Sechs Tage zwischen dir und mir - Dani Atkins - E-Book

Sechs Tage zwischen dir und mir E-Book

Dani Atkins

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Beschreibung

Wie stark ist deine Liebe, wenn alle Fakten Zweifel schüren? Dani Atkins' dramatischer Liebesroman »Sechs Tage zwischen dir und mir« erzählt von einer geplatzten Hochzeit, einem schlimmen Verdacht und einem Wettlauf gegen die Zeit.   Was tust du, wenn der Mann, den du über alles liebst, am Tag eurer Hochzeit einfach nicht auftaucht? Nicht nur vor dem Traualtar wartet Gemma vergeblich auf Finn, auch in den Tagen danach bleibt ihr Verlobter verschwunden, ohne Erklärung, ohne eine Nachricht. Gemma hat nicht die leiseste Idee, was geschehen sein könnte – bis sie feststellt, dass Finns Pass, ein paar Kleidungsstücke und sein Geld von ihrem gemeinsamen Konto fehlen. Kann sie sich so sehr in ihm getäuscht haben? Ihr Herz kennt die Wahrheit, aber Gemma ahnt nicht, dass ihr nur sechs Tage bleiben, um die Liebe ihres Lebens zu retten oder für immer loszulassen.   Bewegend, dramatisch und zugleich voller Zuversicht fragt der Liebesroman von Bestseller-Autorin Dani Atkins nach der Beschaffenheit von Liebe, Träumen und der Kraft der Hoffnung.   Entdecke auch die anderen wunderschönen Frauenromane von Dani Atkins: - Die Achse meiner Welt - Die Nacht schreibt uns neu - Der Klang deines Lächelns - Sieben Tage voller Wunder - Das Leuchten unserer Träume - Sag ihr, ich war bei den Sternen - Wohin der Himmel uns führt - Bis zum Mond und zurück

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Seitenzahl: 525

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Dani Atkins

Sechs Tage zwischen dir und mir

Roman

Aus dem Englischen von Simone Jakob und Anne-Marie Wachs

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Was tust du, wenn der Mann, den du über alles liebst, am Tag eurer Hochzeit einfach nicht auftaucht?

Nicht nur vor dem Traualtar wartet Gemma vergeblich auf Finn, auch in den Tagen danach bleibt ihr Verlobter verschwunden, ohne Erklärung, ohne eine Nachricht. Gemma hat nicht die leiseste Idee, was geschehen sein könnte – bis sie feststellt, dass Finns Pass, ein paar Kleidungsstücke und sein Geld von ihrem gemeinsamen Konto fehlen.

Kann sie sich so sehr in ihm getäuscht haben? Ihr Herz kennt die Wahrheit, aber Gemma ahnt nicht, dass ihr nur sechs Tage bleiben, um die Liebe ihres Lebens zu retten oder für immer loszulassen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Samstag

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Sonntag: Tag eins

Kapitel 8

Montag: Tag zwei

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Dienstag: Tag drei

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Mittwoch: Tag vier

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Donnerstag: Tag fünf

Kapitel 24

Kapitel 25

Finn

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Finn

Freitag: Tag sechs

Kapitel 29

Kapitel 30

Finn

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Finn

Kapitel 35

Kapitel 36

Finn

Kapitel 37

Kapitel 38

Finn

Kapitel 39

Kapitel 40

Danksagung

Für Debbie

die die Bücher als Erste liest

Samstag

Kapitel 1

Die Zimmertür quietschte immer noch, wenn man sie öffnete. Dad hatte das all die Jahre nicht behoben, und irgendwie gefiel es mir. Jetzt stand er im Türrahmen, in einem Anzug, den ich noch nie an ihm gesehen hatte und in dem er mir fremd vorkam.

