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Der Arzt und die Teilzeitmörderin: Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Und ihre Liebe bedeutet Chaos.
Fionn Kane flieht vor seinem gebrochenen Herzen in eine Kleinstadt in Nebraska, weit weg von seiner Ex-Verlobten und seiner entgleisten Karriere als Chirurg. Es ist ein einfacheres Leben: Kopf einziehen, hart arbeiten und keine romantischen Beziehungen. Motorradartistin Rose ist seit einem Jahrzehnt mit dem »Silveria Circus« unterwegs, und ihr Leben auf der Überholspur gefällt ihr: das Rampenlicht, der Ruhm – und gelegentliches Blutvergießen. Doch als ein Mordversuch schiefläuft, sie mit einem gebrochenen Bein in Nebraska festsitzt und auf die Hilfe des liebenswert-pflichtbewussten Fionn angewiesen ist, ändern sich ihre Prioritäten. Je länger sie in dem kleinen Ort bleibt, desto mehr verliert sie ihr Herz. Fionn gehörte nie zu ihrem Plan – und er hat keine Ahnung, welche dunklen Abgründe in ihr lauern …
Die sinnlich-spannende Dark RomCom endlich auf Deutsch! TikTok made me buy it!
Die Ruinous-Love-Serie:
Teil1: Butcher & Blackbird - Selbst die dunkelsten Seelen sehnen sich nach Liebe
Teil 2: Leather & Lark - Hass und Liebe liegen nah beieinander
Teil 3: Scythe & Sparrow - Die große Liebe erscheint manchmal im finstersten Moment
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 548
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Fionn Kane flieht vor seinem gebrochenen Herzen in eine Kleinstadt in Nebraska, weit weg von seiner Ex-Verlobten und seiner entgleisten Karriere als Chirurg. Es ist ein einfacheres Leben: Kopf einziehen, hart arbeiten und keine romantischen Beziehungen. Motorradartistin Rose ist seit einem Jahrzehnt mit dem »Silveria Circus« unterwegs, und ihr Leben auf der Überholspur gefällt ihr: das Rampenlicht, der Ruhm – und gelegentliches Blutvergießen. Doch als ein Mordversuch schiefläuft, sie mit einem gebrochenen Bein in Nebraska festsitzt und auf die Hilfe des liebenswert-pflichtbewussten Fionn angewiesen ist, ändern sich ihre Prioritäten. Je länger sie in dem kleinen Ort bleibt, desto mehr verliert sie ihr Herz. Fionn gehörte nie zu ihrem Plan – und er hat keine Ahnung, welche dunklen Abgründe in ihr lauern …
Die Autorin
Brynne Weaver ist Nummer-1-New York Times-Bestsellerautorin. Ihre Romane wurden weltweit in über 15 Länder verkauft. Brynne ist bereits um die Welt gereist, hat mehr streunende Tiere aufgenommen, als ihrem Mann lieb ist, und ihre Liebe zu schwarzen Komödien, Horror und Romance durch Literatur und Film genährt. Bei all ihren Abenteuern hat sich das Schreiben wie ein roter Faden durch Brynnes Leben gezogen. Ihre Romane sind eine unwiderstehliche Mischung aus Dark RomCom, spicy Romance und fesselnder Spannung, die Brynne mit Geschichten verbindet, die Genres sprengen und Leser*innen begeistern.
Lieferbare Titel
Butcher & Blackbird – Selbst die dunkelsten Seelen sehnen sich nach Liebe
Leather & Lark – Hass und Liebe liegen nah beieinander
BRYNNEWEAVER
SCYTHE
&
SPARROW
DIEGROSSELIEBEERSCHEINTMANCHMALIMFINSTERSTENMOMENT
Ruinous Love
Band 3
Roman
Aus dem Amerikanischen von Marie Rahn
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe SCYTHE & SPARROW erschien erstmals 2025 bei Zando, USA.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Deutsche Erstausgabe 04/2025
Copyright © 2025 by Brynne Weaver
Published by Arrangement with Raelene Samms
c/o THEWHALENAGENCYLTD., 500 Post Rd East, 2nd Fl., Ste. 240, Westport, CT 06880 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, based on a template by Qamber Designs
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-32321-9V001
www.heyne.de
Warnung zu diesem Buch
Scythe & Sparrow ist eine abgründige Dark RomCom, die euch hoffentlich bei allem Wahnsinn zum Lachen bringen wird, aber trotzdem ist sie ziemlich düster, daher lest sie bitte nur, wenn ihr sie verkraften könnt. Solltet ihr Fragen zu der Liste haben, zögert bitte nicht, euch bei mir zu melden: entweder über brynneweaverbooks.com oder über einen meiner Social-Media-Kanäle. (Am aktivsten bin ich bei Instagram und TikTok.)
Augäpfel … schon wieder. Wenn es euch ein Trost ist, ich habe keine Ahnung, wieso in meinen Büchern ständig Augäpfel vorkommen, weil ich jeglichen Scheiß damit verdammt gruselig finde.Auch Augenlider. Yep. So weit sind wir jetzt schon.Ich weiß nicht, ob ich Zuckerwatte wirklich ruiniere. Vielleicht raube ich ihr auch nur die Unschuld.Möglicherweise Würstchen und/oder Hotdogs.Unsachgemäßer Gebrauch von Tackern.Braucht man für drogensüchtige Waschbären eine Triggerwarnung? Ist eine Überlegung wert.Clowns.Sexy Clowns.Medizinische Schrecknisse, unter anderem offene Brüche, schwere Verletzungen, Stichwunden, Blutverlust, außerdem Rettungswagen, Krankenhäuser und Erholung von Operationen.Pfählen (nicht die erotische Variante, aber gut … die auch).Anspielungen auf häusliche Gewalt (nicht näher beschrieben), seelische Grausamkeit, sexuelle Belästigung, Drohungen und Einschüchterungen, Frauenhass.Ein verletzter Hund – aber wenn ihr Leather & Lark gelesen habt, wisst ihr, dass Bentley wieder in Ordnung kommt. Er ist einfach zu grimmig und zäh, um zu sterben.Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern (nicht näher ausgeführt).Zahlreiche Waffen und scharfe Gegenstände, darunter Messer, Schusswaffen, Baseballschläger, Metallhaken, ein Kantenrunder für Leder – an all das solltet ihr mittlerweile gewöhnt sein.Detaillierte Sexszenen, inklusive (aber nicht beschränkt auf) Erwachsenenspielzeug, Primal Kink, Cum Kink, anal, härterer Sex, sexuelle Akte in der Öffentlichkeit.Explizite und drastische Ausdrücke, darunter jede Menge ›Blasphemie‹. Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!Viel Krankheit und Tod … wohl selbstverständlich, weil es ein Buch über einen Arzt und eine Serienmörderin ist, die sich ineinander verlieben.Achtung, wenn ihr Epiloge normalerweise überspringt, dann bitte ich euch inständig, hier eine Ausnahme zu machen. Es wird keine Babys oder Schwangerschaften geben, aber doch ein, zwei Überraschungen, die ihr nicht verpassen wollt. Vertraut mir einfach! (»Aber die Eiscreme!«, werdet ihr sagen. »Die Pizza! Das Bier, die Smoothies und das körpereigene Kalzium!« Ich weiß, ich weiß – aber vertraut mir einfach, dieses eine Mal. Haha!)
Playlist
Mit dem QR-Code könnt ihr die Titel auf APPLEMUSIC und SPOTIFY hören.
