Season Sisters – Sommerstürme - Anna Helford - E-Book + Hörbuch

Season Sisters – Sommerstürme Hörbuch

Anna Helford

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Beschreibung

Von der Kunst über den eigenen Schatten zu springen – die Geschichte der Sommerschwester Von den vier Season-Schwestern ist Summer, die Sommerschwester, die Verantwortungsbewusste und Fürsorgliche. Ihr Beruf als Grundschullehrerin und das zurückgezogene Leben in ihrem Cottage geben ihr den Halt, den sie als Kind vermisst hat. Sie ist in Wales geblieben, um auf der elterlichen Farm von Zeit zu Zeit das Chaos zu beseitigen, überfällige Rechnungen zu begleichen und sich um ihre jüngste Schwester Autumn zu kümmern. Als die kleine Phoebe neu zu ihr in die Klasse kommt, erwachen unliebsame Erinnerungen in Summer. Denn Phoebes Vater, der alleinerziehende Bryan, ist Musiker, der sein Geld auf Festivals verdient und mit seiner Tochter im Wohnmobil durch England tourt. Sex, Drugs and Rock'n'Roll – ist das auch Phoebes Welt? Und warum ist Summer das nicht egal? Zweiter Band des großen Schwestern-Vierteilers: Ein Haus mit mysteriöser Vergangenheit, ein walisischer Sommer voll Musik und Freundschaft Weitere Bände der Serie, die im Lauf des Jahres 2024 erscheinen: Band 1: Season Sisters – Frühlingsgeheimnisse Band 3: Season Sisters – Herbstschatten Band 4: Season Sisters – Winterhoffnung Jeder Band der Serie kann unabhängig von den anderen gelesen werden.

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Zeit:11 Std. 18 min

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Über das Buch

Von den vier Schwestern der Familie Season ist Summer die Verantwortungsbewusste und Fürsorgliche. Weil sie Regeln und Halt in ihrer Kindheit vermisst hat, hat sie sich in ihrem hübschen Cottage und in ihrem Beruf als Grundschullehrerin häuslich eingerichtet. Doch die Sorge um ihre neue Schülerin Phoebe, Tochter des alleinerziehenden Musikers Bryan, stellt Summers wohlgeordnetes Leben völlig auf den Kopf und beschert ihr einen unvergesslichen Sommer.

 

Von Anna Helford ist bei dtv außerdem erschienen:

Season-Sisters – Frühlingsgeheimnisse

Anna Helford

Season Sisters

Sommerstürme

Roman

 

 

 

Für Lea

Prolog

Derbyshire, 23. Januar 1901

»Sir!«

Arthur Otterburn, der dritte Duke of Butterwood, schrak aus tiefstem Schlaf hoch und blickte in das blasse Gesicht seines Butlers.

»Sir, wir sind ausgeraubt worden!«

»Wie … ausgeraubt?« Arthur richtete sich verschlafen auf und versuchte, die Worte zu verstehen, die nur undeutlich durch seine Müdigkeit drangen. »Sie meinen …?«

»Ja, Eure Lordschaft! Es ist ganz schrecklich, die alten Meister fehlen. Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte. Wir sind doch alle im Haus gewesen …« Der Butler rang die Hände. »Erst die Küchenmädchen haben es bemerkt, auf ihrem Weg durchs Haus, als sie die Feuer entzündeten. Aber so ein Diebstahl macht doch Krach! Und die Bilder sind sperrig. Wie haben die Einbrecher sie von hier fortbekommen? Niemand hat Pferde gehört oder …«

»Penny?« Arthur richtete sich auf. Endlich hatten die Worte sein Gehirn erreicht, und der Schreck fuhr ihm wie ein Schneesturm durch alle Glieder. »Ist meine Tochter noch in ihrem Bett?«

»Ich … weiß es nicht, Sir.« Der Butler sah ihn verwirrt an.

»Verdammt, Sie Hornochse!« Arthur sprang aus dem Bett, fasste den Diener an den Oberarmen und rüttelte ihn. »Wir müssen nachsehen, ob Penny noch da ist und ob es ihr gut geht.«

»Sir! Sie meinen doch nicht … Sprechen Sie etwa … von …?«, stammelte der Butler.

Arthur ließ den vollkommen eingeschüchterten Mann los und griff nach seinem Morgenmantel. »Wurde bereits nach der Polizei geschickt? Scotland Yard muss gerufen werden, aber zunächst muss ich nach Penny sehen.«

Vor der Tür seines Schlafzimmers hatte sich eine ganze Traube blasser, verschreckter Dienstboten versammelt. Während Arthur in Richtung des Hausflügels lief, in dem die Zimmer seiner Kinder untergebracht waren, folgten ihm die Angestellten in einigem Abstand. Panik stieg in ihm auf. Seit einigen Jahren war eine äußerst gefährliche und gewiefte Einbrecherbande in ganz England aktiv, die es schaffte, auch in sichere und vermeintlich uneinnehmbare Anwesen einzusteigen. Sie schienen sich genaustens auszukennen, wussten, welche Gemälde in diesen Häusern von besonderem Wert waren, und bedienten sich an den kostbarsten Kunstschätzen. Darunter waren auch große und sperrige Werke, schwere Skulpturen oder besonders gesicherte Schmuckstücke. Manchmal wurden Tresore geöffnet, ohne dass die Verbrecher auch nur eine einzige Spur dabei hinterließen. Immer kamen sie vollkommen überraschend und verschwanden ungesehen. Keine Straßensperre hielt sie auf, kein Schutzmann trat ihnen in den Weg. Es war, als lösten sich die Räuber mitsamt ihrem Diebesgut in Luft auf, sobald sie die Anwesen verlassen hatten, die sie ausgeraubt hatten. Der größte Schrecken jedoch, der ihnen den Namen Thieves of Virgins, »Jungfrauen-Diebe«, eingebracht hatte, war der jeweils damit einhergehende Raub einer Frau des Hauses. Es waren nicht immer die Töchter oder Hausherrinnen, die entführt wurden, manchmal auch eine Dienerin oder Gouvernante, aber von all diesen Damen wurde nie wieder ein Lebenszeichen vernommen. Inzwischen wusste ganz England: Wer von den Thievesof Virgins entführt worden war, wurde nie mehr gesehen. Weder tot noch lebendig.

Die Angst nahm Arthur beinahe den Atem. Er würde sterben, wenn sein Mädchen gestohlen worden war. Seine wunderschöne, elegante, einnehmende und fröhliche Penny – die er in Kürze gut zu verheiraten hoffte.

Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er endlich die Räume seiner Tochter im Westflügel erreicht hatte. Ohne anzuklopfen, riss er die Tür auf und stürmte ins Zimmer. Er war beinahe darauf gefasst, das Bett leer und verwaist vorzufinden.

Doch ein erschrockener Schrei ertönte, und seine Tochter setzte sich darin auf. Im zuckenden Schein der Lampe, die der Butler trug, studierte Arthur Pennys Gesicht. »Oh, mein Liebling! Gott sei Dank! Geht es dir gut?«

»Ja«, erwiderte Penny und hielt sich angesichts der Schar von Dienstboten, die ebenfalls neugierig ins Zimmer äugten, die Decke vor die Brust, um ihr Nachtgewand zu verbergen. »Was ist denn los?«

»Ich hatte solche Angst.« Arthurs Anspannung ließ nach. »Ein Einbruch – und ich hatte schon befürchtet …« Er verstummte.

»Es wären die Thieves of Virgins gewesen?« Penny starrte ihn entsetzt an. »Oh Vater! Wie schrecklich! Wenn ich nur daran denke, dass ich hier vollkommen ahnungslos geschlafen habe, ungeschützt! Ich könnte jetzt tot sein.« Tränen traten in ihre Augen, und im nächsten Moment begann sie zu schluchzen.

Arthur legte seiner Tochter tröstend die Hand auf die Schulter und sah sich Hilfe suchend nach der Zofe um, die sich sofort aus der Gruppe der Angestellten löste und zu ihrer verzweifelten Herrin eilte.

Arthur richtete sich auf. Jetzt, da er seinen wertvollsten Besitz in Sicherheit wusste, wandte er sich wieder an die Diener und befahl: »Holen Sie die Polizei. Sie sollen herkommen, so schnell es geht, und auch gleich Scotland Yard informieren. Es muss sich jemand aus London um den Fall kümmern.«

Einige Diener entschwanden, um das Gewünschte auszuführen.

»Und Sie, Stevens«, sagte er zu dem Butler, »kommen mit mir. Wir werden uns den Schaden genau ansehen. Ich nehme an, es geht um die Gemäldegalerie?«

»Jawohl, Sir«, bestätigte der Mann.

Sie wollten gerade die breite Eichentreppe hinuntersteigen, die in die Galerie führte, als ein hysterischer Schrei durch das Haus schallte.

»Was um …?«, begann Arthur, doch im nächsten Moment wurde er von einer kreischenden Frau unterbrochen, die aus dem Südflügel auf sie zustolperte.

Erst als sie näher kam, erkannte Arthur, dass es Rosenberg war, die Zofe seiner Frau.