Einen langen Augenblick sagten wir beide kein Wort. »Du siehst wunderhübsch aus, Gemma«, brach er schließlich das Schweigen. Seine Stimme war merkwürdig belegt. »Wenn deine Mutter das nur miterlebt hätte.«

Unter dem Geraschel von Tüll und paillettenbestickter Spitze sah ich zu dem Mann, den ich mein ganzes und sein halbes Leben lang geliebt hatte. In dem anthrazitfarbenen Cutaway war Dad fast nicht wiederzuerkennen. Seine Haare, die er sich tags zuvor hatte schneiden lassen, waren so kurz, dass man glauben konnte, er wolle sich nach der Trauung bei der Armee verpflichten. Und seine üblichen grau-schwarzen Bartstoppeln waren einer scharfen Rasierklinge zum Opfer gefallen. Ich erkannte, wo er sich mit unsicherer Hand geschnitten hatte. Die beiden kleinen Wunden waren das einzige bisschen Farbe in seinem ungewöhnlich blassen Gesicht.

»Ach, Dad«, sagte ich und versuchte, all die Kraft zusammenzunehmen, die ich mir für diesen Augenblick aufgespart hatte. Denn ich hatte immer gewusst, dass diese Worte heute ausgesprochen werden würden. Ich war mir bloß nicht sicher gewesen, ob von ihm oder von mir.

Er streckte die schwieligen Hände aus, und ich legte meine hinein und war plötzlich wieder acht Jahre alt und soeben vom Fahrrad gefallen; oder zwölf, und mein Kaninchen war gerade gestorben; oder vierzehn, und der Junge, den ich mochte, hatte ein anderes Mädchen gefragt, ob es mit ihm zum Schulball gehen wollte. In all diesen Momenten war Dad da gewesen – aber immer als Teil eines Teams. Ich begriff, wie schwer er es jetzt hatte, wo er diesen Meilenstein in meinem Leben ohne Mum an seiner Seite miterlebte.

»Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte er leise. Das hatte ich schon unzählige Male gehört. Als Teenager hätte ich wahrscheinlich meine grünen Augen verdreht, die wir gemeinsam hatten, und hätte beschlossen, mir die rotbraunen Haare zu färben. Doch jetzt, nachdem wir Mum vor drei Jahren verloren hatten, klammerte ich mich begierig an jede Ähnlichkeit, die uns verband, wie an einen rettenden Strohhalm.

Ich schaute in den Spiegel und hakte mich bei Dad unter, was ich in weniger als einer Stunde erneut tun würde, wenn er mich zum Altar führte. Und zum ersten Mal konnte ich es wirklich erkennen. Ich wirkte tatsächlich wie die Frau auf dem Foto im silbernen Bilderrahmen, der im Wohnzimmer hing. Zugegeben, unsere Hochzeitskleider waren völlig verschieden, und sie hatte das Haar in einer komplizierten Hochsteckfrisur getragen, während meines mir in sanften Wellen weich über die Schultern fiel. Aber den Gesichtsausdruck, mit dem sie den Mann an ihrer Seite anschaute, kannte ich von Hunderten von Facebook-Posts. So sah auch ich aus, wenn ich Finn in die Augen blickte.

Just in diesem Moment wurde mit exzellentem Timing die Tür meines ehemaligen Zimmers erneut aufgestoßen, und der Wirbelwind namens Hannah Peterson stand mit meinem Brautstrauß in der Hand im Türrahmen. Sie schaute zwischen Dad und mir hin und her. »He, hier wird nicht geweint«, ermahnte sie uns, nur halb im Scherz. »Ich war doch bloß fünf Minuten weg.«

Nach fünfundzwanzig Jahren genoss Hannah, meine beste Freundin, gewissermaßen schwesterliche Privilegien und hatte keine Bedenken, Dad und mich ins Gebet zu nehmen, wenn sie es für nötig hielt. »Denkt an unsere Abmachung: keine Tränen, bis Finn und du ›Ja‹ gesagt habt, okay?«

»Wie hält dein armer Mann dich nur aus?«, neckte Dad meine Trauzeugin, legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie väterlich.

»Hauptsächlich dank Kopfhörern mit Geräuschunterdrückung«, gab sie verschmitzt zurück. »Der Wagen für die Brautjungfern wartet unten, und der Fahrer sagt, eurer kommt in ein paar Minuten.« Schon war sie wieder ganz in ihrer Rolle der inoffiziellen Hochzeitsplanerin. Hätte sie in den Rockfalten ihres Kleides aus magentafarbenem Taft Platz dafür gefunden, hätte sie garantiert den ganzen Tag ein Clipboard mit sich herumgeschleppt.