Kapitel 1: Ass der Kelche
»Handmade Heaven«, MARINA
»The Inversion«, Joywave
Kapitel 2: Eid
»Mess Is Mine«, Vance Joy
»Fight To Feel Alive«, Erin McCarley
Kapitel 3: Gestrandet
»Lost & Far From Home«, Katie Costello
»My Heart«, The Perishers
Kapitel 4: Prärie-Prinzessin
»The Daylight«, Andrew Belle
»Next Time«, Greg Laswell
»Silenced By the Night«, Keane
Kapitel 5: Unausgesprochen
»Traveling at the Speed of Light«, Joywave
»Never Be Alone«, The Last Royals
»In a Week«, (feat. Karen Cowley) Hozier
Kapitel 6: Schatten
»Orca«, Wintersleep
»Look After You«, Aron Wright
»Darker Side«, RHODES
Kapitel 7: Ta-Da
»Man’s World«, MARINA
»Fun Never Ends«, Barns Courtney
Kapitel 8: Hart auf hart
»Roses R Red«, CRAY
»Shutdown«, Joywave
»Minuet for a Cheap Piano«, A Winged Victory for the Sullen
Kapitel 9: Stiche
»You Haunt Me«, Sir Sly
»Evelyn«, Gregory Alan Isakov
»Reflections«, TWOLANES
Kapitel 10: Renegat
»Every Window Is A Mirror«, Joywave
»Is It Any Wonder?«, Keane
»San Francisco«, Gregory Alan Isakov
Kapitel 11: Biestmodus
»Too Young To Die«, Barns Courtney
»Take It On Faith«, Matt Mays
Kapitel 12: Reposition
»Strangers«, Wave & Rome
»Sister«, Andrew Belle
Kapitel 13: Kitzel
»Helium«, Glass Animals
»THEGREATEST«, Billie Eilish
»Fear and Loathing«, Marina and The Diamonds
Kapitel 14: Skrupellos
»The Few Things« (with Charlotte Lawrence), JP Saxe
»Pieces«, Andrew Belle
Kapitel 15: Sinkflug
»Twist«, Dizzy
»First«, Cold War Kids
»Cold Night«, Begonia
Kapitel 16: Auftauchen
»Horizon«, Andrew Belle
»All Comes Crashing«, Metric
»Realization«, TWOLANES
Kapitel 17: Glück gehabt
»I Know What You’re Thinking And It’s Awful«, The Dears
»Shrike«, Hozier
»Butterflies«, (feat. AURORA); Tom Odell
Kapitel 18: Hürden
»Fun«, Sir Sly
»Nuclear War«, Sara Jackson-Holman
»watch what I do«, CRAY
Kapitel 19: Zuckerwatte
»About Love«, MARINA
»We’re All Gonna Die«, CRAY
Kapitel 20: Mit Zähnen und Klauen
»Coming Apart«, Joywave
»The Aviator«, Stars of Track and Field
»Wandering Wolf«, Wave & Rome
Kapitel 21: Gespenstisch
»I Love You But I Love Me More«, MARINA
»Mayday!!! Fiesta Fever«, (feat. Alex Ebert) AWOLNATION
»Content«, Joywave
Kapitel 22: Dunkle Ecken
»Come Back For Me«, Jaymes Young
»Monsoon«, Sara Jackson-Holman
»Au Revoir«, OneRepublic
Kapitel 23: Entfesselt
»Arches«, Agnes Obel
»Master & a Hound«, Gregory Alan Isakov
»Sweet Apocalypse«, Lambert
Kapitel 24: Schlachtfelder
»Into the Fire«, Erin McCarley
»Particles«, Olafur Arnalds & Nanna
»Hold On«, Chord Overstreet
Kapitel 25: Zu spät
»Stranger«, Katie Costello
»Viva La Vida«, Sofia Karlberg
Kapitel 26: Briefe
»Can I Exist«, MISSIO
»Cardiology«, Sara Jackson-Holman
»For You«, Greg Laswell
Kapitel 27: Drei der Schwerter
»Fall For Me«, Sleep Token
»Quietly Yours«, Birdy
»The Shade«, Metric
Epilog 1: Linien
»Close To You«, Gracie Abrams
»Maps«, Yeah Yeah Yeahs
»Re-Arrange Again«, Erin McCarley
Epilog 2: Klinge des Zorns
»Serial Killer«, Slayyter
Bonuskapitel: Schaukeln
»Official«, Charlie XCX
»Kiss Me«, Empress Of & Rina Sawayama
Für die, die B&B und L&L gelesen haben und sagen: »Verdammt, ich habe die Eiscreme und die Pizza geschluckt, da kann ich auch weiterlesen« … Ihr seid genau nach meinem Geschmack! Das hier ist für euch!
ASS DER KELCHE
Rose
Wenn man jemanden nur hart genug auf den Hinterkopf schlägt, springen ihm die Augäpfel aus den Höhlen.
Zumindest habe ich das irgendwo gelesen. Und daran denke ich, während ich meine Tarot-Karten mische und finster zu dem zwielichtigen Arsch starre, der sich zehn Meter entfernt Alkohol aus einem Flachmann in seine Limo gießt und einen großen Schluck trinkt. Er wischt sich sein tropfendes Kinn mit dem Ärmel seines karierten Hemds ab. Dann rülpst er kurz und schiebt sich die Hälfe seines Hotdogs in die hässliche Fresse, bevor er noch einen Schluck trinkt.
Ich könnte ihm so hart gegen seinen dumpfen Schädel prügeln, dass seine Murmeln ihm einfach so aus ihren Höhlen ploppen würden.
Und die Frau, die mir gegenübersitzt? Der wäre das sicher scheißegal.
Ich unterdrücke ein grimmiges Grinsen und hoffe nur, sie hat nicht das gefährliche Glitzern in meinen Augen bemerkt. Doch trotz der mörderischen Schwingungen, die ich wahrscheinlich aussende, und der Ablenkungen des Silveria Circus vor meinem Tarot-Zelt gilt ihre Aufmerksamkeit nur den Karten. Ihr Blick klebt geradezu an ihnen, während ich sie mische. Ihre Augen, von denen eines mit einem verblassenden Bluterguss umrahmt ist, wirken wie erloschen.
Mir kocht das Blut, und ich muss mich zwingen, nicht wieder zu dem Mann zu starren. Ihrem Mann.
Als sich ihr Blick schließlich doch von der Bewegung meiner mischenden Hände löst und sie sich nach ihm umschauen will, höre ich abrupt auf zu mischen und knalle das Kartendeck auf den Tisch. Sie schreckt heftig zusammen, was ich schon erwartet hatte. Obwohl ich hoffte, es wäre nicht so.
»Sorry«, sage ich und meine es so.
Sie sieht mich voller Furcht an. Echter Furcht. Trotzdem lächelt sie schwach. »Wie heißen Sie?«
»Lucy«, antwortet sie.
»Okay, Lucy. Ich möchte von Ihnen gar nicht wissen, wie Ihre Frage lautet. Sie müssen nur daran denken.«
Lucy nickt. Als ich die erste Karte umdrehe, weiß ich bereits, welche es ist. Die Ränder sind schon ganz weich, und das Bild ist mit der Zeit verblasst.
»Ass der Kelche«, verkünde ich, lege die Karte auf den Tisch und schiebe sie näher zu ihr. Mit fragend gerunzelter Stirn blickt sie von der Karte zu mir. »Sie steht dafür, dass man seiner inneren Stimme folgt. Was sagt sie Ihnen? Was möchten Sie?«
Es gibt nur eine Antwort, auf die ich hoffe: Abhauen.
Aber das sagt sie nicht.
»Ich weiß nicht«, flüstert sie stattdessen mit einer Stimme, die kaum mehr ist als ein Hauch. Enttäuschung bohrt sich wie ein Dorn in meine Haut, als sie nervös ihre Finger knetet. Ihr schlichter Ehering ist matt und zerkratzt. »Matt will nächstes Jahr noch mal Land für die Farm zukaufen, aber ich möchte etwas Geld für die Kinder zurücklegen. Vielleicht wäre es auch nett, mal eine Woche aus Nebraska wegzukommen und mit den Kindern zu meiner Mom zu fahren, ohne sich Sorgen über die Benzinpreise zu machen. Meinten Sie so was …?«
»Vielleicht.« Achselzuckend nehme ich das Kartendeck und mische noch mal. Diesmal werde ich nicht wieder das Ass der Kelche ganz nach oben platzieren, sondern ihr die Botschaft geben, die sie hören muss. »Wichtig ist, was es für Sie bedeutet. Sie denken daran, und wir versuchen es noch mal.«
Ich lege Lucy die Karten. Sieben der Kelche. Bube der Kelche. Zwei der Stäbe. Zeichen dafür, dass Veränderung ansteht, dass sie die Wahl hat, über ihre Zukunft zu entscheiden, wenn sie Vertrauen und Mut hat. Ich bin nicht mal sicher, ob sie bereit ist, eine Botschaft von meinen Karten zu empfangen. Kaum habe ich die Session beendet, kommen ihre drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, mit vom Naschen klebrigen und verschmierten Gesichtern ins Zelt gerannt. Sie reden alle wild durcheinander, weil jeder der Erste sein will, der ihr von den Fahrgeschäften, den Spielen oder den Darbietungen erzählen will. Hier gibt’s Clowns, Mama. Hast du den Feuerschlucker gesehen, Mama? Da gibt es ein Spiel, wo man Stofftiere gewinnen kann, Mama, komm, guck dir das an. Mama, Mama, Mama …
»Kinder«, unterbricht sie eine harsche Stimme vom Eingang meines Zelts.
Sofort werden ihre dünnen Körper stocksteif. Lucy reißt die Augen auf und starrt mich an. Nicht lange, aber ich sehe es trotzdem: den trüben Film ständiger Angst. Ihr Gesicht wird vollkommen ausdruckslos, bevor sie sich umdreht. Ich blicke zu dem Mann am Zelteingang, der in der einen Hand seine Limo mit Schuss und in der anderen ein paar Tickets für die Fahrgeschäfte hält. »Los hier, nehmt die. Eure Ma könnt ihr in einer Stunde am Zirkuszelt treffen, vor der Vorstellung.«
Das älteste Kind, der Junge, nimmt die Tickets und drückt sie an seine Brust, als könnten sie ihm sofort wieder entrissen werden. »Danke, Papa.«
Die Kinder quetschen sich an ihrem Vater vorbei, der reglos im Zelteingang steht. Er sieht ihnen nach, bis sie in der Menge verschwunden sind, bevor er sich uns zuwendet. Mit seinen blutunterlaufenen Augen fixiert er seine Frau, leert den Becher und lässt ihn einfach fallen. »Gehen wir.«
Lucy nickt und steht auf. Mit schwachem Lächeln legt sie einen Zwanzigdollarschein auf den Tisch und flüstert: »Danke.« Ich würde ihn ihr am liebsten zurückgeben, kenne aber Männer wie ihren. Die sind explosiv und in der Lage, einer Frau für die kleinste Herabsetzung an die Kehle zu gehen. Wie Mitleid. Oder Almosen. Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, mich an den Austausch von Werten zu halten, selbst wenn der Kerl hier später seine Frau vielleicht anschreit, weil sie das Geld für etwas so Albernes wie Botschaften aus dem Universum verschleudert hat.
Lucy verlässt das Zelt. Ihr Mann sieht ihr nach.
Und dann wendet er sich zu mir.
