfernen. Ebenso irritiert es ihn höchstens kaum bis mäßig, seine Nebensitzer beim Füßemassieren und anderen intimen Sofaaktivitäten zu beobachten. Wer das alles kann, ist bereit für den Bus.

30 Dinge, die mir auf jeder Busreise passieren

 Ich habe Probleme, die Haltestelle zu finden.

 Mein Sitznachbar bohrt sich in der Nase.

 Jemand isst schmatzend ein Brot.

 Ich habe plötzlich Lust auf Gummibärchen/Cola/Snickers.

 Ich kaufe mir einen überteuerten Artikel am Rastplatz.

 Ich verkneife mir den Toilettengang.

 Jemand hört zu laut Musik.

 Jemand schläft auf mir ein.

 Wir halten an einem trostlosen Ort.

 Es gibt irgendwo Currywurst.

 Die Toilette ist verstopft.

 Mein Sitznachbar kratzt sich an einer privaten Stelle.

 Es riecht auf einmal komisch.

 Ich suche mein Handy.

 Jemand stellt ruckartig den Sitz zurück.

 Der Fahrer macht einen schlechten Witz.

 Jemand schnarcht. Sehr laut.

 Ich stoße irgendwo an.

 Ich höre Kussgeräusche.

 Es fällt der Satz: »Ist hier noch frei?«

 Jemand sagt: »Keine Ahnung, wo wir hier gerade sind.«

 Ich sage: »Entschuldigung.«

 Ich verschütte etwas.

 Ich wünsche mir, ich hätte eine Jogginghose an.

 Der Bus hat Verspätung.

 Es ist zu kalt.

 Es ist zu heiß.

 Die Lüftung lässt sich nicht bedienen.

 Wir stehen im Stau.

 Das WLAN funktioniert nicht.

2. Wo geht’s denn hier zum Bus? Vom Suchen und Finden der Haltestelle

Am Abend vor der Reise bin ich grundsätzlich entspannt. Ich bin mit Packen beschäftigt, mit Vorfreude und damit, den Inhalt meines Kühlschranks aufzuessen. Ich sitze mit einer Schüssel Nudelsalat auf dem Boden und überlege ganz in Ruhe, was ich alles mitnehmen soll. Den blauen Pulli? Oder doch lieber den roten? Vielleicht sogar beide? Und wo ist eigentlich der Regenschirm? Der Abend vor der Reise ist die Zeit der stressfreien Kontemplation.

Die Zeit für Panik ist der Morgen. Morgen, das ist am Abend vorher noch weit entfernte Zukunft, die Zeit, in der sich mein Gepäck in Sekundenschnelle auf magische Weise verdoppelt und ich keuchend Gegenstände in Seitentäschchen quetsche, bis sich der Reißverschluss mit einem unglücklichen Kratzgeräusch endlich schließt. Der Morgen ist auch die Zeit, in der ich schweißgebadet an der Kreuzung stehe, Taschen, Tüten und Gastgeschenke mehr oder weniger gleichmäßig um den Körper geschnürt, und merke: Ich hab ja keine Ahnung, wo ich hinmuss. Der Morgen ist der Moment, in dem mir so was plötzlich einfällt. Nicht der Abend vorher, wenn die Zeit sich zusammen mit der Vorfreude so wunderbar ausdehnt. Am Morgen minimiert sie sich schlagartig mit dem Weckerklingeln, zurück bleibt nur: der Stress.

Morgens geht es um Effizienz: schnelles Zusammenraffen von Hab und Gut, ein letzter Löffel Schokomüsli und noch mal kurz aufs Klo. Nur wenige Reisende drucken sich zwischen Schokomüsli und Klogang die Wegbeschreibung aus. Das Schöne am Busfahren ist ja: Man muss den Weg nicht kennen, weil man sich fahren lassen darf. Aber dafür muss man eben erst mal im Bus sitzen. Obwohl der Weg zur Haltestelle zwar eigentlich der wichtigste Teil der Reisevorbereitung ist, aktive Eigenleistung vor all dem passiv-gemütlichen Geschaukel, verdränge ich ihn leider immer wieder bis zum letzten Moment, wenn ich schweißnass und planlos an einer stark befahrenen Kreuzung stehe.