»Mylady! Mylady!«, rief sie mit aufgerissenen Augen und blassem Gesicht. »Es ist Ihre Ladyschaft, Sir! Ihre Ladyschaft …«

»Was denn?« Arthur stieg die Treppenstufe wieder hoch, die er bereits genommen hatte. »Was ist mit meiner Frau?«

»Verschwunden!«, stieß Rosenberg aus. »Sie ist verschwunden.«

Arthur zog die Augenbrauen zusammen und überlegte einen Moment lang, ob er zuerst nach den gestohlenen Bildern oder nach seiner Gattin sehen sollte. Der größere Verlust waren sicherlich die Kunstwerke, die viele Tausende, wenn nicht sogar mehr als einhunderttausend Pfund wert waren. Das kam ganz darauf an, welche Gemälde von den Dieben entwendet worden waren. Aber er sollte sich wohl erst um seine Gattin kümmern, die Dienstboten waren in solchen Dingen recht empfindlich. Und er galt sowieso schon als kaltherzig und empathielos. Nicht, dass ihn das störte, aber er musste auf seinen Ruf achten, und der Klatsch blühte geradezu unter seinem Personal. Schlimmer als in den Zeitungen! Also unterdrückte er einen Seufzer und eilte in den Südflügel, vorbei an seinen eigenen Zimmern, zu den Gemächern seiner Frau.

Ihr Bett war zerwühlt, sie musste also auf jeden Fall schlafen gegangen sein. Er betrat das Ankleidezimmer und stellte fest, dass auch Geraldines Kleidung noch vollständig schien. Überhaupt war alles noch exakt so, wie er es in Erinnerung hatte.

»Sir!« Die Zofe deutete schluchzend auf das zerrissene Nachthemd auf dem Bett. »Sie müssen … sie müssen … ihr Gewalt angetan haben.«

»Suchen Sie das ganze Haus nach ihr ab!«, befahl Arthur, obwohl er wusste, dass es zu spät war. Von seiner Frau würde er nie wieder etwas hören oder sehen. Er unterdrückte ein Grinsen und sagte mit möglichst ernster Stimme: »Stevens und ich sind in der Gemäldegalerie, ich erwarte Ihren Bericht dort in zehn Minuten.«

Das Personal machte sich sofort auf die Suche und strömte in sämtliche Richtungen aus, während Arthur mit dem Butler nach unten eilte.

»Mein Gott«, er fasste sich an die Brust, als er die leeren Wände sah, »der Bruegel und der Spitzweg! Und die Evangelistentafeln! Nein! Nein!« Fassungslos riss er die Hände hoch. Ihm wurde übel. Er würgte, doch da sein Magen leer war, blieb es dabei. Dann sackte er in sich zusammen. Das war das Schlimmste, was ihm jemals passiert war! Diese jahrhundertealten Kunstwerke, teils mit wertvollem Blattgold belegt, waren sein ganzer Stolz gewesen. Manche von ihnen waren seit vielen Generationen im Besitz seiner Familie, Könige und Prinzen aus der ganzen Welt hatten Flitton Court besucht, nur um einen Blick auf die Meisterwerke zu werfen. Diese Kostbarkeiten waren für seine Familie existenziell, ohne sie war er nichts mehr, ohne sie war das ganze Geschlecht der Dukes of Butterwood hinfällig! Und dann stieg Wut in ihm auf. Unfassbare Wut. Wer auch immer das getan hatte, er würde dafür büßen. Arthur selbst würde nicht ruhen, bis der Dieb am Strick baumelte, die ganze Bande sollte gehängt werden.

»Sir!« Schritte hallten von den Wänden wider.

Der Duke stand mühsam auf, jeder Knochen im Leib tat ihm weh. An diesem frühen Morgen war er um Jahrzehnte gealtert. Er sah sich um und erkannte die Haushälterin, Mrs Stone, die auf ihn zukam.

»Eure Lordschaft, ich bedaure sehr, Ihnen die Nachricht überbringen zu müssen, dass Ihre Gattin leider nicht auffindbar ist.« Die ältere Frau sah ihn ängstlich an. »Ich hoffe, dass sie nicht den Thieves of Virgins in die Hände gefallen ist.«

»Sollen sie sie doch behalten.« Arthur machte eine ungeduldige Geste. »Aber meine Meister! Ich will meine Meister wiederhaben!«

»Was das betrifft, Sir«, sagte die Haushälterin, die seinem Blick auswich, »habe ich leider keine guten Nachrichten.«

»Was denn noch?«, fragte Arthur gequält. Seine Schultern hingen kraftlos herab.

»Wir haben die Polizei gerufen und die wird auch kommen.« Die Frau hielt kurz inne, ehe sie weitersprach. »Aber erst heute Nachmittag, denn jetzt gehen alle in die Kirche – zu Ehren der Königin.«

»Was?« Arthur sah sie verständnislos an.

»Nun, Sir. Es wird sich wohl alles etwas verzögern. Auch aus London kann vorerst niemand hierherkommen«, erklärte die Haushälterin. »Die Königin ist tot.«

Erstes Kapitel

Nordwales, Bangor, April, Gegenwart

Die Königin war tot. Zum ersten Mal nach vierundsechzig Jahren würde ein neuer Prince of Wales auf seiner traditionellen Wales-Reise nach Bangor kommen. Summer lächelte, als sie an die Aufregung dachte, die in den nächsten Tagen an der Nordküste herrschen würde. Und das nur, weil Prinz William und seine Frau Catherine – die zwei Jahre lang sogar ganz in Summers Nähe, auf der Insel Anglesey, gelebt hatten – für wenige Stunden durch die Orte hier oben fahren und sich mit den Menschen unterhalten würden. Summer selbst war vor fünf Jahren dem heutigen König Charles III. auf seiner damaligen Wales-Reise begegnet und hatte seine Hand geschüttelt. Damals hatte er auch die Primary School von Bangor besucht, wo Summer gerade neu angefangen hatte. Sie war ihm vorgestellt worden und noch heute stolz darauf, ein paar Worte mit dem König gewechselt zu haben.

Jetzt freute sie sich auf den Unterricht, als sie die Schule vor sich auftauchen sah, und steuerte ihren Renault auf den Lehrerparkplatz. Die Osterferien waren ihr endlos vorgekommen. Über dem Eingang flatterten bereits die Fähnchen, die für den Besuch des Thronfolgerpaares aufgehängt worden waren. Eilig griff sie nach ihrer Aktentasche und stieg aus. Die Vögel zwitscherten, als ginge es um einen neuen Weltrekord. Es war kühl, aber am Himmel war keine Wolke zu sehen. Wenn die Sonne erst höher stand, würde es ein wunderschöner Frühlingstag werden. Summer konnte das Rauschen des Meeres und die Rufe der Möwen in der Ferne hören.

Sie schloss die Tür auf, die vom Lehrerparkplatz aus ins Gebäude führte. Wie üblich war sie die Erste am Morgen. Summer liebte die Stille der Primary School, wenn noch niemand außer ihr da war. Die Leuchtstoffröhren an der Decke klackten, als sie das Licht anschaltete. Um diese Zeit war es noch immer etwas dämmrig im Gebäude. Sie sog den vertrauten Duft nach Klebstoff, Kreide und Keksen ein. Auf dem Fußboden lag ein mit Wasserfarben gemaltes Bild, das von der Wand gefallen war, wo verschiedene Gemälde der Schüler ausgestellt waren. Summer bückte sich und hob es auf. Vorsichtig schob sie es unter die Ecke eines anderen Bildes und drückte den Klebestreifen wieder fest, in der Hoffnung, dass es nun halten würde.

Im Lehrerzimmer setzte sie als Erstes Wasser auf und füllte die Stempelkanne mit dem Kaffepulver, das sie selbst mitgebracht hatte und jetzt in die Dose schüttete. Morgens vor dem Unterricht gönnte sie sich immer den einzigen Kaffee des Tages, später trank sie dann nur noch Tee. Während sie auf das kochende Wasser wartete, schlenderte sie zu ihrem Postfach hinüber und nahm die Blätter und Briefe heraus, die sich während der Ferien dort für sie angesammelt hatten. Sie lächelte, als sie die Postkarte einer ehemaligen Schülerin fand, die ihr frohe Ostern wünschte.

Dann stutzte sie. Die Direktorin, Karen Smith, hatte ihr offenbar eine neue Schülerin zugeteilt. Ein Mädchen namens Phoebe Chapman. Summer legte die Mappe mit den Informationen über das Kind auf einen der Tische und ging zum Wasserkocher, um die Kanne aufzufüllen. Sie hatte im letzten Herbst eine Junior-Klasse übernommen, deren Lehrerin sie für die nächsten vier Jahre bleiben würde. Natürlich kam es vor, dass neue Kinder hinzukamen, das passierte jedoch eher nach den Sommerferien, zu Beginn des Autumn Terms im September. Während sie den Kaffee einen Moment in der Kanne ziehen ließ, sah sie sich die Mappe von Phoebe Chapman genauer an. Anscheinend war das Mädchen bis vor Kurzem in Brighton zur Schule gegangen.

»Guten Morgen!«, rief in diesem Moment eine Stimme, und Summer blickte auf.

Ihre Kollegin Mary Vaughn betrat mit einem großen Karton im Arm das Lehrerzimmer.

»Morgen!« Summer eilte ihr entgegen, um ihr die Kiste abzunehmen. »Wie waren deine Ferien?«

»Zu kurz«, seufzte Mary. »Wie immer, oder?«

Summer nickte zustimmend, obwohl sie ganz anderer Meinung war. Aber sie hatte schon früh gelernt, ihre Ansichten für sich zu behalten, um nicht aufzufallen.

»Guten Morgen!« Ein junges schwarzhaariges, etwa achtzehnjähriges Mädchen steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich bin Antonella Ferrero und habe heute meinen ersten Tag hier als Teaching Assistant.«

Summer betrachtete die junge Frau lächelnd. Ihre schwarzen Haare trug sie locker im Nacken zusammengebunden, sie war leicht geschminkt und klein. Ihre Figur war rundlich, was ihr eine attraktive weibliche Note verlieh, wie Summer fand.