»Sie sollten ihren Kopf nicht mit verrückten Ideen vollstopfen«, sagt er mit einem gehässigen Grinsen. »Davon hat sie schon genug.«
Ich nehme mein Kartendeck und mische es. Mir klopft das Herz bis zum Hals, doch lasse ich mir nichts anmerken und mische ruhig weiter. »Ich nehme an, ich soll Ihnen nicht die Karten lesen?«
»Was haben Sie ihr gesagt?«
Der Mann tritt zu mir an den Tisch und beugt sich mit drohendem Blick zu mir.
Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück. Langsam höre ich auf zu mischen. Wir starren uns an. »Denselben Scheiß, den ich allen erzähle«, lüge ich. »Folge deinem Traum. Vertrau deinem Herzen. Gute Dinge erwarten dich.«
»Da haben Sie recht.« Sein Mund verzieht sich zu einem gefährlichen Lächeln, als er sich den Geldschein vom Tisch schnappt und vor meinen Augen zusammenfaltet. »Mich erwarten gute Dinge.«
Nach einem kurzen Nicken steckt er das Geld in die Tasche und verlässt das Zelt, geht zum nächsten Getränkestand, wo einer seiner genauso zwielichtigen Kumpel wartet. Erst starre ich ihm nach, dann schließe ich die Augen und versuche, ihn aus meinem Kopf zu verbannen. Ich möchte meine Energie neu bündeln, als ich wieder anfange, meine Karten zu mischen. Um das Deck zu reinigen und die Verbindung zum Vorgänger zu kappen, greife ich nach meinem Selenitstein. Doch meine Gedanken wandern weiterhin zu Lucy. Vor meinem geistigen Auge sehe ich ihr Veilchen, ganz gleich, wie sehr ich mich bemühe, es zu verdrängen. Ich kann ihren toten Blick nicht vergessen. Diesen Blick habe ich schon so oft gesehen. Bei den Frauen, die gekommen sind, um das Ass der Kelche zu ziehen. Bei meiner Mutter. Im Spiegel.
Ich hole tief Luft und ziehe mit einer Frage im Kopf meine erste Karte.
Lucy hat nicht um Hilfe gebeten. Aber sie braucht Hilfe. Was soll ich tun?
Ich drehe die erste Karte um und öffne die Augen.
Der Turm. Umbruch. Plötzliche Veränderung.
Ich lege den Kopf schräg und ziehe eine weitere Karte.
Zwei der Stäbe. Gelegenheiten, wenn man bereit ist, die Mauern der Burg zu überwinden. Das Land dahinter mag felsig sein, aber es ist lebendig. Riskiere etwas. Versuche etwas Neues. Ein sinnvolles Leben wird aus Entscheidungen aufgebaut.
»Hmm. Mir scheint, ich weiß, worauf das abzielt, aber das habe ich nicht gefragt.«
Bube der Kelche. Romantische Liebe.
»Schluss damit! Ich hab gefragt, ob ich der Dumpfbacke den Schädel einschlagen soll! Nicht, ob ich mich verliebe oder so einen Scheiß! Beantworte meine Frage!«
Erneut mische ich die Karten, behalte meine Frage im Kopf und ziehe die erste Karte.
Der Turm.
»Verdammt, Gransie. Hör doch auf!«
Ich hole tief Luft, spiele mit dem Rand der Karte und blicke aus meinem Zelt auf das Kirmesgelände. Ich sollte wirklich hier raus. Diese Art Austausch hinter mir lassen. Mich umziehen und auf meinen bevorstehenden Auftritt im Zirkuszelt vorbereiten. Man darf sich keinen Fehler erlauben, wenn man mit zwei anderen auf einem Motorrad durch die Todeskugel fährt, daher muss ich mich konzentrieren. Aber ich kann immer noch Lucys Mann sehen. Und dann geht Bazyli vorbei. Ich deute es als das Zeichen, nach dem ich gesucht habe.
»Baz«, brülle ich, worauf der Teenager abrupt stehen bleibt. Seine schlaksige Gestalt ist sonnengebräunt und schmutzig. »Komm her!«
Daraufhin schießen geradezu Funken aus seinen Augen, und sein Grinsen legt seine Zahnlücken frei. »Aber nich’ umsonst.«
»Ich hab ja noch nicht mal gesagt, was ich von dir will.«
»Is’ trotzdem nich’ umsonst.«
Ich verdrehe die Augen, worauf Baz mit der Großspurigkeit eines typischen Fünfzehnjährigen grinsend ins Zelt schlendert. Ich weise nickend aufs Gelände. Er folgt meinem Blick. »Der Typ da draußen mit dem Karohemd am Imbiss.«
»Mit dem Eierkopf?«
»Ja. Ich brauche Infos über ihn. Nur den Führerschein. Und zwanzig Dollar, falls er Bargeld hat.«
Baz’ Blick senkt sich auf meine Hände, die den Turm zurück ins Kartendeck schieben. »Ich bin kein Dieb, sondern ein Zauberer«, sagt er, lässt seine Hände flattern und präsentiert mir eine Blume. »Wenn ich was stehle, dann nur Herzen.«
Wieder verdrehe ich die Augen. Grinsend schenkt mir Baz die Blume. »Ich weiß, dass du kein Dieb bist. Aber der Eierkopf da drüben ist einer. Er hat mir gerade zwanzig Dollar geklaut, und ich will, dass du die seiner Frau da drüben zurückgibst. Die mit den blonden Haaren und dem blauen Oberteil.« Ich deute nickend zu Lucy, die in einiger Entfernung allein zu einem anderen Getränkestand geht. »Während der Vorstellung wird sie mit drei Kindern im Zelt sitzen. Gib ihr das Geld und mir den Führerschein.«
Baz sieht mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an. »Was du auch vorhast, ich könnte dir helfen, weißt du?«
»Du hilfst mir doch schon. Weil du mir den Führerschein besorgst.«
»Wenn du mich helfen lässt, ist das umsonst.«
»Keine Chance, Junge. Deine Mom wird mich am Trapez aufhängen. Besorg mir nur diesen Führerschein. Ich kauf dir auch ein Venom-Comic.«
Baz zuckt die Achseln, bohrt seine Schuhspitze in das niedergetrampelte Gras und blickt bewusst in eine andere Richtung. »Die meisten hab ich schon.«
»Aber nicht die aus der Dark-Origin-Reihe.« Sofort habe ich Baz’ Aufmerksamkeit. Ich unterdrücke ein Lächeln, als ich seinen gierigen Blick sehe. »Ich weiß, dass dir die letzten zwei fehlen. Aber ich besorg sie für dich.«
»Na gut … aber ich darf mir auch dein aufblasbares Planschbecken leihen.«
Ich ziehe die Nase kraus und lege den Kopf schräg. »Na gut …?«
»Und ich brauche Bananen.«
»Okay…«
»Und eine Ananas. Und noch ein paar Cocktailspieße.«
»Was, zum Teufel …?« Es ist nicht ungewöhnlich, dass andere Angehörige von unserem Zirkus mich in die Stadt schicken, um irgendwelche Sachen zu kaufen. Ich bin eine der wenigen, die ein zweites Fahrzeug haben. Um einkaufen zu fahren, muss ich nicht mein mobiles Zuhause abbauen. Aber das heißt auch, dass ich die unterschiedlichsten Sachen besorgen soll. Häufig Kondome. Manchmal Schwangerschaftstests. Öfter Gemüse der Saison. Frische Croissants vom Bäcker. Bücher und Whiskey. Aber … »Eine Ananas?«
»Mom hat gesagt, sie schenkt mir eine PlayStation, wenn sie endlich in Urlaub fahren kann. Da die Chance gering ist, dachte ich, ich bring den Urlaub zu ihr.« Baz verschränkt die Arme vor der Brust und richtet sich auf, als wollte er sich für einen Kampf bereit machen. »Ja oder nein, Rose?«
Mit etwas leichterem Herzen als zuvor strecke ich ihm meine Hand hin. »Abgemacht. Aber sei vorsichtig, ja? Eierkopf ist gefährlich.«
Baz nickt, schüttelt einmal meine Hand, und dann ist er weg, um auf der Stelle seine Mission zu erfüllen. Ich sehe ihm nach, wie er sich durch die Menge schlängelt: zwischen Kindern mit Popcorn, Zuckerwatte und Stofftieren hindurch, Teenagern, die sich aufgeregt über die Fahrgeschäfte unterhalten, und Pärchen, die gerade aus der Geisterbahn kommen und verlegen darüber lachen, dass sie sich von irgendwelchen Schauspielern in dunklen Ecken haben erschrecken lassen. Normalerweise sind das die Momente, die ich in meiner Zirkuswelt liebe. Momente der Magie, so kurz sie auch sein mögen.
Aber heute ist die einzige Magie, auf die ich aus bin, dunkel und gefährlich.
Ich sehe, wie Baz sich an die beiden Männer heranschiebt. Mein Herz schlägt gegen meine Rippen, als er hinter Lucys Mann schleicht und ihm die Brieftasche aus der Potasche zieht, gerade als der Mann auflacht. Kaum hat er sie in der Hand, dreht er sich kurz um, entfernt den Führerschein und auch noch das Geld, das er sich in seine eigene Tasche steckt, bevor er sich wieder umdreht. Nach nur wenigen Sekunden ist die Brieftasche wieder an ihrem Platz.