In solchen Momenten verlasse ich mich auf grobe Streckenkenntnis und mein Smartphone. Beides stellt sich leider immer wieder als Fehler heraus. Denn so ausgestattet bin ich ein einziges Verkehrshindernis: Ich drehe mich auf der Straße ruckartig um, bleibe stehen, laufe Slalom durch die U-Bahn, steige fluchtartig ein und aus, bleibe überall hängen und quetsche mich und meine überdimensionierte Gepäckladung durch jedes Nadelöhr des Nahverkehrs.

Freitagmorgens in einer deutschen Großstadt. Autos rauschen vorbei, von der Woche ermüdete Menschen hetzen mit Kaffeebechern zur U-Bahn. Mit Gepäck in der regulären Welt unterwegs zu sein fühlt sich an, wie mit halb aufgeblasenen Schwimmflügeln in der Schnellschwimmerbahn zu schwimmen. Während alle anderen in Rekordzeit ihre Bahnen ziehen, planscht man hilflos in der Mitte herum und muss alle paar hundert Meter am Beckenrand verschnaufen. Manchmal, wenn ich nicht verreise, sondern auf dem Weg zur Arbeit bin, sehe ich solche taumelnden, schwitzenden Packesel in der U-Bahn und denke jedes Mal: du arme Sau. Ich nehme mir vor, solche Menschen ab jetzt aufmunternd anzulächeln.

Mich lächelt niemand an. Stattdessen werde ich von funktionstüchtigen Mitbürgern, die ich auf dem Weg zur Arbeit behindere, eiskalt geschnitten. Mir wird damit klar und deutlich vermittelt, dass ich als Fernbusreisende eine Aussätzige des Berufsverkehrs bin. Flugreisende haben wenigstens noch den Anstand, ihr Gepäck auf maximal zwei übersichtliche handgepäcksgroße Rollkoffer zu beschränken. Ich dagegen stoße überall an, passe nirgendwo rein und fülle in öffentlichen Verkehrsmitteln ganze Vierersitze aus. Um mich nur Aktentaschen, kleinformatige Handtäschchen und emotionale Kälte.

Dabei würde ich eigentlich ganz gerne nach dem Weg fragen. Stattdessen halte ich in einem Hauseingang mein Handy vors Gesicht. Das GPS hakt, ich bin ein kleiner verlorener Punkt auf einem Kartennetz. Genau so fühle ich mich.

Ich starre auf den Punkt, der an der Kreuzung blinkt. Auf dem Bildschirm sah es so einfach aus. Aus der Haustür raus, dann links, geradeaus, die Nächste rechts und den Bus Richtung Stadtzentrum, dann irgendeine S-Bahn und (spätestens hier endet meine Aufmerksamkeitsspanne) am Südkreuz in den nächsten Bus, oder nicht? Jetzt, hier, in der echten Welt, mit all den Ampeln, Straßenschildern und Bushaltestellenzeichen, weiß ich plötzlich nicht mehr weiter. Die echte Welt ist verwirrend. Mein Punkt blinkt unbeirrt in der Mitte der Kreuzung. Ich drehe mich um meine eigene Achse: Wo ist hier überhaupt oben und wo unten? Menschen ohne Orientierungssinn kann man übrigens daran erkennen, dass sie zu Norden »oben« und zu Süden »unten« sagen.

Die App zeigt fünf Optionen, um ans Ziel zu gelangen, die jeweils mit drei- bis achtfachem Umsteigen in diversen Randgebieten verbunden sind. Erste Regel: Zur Fernbushaltestelle führt nie ein direkter Weg. Zweite Regel: Den indirekten Weg kann man sich unter keinen Umständen einprägen. Besonders dann nicht, wenn man einen schlechten Orientierungssinn hat.

Der Weg ist das Ziel

Durchschnittlich hundertvier Minuten dauert nach eigenen Erkenntnissen der Weg von zu Hause bis zur Haltestelle. Das liegt nicht nur an meiner Unfähigkeit. Ich vermute: Der Weg zur Haltestelle ist Teil der Erstselektion. Busunternehmen wollen auf diese Weise sichergehen, dass Fahrgäste für die Reise auch wirklich geeignet sind und sich unter das Sondereinsatzkommando kein Sylter Dorfpolizist mischt.