Sie ging der jungen Frau entgegen und reichte ihr die Hand. »Hi, schön dich kennenzulernen. Ich bin Summer.«

»Woher kommst du?«, fragte Mary, die die neue Lehrkraft nun ebenfalls begrüßte. »Du hast einen leichten Akzent.«

Das war stark untertrieben, dachte Summer. Das Mädchen sprach sehr gutes Englisch, aber ihr Akzent war so extrem, dass man genau hinhören musste, um sie zu verstehen.

Antonella strich sich die dunklen, dicken Haarsträhnen hinters Ohr, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten. »Ich komme aus Italien. Neapel. Und ich mache hier ein Praktikum, im Rahmen meines Englischstudiums.«

»Kaffee?«, fragte Summer und eilte zu ihrer Kanne, die sie ganz vergessen hatte. »Ich habe ihn auf italienische Art gekocht, sehr stark.« Sie zwinkerte dem Mädchen zu und drückte den Stempel hinunter.

Mary hatte bereits einen ganzen Schwung bunter England-Kaffeebecher mit dem Porträt von William und Kate aus dem Schrank geholt und füllte nun drei davon.

»Neapel«, sagte Summer, während sie der Italienerin einen dampfenden Becher reichte. »Das liegt etwa in der Mitte des Stiefels, nicht wahr?«

Antonella nickte. »Eine Großstadt, nicht wirklich attraktiv, aber gleich davor sind die Inseln Capri und Ischia. Und auch Neapel zieht Touristen an, es gibt ein paar echt schöne Ecken da …«

»Hallo, Leute!« Karen Smith, die Direktorin der Schule, betrat das Lehrerzimmer in ihrem wie immer perfekt sitzenden Businesskostüm, mit dem sie wohl besser in eine Bankfiliale oder eine Anwaltskanzlei gepasst hätte als in diese Grundschule. »Na, haben alle schöne Ferien gehabt?«

»Klar«, murmelte Mary und warf Summer einen fragenden Blick zu. Karen Smith tauchte nur im Lehrerzimmer auf, wenn es etwas zu besprechen gab – was nach den Ferien nicht ungewöhnlich war. Aber da einige Lehrer morgens immer knapp dran waren, wurden die meisten Dinge in der großen Pause besprochen oder bei der wöchentlichen Konferenz, die jeden Donnerstagnachmittag nach Unterrichtsschluss stattfand.

Summer ahnte, dass der Besuch der Direktorin mit ihrer neuen Schülerin zu tun hatte. Denn auch neue Teaching Assistants riefen die Direktorin nicht unbedingt auf den Plan.

»Ich sehe, ihr habt Antonella schon kennengelernt. Sie wird uns im gesamten Summer Term unterstützen«, Karen nickte der Italienerin kurz zu, »und in den ersten Tagen wird sie Summer begleiten.«

»Mich?« Summer sah überrascht auf. Sie hatte in ihrer Klasse keine schwierigen Kinder, und die wenigen Assistenten wurden in den unteren Klassen gebraucht oder bei älteren Kindern, wenn Auffälligkeiten wie Lernschwächen oder soziale Probleme bestanden. Summers Klasse war bislang unkompliziert und leicht zu unterrichten gewesen.

»Du bekommst eine neue Schülerin, Summer«, sagte Karen. Sie stützte sich mit den Händen auf den großen Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, und lehnte sich nach vorn. »Ich weiß nicht, wie weit sie ist, und außerdem könnte es bei ihrem familiären Hintergrund durchaus Probleme geben.«

»So?« Summer sah die Direktorin fragend an, während sie einen der Kaffeebecher nahm und den Duft tief einatmete.

»Das steht alles in der Mappe, die ich dir ins Fach gelegt habe.« Karen drehte sich um und war schon fast an der Tür, als sie noch einmal innehielt und sich an Antonella wandte. »Guten Start!«

Summer nahm die Mappe, die sie gerade auf den Tisch gelegt hatte, und schlug sie auf. Dann setzte sie sich mit ihrem Kaffee davor und winkte Antonella zu sich. »Na, dann lass uns mal einen Blick auf die Unterlagen werfen.«

Sie schob die Kladde in die Mitte, sodass sie beide die Aufzeichnungen studieren konnten.

»Oh, das ist ungewöhnlich«, sagte sie wenig später. »Der Vater ist alleinerziehend. In Nordwales haben wir eher alleinerziehende Mütter, die Emanzipation scheint hier nur langsam anzukommen.«

Sie las die weiteren Informationen, die jedoch nicht viel mehr Aufschluss gaben. Offenbar waren Vater und Tochter erst vor wenigen Tagen nach Wales gekommen. Vermutlich hatten sich die Eltern getrennt, überlegte Summer, und sofort tat ihr das Mädchen leid, das sie noch nicht einmal kennengelernt hatte. Ob die Mutter wohl in Brighton geblieben war?

Nach und nach trafen auch die anderen Kolleginnen und Kollegen ein, und Summer war damit beschäftigt, Antonella mit allen bekannt zu machen, sich die Urlaubsgeschichten anzuhören und die Frage nach ihrem eigenen Urlaub immer mit »es war ganz wunderbar« zu beantworten. Dass sie eigentlich jede Stunde gezählt hatte, bis sie wieder arbeiten durfte, verschwieg sie. Natürlich hatte sie in ihrem neu erstandenen Haus etwas herumgewerkelt, den Garten in Ordnung gebracht und das Gästezimmer renoviert, aber der Schulalltag hatte ihr gefehlt. Sie hatte die Gespräche mit den Kollegen vermisst und die Kinder mit ihren fröhlichen Stimmchen.

Die anderen Lehrerinnen und Lehrer tauschten sich über ihre Pläne zum Besuch des Prinzen und der Prinzessin aus, und Summer ließ sich von der Vorfreude anstecken.

Im Nu war die Zeit bis zum Unterrichtsbeginn verflogen. Als Summer auf die Uhr sah, stellte sie erschrocken fest, dass die erste Stunde in fünf Minuten beginnen würde. Eigentlich war sie immer gern ein wenig eher in der Klasse, weil es oft Kinder gab, die ihr wichtige Dinge erzählen oder sie einfach ausführlich begrüßen wollten. Manchmal gab es Fragen zu den Hausaufgaben, oder es musste getröstet oder Streit geschlichtet werden. Doch heute war sie im Lehrerzimmer beschäftigt gewesen und hatte die Unterhaltungen genossen, sodass sie die Zeit ganz vergessen hatte.

»Wir sollten uns sputen«, sagte sie zu Antonella und steckte Phoebe Chapmans Akte in ihre Tasche. »Wir müssen hinüber ins andere Gebäude.«

Während sie durch die Flure liefen, aufgeregt hin und her wuselnden Kindern auswichen und den hohen Stimmen lauschten, die aus den Klassenräumen drangen, breitete sich Wärme in Summer aus. Sie liebte ihren Beruf, und sie liebte ihre Schüler. Jedes einzelne Kind lag ihr am Herzen, manche waren leichter zu unterrichten, andere etwas schwerer, aber in jedem von ihnen schlummerte ein Talent, das es zu entdecken galt.

»Wir werden heute die meiste Zeit damit verbringen, dass sie uns ihre Ferienerlebnisse erzählen«, erklärte sie ihrer Assistentin. »Und dann müssen wir natürlich schauen, wie sich die kleine Phoebe in die Gemeinschaft einfügt.«

»Ist bestimmt ein spannender Tag für das Mädchen«, sagte Antonella nachdenklich.

Summer nickte lächelnd. »Wir müssen einfühlsam vorgehen, wenn wir herausfinden wollen, ob die Kleine das Lernniveau der Klasse besitzt. Es soll auf keinen Fall wie eine Prüfung für sie wirken. Vielleicht stellen wir ihnen heute ein paar Spaßaufgaben und schauen uns Phoebes Lösungsansätze an.«

»Okay«, erwiderte Antonella, während sie Summer in den Gang folgte, der die beiden Schulgebäude miteinander verband.

Summer fröstelte, in diesem Flur war es immer etwas kühl, außer in den Sommermonaten, wenn hier die Hitze stand.

Vor ihnen tauchte der Klassenraum auf.

»Miss Season!«, rief in diesem Moment ein kleines dunkelhäutiges Mädchen mit einem gewaltigen Lockenkopf und rannte mit ausgebreiteten Armen auf Summer zu.

Lachend schloss sie das Kind in ihre Arme. »Laura! Sag mal, kann es sein, dass du schon wieder gewachsen bist?«

»Ja«, kreischte Laura, und ihr Mund offenbarte eine Zahnlücke. »Daddy sagt, seit Weihnachten bin ich drei Zentimeter größer geworden.«

»Ahhhh!«, rief ein anderes Mädchen mit roten Haaren und Sommersprossen, die Summer immer an Pippi Langstrumpf erinnerte. »Da bist du ja endlich!«

»Betty!« Summer nahm auch die kleine Betty in die Arme.

Durch die Stimmen im Flur angelockt, erschienen immer mehr Kinder in der Tür und drängten aus dem Klassenzimmer. Summer begrüßte jedes Mädchen und jeden Jungen einzeln, viele mit einer herzlichen Umarmung, andere mit coolem Handschlag. Alle plapperten durcheinander, auf den kleinen Gesichtern lag Wiedersehensfreude.

Als Summer endlich ihr Klassenzimmer betreten konnte, saß das neue Mädchen als Einzige an einem der Tische. Es beobachtete mit wachsamem Blick seine Mitschüler. Summer trat lächelnd auf das kleine Mädchen zu, das sein langes braunes Haar zu zwei Zöpfen geflochten hatte. Sie trug die gleiche blaue Schuluniform wie die anderen Kinder.