Ich nehme meine Tarotkarten und den Selenitstein, verlasse das Zelt und drehe das Schild von Geöffnet auf Geschlossen, obwohl ich ein, zwei Sessions verpassen werde, da sich schon eine weitere Frau mit einem Zwanzigdollarschein in der Hand dem Zelt nähert. Ich sehe, wie Enttäuschung in ihrem Gesicht aufblitzt, obwohl ich Baz nicht aus den Augen lasse. Baz hat mich ebenfalls immer im Blick. Als ich Richtung Wohnmobil gehe, kommen wir aneinander vorbei. Ich spüre es kaum, merke es nur, weil ich damit rechne. Eine ganz leichte Berührung an meiner Hüfte.
Als ich mein motorisiertes Zuhause betrete, hole ich den Führerschein aus meiner Hosentasche. Matthew Cranwell. Ich rufe auf meinem Handy die Karte von Nebraska auf und checke seine Adresse. Zwanzig Meilen entfernt, bei Elmsdale, dem übernächsten Ort. Einer mit einem größeren Supermarkt als Hartford. Vielleicht besteht da mehr Hoffnung, gute Ananas zu finden. Ich reibe mit dem Daumen über Matts wettergegerbtes Gesicht. Mit einem leichten Grinsen ziehe ich Lederhose und Tank Top an und stecke den Führerschein in die Innentasche meiner Motorradjacke.
Es ist die erste Abendvorstellung hier in Hartford, das Zirkuszelt ist dicht besetzt mit Einheimischen aus den Orten in der Umgebung, die die Show sehen wollen. Und der Silveria Circus rühmt sich, eine ganz große Show zu bieten. Hinter dem Vorhang beobachte ich, wie José Silveria jeden der Artisten vorstellt: die Clowns mit ihren Miniautos, ihrer Jonglage und ihren Slapsticknummern. Santiago, der Surreale, ein Magier, der das Publikum mit Tricks bezaubert, deren Geheimnis er streng hütet. Baz hilft ihm dabei, ist ein eifriger Lehrling und der Einzige, dem Santiago seine Geheimnisse anvertraut. Dann die Trapezkünstler und die Vertikaltuch-Akrobaten, die von Baz’ Mutter Zofia angeführt werden. Die einzigen Tiere, die wir haben, sind Cheryls dressierte Pudel, eine Nummer, die besonders die Kinder lieben, vor allem, wenn Cheryl Freiwillige aus dem Publikum braucht. Und als letzter Show-Act kommen immer ich und die Zwillinge Adrian und Alin. Die Todeskugel. Der Geruch nach Metallgitter und Auspuffgasen. Das Adrenalin. Das Aufheulen der Motorräder, wenn wir durch die Kugel rasen, die viel zu klein für uns drei wirkt. Die jubelnde Menge. Ich liebe die Geschwindigkeit und die Gefahr. Vielleicht sogar ein bisschen zu sehr. Denn hin und wieder habe ich das Gefühl, einfach nicht genug zu kriegen.
Nach unserem Act rolle ich aus der Kugel, bremse zwischen Adrian und Alin, und wir winken dem Publikum zu. Matthew Cranwells Führerschein brennt in meiner Tasche, als wollte er mein Fleisch brandmarken.
Sobald ich mich verdrücken kann, bin ich weg.
Ich tausche mein Dirt Bike gegen meine Triumph, meinen Helm für die Aufführung gegen meinen ICON mit der extra für mich angefertigten Lackierung, stecke mein Mini-Werkzeugset ein, und ab geht’s nach Elmsdale, mit der sinkenden Sonne im Rücken, die mich über die geraden, flachen Straßen jagt. Schnell wie der Blitz bin ich im Supermarkt und schnappe mir ein paar Bananen, eine mickrige Ananas, eine Packung angestaubter Cocktailspieße und alles, was auch nur entfernt an Tropen erinnert. Nachdem ich bezahlt habe, stopfe ich alles in meinen ausgefransten Rucksack und beschließe, mir ganz schnell einen neuen zu besorgen.
Auf dem Weg nach draußen prüfe ich auf dem Handy noch mal Matt Cranwells Adresse und markiere sie auf der Karte. Auf dem Straßennetz geht es immer geradeaus. Höchstens zehn Minuten außerhalb des Orts. Das Wetter ist perfekt, und die Sonne steht gerade noch hoch genug, dass ich kurz vorbeifahren kann, um das Grundstück auszuspähen, und wieder am Zirkus sein werde, bevor es dunkel wird.
Die Erinnerung an den Tarot-Turm legt sich wie eine Folie über die Karte auf dem Handy. Ich ziehe die Nase kraus, bleibe neben meinem Bike stehen und schiebe das Handy in den Halter am Lenker.
Vielleicht ist es ein bisschen verrückt. Nicht meine übliche Vorgehensweise. Aber ich wollte in letzter Zeit wirklich was verändern. Ich weiß, dass es sein muss. Das weiß ich schon eine ganze Weile. Wenn ich Frauen wie Lucy weiterhin helfen will, zu fliehen, dann reicht es nicht mehr, ihnen die Mittel dazu zu geben. Wenn ich zuschlagen will, sollte ich wirklich zuschlagen, klar? Gas geben. Vollgas. Aber Bikermetaphern beiseite: Es reicht einfach nicht mehr, eine Randfigur zu bleiben. Auch wenn ich die Mittel besorgt habe, um Unrecht wiedergutzumachen, war ich doch immer ein Stück vom Spielgeschehen entfernt.
Ich werfe einen Blick auf die winzige Nelke, die auf mein Handgelenk tätowiert ist, und fahre mit den Fingern über die Initialen daneben. V.R. Ich kann nicht zulassen, dass sich das, was letztes Jahr geschah, wiederholt. Nie wieder.
Es ist nicht nur falsch, jemand anderem, der nur schlecht vorbereitet ist, die Verantwortung dafür zu überlassen, ein Leben zu beenden, es ist auch ein bisschen langweilig. Viel lieber will ich jemanden wie Matt Cranwell mit eigenen Händen erledigen.
Zumindest glaube ich das.
Nein, ganz sicher will ich das. Es ist richtig … irgendwie …, außerdem verspüre ich ganz deutlich den Drang, und vielleicht hört dann auch das Verlangen in mir auf, das immer mehr will.
Zudem zwingt mich nichts dazu, es sofort zu tun. Ich fahre nur mal kurz vorbei und spähe das Grundstück aus. Mir bleiben noch ein paar Tage, um meinen Zug zu machen, dann geht’s zum nächsten Ort. Zur nächsten Show. Es gibt immer eine nächste Frau, die in Angst lebt. Die mich mit ängstlichen Blicken und verschlüsselten Worten um Hilfe bittet. Einen nächsten Mann, der zur Strecke gebracht werden muss.
Ich schwinge mich auf mein Bike, starte den Motor und fahre vom Parkplatz auf die Landstraße.
Es dauert nicht lange, da bremse ich schon vor einem großen Maisfeld und einem Schotterweg, der zu einer kleinen Farm mit Nebengebäuden führt. Ich stelle das Bike in einer Ausbuchtung der Straße ab, wo es vom Mais verdeckt wird. Mir klopft das Herz bis zum Hals, als ich den Helm ausziehe und die Ohren spitze.
Nichts.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht ein eindeutiges Zeichen. Einen Polarstern, der mich leitet. Aber da kommt nichts. Ich stehe nur am Ende dieses Schotterwegs und starre zu dem kleinen, aber gepflegten Farmhaus, das jedem gehören könnte. Eine Schaukel im Garten. Fahrräder, die auf dem Rasen liegen. Ein Baseballschläger und ein Fanghandschuh neben den Hochbeeten des Gemüsegartens. Bunte Blumen in Hängetöpfen, eine Flagge, die im Wind flattert. Das typische amerikanische Haus auf dem Land.
Ganz kurz frage ich mich, ob ich das falsche Haus erwischt habe. Oder ob ich mir das im Zelt alles nur eingebildet habe.
Aber dann höre ich Gebrüll.
Eine Fliegentür knallt. Die Kinder rennen aus dem Haus, zu ihren Rädern, um vor dem Chaos zu fliehen. Barfuß radeln sie außer Sichtweite. Das Gebrüll im Haus geht weiter, als wären sie nicht verschwunden. Worte kann ich nicht verstehen. Aber die Wut in der Stimme ist unmissverständlich. Lauter und lauter wird sie, bis ich befürchte, gleich werden die Fenster bersten. Das ganze Haus bebt davon. Und dann ein Krachen, etwas, das durch die Gegend geschleudert wird. Und ein Schrei.
Noch bevor es mir bewusst wird, habe ich schon die Hälfte des Schotterwegs zurückgelegt. Aber jetzt ist es zu spät, mich zu bremsen. Ich ziehe meinen Helm wieder auf und klappe das Visier herunter. Gerade erreiche ich die Hochbeete und schnappe mir den Baseballschläger aus Aluminium, da knallt die Fliegentür, und Matt kommt auf die Veranda. Ich erstarre, aber er bemerkt mich nicht mal, da er nur Augen für das Telefon in seiner Hand hat. Sein wettergegerbtes Gesicht ist mürrisch verzogen, als er die Treppe hinuntertrottet und auf den Truck zugeht, der neben dem Haus parkt.
Ich umklammere den Schläger.
Noch könnte ich aufgeben. Mich ducken und im Maisfeld verstecken. Jeden Moment wird er sich umdrehen und mich sehen. Das ist unvermeidlich, sobald er in seinen Wagen steigt. Außer ich verstecke mich jetzt.
Die Show fängt erst an, wenn du springst.
Also nutze ich meine Chance.