Aus diesem Grund sind Haltestellen meist gut versteckte Orte, die man im Zweifelsfall nicht googeln kann. Es macht also absolut Sinn, dass Haltestellen mit irreführenden Decknamen versehen sind (Sportzentrum Süd, ZOB, Industriegebiet Nord, Masurenallee). Damit fängt es aber gerade erst an. Was, wenn die Haltestelle im regionalen Streckennetz gar nicht existiert? Der Zubringer in die entlegensten Winkel der Vorstadt abbiegt und durch das geöffnete Fenster ein Hauch von Bandenkrieg weht? Der Fernbusfahrer muss mit allem klarkommen, um seine Tauglichkeit zu beweisen. Wer hier schon schwächelt, übersteht die Fahrt erst recht nicht.

Je näher, desto Rucksack

Manchmal habe ich Glück: Ich treffe auf dem Fußweg von Bummelbus A zu Bummelbahn B einen ähnlich verschwitzten Menschen mit Terrorblick. Kurzer Blickwechsel, Kopfnicken: Ja, wir haben dasselbe Ziel. Ab jetzt bilden wir eine kleine Fernbuskompanie. Gemeinsam kämpfen wir uns durch das undurchsichtige Streckennetz, die Verwirrung und das Funkloch. Auch wenn wir immer noch nicht richtig wissen, wo wir lang müssen, sind wir dabei wenigstens zu zweit.

Dass wir zumindest grob richtig sind, merken wir meistens ein paar Haltestellen vorher an zunehmender Rucksackdichte: Menschen wie wir, die sich mit überladenen Rucksäcken und tellergroßen Schweißflecken wackelnd an eine Halteschlaufe der Tram klammern. Auch hier Blickwechsel, Kopfnicken: Ja, wir haben dasselbe Ziel. Mit der Größe der Fernbuskompanie wächst das Vertrauen in die eigenen Navigationsfähigkeiten wieder: Wenn wir alle hier sind, können wir ja schon mal nicht ganz falsch sein. Aber Schwarmintelligenz kann auch ihre Tücken haben.

Bei euch bin ich richtig, oder?

München, irgendwo vorm Hauptbahnhof. Ein paar Wochen vorher bin ich in die Stadt gezogen und latent stolz, dass ich überhaupt weiß, wo der Hauptbahnhof ist. Es ist meine erste Fernbusfahrt nach Hause, ins fast vierhundert Kilometer entfernte Heidelberg. Ich stehe inmitten einer Rucksackmeute in der S-Bahn und weiß nur: Irgendwann muss ich raus. Schlecht nur, dass vorm ZOB alle S-Bahnhaltestellen für »Zugroaste« ziemlich gleich aussehen: Gleise, eine Brücke, Beton. An einer Brücke setzt sich die Gruppe in Bewegung und verlässt die S-Bahn, ich renne hinterher, Treppen hoch, nach links, geradeaus. Wir sind spät dran und laufen mit bestimmtem Schritt. Nach fünfzehn Minuten immer noch kein Fernbus. Wir kommen an eine Kreuzung. Der Vorderste: »Und jetzt?« Alle: »Du weißt doch, wo’s langgeht?« Wusste er nicht. Er hatte einfach nur die längsten Beine.

Der Berg ruft

In Zürich auf der Suche nach der Haltestelle. In der Tram erspähe ich eine Rucksackgruppe, die an der richtigen Haltestelle aussteigt. Ich folge ihnen durch die Stadt, es wird mir aufmunternd zugelächelt. Normalerweise internationaler Fernbuscodex. Nach zehn Minuten stehen wir an der Bergbahn – ich bin der Schläfer in der Wandergruppe.

Unterwegs in der Kompanie

Die Fernbuskompanie setzt sich meist aus einem fragilen Gefüge hochkomplexer Charaktere zusammen, die nicht immer optimal zusammenpassen.

Wir stehen an einer S-Bahnhaltestelle irgendwo an der Berliner Ringbahn. Das Gleis ist blockiert, wir müssen raus, meine Fernbuskompanie und ich. Wir sind ein halbes Dutzend erschöpfte Menschen, die nach einer Hetzjagd durch den Nahverkehr alle dasselbe wollen: einfach nur zum Bus. Leider wissen wir nicht, wie. Nach kurzer Zeit spricht das Alphatier der Gruppe, eine Frau mittleren Alters, die Wanderschuhe trägt und mit kritischem Blick auf die S-Bahnkarte schaut, ein Machtwort. Sie entscheidet: Wir laufen. Der Rest von uns, eine zusammengewürfelte Schar aus navigationsunfähigen Großstädtern, folgt widerspruchslos. Die Frau scheint zu wissen, was sie tut und leitet uns mit kräftigen Schritten über das Messegelände in Richtung Busbahnhof. Dabei benutzt sie selbstbewusst Phrasen wie: »Nordöstlich hinterm Funkturm«. Seit ihrer Bundeswehrausbildung orientiert sie sich vermutlich am Stand der Sonne. Für den Rest der Gruppe gilt: hinterher und Klappe halten.