»Hallo, du bist bestimmt Phoebe, nicht wahr?« Summer ging etwas in die Knie, um mit Phoebe auf Augenhöhe zu sein, und reichte ihr die Hand.

Phoebe nickte und schlug vorsichtig ein.

»Ich bin Miss Season«, stellte sich Summer vor. »Ich möchte dir helfen, dass du dich schnell einlebst. Wenn du irgendwelche Fragen hast, sag mir Bescheid, okay?«

Phoebe nickte.

Summer ahnte, wie schwierig dieser erste Schultag für das Mädchen sein musste, aber auch wenn sich manche Schüler schon seit den ersten beiden Schuljahren kannten, waren die Klassen für die Junior School noch einmal neu zusammengestellt worden. Summer war sicher, dass sich die kleine Phoebe schnell integrieren würde, denn es hatten sich noch keine festen Gruppen gebildet, in die neue Schüler nur schwer hineinkommen konnten.

»Celina!« Summer richtete sich auf und sah sich nach der kleinen Celina um, die immer ein bisschen stiller war als die anderen Kinder. »Ich möchte, dass du dich neben Phoebe setzt.«

Celina strahlte. »Das mache ich.«

Stolz, von Summer ausgewählt worden zu sein, räumte Celina ihre Schulsachen zusammen, die sie schon auf einem der anderen Tische ausgebreitet hatte, und ging zu Phoebe.

Nachem alle Kinder Platz genommen und sich die lauten Stimmchen endlich beruhigt hatten, deutete Summer auf Antonella, die neben ihr stand. »Das hier ist Miss …?« Summer hielt inne, denn sie hatte ihren Nachnamen schon wieder vergessen.

»Ferrero«, sagte die Italienerin.

Summer nickte ihr dankbar zu. »Sie wird euch beim Lernen unterstützen.«

In der ersten Stunde ließ Summer die neunundzwanzig Kinder ihrer Klasse von den Ferien berichten. Nur wenige von ihnen waren in den Urlaub gefahren, einige hatten Verwandte besucht, aber die meisten waren zu Hause geblieben. Fast alle hatten einen Easter Egg Trail mit ihren Familien unternommen, um in öffentlichen Parks versteckte Ostereier zu finden, viele in Penrhyn Castle, wo der National Trust jedes Jahr eine solche Ostereiersuche anbot.

»Und du, Phoebe? Magst du uns auch von deinen Osterferien erzählen? Oder wart ihr die ganze Zeit mit eurem Umzug beschäftigt?«, wandte sich Summer schließlich an das neue Mädchen in der Klasse, das sich bislang noch nicht zu Wort gemeldet hatte.

Jetzt zuckte Phoebe verlegen mit den Schultern.

»Habt ihr Ostereier gesucht?«, fragte Summer vorsichtig nach. Sie stand von ihrem Platz auf und ging um den Tisch herum.

Jetzt nickte die Kleine. »Ja, in Edinburgh beim Festival.«

»Bei einem Osterfestival? Erzähl uns mehr davon.« Summer lächelte dem Kind auffordernd zu.

Wieder zuckte Phoebe mit den Schultern. »Daddys Freunde haben Eier für mich versteckt, und ich habe Geschenke unter den Wohnwagen gefunden.«

»Unter den … Habt ihr da übernachtet?«, fragte Summer weiter. »War das ein Kindermusikfest?«

Phoebe schüttelte den Kopf. »Daddy hat dort gearbeitet. Er hat Musik gemacht, und weil Ostern war, durfte ich ihm bis zur Pause zusehen. Dann bin ich in unserem Wohnmobil schlafen gegangen, und als ich morgens aufgewacht bin, waren die Eier und die Geschenke schon versteckt.«

Summer schluckte. Erinnerungen an ihre Kindheit stiegen in ihr auf. Laute, wummernde Bässe, Musik, Zigarettenrauch und Marihuana, Wein- und Sektflaschen, die von Mund zu Mund gingen. Blumenwiesen und tanzende nackte Menschen. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab und bemühte sich, ihr Entsetzen zu verbergen. Sie sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, vermutlich war in Phoebes Osterferien alles ganz harmlos gewesen.

»Gut, schön …« Summer warf einen Blick auf die Uhr, und zeitgleich erlöste sie der Gong.

Im Klassenzimmer wurde es laut. Summer stand auf und war froh, dass in der kommenden Stunde Kunst angesagt war. Dabei musste sie sich nicht so stark konzentrieren und konnte ihre düsteren Erinnerungen vollends abschütteln.

»Holt jetzt bitte eure Malsachen aus euren Regalfächern«, sagte sie mit lauter Stimme über das Geplapper der Kinder hinweg. »Phoebe, ich zeige dir dein Fach, komm mit.« Summer streckte ihre Hand nach dem kleinen Mädchen aus, das sofort aufstand und sich seiner Lehrerin anschloss. Der Klassenraum hatte einen Anbau, eine Art Veranda mit hohen Fensterscheiben, die in den Schulgarten blickten. In diesem Zimmer befanden sich die Regale mit den Stauräumen für die Kinder, sodass sie große, sperrige Sachen nicht jeden Tag in die Schule schleppen mussten. Während Summer wartete, bis sich das Gewusel in dem kleineren Zimmer lichtete, betrachtete sie Phoebe unauffällig. So ängstlich und ungelenk hatte sie damals auch in der Schule gestanden. Summer erinnerte sich an den entsetzlichen Tag, sie war nicht viel älter gewesen als das Mädchen neben ihr, als sie von ihrer Lehrerin die Aufgabe erhielt, ein Bild ihres Weihnachtsfests zu malen. Unbedarft, wie Summer damals war, hatte sie angenommen, dass all das, was sie zu Hause auf der Farm erlebt hatte, so ähnlich auch in den Familien ihrer Mitschüler stattfand. Dass sich ihre Eltern vollkommen normal verhielten. Also hatte sie nackte Menschen gemalt, die unter dem Weihnachtsbaum miteinander kuschelten. Auf das Sofa daneben hatte sie ihre Mutter gemalt, in den Armen eines Mannes und mit einem rauchenden Stäbchen im Mund – heute war Summer klar, dass es ein Joint gewesen war –, der Mann hielt eine Weinflasche in der Hand.

Als ihre Grundschullehrerin, Mrs Table, Summers Bild sah, schickte sie das Jugendamt zu ihr nach Hause auf die Farm. Doch wie so oft war ausgerechnet an dem Tag, als die zwei jungen Frauen dorthin kamen, keine Party im Gange. Die Frauen sprachen mit Summers Eltern und konnten nichts Auffälliges feststellen. Vielleicht war es aber auch nur das, was sie sehen wollten, denn die Seasons waren damals schon seit Jahren berüchtigt für die Orgien, die sie regelmäßig auf der Farm veranstalteten. Danach hatte sich nie wieder eine Lehrerin in das Leben der vier Season-Schwestern eingemischt. Später hatte sich Summer geschworen, niemals wegzuschauen, wenn sie einen ähnlichen Verdacht bei einem ihrer Schüler hegte. Sie fragte sich oft, was passiert wäre, wenn das Jugendamt damals strenger nachgeforscht hätte.

Wären ihre Schwestern Spring und Winter dann vielleicht heute noch in Summers Leben? Oder hätte man die vier damals schon getrennt? Wäre Autumn vielleicht etwas selbstständiger geworden, hätte sie das Elternhaus verlassen und sich in ein eigenes Leben getraut? Und Summer selbst, hätte sie sich dann auf einen Mann einlassen können, ohne jeglicher Intimität gleich auszuweichen? Bei den wenigen Beziehungen, die sie bisher angefangen hatte, war sie immer zurückgeschreckt, wenn sie den Körper eines Mannes berühren sollte, da sofort die Bilder ihrer Kindheit vor ihr aufstiegen. Sie sah Dinge vor sich, die Kinder niemals sehen sollten. Und dann war es mit sämtlicher Nähe vorbei.

»Miss Season?«, hörte sie plötzlich Phoebes Stimme.

Inzwischen waren Summer und Phoebe die Einzigen, die sich noch im Schulanbau befanden.

»Oh, entschuldige, ich war in Gedanken«, sagte Summer schnell und zwang sich zu einem unbeschwerten Lächeln. Doch die Kleine sah sie nachdenklich an, und in diesem Moment kamen ihr die Augen des Kindes erschreckend erwachsen und wissend vor.

Summer legte den Arm um Phoebe und schob sie sanft zu einem der freien Regale. »Schau, das hier ist ab heute dein Fach. Hier kannst du deine Malsachen deponieren, später deinen Taschenrechner und die schweren Bücher.«

Phoebe nickte.

»Hast du deine Farben und deinen Malblock mitgebracht, wie es in dem Brief stand, den dein Vater bekommen hat?«, fragte Summer nach.

Die Kleine errötete und schüttelte den Kopf.

»Na, macht nichts«, erwiderte Summer mit fröhlicher Stimme, obwohl sich in ihr ein leichtes Misstrauen gegen Phoebes Vater regte. »Wir werden Celina bitten, dir ein Blatt zu geben und ihre Farben mit dir zu teilen.«

Ursprünglich hatte sie vorgehabt, die Kinder ein Bild ihres schönsten Ferientages malen zu lassen, aber jetzt hatte Summer plötzlich Angst vor Phoebes Bild. Was, wenn sie eine ähnliche Szene zeichnen würde wie Summer damals?