Ich halte mich auf dem Rasen, als ich zu ihm laufe. Mit leichten Schritten. Auf Zehenspitzen. Den Schläger fest im Griff. Er nähert sich der Fahrertür, den Blick immer noch aufs Handy gerichtet. Ich komme näher, ohne dass er es bemerkt.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Mein Atem geht schnell vor Angst und Aufregung. Mein Visier beschlägt an den Rändern.
Als ich einen ersten Schritt auf den Schotterweg setze, schnellt sein Kopf herum. Ein zweiter Schritt, und er lässt sein Handy fallen. Ich hebe den Schläger. Beim dritten Schritt lasse ich ihn auf seinen Schädel sausen.
Aber Matt weicht schon aus.
Ich treffe ihn, aber der Schläger landet nicht hart genug. Er rutscht ab, und dadurch wird Matt nur noch wütender. Er ist auch nicht kampfunfähig, also reiße ich erneut den Schläger hoch. Aber diesmal hält er ihn fest.
»Was, zum Teufel«, knurrt er, entreißt mir den Schläger und umklammert ihn mit beiden Händen. »Verfickte Bitch.«
Ich schwanke, und mehr braucht er nicht. So hart wie möglich schwingt er den Schläger gegen mich. Mit der Wucht eines Blitzschlags trifft er meinen Unterschenkel.
Ich falle zu Boden. Platt auf den Rücken. Schnappe nach Luft. Einen kurzen, köstlichen Moment empfinde ich keinerlei Schmerz.
Und dann durchzuckt er mich mit der Wucht eines Elektroschocks.
Glühende Qual schießt von meinem Unterschenkel mein Bein hinauf durch den ganzen Körper, bis ich keuchend aufschluchze und nach Atem ringe. Aber es dringt nicht genug Luft in meinen Helm. Was hineindringt, ist der Geruch nach Pina Colada und dem zermatschten Obst, das aus meinem alten Rucksack gequetscht wurde, als die Nähte bei meinem Aufprall rissen. Es ist grausam. Gleißender Schmerz und eklig süßlicher Gestank.
Ein zweites Mal saust der Schläger auf mich und trifft mein Bein. Aber das spüre ich kaum, denn der Schmerz in meinem Unterschenkel ist so überwältigend, dass sich der dritte Schlag nur dumpf und fern anfühlt.
Durch mein Visier sehe ich Matt Cranwells Augen. Nur ganz kurz. Allerdings lang genug, um Entschlossenheit zu erkennen. Boshaftigkeit. Sogar Mordlust. Das ganze Universum hält inne, als er erneut den Schläger über seinen Kopf hebt. Er zielt auf mein verletztes Bein. Wenn er mich noch mal trifft, werde ich ohnmächtig, das weiß ich. Und dann bringt er mich um.
Meine Hand fährt hektisch über den Schotter. Meine Nägel graben sich in die Erde. Ich greife eine Faust voll Steinchen und Staub, und als er zuschlagen will, schleudere ich sie ihm mitten ins Gesicht.
Mit einem frustrierten Aufbrüllen beugt er sich vor und lässt den Schläger sinken, um sich den Schotter aus den Augen zu reiben. Ich entreiße ihm die Waffe, doch er schnappt sie sich sofort zurück, obwohl ihm die Augen tränen und staubiger Schlier über sein Gesicht läuft. Mit dem unverletzten Fuß kicke ich ihm so heftig gegen die Hand, dass der Schläger weit ins Maisfeld fliegt. Noch bevor er sich wieder aufrichten kann, trete ich gegen sein Knie, und er sinkt auf die Erde.
Ich krabble rückwärts. Meine linke Hand rutscht durch eine schleimige, zermatschte Banane. Matt Cranwell kriecht, halb blind vor Wut und Schotter, hinter mir her. Als er nach mir greift, taste ich hektisch nach irgendeiner Waffe. Nach einer Spur Hoffnung. Nach irgendwas.
Während ich mit der Hand durch den Schotter fahre, drückt sich etwas Spitzes in meine Handfläche. Ich riskiere einen kurzen Blick und sehe, dass die Cocktailspieße verstreut neben meinen Fingern liegen. Ein paar sind in der kaputten Plastikverpackung.
Ich schnappe sie mir, da packt Cranwell das Fußgelenk von meinem verletzten Bein und zieht.
Mein Schrei ist voller Qual, wilder Wut und Verzweiflung. Mit den Cocktailspießen in der Hand stürze ich mich auf ihn und ramme sie mit den Spitzen in sein Auge.
Er brüllt auf und lässt meinen Fuß los. Windet sich im Staub und führt seine zitternde Hand über sein Gesicht. Schlägt wild um sich vor lauter Schmerz, dem er nicht entkommen kann, und wendet sich in meine Richtung. Blut strömt in einem leuchtend roten Rinnsal über seine Wimpern und seine Wangen. Wie bei einem makabren Kastanienmännchen staken ihm drei Spieße aus dem Auge. Ihre kleinen Fähnchen zittern, so groß ist sein Schock und sein Schmerz. Er blinzelt, kann den Reflex nicht verhindern. Jede Bewegung seines Augenlids trifft einen der Spieße und jagt ihm neue Qual durch den Körper. Er schreit. Stößt Schreie aus, wie ich sie noch nie gehört habe.
Mir dreht sich der Magen um, ich muss würgen. Zwar schaffe ich es, mich nicht zu übergeben, aber nur gerade so.
Ich muss hier weg, verdammt!
Also drehe ich mich auf den Bauch, stehe mit einem Bein auf und schleife das andere nach, als ich zum Ende der Auffahrt humple. Matt brüllt immer weiter, und seine Schmerzensschreie und Flüche folgen mir über den Schotterweg.
Auch mir strömen die Tränen übers Gesicht. Ich beiße so fest die Zähne zusammen, dass sie knirschen. Bei jedem Humpeln vorwärts muss mein gebrochenes Bein die Wucht des Schritts abfangen. Folter. Es ist gottverdammte Folter. Ein Schmerz, der heiß von meinem Gelenk durch das ganze Bein zuckt und mich niederzureißen droht.
»Los, weiter, verdammt«, flüstere ich und klappe das Visier hoch. Die frische Luft ist das Einzige, was mich aufrecht hält.
Ich weiß nicht, was passiert, wenn man eine Handvoll Cocktailspieße ins Auge gerammt kriegt. Vielleicht hat er das andere Auge zugekniffen. Oder er kann den Schmerz ignorieren und mir hinterherrennen. Doch daran darf ich jetzt nicht denken. Ich muss nur zu meinem Bike. Mich an die Hoffnung klammern, dass ich es hier weg schaffe.
Als ich das Ende der Auffahrt erreicht habe, werfe ich einen Blick zur Farm. Matt Cranwell hockt auf allen vieren, brüllt und flucht immer noch und spuckt Gift und Blut auf den Schotter. Und dann blicke ich zum Haus. Dort steht Lucy, hinter der Fliegentür. Eine Silhouette. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen, aber ich spüre, dass sie die Augen auf mich gerichtet hat. Aus dieser Entfernung kann sie mich nicht deutlich erkennen, zumal der Helm einen Großteil meines Gesichts verbirgt. Sie kennt mich auch nicht gut genug, um mich an meinen Kleidern oder meinem Gang zu identifizieren. Sie weiß nur, es ist etwas Entscheidendes passiert, etwas stimmt hier ganz und gar nicht, ihr Mann brüllt vor Schmerz auf dem Schotterweg. Aber sie blickt nicht zu ihm. Sondern zu mir.
Dann schließt sie die Tür und verschwindet im Haus.
Ich lasse Matt dort, wo er hingehört – im Dreck –, und humple zu meinem Motorrad. Als ich mein Bein über den Sitz schwinge, verhakt sich etwas an der Innenseite der Lederhose, und Schmerz schießt erneut in mir hoch. Aber ich halte nicht inne, sondern zünde die Maschine, drücke die Kupplung, wechsle den Gang, drehe den Gashahn hoch und jage mit aufheulendem Motor von der Farm weg.
Wohin, weiß ich nicht.
Ich folge nur meinem Instinkt und fahre.
EID
Fionn
Nach meinem Abendlauf biege ich mit forschen Schritten um eine Kurve, um nach Hause zu gelangen. Es ist der perfekte Abend, um auf der Veranda zu sitzen, und zwar mit einem Glas Weller-Bourbon, den ich mir eindeutig verdient habe. Nicht nur, weil ich meinen Lauf absolviert habe, sondern auch wegen der schlimmen Kombination aus Fran Richards eingewachsenem Zehennagel und Harold McEnroes Riesenfurunkel, um die ich mich heute kümmern musste. Mein kleines Haus ist bereits in der Ferne zu sehen, da ertönt über meine Smartwatch ein Alarm.
Bewegung an der Vordertür.
»Barbara, verdammt!«, knurre ich, mache auf dem Absatz kehrt und gehe Richtung Stadt zurück. Dabei hole ich mein Handy hervor, um die App für meine Videokamera zu öffnen. »Ich weiß, dass du es bist, du verfluchte, irre …«
Abrupt bleibe ich stehen. Das ist … das ist definitiv nicht Barbara vor meiner Tür.
Über die Kamera sehe ich eine Unbekannte. Dunkle Haare. Lederjacke. Ihr Gesicht kann ich nicht genau erkennen, bevor sie es abwendet und die Straße hinunterblickt. Aber sie steht nicht sicher auf ihren Beinen. Wahrscheinlich betrunken. Vielleicht ist sie in den Ort gekommen, um sich den Zirkus anzusehen, und hat zu viel Bier im Biergarten getrunken. Ich überlege, ob ich das Mikro betätigen und sie ansprechen soll. Unschlüssig lasse ich meinen Daumen über dem Micro-Icon schweben. Vielleicht sollte ich den Alarm betätigen, den ich so gut wie nie mehr auslöse, weil Barbara ihn einmal zu oft mitten in der Nacht hat losgehen lassen. Ich sollte die Polizei rufen, denke ich, als ich mich in Bewegung setze, ohne den Blick vom Display zu lösen. Aber das tue ich auch nicht.