Unangenehm wird es, als sich nach etwa zwei Minuten Marsch der Lehrer einschaltet. Er hat zwar nichts Substanzielles beizutragen, will aber seinem kritischen Urteilsvermögen mit schwammigen Verbesserungsvorschlägen Luft machen, während er parallel in seiner BVG-App nach Verbindungen sucht (»Könnten wir nicht auch in Halensee in die S-Bahn …?«). Wir entschließen uns, seine gut gemeinten Vorschläge totzuschweigen. Unsere hoffnungsvolle Wanderung wird bald zum Martyrium. Es ist Mittag, die Sonne steht hoch am Himmel, und wir laufen mit Gepäck an einer mehrspurigen Straße entlang. Ein Moment, der dazu einlädt, Charakterschwächen auszuleben.

An einer Autobahnauffahrt gestrandet versuchen wir gemeinsam die sinnvollste Route zu finden. Der Lehrer wirft ein: »Nun, aber wenn wir vielleicht doch wieder zur S-Bahn …?«

»Oh nee, nicht die ganze Strecke wieder zurück!«, mault ein hagerer Mann mit Sporttasche neben ihm.

Als Mimose verkürzt er sich die leidliche Reisezeit, die die anderen mit aufwändigen Lösungsansätzen beschäftigt sind, durch lautstarke Kommentare zum eigenen Wohlbefinden (»Boah, ich schwitze mir hier schon seit zwei Stunden ins Hemd! Das ist doch unerträglich! Nächstes Mal fahr ich wieder Bahn!«). Danach schaut er nach oben Richtung Sonne und seufzt.

Wir anderen stehen im Halbkreis und suchen auf unseren Navigationsprogrammen nach einem Fußweg. Vor uns rauscht ein Gewirr aus mehrspurigen Straßen. Die Diskussion ist in voller Fahrt. Nur eine junge Frau mit Blümchenschal verhält sich zur Gesamtlage ähnlich wie vermutlich zum Leben allgemein: unaufdringlich gleichgültig. Anstatt ihre Meinung kundzutun, möchte die Mitläuferin einfach nur ankommen. Wir fragen, ob sie zwei Taxis rufen oder lieber weiterlaufen will. Sie dazu zu zwingen, in der Situation Partei zu ergreifen, ist ähnlich erfolgreich, wie einen pubertierenden Zwölfjährigen beim Sonntagskaffee nach seiner Meinung zu Merkels Außenpolitik zu befragen. Sie zuckt nur mit den Schultern und blickt uns unbeholfen an. Wir entscheiden uns fürs Weiterlaufen. Nach ein paar Achten um den Block finden wir den Fußgängerweg.

Neben Plattenbauten ragt ein grüngelbes Schild hervor.

»Da vorne ist ’ne Haltestelle!«, ruft der Lehrer.

»Nein«, sagt das Alphatier.

Der Lehrer lässt nicht locker: »Aber von da können wir doch zur Messehalle!«

»Können wir nicht!«, keucht es.

Jetzt schaltet sich die Mimose ein: »Meine Füße tun weh!«

Der Mitläufer fragt: »Sind wir bald da?«

»JA!«, keife ich.

Plötzlich werden alle still. Bis eben war ich noch ein unauffälliger Teil der Gruppe, doch jetzt ist es raus: Ich bin die Cholerikerin. Ich bin erst ruhig, aber explodiere dann wie ein kleiner sizilianischer Vulkan, sobald es mir zu viel ist.

Nach meinem Ausbruch laufen wir weiter, schweigend und mürrisch. Und kommen irgendwann mitsamt allen Mitgliedern tatsächlich an, verschwitzt und mit rohen Nervenenden. Unser Alphatier marschiert zielstrebig auf die richtige Haltebucht zu. Kaum haben wir einen Fuß in den Bus gesetzt, strebt die Gruppe nach dem Billardkugelprinzip in unterschiedlichste Sitzreihen davon. Anders als beim Militär entstehen in der Fernbuskompanie ganz offensichtlich keine lebenslangen Freundschaften. Nebeneinandersitzen will nach dem Spießrutenlauf durchs Industriegebiet zumindest keiner mehr.