Sie wollte die Kinder gerade stattdessen auffordern, ein Bild ihres Haustieres zu malen oder eines Tieres, das sie sich als Haustier wünschten, als sie innehielt. Nein, sie hatte sich geschworen, nicht wegzuschauen, wenn ein Kind Hilfe brauchte, und aus diesem Grund würde sie die Aufgabe genau so stellen, wie sie es geplant hatte.

Sie erklärte den Kindern also, was sie tun sollten, und sofort senkten sich die Köpfe, und Stifte und Pinsel fuhren über die Blätter.

Summer zwang sich, zunächst bei allen anderen Schülerinnen und Schülern vorbeizugehen, Antonella stand sowieso die meiste Zeit bei Phoebe, um das Mädchen gegebenenfalls zu unterstützen. Erst als Summer sich sämtliche Bilder angeschaut hatte, die da gerade entstanden, Tipps gegeben und Fragen gestellt hatte, wagte sie sich langsam in Phoebes Richtung. Vorsichtig warf sie einen Blick auf das Bild der neuen Schülerin, und sämtliche Anspannung fiel von ihr ab, als sie statt nackten Menschen einen Sandstrand mit blauem Meer vor sich sah.

»Das ist wunderschön geworden«, sagte sie und betrachtete das Gemälde genauer. »Bist du das hier?«

Phoebe nickte. »Und das ist mein Daddy.«

Summer musterte den Mann, den Phoebe vielleicht etwas zu groß gezeichnet hatte, der jedoch gut als Vater zu erkennen war. »Und was hältst du da in der Hand?«

»Das ist meine Abschiedspost für Mummy«, antwortete Phoebe. »Als wir weggefahren sind, haben wir uns von ihr verabschiedet. Am Brighton Beach, das war nämlich ihre Lieblingsstelle. Dort haben sie und Daddy sich kennengelernt.«

»Oh«, sagte Summer und begann zu begreifen, was das Mädchen ihr damit sagen wollte. War Phoebes Mutter etwa tot? Oder hatte Summer das falsch interpretiert? Sie wollte nicht weiter nachfragen und nahm sich vor, das gleich in Phoebes Akte zu überprüfen. Dabei hatte sie sich die Informationen heute Morgen eigentlich gründlich durchgelesen, und wenn die Mutter verstorben wäre, dann wäre Summer das doch aufgefallen, oder nicht?

Als sie in der Mittagspause, während die Kinder im großen Speisesaal aßen, noch einmal die Mappe durchsah, konnte sie keinen Hinweis auf Phoebes Mutter finden.

 

In den nächsten Tagen beobachtete Summer die kleine Phoebe aufmerksam. Sie kam bei den Lernaufgaben sehr gut mit, hatte teilweise sogar große Wissensvorsprünge vor ihren Mitschülern. Innerhalb von zwei Tagen hatte sich das Kind in die Klassengemeinschaft integriert und in Celina eine gute Freundin gefunden. Die beiden Mädchen verbrachten sämtliche Pausen gemeinsam und waren auch im selben Hausaufgabenclub. Als das Prinzenpaar endlich nach Bangor kam, überreichten Phoebe und Celina ihnen ein gemeinsam gemaltes Bild, und die Princess of Wales dankte den beiden Mädchen mit liebevollen Worten. Diese Begegnung wurde tagelang immer wieder in der Klasse erzählt, sodass die beiden Freundinnen zum Mittelpunkt des Interesses geworden waren. Spätestens jetzt war Phoebe vollkommen im Klassenverband integriert.

Zwei Wochen nach Beginn des Summer Terms kam Phoebe eines Donnerstags unentschuldigt nicht in die Schule. Summer fragte Celina, ob sie etwas von ihrer Freundin gehört habe, doch die schüttelte nur den Kopf.

Besorgt wählte Summer in der Lunchpause die Nummer von Phoebes Vater, doch niemand ging ans Telefon. Ärgerlich steckte sie ihr Handy wieder ein. Die Eltern sollten immer erreichbar sein, schließlich konnte es jederzeit passieren, dass ein Kind krank wurde oder sich verletzte. Dann musste sofort jemand zur Schule kommen und es abholen. Warum ging Phoebes Dad nicht an sein Handy? Erst eine halbe Stunde später, als Summer gerade im Lehrerzimmer ihre mitgebrachten Nudeln in der Mikrowelle aufwärmte, erhielt sie einen Rückruf.

»Hallo?«, meldete sie sich. »Mr Chapman?«

»Ja, Sie hatten versucht, mich zu erreichen?«, rief die Stimme eines Mannes über undefinierbaren Hintergrundlärm hinweg.

Summer stellte sich als Phoebes Lehrerin vor. »Ich mache mir Sorgen, weil Ihre Tochter heute nicht zum Unterricht erschienen ist und mir keine Entschuldigung vorliegt.«

»Oh, sorry! Ich wollte noch Bescheid geben, aber Phoebe kann auch morgen nicht in die Schule kommen, weil wir in Newcastle beim Festival sind«, schrie Mr Chapman ins Telefon.

Summer hielt das Handy ein Stück vom Ohr weg. Wut und Beklemmung stiegen in ihr auf. Sie atmete tief durch. »Mr Chapman, Sie können Ihre Tochter nicht ohne triftigen Grund für zwei Tage aus der Schule nehmen.«

»Natürlich kann ich das, ich tue es doch gerade«, lachte die Stimme am anderen Ende.

Summer biss sich auf die Unterlippe und versuchte, sich zu beruhigen. »Aber es besteht Schulpflicht, das müssen Sie doch wissen. Phoebe geht schließlich schon seit zwei Jahren zur Schule. In Brighton müssen Ihnen die Lehrer doch auch gesagt haben, dass es nicht möglich ist, ein Kind einfach nicht zum Unterricht zu bringen.«

»Aber ich habe einen triftigen Grund«, erwiderte Mr Chapman. »Ich muss arbeiten, und da ich niemanden habe, der auf meine Tochter aufpasst, muss ich sie natürlich mitnehmen. Es wäre unverantwortlich, sie allein zurückzulassen.«

Summer stieß die Luft laut aus und presste Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel. Wieder sah sie die Bilder ihrer Kindheit vor sich. Schnell schüttelte sie den Kopf, um sie zu vertreiben. »Ich muss mich an die Behörden wenden, wenn das öfter vorkommt, Mr Chapman.«

»An die Behörden?« Der Mann stieß ein bitteres Lachen aus. »Ich habe meine Frau verloren, Phoebe ihre Mutter. Ich versuche, dem Kind ein möglichst gutes Heim zu bieten. Aber ich muss nun einmal Geld verdienen, denn die Behörden geben mir keins. Also wenden Sie sich, wenn es Sie glücklich macht, an Ihre verdammten Behörden, aber es handelt sich um meine Tochter, und ich werde immer das tun, was in meinen Augen für sie das Beste ist, und nicht, was irgendeine gottverdammte Lehrerin für das Beste hält.« Es klickte, und dann war die Leitung tot.

Summer starrte fassungslos auf ihr Handy.

»Ist was passiert?«, fragte Mary, die gerade neuen Kaffee aufgoss.

»Das ist unglaublich.« Summer ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Die Nudeln standen unangetastet vor ihr. Der Appetit war ihr vergangen. »Der Vater der neuen Schülerin in meiner Klasse hat das Kind heute einfach nicht zur Schule gebracht und wird es wohl auch morgen nicht tun.«

Mary verzog ungläubig den Mund, während sie den Wasserkocher zurückstellte. »Vielleicht hat er noch viel für den Umzug zu organisieren?«

»Pff«, machte Summer verächtlich. »Er ist auf einem Festival. Auf einem Konzert für Erwachsene, dahin nimmt er seine Tochter mit – was allein ja schon unverantwortlich ist –, und er nimmt in Kauf, dass seine Tochter zwei Unterrichtstage versäumt.«

»Echt?« Mary lehnte sich gegen die Küchenzeile des Lehrerzimmers.

»Ich werde das Jugendamt informieren.« Summer nahm ihr Handy, um nach dem Kontakt zu suchen.

»Warte!« Mary kam zu ihr und setzte sich neben sie. »Meinst du nicht, dass du ein bisschen überreagierst? Willst du nicht erst einmal in Ruhe mit dem Mann sprechen? Oder mit Karen?«

»Warum?« Summer wollte nicht zögern, wenn sie bei einem Kind den Verdacht hatte, dass es zu Hause vernachlässigt wurde.

»Weil der Vater ein Recht darauf hat, sich zu erklären«, erwiderte Mary und legte ihre Hand auf Summers Finger auf dem Smartphone. »Du weißt, dass ich immer dafür bin, wachsam zu sein. Das Glück unserer Schüler liegt auch mir am Herzen. Wir sollten aber einen klaren Blick behalten und Menschen nicht zu Unrecht verurteilen, nur weil wir nicht gründlich recherchiert haben.«

»Aber wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass Phoebe während dieser Nachforschungen leidet. Ich meine, der Vater nimmt seine Tochter mit zu einem Festival! Die Kleine kann dort doch gar nicht schlafen, und wer weiß, was der Typ vor Phoebes Augen konsumiert. Und die anderen Festivalbesucher, die wie verrückt feiern, Alkohol, Drogen, Sex … Das grenzt an Missbrauch, wenn es nicht sogar zu Übergriffen kommt …« Summer sah all das vor sich, sie hatte es oft genug selbst erlebt. Wie sehr hätte sie sich damals gewünscht, dass irgendjemand eingegriffen hätte. Stattdessen war sie es gewesen, die versucht hatte, ihre Schwestern vor alldem zu schützen, so gut es ging. Natürlich war ihr das nicht gelungen. Wie auch? Sie war ja noch ein Kind gewesen.