Nicht mal, als die Frau es irgendwie schafft, die Tür zu öffnen, die eigentlich abgeschlossen ist.
»Mist.«
Ich stecke das Handy weg und setze mich in Bewegung.
Während ich auf die Praxis zurenne, fange ich an zu rechnen: Ich habe gerade einen Langstreckenlauf hinter mir und kann nicht schneller laufen als 5:30 pro Meile, also werde ich in sieben Minuten und neun Sekunden dort sein. Doch wenn ich mich sehr anstrenge, kann ich es doch schneller schaffen, da bin ich sicher.
Allerdings fühlt es sich an wie eine Ewigkeit. Meine Lunge brennt. Mein Herz spielt verrückt. Als ich um die letzte Kurve biege, werde ich langsamer und spüre, wie eine Welle der Übelkeit mich überkommt.
In der Praxis brennt kein Licht. Nichts, das einen Eindringling anzeigt. Außer dem schwachen, blutverschmierten Handabdruck auf dem Türgriff. Ein Motorrad mit einem eingebeulten Tank liegt im Gras. Der Zündschlüssel steckt noch. Der glänzend polierte Motor aus Chrom tickt vom Abkühlen. Auf dem Weg zur Tür hockt ein schwarzer Helm mit Hibiskusblüten in Gelb und Orange.
Als ich meinen Nacken umfasse, ist die Haut schweißnass. Ich blicke zum einen Ende der Straße. Dann zum anderen. Dann wieder zurück. Niemand da. Ich nehme das Handy heraus und umklammere es fest.
»Scheiß drauf.«
Ich schalte die Taschenlampe des Handys ein und gehe vorsichtig zur Tür. Sie ist unverschlossen. Als ich das Licht über den Boden huschen lasse, sehe ich einen blutigen Stiefelabdruck. Eine grellrote Spur zieht sich über die Fliesen und schlängelt sich durch das Wartezimmer. Vorbei am Empfangstisch. Weiter den Flur hinunter. Ein Horror-Wegweiser. Zum gewaltsamen Tod: hier lang.
Und wie jeder Idiot in jedem Horrorfilm folge ich der Spur und bleibe am Gang stehen, der zu den Untersuchungszimmern führt.
Nichts zu hören. Nichts zu riechen, abgesehen von dem Desinfektionsmittel, das trocken in meiner Kehle brennt. Kein Licht, nur das rote Notausgang-Zeichen am Ende des Gangs.
Ich lasse den Schein der Taschenlampe über das Blut auf dem Boden huschen. Die Spur führt zur geschlossenen Tür von Untersuchungsraum 3.
Ich hole tief Luft und folge der Spur. Dann halte ich den Atem an und drücke mein Ohr an die Tür. Kein Laut von der anderen Seite, auch nicht, als ich sie aufdrücke und auf Widerstand treffe. Ein Stiefel, ein schlaffes Bein. Eine reglose Frau.
Die Erkenntnis blitzt wie ein Leuchtstab auf. Vom Dunkeln ins Helle. Ich schlage auf den Lichtschalter. Dringlichkeit und Training lassen mich in den Raum stürzen. Ich sinke neben der Frau auf die Knie, die auf dem Boden liegt.
Eine provisorische Aderpresse aus einem T-Shirt ist um ihren rechten Schenkel gewickelt. Eine weitere aus dem Schrank ist direkt darunter lose um das Bein geschlungen, als hätte sie keine Kraft mehr gehabt, sie straff zu ziehen. Über den ganzen Boden ist Verbandsmaterial verstreut: Bandagen, sterile Gaze, eine Schere. Blut rinnt aus ihrer Wade und sammelt sich zu einer Lache. Der Geruch nach Ananas und Banane steht in süßlichem Gegensatz zu dem gebrochenen Knochen, der aus der offenen Fleischwunde ihres Unterschenkels ragt. Die Lederhose ist bis zur Wunde aufgeschnitten worden, als wäre die Frau nur bis dahin gekommen und hätte es dann nicht mehr ertragen.
»Miss. Miss«, sage ich. Sie ist von mir abgewandt, und ihre dunklen Haare bedecken ihr Gesicht. Ich lege meine Hand auf ihre kühle Wange und drehe den Kopf in meine Richtung. Durch ihren leicht geöffneten Mund atmet sie schnell und flach. Während ich den Puls an ihrer Halsschlagader messe, tätschle ich ihr mit der anderen Hand die Wange. »Kommen Sie schon, Miss. Aufwachen.«
Sie kraust die Stirn. Flattert mit ihren dichten, dunklen Wimpern. Stöhnt. Öffnet die Augen: dunkle Teiche voller Schmerz. Ich muss sie wach halten, trotz der Qual in ihrem Gesicht. Bedauern drückt sich wie ein heißer Nagel in mein Herz, ein Gefühl, das ich schon vor langer Zeit zu verdrängen gelernt habe, um meine Arbeit tun zu können. Aber als unsere Blicke sich treffen, wird dieser längst vergessene Teil meiner selbst in der Dunkelheit wieder lebendig. Und dann packt sie meine Hand, die ihren Puls am Hals fühlt, und drückt sie. Hält mich in diesem Moment gefangen, der mir ewig vorkommt. »Hilfe«, flüstert sie, und ihre Hand rutscht von meiner herunter.
Ich starre sie nur für einen Augenblick an. Einen Herzschlag lang. Ein Blinzeln.
Und dann mache ich mich an die Arbeit.
Ich ziehe die Brieftasche aus ihrer Jacke, wähle den Notruf und durchquere das Zimmer, um Eispäckchen aus der Kühltruhe zu holen. Ich nenne der Leitstelle die persönlichen Daten und den Zustand der Frau. Achtundzwanzigjährige Frau, bewusstlos, möglicherweise Motorradunfall. Als ich zu ihr zurückkehre, ist sie immer noch bewusstlos. Ich lege Eispäckchen und Handy auf den Tisch, um sie an das Blutdruckgerät anzuschließen. Offene Fraktur des Unterschenkels. Blutverlust. Puls steigt. Hypovolämischer Schock.
Als der Krankenwagen kommt, habe ich ihr bereits einen Zugang gelegt und eine richtige Aderpresse an ihrem Bein angebracht. Aber immer noch wacht sie nicht auf. Nicht, als die Sanitäter ihr eine Schiene am Bein anlegen. Nicht, als wir sie auf die Rollbahre heben. Nicht mal, als wir sie in den Wagen hieven und die Bewegung sie hin und her schüttelt. Ich nehme ihre Hand und rede mir ein, dass ich das nur tue, um zu merken, wenn sie aufwacht.
Und endlich wacht sie auf. Flatternd öffnen sich ihre Augen und huschen zu mir, worauf mich wieder Bedauern überkommt. Die Sanitäterin auf der gegenüberliegenden Seite der Bahre legt ihr eine Sauerstoffmaske an, die beschlägt, als mit ihrem Bewusstsein auch ihr Schmerz erwacht und sie immer schneller atmet.
»Ich bin Dr. Kane«, sage ich und drücke ihre kühle, klamme Hand. »Sie sind auf dem Weg ins Krankenhaus. Ihr Name ist Rose?«
Sie nickt schwach in ihrer Halskrause.
»Versuchen Sie, ganz still zu liegen. Erinnern Sie sich, was passiert ist?«
Sie kneift die Augen zu, aber nicht schnell genug, um die Panik in ihrem Blick zu verbergen. »Ja«, sagt sie, obwohl ich sie über das Heulen der Sirene kaum hören kann.
»War es ein Motorradunfall?«
Roses Augen fliegen wieder auf. Die Furche auf ihrer Stirn wird tiefer. Nach kurzem Zögern sagt sie: »Ja. Ich … bin weggerutscht und auf die Straße geknallt.«
»Haben Sie Schmerzen in Ihrem Rücken oder Nacken? Irgendwas, abgesehen vom Bein?«
»Nein.«
Als die Sanitäterin Roses provisorische Aderpresse entfernt, dringt wieder der Geruch nach Pina Colada in meine Nase. Ich senke die Stimme, lehne mich zu ihr und frage: »Haben Sie getrunken?«
»Fuck, nein!« Sie kraust unter der Maske die Nase und greift danach, um sie trotz meines Protests herunterzuziehen. »Sind Sie ein echter Arzt?«
Ich starre sie blinzelnd an. »Ja …?«
»Sie klingen, als wären Sie sich nicht sicher.«
»Doch, ich bin mir ziemlich sicher. Setzen Sie die Maske wieder auf …«
»Sie sehen aus wie ein TV-Doktor, Dr. McSexy oder so. Haben Sie eine Legitimation?«
Ich blicke zur Sanitäterin, die versucht, sich das Grinsen zu verbeißen. »Sie haben ihr doch nur Morphium gegeben, oder?«
»Wieso haben Sie Sportklamotten an?«, bohrt Rose weiter.
Die Sanitäterin schnaubt.