Am liebsten ist mir deshalb, ich bin mit der Haltestelle schon vertraut. So ist es mittlerweile mit dem Münchner ZOB. Nach ersten Anfangsschwierigkeiten und mehreren Reisen weiß ich jetzt, wo er ist, wie man hinkommt und wie ich rausfinde, in welcher Bucht mein Bus fährt. Sportliche sechzig Minuten vor Abfahrt verlasse ich normalerweise das Haus, nehme die U-Bahn und den Aufzug, von dem ich weiß, wo er fährt, wechsle einmal in die S-Bahn um, deren Nummer ich kenne, und steige an der Hackerbrücke die versteckte Treppe nach oben, hinter mir eine mir blind folgende Horde verwirrter Mitreisender, die meine natürliche Autorität sofort erkannt hat. Ich stoße die Glastür zum ZOB auf und summe währenddessen »Like a boss«. Den Weg zum Berliner Busbahnhof habe ich beim ersten Mal übrigens genauso gefunden: Ich folgte einem sehr selbstbewusst schreitenden, summenden Mädchen über einen Parkplatz.

Und jetzt? Da und doch nicht am Ziel

Fernbushaltestellen sind sonderbare Orte. Sie befinden sich an verlassenen Bahnhofsunterführungen, an Sportzentren und an Landstraßen. Was mich an der Haltestelle erwartet, weiß ich vorher nie: Ich kann irgendwo im Kölner Umland an einem einsamen Pfosten stehen oder inmitten einer brummenden Fahrzeugflotte in Berlin.

Den Busbahnhof zu betreten ist trotzdem jedes Mal ein magischer Moment. Wie eine Oase aus Schichtbeton sticht der Platz aus der Ebene hervor. Erleichterung, Stolz und Erschöpfung mischen sich mit ersten Fetzen fingierter Dankesreden im Kopf. Alle, die hier sind, haben lang dafür gekämpft. Es ist ein kleines Wunder: Irgendwie haben wir alle durch den Wust der Stadt hindurch zu diesem grauen Landeplatz gefunden, an dem wir nun verwirrt herumstehen. Bis ich mich aber in den Sitz fallen lassen kann und merke, was ich vergessen habe (die Zahnbürste! Oder doch das Geschenk für F.?), muss ich erst mal den Bus finden.

Auf das High folgt deshalb schnell der Haltestellenblues: Ich bin da und doch nicht am Ziel. Nur weil da auf den betonierten Plätzen ein paar Busse stehen, die so aussehen, als würden sie irgendwo hinfahren, heißt das noch lange nicht, dass meiner dabei ist. Die Orientierung habe ich in der Regel schon verloren, bevor ich den Platz überhaupt betreten habe. Wenigstens sind alle anderen mindestens so verwirrt wie ich. Unterhaltungen laufen deswegen oft nach folgendem Muster ab:

Herr mit Koffer (abgehetzt und schwer atmend): »Ist das hier der Bus nach Amsterdam?«

Junge Frau mit Handy: »Hä? Nee, nach Karlsruuh.«

Frau mit Brille: »Aber der fährt weiter nach Amsterdam!«

Herr mit Koffer: »Um 20.30 Uhr?«

Junge mit Döner: »20.15 Uhr. Aber der hat zwanzig Minuten Verspätung.«

Herr mit iPad: »20.30 Uhr fährt jetzt ab Gleis 18.«

Frau mit Brille: »Sie meinen Bucht 18.«

Herr mit Koffer: »Aber der war doch sonst immer grün?«

Herr mit iPad: »Die haben fusioniert.«

Herr mit Koffer: »Also muss ich zu Gleis 18?«

Frau mit Brille: »Bucht 18.«

Unverständliche Durchsage

Herr mit Koffer: »Was? Was? Was?!«

Junge mit Döner: »Irgendwas mit Verspätung von Gleis 23.«

Frau mit Brille: »Vierzig Minuten Verspätung von Bucht 22.«

Herr mit Koffer: »Bucht 22. Und wo ist das?«

Herr mit iPad: »Kann ich Ihnen auch nicht sagen.«

Frau mit Brille (mit Fingerzeig zum Servicehäuschen): »Fragen Sie mal da drüben!«