»Das ist jetzt aber alles ein bisschen arg fantasiert, oder?«, unterbrach Mary ihre Gedanken. »Es gibt doch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Phoebe einer solchen Gefahr ausgesetzt ist. Oder hattest du das Gefühl, dass sie etwas bedrückt?« Mary stand auf und ging zur Stempelkanne, um den Filter nach unten zu schieben.

Summer dachte einen Moment nach. Dann sagte sie mit fester Stimme: »Doch, sie wirkt etwas bedrückt. Irgendwie auch ein bisschen erwachsener als die anderen Kinder, was ich auf das Schicksal ihrer Mutter zurückgeführt habe. Sie ist anscheinend gestorben, ich weiß allerdings nichts Genaueres darüber. Aber Mr Chapman hat gerade bestätigt, dass er seine Frau verloren hat …«

»Warte ab, bevor du dich ans Jugendamt wendest«, sagte Mary, während sie sich Kaffee einschenkte. »Du hast den Mann ja noch nicht einmal kennengelernt. Am besten, du triffst dich nächste Woche mit ihm und klärst das alles persönlich. Wenn du danach immer noch ein schlechtes Gefühl hast, solltest du die Sache melden.«

Summer atmete tief durch. Vermutlich hatte Mary recht, und sie war etwas zu heftig in ihrer Reaktion. Sie wusste, dass sie aufgrund ihrer Vorbelastung sehr sensibel auf derartige Verdachtsmomente reagierte. Aber konnte man hier überhaupt überreagieren? Es gab keine Entschuldigung für Menschen, die wegsahen, wenn sie von Missständen erfuhren, und damals hatte ganz Nefyn von den Zuständen auf ihrer Farm gewusst, und doch hatte nie jemand eingegriffen. Summer und ihre drei Schwestern waren sich selbst überlassen gewesen.

»Na gut«, brummte sie. »Ich hoffe, es ist die richtige Entscheidung, noch abzuwarten.«

Mary nickte mit einem leichten Lächeln. »Es ist immer gut, sich die andere Seite anzuhören.«

Summer schrieb Phoebes Vater eine Nachricht, in der sie ihn dringend um ein Treffen in der Schule bat. Aber es kam keine Antwort. Erst am nächsten Tag schlug er vor, in der folgenden Woche vorbeizukommen, wenn er Phoebe aus dem Hausaufgabenclub abholen werde. Sie verabredeten sich für den Dienstagnachmittag.

 

Als ihre Schwester Autumn am Freitagnachmittag anrief, schob Summer den Gedanken an die kleine Phoebe beiseite. Sie war gerade im Gartencenter, wo sie Blumenerde, Torf und ein paar Pflanzen für ihren Garten kaufte. Als sie die Nummer ihrer Schwester auf dem Display sah, überkam sie ein ungutes Gefühl. Autumn rief nur an, wenn etwas nicht in Ordnung war.

Summer schob den schweren Einkaufswagen in einen Seitengang und nahm den Anruf an. »Hallo, Autumn, wie geht es dir?«

»Gut.« Bei ihrer Schwester klang jeder Satz wie eine Frage, sie ließ die Enden in der Luft schweben. »Ich habe gerade einen Brief bei uns gefunden, kannst du den mal lesen? Da drin steht, dass uns der Strom abgeschaltet wird.«

»Was? Von wann ist der Brief?« Summer atmete tief durch. Es war nicht das erste Mal, dass sie ein solcher Hilferuf von der Farm erreichte.

»Von letzter Woche.«

Summer presste kurz die Lippen zusammen und schluckte gegen die Wut an, die in ihr aufgestiegen war. Ihre Eltern lasen ihre Post nur selten und legten sie irgendwo in eine Ecke, wo sie vielleicht zufällig von Autumn gefunden wurde, die immer Summer um Hilfe bat.

Summer bemühte sich um einen ruhigen Ton. »Dann wird es höchste Zeit, dass die Rechnung bezahlt wird. Mach bitte ein Foto von dem Brief und schick es mir, ich kümmere mich sofort darum.«

»Mache ich«, flüsterte ihre Schwester und legte auf.

Summer starrte auf ihr Smartphone. Plötzlich war ihr übel. Das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit war wieder da, das sie regelmäßig befiel, wenn sie auf der Farm war. Im Alltag schaffte sie es meist, die Gedanken an ihre Familie zu verdrängen, aber ihre Eltern hatten ihr Leben nicht im Griff, und Summer musste sie ständig aus irgendwelchen Notlagen befreien. Das Schlimmste daran war, dass es nie ihre Eltern, David und Leah, waren, die sie um Hilfe baten, sondern immer Summers kleine Schwester Autumn. Würde Summer ihnen auch helfen, wenn Autumn nicht mehr bei ihnen lebte? Sie zuckte die Schultern, während sie auf den schwarzen Bildschirm ihres Handys starrte. Wann würde Autumn endlich die Rechnung schicken? Wie hoch war sie dieses Mal? Summer dachte an ihren Kontostand und beschloss, die Pflanzen lieber zurückzubringen. Der April war noch lang, und ihr Gehalt würde erst in eineinhalb Wochen ausbezahlt werden.

Das Smartphone vibrierte, Autumn hatte das Foto gesendet. Mit zitternden Fingern klickte Summer es an und starrte darauf. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund. Die Gesamtforderung des Stromanbieters belief sich auf fünftausenddreihundert Pfund. Wie hatten ihre Eltern eine so hohe Summe anhäufen können? Sie schluckte und rief sofort wieder ihre Schwester an.

»Wieso ist die Rechnung so hoch?«, fragte sie Autumn, sobald sie abgenommen hatte.

»Ich … Anscheinend hat Mum die Rechnungen das ganze letzte Jahr über nicht bezahlt«, sagte ihre Schwester leise.

Summer schloss die Augen. Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte. Das Geld konnte sie nicht einmal annähernd aufbringen. Warum hatte der Stromanbieter nicht schon längst Bescheid gegeben? Ja, die Farm verbrauchte eine Menge Strom, die Geräte, die Melkmaschine, das Licht, die Lüftung. Und ihre Eltern brachten es nicht fertig, sich um einen günstigeren Stromlieferanten zu kümmern.

»Ich sehe mal, was ich machen kann«, seufzte Summer und legte auf. Die Waren brachte sie zurück in die Regale, an Einkäufe war nicht mehr zu denken. Nicht, solange sie nicht geklärt hatte, wie die Rechnung für die Farm bezahlt werden konnte.

Als sie aus dem Gartencenter trat, blieb sie einen Moment lang stehen. Sie musste zu ihrer Bank und die Mitarbeiter irgendwie dazu bringen, ihren Dispokredit zu erhöhen. Summer blinzelte in die Frühlingssonne und ließ die Schultern hängen. Kurz dachte sie daran, nach Hause zu fahren und sich ins Bett zu legen. Sie würde sich die Decke über den Kopf ziehen, um weder das Telefon noch die Haustürklingel zu hören. Sie wollte nicht mehr alles ausbügeln, was ihre Eltern nicht regeln konnten.

Doch sie schüttelte diesen Gedanken gleich wieder ärgerlich ab. Niemandem war damit geholfen, wenn sie jetzt schwach würde. Summer war immer schon die Season-Schwester gewesen, auf die alle anderen sich verlassen konnten. Die ihren betrunkenen Vater ins Bett brachte, wenn er den Weg dorthin nicht mehr fand, die ihre Mutter von ihrem eigenen Erbrochenen befreite und ihren Schwestern die Haare kämmte.

Als sie wenige Minuten später die Bankfiliale betrat, strich sie sich über ihren Blazer und setzte ein freundliches Lächeln auf, auch wenn ihr der Sinn überhaupt nicht danach stand. Sie betrachtete prüfend ihr Spiegelbild in der Glastür. Die dunkelblonden Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden, das dezente Make-up fiel kaum auf und betonte ihre grünen Augen auf natürliche Weise. Sie hatte eine sportliche Figur, was von der häufigen Gartenarbeit und ihrer körperlichen Anstrengung während der Renovierung des Cottage herrührte.

»Guten Tag!« Eine junge Bankangestellte kam auf sie zu. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich möchte meinen Dispokredit erhöhen«, sagte Summer und sah sich verstohlen um. Außer ihr war nur noch ein älterer Herr in der Bank, der mit einem anderen Mitarbeiter sprach.

»Natürlich.« Die junge Frau deutete auf eine Tür, die in einen winzigen, durch eine große Glasscheibe abgetrennten Nebenraum führte. »Bitte nehmen Sie Platz.«

Summer setzte sich auf einen der beiden Besucherstühle, die vor einem schmucklosen Schreibtisch standen, während die Frau, die ungefähr in Summers Alter sein musste, ihr gegenüber Platz nahm.

Nachdem Summer der Angestellten ihre Bankkarte gereicht hatte, hämmerte die junge Frau auf den Computer ein.

Schließlich zog sie die Augenbrauen zusammen und blickte auf. »An was für eine Summe hatten Sie denn gedacht?«

Summer wurde es mit einem Mal ganz heiß. »Ich brauche fünftausend Pfund.«

Jetzt sah die Frau sie überrascht an. »Sie sind bereits mit eintausendfünfhundert im Minus. Die Zinsen auf dem Dispokredit sind hoch, möchten Sie nicht lieber über ein Darlehen nachdenken?«

»Die Zeit habe ich nicht«, gestand Summer. »Ich brauche das Geld möglichst schnell.«

»Ich sehe, es existieren schon einige Darlehensverträge.« Die Angestellte warf ihr einen skeptischen Blick zu, bevor sie sich wieder zum Bildschirm drehte und durch Summers Datensatz scrollte. »Ihre monatliche Ratenbelastung ist enorm. Es gab zwar bislang keine Probleme mit der Tilgung bei Ihnen, aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen ein weiteres Darlehen gewähren kann.«

»Das brauchen Sie auch nicht, eine kurzfristige Erweiterung meines Disporahmens würde mir schon reichen.« Dieses Gespräch war erniedrigend und beschämend, und nicht zum ersten Mal hasste Summer ihre Eltern dafür, dass sie sie in eine solche Lage brachten.