»Sind Sie einer von diesen CrossFit-Typen? Sie sehen so aus.«
Ich will schon verneinen, da meldet sich die Sanitäterin: »Der Doc ist definitiv einer dieser CrossFit-Typen. Mein Mann nennt ihn nur Mr. Turbo.«
Roses Gackern endet abrupt, als die Sanitäterin ihr frisches Eis um die Wunde packt. Ihr Griff um meine Hand verstärkt sich. »Wer sind Sie?«, frage ich die Sanitäterin über Roses Körper hinweg. »Kennen wir uns?«
Grinsend checkt sie das Infusionsgerät. »Ich bin Alice und wohne auf der Elwood Street in Ihrer Nähe. Mein Mann Danny ist Personal Trainer im Gym …«
»Na klar, natürlich, Danny«, erwidere ich und versuche, möglichst überzeugend zu klingen.
Rose grinst ebenfalls und sieht Alice mit ihren dunklen Augen an. »Er hat keine Ahnung, wen Sie meinen.«
»Ich weiß.«
»Wie lang leben Sie schon in Hartford?« Mein finsterer Blick wandert von der Sanitäterin zu Rose und wird weicher – besser gesagt: vorsichtiger. Durch die Infusion hat sich ihr Blutdruck leicht gebessert. Dennoch sieht man ihr immer noch an, dass sie Schmerzen hat, denn sie hat angestrengte kleine Fältchen auf der Stirn und zwischen Nase und Mundwinkeln. Ich versuche, meine Hand aus ihrer zu ziehen, um mir ihr Bein besser ansehen zu können, doch sie lässt mich nicht los. »Wie lange, Doc?«
Ich schüttle leicht den Kopf, um ihn wieder klar zu kriegen, so als müsste ich mich von ihrem Blick befreien. »Bis wir im Krankenhaus sind …?«
»Nein. Wie lange leben Sie schon in Hartford? Oder sollten wir vielleicht doch auf Ihre Legitimation zurückkommen? Ich will ja nicht, dass Sie mir das falsche Bein amputieren. Haben Sie Ihr Kurzzeitgedächtnis verloren?«
Ihr schwaches Lächeln zeugt von gespieltem Mitgefühl. Aber ihre dunklen Augen verraten sie. Sie blickend forschend. Voller Kummer. Voll Angst.
»Niemand wird Ihr Bein amputieren«, sage ich und drücke sanft ihre Hand.
Rose schluckt. Sie versucht, so ausdruckslos wie möglich zu blicken, doch jetzt verrät sie das Herzfrequenzmessgerät. »Aber da ragt ein Knochen aus dem Fleisch. Was ist, wenn …«
»Ich verspreche es, Rose. Ihr Bein wird nicht amputiert.« Roses feuchte Augen sind weiterhin auf mich gerichtet: dunkle Pfützen geschmolzener Schokolade. Ich schiebe ihr wieder die Sauerstoffmaske über Nase und Mund. Obwohl sie nichts sagt, merke ich, dass ich immer wieder daran denken muss, was sie flüsterte, bevor sie in meinem Untersuchungsraum ohnmächtig wurde. Hilfe. Hilfe. Hilfe. »Ich werde bei der Operation dabei sein«, sage ich. »Ich bin die ganze Zeit bei Ihnen.«
Rose versucht wieder zu nicken. Ich lege ihr meine freie Hand auf die Stirn, an der ihr Pony klebt. Dabei rede ich mir ein, dass ich das nur tue, um sie ruhig zu halten. Aber als sie die Augen schließt und eine Träne über ihre Wange rollt, spüre ich einen ziehenden Schmerz. Ich nehme meine Hand weg, streiche ihr aber mit den Fingerspitzen kurz über die Stirn.
Was, zum Teufel, Kane! Reiß dich zusammen!
Ich konzentriere mich wieder auf ihre Vitalwerte. Versuche den Fokus ausschließlich auf ihren Blutdruck und ihren stetigen, schnellen Puls zu richten. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich in meiner kurzen Karriere als Arzt schon Patienten behandelt und Medikamente verabreicht habe. Aber bislang habe ich nur ein einziges Mal einer Patientin im Krankenwagen die Hand gehalten. Nur eine Patientin in der Notaufnahme angemeldet, nur eine zur Bildgebung begleitet und draußen auf einem der blauen Kunststoffstühle auf sie gewartet, mit vor Ungeduld zuckendem Knie. Nur eine, der ich in den OP-Saal folgte, um bei der stundenlangen Prozedur zu assistieren, während der der gebrochene Knochen gerichtet und fixiert wurde. Nur um ihr zu versichern, dass ich mein Versprechen halten würde, als sie auf dem OP-Tisch in Narkose gesetzt wurde.
Nur eine geflüsterte Bitte um Hilfe hält mich noch hier im Krankenhaus, an ihrem Bett im Aufwachraum, mit ihrem Krankenblatt in meinen Händen, obwohl ich es schon so oft gelesen habe, dass ich es auswendig aufsagen könnte.
Rose Evans.
Abwesend starre ich auf ihre schlafende Gestalt mit dem geschienten und aufgehängten Bein. Ich frage mich, ob sie es bequem hat. Warm genug. Ob sie Albträume vom Unfall haben wird. Vielleicht sollte ich eine Schwester rufen, damit sie noch mal nach ihr schaut. Mich vergewissern, dass auch die kleineren Verletzungen gut versorgt wurden.
Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich Dr. Chopra erst bemerke, als sie direkt neben mir steht.
»Kennen Sie sie?«, fragt sie und zieht ihre Lesebrille herunter, die sie in ihren silbrigen Schopf geschoben hat, um Roses Krankenakte zu überfliegen. Ich schüttle den Kopf. Sie presst die Lippen zusammen, sodass die Fältchen am Mund sich vertiefen. »Das dachte ich eigentlich, weil Sie bei der Operation dabei sein wollten.«
»Sie ist in meiner Praxis in Hartford aufgetaucht. Ich hatte das Gefühl …« Meine Stimme stockt. Ich weiß nicht, welches Gefühl ich hatte. Es war fremd und drängend. Unerwartet. »Ich hatte das Gefühl, ich müsste bei ihr bleiben.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Dr. Chopra nickt. »Das ist bei manchen Patienten so. Sie erinnern uns daran, warum wir diesen Beruf gewählt haben. Vielleicht möchten Sie öfter bei einer OP dabei sein? Wir können hier immer Hilfe brauchen.«
Ein Lächeln zupft an meinen Mundwinkeln. »Ich dachte, Sie hätten die Hoffnung langsam aufgegeben.«
»Ich hab nur vier Jahre gebraucht, um Sie zu zermürben. Da ich jetzt weiß, dass es möglich ist, denke ich gar nicht daran, aufzugeben.«
»Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen«, erwidere ich, richte mich auf und verschränke die Arme.
»Schade. Ich weiß, hier ist es nicht so aufregend, wie es im Massachusetts General Hospital gewesen sein muss, aber wir in der Provinz haben manchmal doch auch interessante Fälle. Tatsächlich hatten wir einen kurz bevor Sie gekommen sind. Laut den Aufzeichnungen sogar einen Patienten von Ihnen. Brutaler Kerl, wenn Sie mich fragen. Cranmore? Cranburn?«
»Cranwell? Sie hatten Matt Cranwell hier?«, frage ich, und Dr. Chopra nickt. »Ja, ich fürchte, mit Ihrer Beurteilung haben Sie recht. Er ist ein brutaler Kerl. Aber weshalb war er hier?«
»Er hatte ein paar Cocktailspieße im Auge.«
»Was?«
Dr. Chopra zieht eine Schulter hoch.
Ich drehe mich zu ihr und sehe sie stirnrunzelnd an. »Und er wurde nicht in eine Spezialklinik gebracht?«
»Nein, es gab keine Chance, das Auge zu retten. Dr. Mitchell hat die OP übernommen. Es steckt bestimmt eine interessante Geschichte dahinter, aber der reizende Mr. Cranwell wollte sie uns nicht erzählen.« Mit einem müden Lächeln gibt sie mir wieder das Krankenblatt zurück. »Sie sollten nach Hause gehen und sich ausruhen. Wann ist Ihre nächste Schicht?«
»Donnerstagnacht«, erwidere ich abwesend und starre auf Roses Namen auf dem Krankenblatt.
»Dann sehen wir uns«, nickt Dr. Chopra, geht und lässt mich mit der schlafenden Patientin allein.
Mit der Patientin, die nach Pina Colada roch. Die trotz ihrer Verletzung nicht den Notarzt rief, sondern stattdessen in meine Praxis einbrach. Die überrascht wirkte, als ich sie fragte, ob sie einen Unfall mit dem Motorrad hatte.
Ich gehe zu dem Kunststoffstuhl neben ihrem Bett, wo ihre Kleider sind. Allerdings sind ihr nur die schwarze Lederjacke und die Stiefel geblieben. Alles andere musste ihr vom Körper geschnitten werden. In einer Tasche steckt ein kleines schwarzes Etui mit Werkzeug, zum Teil überzogen mit getrocknetem Blut. Als mir aufgeht, dass sie damit wohl in die Praxis eingebrochen ist, stecke ich es wieder weg. In der Innentasche der Jacke ist ihre Brieftasche, die ich herausziehe. Ich nehme noch mal den Führerschein, von dem ich die Daten ablas, als ich mit der Leitstelle der Notaufnahme telefonierte. Der Führerschein wurde in Texas ausgestellt, auf eine Adresse in Odessa. Ich sehe mir auch den Rest in der Brieftasche an, finde aber nicht viel, nur eine Kreditkarte und zwanzig Dollar in bar. Nichts, was die ungute Ahnung in mir bestätigen oder widerlegen würde.