Alles nach Plan Verwirrung am Platz

Auf dem Weg von Wien nach München. Es ist nachmittags gegen halb vier, draußen dämmert es, Regen und Sturm. Vier Fahrgäste fehlen noch, als der Busfahrer losfährt. Nach etwa zweihundert Metern schießt links ein Taxi vorbei und stellt sich vor dem Bus quer. Der Busfahrer hält an und kommentiert ungerührt: »Einer will also doch noch mit. Wär’ ja nicht das erste Mal.« Aus dem Taxi springt ein junger Mann mit Koffer, der hektisch das Zielschild des Busses checkt. Breites Grinsen – er ist richtig. Während sich der Taxifahrer mit einem Lächeln verabschiedet, öffnet der Busfahrer die Ladeluke und verstaut sein Gepäck. Der gesamte Bus lacht, applaudiert und jubelt, als der Nachzügler sich erleichtert auf einen der Vordersitze fallen lässt. Vielleicht war es der Sprint zum Bus, vielleicht der Applaus – seine Wangen sind zumindest ein kleines bisschen rot geworden.

Idealerweise kann ich vom Platz aus die Anzeigetafel erspähen. Idealerweise passiert aber nie. Was eher passiert: Ich renne die zahlreichen Nebenbuchten und Seitenhaltestellen ab und versuche, möglichst schnell einzelne Schilder zu entziffern. Meine Kurzsichtigkeit und allgemeine Orientierungslosigkeit sind da eher weniger von Vorteil. Hilfreich wäre eine genaue Kenntnis des gesamteuropäischen Streckennetzes (hält der Bus der Firma X nach München auch in Köln? Oder hält dort nur der Bus der Firma Y, der fünf Minuten später in die gleiche Richtung fährt?) in Kombination mit der Ausdauer eines olympischen Langstreckenläufers.

Auf Grund der zahlreichen Variablen im komplexen Fernbusstreckennetz (Verspätung, Planungsfehler, Launen der Natur) weiß bis circa dreißig Minuten vor Abfahrt meist noch keiner, wo der Bus eigentlich fährt. Was nun folgt, ist Detektivarbeit. Anzeigetafeln und andere Orientierungshilfen liegen – sofern vorhanden – an Bushaltestellen oft strategisch versteckt. Fahrpläne sind verblichen und nicht mehr aktuell, Anzeigetafeln hängen ungünstig und, sofern überhaupt vorhanden, wenig einsichtig hinter Gegenständen, Treppen oder Bussen. Die Busreise ist eben eine darwinistische Form der Fortbewegung: In den Bus kommt nur, wer es auch wirklich verdient hat.

»Da! Ein Mann in Grün!« Hilfestellung an der Haltestelle

Stehe ich wie immer schnaufend und grundverwirrt am Platz, scanne ich das Feld erst mal nach Neongrün. Der Servicemitarbeiter wird gerüchteweise dafür bezahlt, das Leben von Busreisenden einfacher zu machen. Er strahlt dank einer einstündigen Mitarbeiterschulung fälschlicherweise Vertrauen aus und erscheint in der Menge wie ein Engel in Signalfarben. Teilt mir mit, dass er von einem Busunternehmen ist, das einmal wöchentlich nach Bratislava fährt, und er leider nicht helfen kann. Da er also keine Ahnung hat, wird er versuchen, mich(wie so viele Mitreisende)zum Servicehäuschen zu lotsen. Achtung!

Denn das Servicehäuschen gleicht dem schwarzen Loch der Servicewüste Deutschland. Bevölkert wird es von einer Masse von Menschen, die gerade einen sehr schlechten Tag haben. Wer Pech hat, kehrt von dort nie wieder zurück. Ich mache einen großen Bogen nach links und steuere auf eine größere Gruppe Reisender zu. Die Mitreisenden scheinen hilfsbereit – die Betonung liegt auf scheinen (würde man wirklich jemandem helfen, der einem am Ende den Fensterplatz wegschnappt?). Einem aber, so habe ich aus meiner Wanderung durchs Berliner Industriegebiet gelernt, kann ich vertrauen: dem Alphatier der Haltestellenmannschaft. Ich suche also nach einer Gestalt in Funktionskleidung, die einen Regenschutz über dem Rucksack trägt und mit dem Finger in verschiedene Richtungen deutet (das ist in Horrorfilmen derjenige, der überlebt). Mit Händen von sandpapierartiger Rauheit, dem Koordinationsvermögen eines Pfadfinderoberleutnants und fotografischem Gedächtnis ist dieser Mensch die fleischgewordene Kompetenz, die Rettung im Bus-Chaos. Leider ist diese Spezies selten und schnell von Hilflosen umlagert, die sie mit Fragen bombardieren. Lösung: die Meute ablenken (»Da! Ein Servicemitarbeiter!«) und das Alphatier für sich selbst beanspruchen.