Die Bankangestellte lehnte sich zurück und faltete die Hände im Schoß. »Und wie wollen Sie das zurückzahlen? Wenn ich mir Ihre Kontoeingänge anschaue und die Belastungen dagegenhalte …«

»Ich schaffe das schon«, sagte Summer und blickte die Frau flehend an. »Kann ich vielleicht eine Hypothek auf mein Haus aufnehmen?« Summer biss sich auf die Unterlippe. Ihr Cottage war ihr ganzer Stolz, sie hatte nicht nur viel Geld, sondern auch Arbeit hineingesteckt. Das Haus jetzt als Sicherheit anzubieten, fiel ihr nicht leicht.

Die junge Frau tippte wieder auf ihren Computer ein und schüttelte schließlich den Kopf. »So, wie ich das sehe, ist das Haus zum größten Teil noch Eigentum unseres Kreditinstituts.«

Summer wurde schwindelig. Sie musste das Problem lösen, ihre Eltern, vor allem aber ihre Schwester Autumn, verließen sich auf sie. Summer musste es regeln.

»Ich verspreche Ihnen, dass ich dafür aufkommen kann. Bitte erhöhen Sie meinen Dispokredit, ich muss heute noch eine wichtige Rechnung bezahlen«, sagte sie und hörte selbst das Flehen in ihrer Stimme.

Die junge Frau sah sie einen Moment lang an. Dann seufzte sie. »Na schön, ich genehmige Ihnen sechstausendfünfhundert Pfund. Sie sind eine gute Kundin und haben Ihre Raten bisher immer bezahlt. Aber seien Sie vorsichtig. Sie scheinen da ein gefährliches Kartenhaus errichtet zu haben, und beim nächsten Windstoß bricht es zusammen. Der Dispokredit kostet hohe Zinsen, versuchen Sie, so schnell wie möglich wieder in die schwarzen Zahlen zu kommen.«

Summer atmete auf. »Danke, danke! Ja, ich werde alles schnellstmöglich ausgleichen und zurückzahlen, ich verspreche es.«

Die Frau tippte auf ihrem Computer herum, und Summer füllte die Überweisung aus. Als sie eine halbe Stunde später die Bank verließ, war sie um fünftausenddreihundert Pfund und ein Stück ihrer Würde ärmer.

Vor ihrem Wagen blieb sie stehen. Es war ein nagelneuer Renault Captur, natürlich finanziert, schließlich hatte Summer in den letzten Jahren jeden Penny für den Hauskauf zurückgelegt. Jetzt, mit dreißig Jahren, hatte sie alles erreicht, was sie sich vorgenommen hatte: Sie hatte einen guten Job, ein geregeltes Leben, ein eigenes Haus und ein schönes Auto. Aber an Tagen wie diesem hatte sie den Eindruck, dass ihr das eigentlich gar nicht zustand. Während ihrer Familie auf der Farm beinahe der Strom abgedreht wurde, hatte sie ein luxuriöses Cottage und andere Annehmlichkeiten. Angst stieg in ihr auf, als sie daran dachte, dass sie sich tatsächlich übernommen haben könnte, wie die Frau in der Bank es angedeutet hatte.

Verdammt! Summer war eine Season! Eine der Schwestern, die eben nicht für ein Leben wie dieses geboren worden waren. Eine Decke der Schwermut legte sich auf sie, und wieder war der Wunsch, nach Hause zu fahren und sich in ihrem Bett zu verkriechen, übermächtig. Doch sie durfte nicht so egoistisch sein, sie muss zur Farm fahren und nachsehen, was dort los war. Sie war seit einigen Wochen nicht mehr da gewesen. Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, kostete es sie einfach zu viel Kraft. Jedes Mal fragte sie sich, was sie dort erwartete, immer musste sie alles aufräumen und sich um Dinge kümmern, die ihre Eltern nicht geschafft hatten. Und zwischen den unbezahlten Rechnungen, dem ärmlichen Essen, ihren ungepflegten Eltern, dem stinkenden Dung ihres Viehs steckte irgendwo Summers kleine Schwester Autumn. Autumn war die Jüngste von ihnen, insgesamt waren sie zu viert. Summer war die Älteste und ihre Schwester Winter die Zweitgeborene, die auch als Zweite die Farm verlassen hatte, gleich nach Spring, die mit sechzehn einfach verschwunden war.

Wo Winter und Spring heute waren, wusste Summer nicht genau. Sie hatte vor Jahren zum letzten Mal von ihnen gehört. Da war Spring irgendwo in London gewesen, und Winter hatte vorgehabt, nach Amerika auszuwandern. Beide Schwestern hatten sich jedoch nie wieder bei Summer gemeldet, sie konnten also noch immer in London sein oder sonst irgendwo auf der Welt.

Summer schüttelte die Gedanken ab und stieg in ihren Captur. Sie liebte normalerweise den Neuwagengeruch, doch jetzt verstärkte er nur ihr schlechtes Gewissen. Während ihre Schwester auf der Farm in Armut leben musste, gönnte sie selbst sich diese Dekadenz. Hätte es nicht auch ein gebrauchter Wagen getan?

Summer presste die Lippen zusammen, während sie vom Parkplatz des Gartencenters losfuhr. Leichte Übelkeit überfiel sie, als sie an die Farm dachte. Sie musste hinfahren, auch wenn sie es nicht gern tat.

Summer dachte an ihre drei Schwestern, die Menschen, die sie am meisten auf der Welt liebte. Sie vermisste Winter und Spring so sehr, dass ihr manchmal buchstäblich die Luft wegblieb. Auch jetzt spürte sie, wie sich ihre Atemzüge beschleunigten, wie sie flacher wurden und hektischer. Sie war auf dem besten Weg in eine Panikattacke.

Summer hielt an und atmete einen Moment in ihre hohle Hand, langsam und bewusst, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann fuhr sie weiter, bog auf die Landstraße Richtung Nefyn ein. Die Farm lag eine gute halbe Stunde von Bangor entfernt, Summer hatte die dreißig Meilen Strecke zwischen ihrem neuen Wohnort und dem Ort ihrer Kindheit gebraucht, sie wollte Abstand schaffen zwischen sich und ihrer alten Heimat.

Ja, es waren ambivalente Gefühle, die sie ihren Eltern gegenüber empfand. Einerseits liebte sie Leah und David, einfach weil sie ihre Eltern waren und es sich so gehörte. Andererseits hasste Summer die beiden, weil sie sie dafür verantwortlich machte, dass zwei ihrer Schwestern geflohen waren. Und für alles, was sie ihr und den anderen dreien in jungen Jahren zugemutet hatten. Aber Summer wusste auch, dass Leah und David nur bedingt etwas dafürkonnten. Sie trugen Schatten mit sich herum, Summer hatte sich nie getraut, genauer nachzufragen. Hin und wieder hatte sich die Miene ihrer Mutter verfinstert, sie war abgetaucht in eine andere Welt. Summer wusste, dass es Dämonen waren, sie musste etwas Schlimmes erlebt haben. Weder ihre Mutter noch ihr Vater sprachen über ihre Kindheit, über ihre Elternhäuser, ihre Familien. So gern Summer auch mehr darüber erfahren hätte, sie musste sich damit abfinden, dass es keine Großeltern, keine Tanten, keine Cousinen, keine Familiengeschichten gab. Früher war Summer manchmal wach geworden, weil ihr Vater im Schlaf laut geschrien hatte. Er wurde von schrecklichen Albträumen geplagt, aber wenn Summer ihn danach gefragt hatte, hatte er es immer abgetan.

Summer setzte den Blinker und fuhr auf die Küstenstraße, die am Meer entlang in Richtung Nefyn führte.

Manchmal suchte sie die Schuld für das Verschwinden von Winter und Spring auch bei sich selbst. Von klein auf hatte sie die Mutterrolle bei ihren Schwestern übernommen, weil Leah nicht dazu in der Lage gewesen war. Weder Leah noch David hätten jemals Kinder bekommen dürfen, das war Summer schon früh klar geworden. Beide waren psychisch krank und flohen vor ihren Erinnerungen, indem sie sich mit Drogen betäubten. Summer wünschte sich mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie den beiden helfen könnte, dass sie die Dämonen, die sie quälten, endlich zum Schweigen bringen könnte. Aber der Gedanke daran, dass sich ihre Eltern einer Therapie unterzogen, war genauso lächerlich wie die Vorstellung, dass es Luftballons regnen könnte. Dabei schienen die beiden tatsächlich täglich auf Letzteres zu warten. Summer erinnerte sich an das Hippieleben auf der Farm, ein Leben, das zwar nicht aus bunten Luftballons, dafür aber aus bunten oder gar keinen Kleidern, Drogen, viel Alkohol und Sexorgien bestanden hatte.

Sie zwang sich, aufs Meer hinauszusehen, das in der Frühlingssonne glitzerte, um die Bilder zu vertreiben, die sich vor ihr inneres Auge geschoben hatten.