Zumindest nicht, bis ich die Brieftasche wieder zurückstecke und dabei auf noch eine Karte stoße, die lose in der Innentasche liegt.
Es ist ein weiterer Führerschein. Ausgestellt auf einen Mann.
Matthew Cranwell.
GESTRANDET
Rose
Der dritte Tag, an dem ich ans Bett gefesselt bin.
Gestern brachte Zofia Baz mit und versuchte mich mit der Behauptung aufzuheitern, mein Krankenhausaufenthalt sei eine Art Urlaub, nur ohne Strand und Spaß. Und Sand. Und heiße Typen. Also eigentlich doch kein Urlaub. Baz verdrehte nur die Augen und legte meine Tarotkarten und seine ersten drei Venom-Comics aus der Dark Origins-Reihe neben den Knopf für die Schmerzmittelinfusion, der unangetastet neben meiner Hand liegt. Dann stellte er die Frage, die mir mehr zusetzte als der Gestank eines Hotdog-Stands in einer Hitzewelle im August. Wann kommst du hier raus?
Nicht schnell genug.
Und jetzt, da José Silveria neben meinem Bett steht und seinen Hut mit seinen schwieligen Händen knetet, muss ich der Tatsache ins Auge blicken, was genau Nicht schnell genug heißt.
»Was ist mit dem Getränkestand? Oder dem, wo man Pfeile auf Ballons wirft? Ehrlich, den könnte ich doch ohne Probleme übernehmen«, versichere ich und bemühe mich, mir meine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. Aber nach dem zu schließen, wie José seufzend an der Krempe seines Huts herumfummelt, gelingt mir das wohl nicht.
»Rose, du kannst ja kaum stehen. Wie lang brauchst du vom Bett zur Toilette?« Ich runzle die Stirn. Zehn Minuten klingt wohl nicht gut. »Wir können nicht länger in Hartford bleiben. Sonst sind wir zu spät für die Buchungen in Grand Island. Ich kann dich nicht mitnehmen, Rose. Du musst hierbleiben und dich erholen.«
»Aber …«
»Ich kenne dich doch. Du wirst nicht auf dich achten, und du kannst auch nicht ›Nein‹ sagen, wenn dich jemand um Hilfe bittet. Wenn Jim die Ausrüstung schleppt oder Kisten stapelt, wirst du auf einem Bein herumhüpfen und versuchen, ihm die Arbeit abzunehmen.«
»Das stimmt doch nicht!«
»Und was war, als du bei dem Unfall vor zwei Jahren deine Finger gequetscht hast?«
Ich zucke zusammen und balle meine linke Hand zur Faust, um meinen kleinen Finger zu verstecken, der für immer krumm bleiben wird. »Was war damit?«
»Hast du oder hast du nicht angeboten, den Vorhang zu reparieren, der dir am Ende auf die Hand gefallen ist?«
»Das war doch was anderes. Das war ein Unfall. Und das hier war … auch ein Unfall.«
José seufzt und schenkt mir sein herzliches Lächeln, für das er als liebenswürdiger Direktor vom Silveria Circus berühmt ist. »Du bist immer bei uns willkommen. Wenn du gesund bist. Aber im Moment musst du dich erholen.« José legt mir eine Hand auf das gesunde Fußgelenk. Seine mahagonibraunen Augen mit den Fältchen wirken immer so freundlich. Selbst jetzt, als er mir das Herz bricht. »Du kommst zurück, sobald die Ärzte dir ihr Okay geben. Das ist doch nicht für immer. Nur für eine kurze Zeit.«
Ich nicke.
Seine Worte hallen in meinem Kopf wider, als wollte sich mein Unterbewusstsein an sie klammern und sie wahr werden lassen. Aber allein der Gedanke an sein Nur für eine kurze Zeit verpasst mir einen ziehenden Schmerz in der Brust und treibt mir die Tränen in die Augen. Ich bin schon so lange bei diesem Zirkus, dass ich mir fast einbilden kann, ich hätte das Leben vergessen, das ich davor zurückgelassen hatte. Ich war doch noch ein Kind, gerade mal fünfzehn, als ich zum Zirkus ging. Der Silveria Circus ist mein Zuhause. Meine Familie. Und obwohl ich weiß, dass José recht hat, und ich es ihm nicht noch schwerer machen will, als es bestimmt ohnehin ist, fühle ich mich doch im Stich gelassen.
Achselzuckend lächle ich José zu, aber als ich die Nase hochziehe, zeigt sich Bedauern in seiner Miene. »Ja, ist schon gut, ich hab’s verstanden«, wehre ich ab, räuspere mich und schiebe mich in den Kissen etwas höher. Dabei versuche ich, nicht zusammenzuzucken, als mein Bein in der Styropor-Stütze wackelt, die es von der Matratze fernhält. »Ich komm schon klar und folge euch, sobald ich kann.«
José schenkt mir ein Lächeln, das nicht ganz seine Augen erreicht. Sie wirken leicht wässrig, was den Riss in meinem Herzen nur noch größer macht. »Jim hat dein Wohnmobil auf dem Campingplatz direkt außerhalb des Orts gelassen.«
»Klingt nach einer super Lösung«, sage ich ausdruckslos.
»Da gibt’s auch Strom, aber für alle Fälle haben wir deinen Generator mit Benzin gefüllt.«
Ich nicke nur, da ich meiner Stimme nicht traue.
José holt tief Luft, vermutlich um sich in eine Rede über die tausend Gründe zu stürzen, warum diese unerwartete Pause etwas Gutes ist oder warum ich schon längst Urlaub brauche, aber er wird von Dr. Kane unterbrochen, der das Zimmer betritt.
Ach du Scheiße! Er ist noch zehnmal heißer als bei unserer ersten Begegnung. Er ist so hübsch, dass ich fast den ziehenden Schmerz in meiner Brust vergesse, weil mich der Zirkus hier zurücklässt. Zumindest bis mir klar wird, dass ich vermutlich so ansprechend aussehe wie ein Sack alter Kartoffeln. Fast schon glaube ich, mein Bein tut weniger weh, wenn ich ihn nur anschaue, wie er mit seiner seriösen Arzt-Aura, dem Stethoskop und seiner geradezu lächerlichen Attraktivität dasteht. Seine dichten braunen Haare sitzen einwandfrei. Seine saphirblauen Augen fangen das Licht der Nachmittagssonne ein, das durch die Jalousien dringt. Heute trägt er keine Sportklamotten, trotzdem kann ich unter seinem weißen Kittel, dem gebügelten blauen Hemd und der beigen Hose erkennen, wie muskulös er ist. Er blickt von seinem Tablet zu mir, dann zu José und dann zu Josés Hand, die auf meinem Fußgelenk liegt.
Eine Sekunde lang verengt er die Augen, dann glättet sich seine Miene wieder. »Tut mir leid, Sie zu unterbrechen, ich bin Dr. Kane«, sagt er zu José und bietet ihm die Hand.
»José Silveria. Danke, dass Sie so gut für meine Rose sorgen.«
Dr. Kane nickt einmal, mit undurchdringlicher Miene.
Aber José? Ich weiß schon, was er sagen will. Ihm steht das Entzücken ins Gesicht geschrieben. »Rose is my pequeno gorrión. Mein kleiner Spatz. Eine meiner besten Künstlerinnen.«
»Im Zirkus«, sage ich knapp, »ich arbeite im Zirkus.«
»Oh. Das ist …«
»Verraten Sie mir eins, Dr. Kane: Sind Sie verheiratet?«
Ich unterdrücke ein Stöhnen. Dr. Kane räuspert sich, eindeutig aus dem Gleichgewicht gebracht, obwohl ich kaum glauben kann, dass er solche indiskreten Fragen zum ersten Mal hört. »Mit meiner Arbeit«, antwortet er.
José schüttelt glucksend den Kopf. »Das kenne ich. Ich war früher genauso.«
»Du bist immer noch so«, bemerke ich. »Apropos, musst du nicht irgendwohin? Wenn du nicht langsam verschwindest, müsst ihr heute Abend im Dunkeln aufbauen.«
Einerseits möchte ich nicht, dass er geht. Mehr als alles andere wünschte ich mir, er würde sich den Stuhl schnappen und mir Geschichten aus seiner Vergangenheit erzählen: wie er im Zirkus aufwuchs, wie er ein sterbendes Unternehmen erbte und zurück zum Erfolg führte. Ich wünschte, er würde mir seine Erinnerungen wie ein Schlaflied vortragen. Und ich wünschte, ich würde in meinem eigenen Bett aufwachen und die letzten Tage wären nur ein Traum gewesen, den ich bald vergessen könnte. Andererseits möchte ich mir den Verband von der Wunde reißen. Je länger José bleibt, desto deutlicher werde ich es spüren, dieses Loch in meiner Brust, das wohl nie wieder gefüllt werden wird, ganz gleich, wie sehr ich mich auch bemühe, die bröckelnden Ränder abzustützen.
Es gibt nicht viel, das ich José entgegenzusetzen hätte. Er zwängt sich zwischen Dr. Kane und das Bett, kommt zu mir und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Als er sich aufrichtet, wird sein Blick warm, und die Lachfältchen ziehen sich bis zu seinen Augen. Mir sticht die Nase, aber ich unterdrücke die aufkommenden Tränen. »Pass auf dich auf, pequeno gorrión. Lass dir Zeit. So viel, wie du brauchst.« Ruckartig nicke ich einmal, dann dreht José sich um und bietet Dr. Kane die Hand. »Danke für Ihre Hilfe, Dr. Kane.«