Wenn der Einzelne nicht helfen kann, hilft zumindest die Gruppe. Als grober Anhaltspunkt zu Abfahrtszeit und Fahrziel lässt sich die Ansammlung an Reisenden verstehen. Eine große Gruppe lässt darauf schließen, dass die Abfahrt kurz bevorsteht. Hilfreich ist auch ein kurzer demografischer Check: Ist die Mehrheit unter dreißig, trägt schwarze Plateausandalen, nordisch-minimalistische Muster, hervorstechend farbige Secondhandpullis und hört Musik durch ungewöhnlich schöne Kopfhörer, fährt der Bus nach Berlin. Stehen etwa fünf bis zehn Menschen im Studentenalter mit kleinem Gepäck um einen Bus herum, hören Schlager über die Lautsprecher und tragen Lederhosen neben adrett gekleideten Menschen mittleren Alters, die pikiert auf die Uhr schauen, startet der Bus in etwa zwanzig Minuten nach München. Versammeln sich vier fremde Menschen verschiedener Altersgruppen im Kreis um die Haltestelle, trinken aus Schnapsflaschen in Reisegröße und lachen dabei lautstark, so wird der Bus vermutlich in fünfunddreißig Minuten nach Köln abziehen.

Drei Mal ist kein Mal Man kann einen Bus verpassen. Oder drei.

Ein verregneter Sonntagnachmittag am ZOB München. Ein Auto hält mit quietschenden Reifen an der Schranke. Auf den donnernden Hinweis eines Manns mit Weste, wir könnten hier nicht stehen, öffnen sich vier Türen und entleeren ihren Inhalt auf die Straße. Wir werden mit unserem Gepäck auf den Asphalt gespült, ich und meine Reisebegleitung M. Uns steht der Vorreiseschweiß auf der Stirn. Eigentlich lief alles. Wir sind früh aufgestanden und haben früh gepackt, haben auch die letzten kritischen fünfzehn Minuten vor Verlassen des Hauses irgendwie durchgestanden. Haben ans Essen gedacht. Gepäck ins Auto gehievt. Dann, an der Arnulfstraße: Stau. Zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Schließlich, mitten in die Pufferzeit hinein, dreißig Minuten. Darauf die Debatte, ob wir die nächsten eineinhalb Kilometer mit unseren drei überdimensionierten Koffern nicht auch laufen können. Ergebnis: Können wir nicht. Stattdessen sitzen wir den Stau aus und rennen jetzt die letzten hundert Meter bis zum Busbahnhof. Das Gepäck schlackert, das Blut kocht, und in unseren Köpfen bohrt die existenzielle Frage, warum wir unser ganzes Leben lang mit fünfminütiger Verspätung leben. Wie es sich wohl anfühlt, lückenlos organsisiert zu sein? Nach siebzig Metern durchzuckt es mich: »Wo ist der Hausschlüssel?!« (Das schreie ich laut.) Es hilft nichts, ich muss nachschauen und öffne erst Koffer Nummer eins, zwei, drei und dann die Handtasche. Er ist in Tasche Nummer fünf, der Manteltasche. M. wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Andere Menschen, die besser organisiert sind, schlagen wahrscheinlich gerade tiefenentspannt die Tageszeitung auf, während wir noch nach der richtigen Haltebucht suchen. Wie machen die das?

Wir teilen uns auf, ich renne Richtung Anzeigetafel, M. die Buchten entlang. Überall Fingerzeige und zuckende Schultern, schließlich stehen wir beide schnaufend vor derselben Bucht. Wir sind da. Der Bus ist weg. »Macht nichts, macht nichts«, sage ich, mehr um mich zu beruhigen als ihn. Der nächste Bus fährt in dreißig Minuten. Wir begehen den zweiten Fehler des Tages und schleifen uns samt Gepäck hinüber zum Servicehäuschen.