Aber war es nicht eigentlich Summer gewesen, die versagt hatte? Ihre Eltern waren nicht zurechnungsfähig, sie waren es nie gewesen. Summer jedoch hatte studiert, sie war Lehrerin geworden. Sie hatte schon dem König die Hand geschüttelt! Fremde Menschen vertrauten ihr ihre Kinder an. Und sie selbst war nicht einmal in der Lage, ihre Familie zusammenzuhalten, auf sie zu achten, sie vor bösen Briefen zu bewahren, in denen ihnen angedroht wurde, dass man ihnen den Strom abstellte. War es nicht ihre eigene Schuld, dass sie Winter und Spring verloren hatte? Dass sich keine von beiden dazu verpflichtet fühlte, Kontakt zu ihr zu halten, sich danach sehnte, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen?

Summer musste diese Gedanken stoppen, sie waren nicht gut für sie. Sie führten zu nichts, höchstens zu einem Wochenende voller Depressionen, Tränen und Trägheit, an dem sie kaum das Bett verlassen konnte und sich nach dem Montag sehnte, wenn sie bei der Arbeit von ihren eigenen Dämonen abgelenkt werden würde.

Je näher sie der Farm kam, umso schlechter wurde ihr. Sie musste es für Autumn tun, sie musste hin und wieder nach dem Rechten sehen, um ihre Schwester zu schützen. Die Einzige, die ihr noch geblieben war. Wenn sie Autumn nur dazu überreden könnte, die Farm zu verlassen und zu ihr ins Cottage zu ziehen. Aber Autumn erstarrte, sobald Summer diese Möglichkeit auch nur ansprach. Nein, die jüngste Season-Schwester war ein schreckhaftes, unsicheres Mädchen von gerade zweiundzwanzig Jahren, die noch keinen einzigen Tag woanders als auf der Farm verbracht hatte. Ihre Welt endete mit den Grenzen des Weidelands ihrer Eltern, sie erlaubte sich nur regelmäßige Ausflüge auf die Ländereien von Daffodil Castle, wo sie die Pferde besuchte. Pferde waren Autumns beste Freunde. Sie liebte sie, und die Pferde liebten offensichtlich Autumn. Schon als kleines Kind hatte sie die großen Tiere im Griff gehabt, sie hatte furchtlos inmitten der Herde gestanden, um sie alle zu streicheln und am Halfter zu führen.

Autumn brauchte die Farm, die Farm war die Luft zum Atmen für sie, und aus diesem Grund musste Summer auch alles daransetzen, um den Betrieb dort irgendwie aufrechtzuerhalten. Wenn es nur um ihre Eltern gegangen wäre …

Sie lenkte den Wagen von der Straße auf die Auffahrt. Die Schlaglöcher wurden immer tiefer. Hier musste dringend etwas getan werden, sonst würde bald kein einziger Kunde mehr zu ihnen hinaufkommen – nicht dass der Farmshop noch viele Kunden hatte. Während sie an den kümmerlichen, halb vertrockneten Hecken entlangfuhr, wanderten ihre Gedanken wieder zu ihren Eltern zurück. Irgendetwas musste sie unternehmen, denn die Bankangestellte würde ihr beim nächsten Mal bestimmt nicht noch einmal helfen. Die Dame hatte ja jetzt schon große Zweifel gehegt, zu Recht, wenn Spring ehrlich war. Ihre monatlichen Belastungen waren inzwischen so hoch, dass ihr nur noch wenig Geld zum Leben blieb. Ob sie sich einen Nebenjob besorgen sollte? Vielleicht Nachhilfe anbieten, für Schüler, die im Unterricht nicht mitkamen? Denn Summers Eltern würden sicher auch in nächster Zeit nicht besser wirtschaften. Die Farm hatte vermutlich noch nie Geld eingebracht, aber Leah und David mussten ursprünglich ein wenig Kapital besessen haben, von dem sie die ersten Jahre hatten leben können. Inzwischen waren jedoch sämtliche Konten leer, während die Rechnungen weiterhin ins Haus flatterten. Und niemand kümmerte sich darum, außer Summer. Doch das würde nicht mehr lange funktionieren, entweder musste sie ihre Eltern und ihre Schwester ihrem Schicksal überlassen, oder sie würde selbst untergehen. Versinken in einem Berg aus Schulden.

Summer hatte den Hof erreicht. Links befand sich das jahrhundertealte heruntergekommene zweistöckige Wohnhaus. Eine Fensterscheibe fehlte seit einer Prügelei vor zwei Jahren zwischen zwei betrunkenen Freunden ihrer Eltern, die in ebenjener Scheibe geendet hatte. Bis heute war sie nicht ersetzt worden, weil weder die Freunde noch ihre Eltern das Geld dazu hatten. Holzbretter verschlossen das Loch und sorgten dafür, dass es jetzt immer dunkel in der Wohnküche war, was zusätzlichen Strom verbrauchte, denn dort musste jetzt Tag und Nacht Licht brennen. Geradeaus, durch einen Flur mit dem Wohnhaus verbunden, befand sich der Farmshop, im ehemaligen Kuhstall. Und der neue Stall lag rechts von Summer.

Als sie aus dem Wagen ausstieg, empfing sie der strenge Geruch ihrer Kindheit. Es roch nach Kühen, Mist, Heu, Blumenwiesen und nach Meer. Normalerweise liebte sie diese Mischung, doch heute war sie zu angespannt, um sie zu genießen. Eigentlich war sie seit Jahren angespannt, sobald sie zur Farm kam, denn jedes Mal erwartete sie eine Katastrophe im Inneren des Hauses.

»Hallo?«, rief sie, als sie die Haustür geöffnet hatte und der Gestank von Katzenpisse und Moder ihr entgegenschlug. Die Katzen waren ein weiteres Problem, dessen sich dringend einmal jemand annehmen musste. Summer hatte eigentlich vor, sie alle zum Tierarzt zu bringen, um sie kastrieren zu lassen, damit sie sich nicht mehr unkontrolliert vermehren konnten. Doch sie hatte nicht annähernd das Geld dafür, um dieser Armee von Katzen Herr zu werden. Sie sollte sich unbedingt an eine Tierschutzorganisation wenden, aber bislang hatte sie das immer wieder vor sich hergeschoben.

»Summer?« Ihre Schwester trat aus dem Verbindungsflur, der zum Farmshop führte. Sie sah sie fragend und beinahe ängstlich an.

»Hallo, meine Süße!« Summer breitete die Arme aus und zog Autumn an sich. Sie war schon wieder ein wenig schlanker geworden. Autumn war dünn und zart und wirkte beinahe zerbrechlich. Und die schlechte Ernährung hier auf der Farm trug sicher nicht dazu bei, dass sie mehr auf die Rippen bekam. »Ich habe alles erledigt, die Stromrechnung ist bezahlt.«

Summer spürte, wie Autumn erleichtert aufatmete. Sie löste sich aus ihrer Umarmung und murmelte: »Danke.«

Summer sah ihre Schwester eindringlich an. »Aber ich werde das nicht mehr lange tun können, auch mein Geld ist begrenzt. Fünftausend Pfund sind eine Menge.«

Autumn nickte und blickte schuldbewusst zu Boden. »Tut mir leid.«

»Nein, mein Schatz«, Summer streichelte ihrer Schwester beruhigend über den Oberarm, »du bist nicht dafür verantwortlich. Mum und Dad müssen sich eigentlich darum kümmern.«

Autumn schüttelte den Kopf und blickte sie erschrocken an. »Nein, das können sie nicht.«

»Ich weiß«, seufzte Summer. »Wie sieht es denn da drin aus?« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Wohnküche.

Autumn verzog das Gesicht. »Ich habe es nicht geschafft – die Kühe … der Shop. Ich bin den ganzen Tag im Stall und im Laden, oder ich bringe die Kühe raus und hole sie wieder rein.«

Summer nickte und wappnete sich innerlich für das Chaos, das sie erwartete. Als sie die Tür zu der großen Wohnküche öffnete, schlug ihr sofort der Gestank verdorbener Lebensmittel entgegen. Die Arbeitsflächen quollen über von schmutzigem Geschirr, verschüttetem Reis, Cornflakes, Zucker und Krümeln. Allein den Katzen war es zu verdanken, dass hier nicht eine ganze Ratten- oder Mäusekolonie lebte. Schmutziges, mit grünem Schimmel überzogenes Geschirr stapelte sich auf dem Tisch und in der Spüle. Ähnlich hatte es bei Summers letztem Besuch hier ausgesehen. Und so würde es auch beim nächsten Mal wieder sein. Es brachte nichts, ihren Eltern, die vermutlich von Drogen und Alkohol betäubt im Bett lagen, ins Gewissen zu reden. Und Autumn war mit alldem überfordert. Sie kümmerte sich um die Tiere und den Laden, mehr schaffte sie nicht. Summer sparte sich also eine strenge Ansprache, griff stattdessen schweigend zu den Handschuhen, die sie auf einem der Schränke in einer leeren Dose verwahrte, und begann, sich durch den Schmutz und das Chaos zu arbeiten. Sie musste einfach öfter herkommen. Sie musste besser aufpassen, früher eingreifen, mehr putzen und aufräumen. Wenn es sie nur nicht jedes Mal so viel Kraft kosten würde!

Zweites Kapitel

Bath, Januar 1895

Deirdre McGregor atmete erleichtert auf, als sie am Neujahrsmorgen endlich die leisen Schritte ihrer Zofe hörte, die sich ihrem Bett näherten. Es war noch früh an diesem ersten Januar des Jahres 1895, und man hatte bis in die Morgenstunden gefeiert. Die Feste bei den McGregors waren legendär, Gustav bestand darauf, dass sie regelmäßig Einladungen aussprachen und dass an Speisen, Dekoration und Personal nicht gespart wurde.