»Wo ist Milly?«, fragte ich und reckte den Hals nach ihrer entzückenden kleinen Tochter. In ein paar Monaten wurde meine Patentochter vier, sie war jetzt beinahe in dem Alter, in dem ihre Mutter und ich damals Freundschaft geschlossen hatten. Für mich war von Anfang an klar gewesen, dass niemand außer ihr das Blumenkind bei meiner Hochzeit sein würde.

»Im Moment ist sie damit beschäftigt, deinen Kater zu piesacken«, sagte Hannah an meinen Vater gerichtet und fügte ein zerknirschtes »Tut mir leid« hinzu. »Danach wird sie wahrscheinlich den Kunstblumenstrauß zerpflücken, den ich ihr gegeben habe. Den echten kriegt sie erst in die Finger, wenn sich die Kirchentüren öffnen.«

Ich strahlte sie an. »Du denkst aber auch wirklich an alles.«

»Ich will einfach nur, dass das heute der perfekte Tag für dich wird«, sagte sie merklich gerührt und klang für einen Moment ganz anders als die Hannah, die ich kannte.

Aus dem Erdgeschoss war ein Quietschen zu hören, das entweder von ihrem Nachwuchs oder vom Kater stammte, und Hannah drehte sich blitzschnell auf dem Absatz ihres eleganten Satinschuhs um.

»Wir sehen uns vor der Kirche«, sagte sie, blies uns beiden einen Luftkuss zu und rauschte in einer Parfümwolke aus dem Zimmer. Mein Vater folgte ihr, um sie hinauszubegleiten.

Wenige Augenblicke darauf schloss sich die Haustür mit einem kräftigen Rums, und erleichtert atmete mein Elternhaus auf, als endlich wieder Stille einkehrte. Die Haarstylistin, die Visagistin und die Floristen waren alle längst weg, wie auch Familie und Freunde, die in diesen Minuten bestimmt schon auf dem Weg zur Kirche waren und bald auf den mit Blumen geschmückten Kirchenbänken Platz nehmen würden.

Alles und jeder war genau an seinem vorgesehenen Platz. Wieso also wurde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte? Es begleitete mich, seit mich heute früh mein Handy geweckt hatte. Noch im Halbschlaf hatte ich blinzelnd zur Decke aufgeschaut und mich gefragt, wo ich eigentlich war. Ohne nachzudenken, hatte ich die Hand nach Finn ausgestreckt, aber die andere Hälfte meines alten Doppelbetts war kalt und leer. Fühlte Dad sich morgens genauso? Es war ein herzzerreißender Gedanke, mit dem ich in den Tag startete, der üblicherweise als der »glücklichste Tag deines Lebens« bezeichnet wird.

Ich hatte die Beine über die Bettkante geschwungen und schließlich gelächelt, als mein Blick auf das cremeweiße Spitzenkleid fiel, das ich tragen würde – wenn ich dem Mann, den ich liebte, das Jawort gab.

Ich hatte der Versuchung nicht widerstehen können und mein Telefon am Ladekabel zu mir herangezogen, als würde ich einen Fisch an der Angel einholen. War es zu früh, um Finn einen guten Morgen zu wünschen? Brachte das Unglück, so wie wenn Braut und Bräutigam sich vor der Trauung sahen, oder kapitulierte der Aberglaube vor moderner Technik? Ich beschloss, dass eine kurze WhatsApp das Risiko wert war.

Guten Morgen, Mr D. Einen schönen Hochzeitstag! Freu mich auf dich. xxx

Fünf Minuten wartete ich mit dem Telefon in der Hand auf eine Antwort, dann legte ich es leicht enttäuscht beiseite. Finn war wahrscheinlich schon unter der Dusche oder noch auf seiner morgendlichen Joggingrunde. Oder er ist total verkatert, merkte eine lästige Stimme in meinem Kopf an. Ich ignorierte sie, weil ich diesen speziellen Streit wirklich nicht weiterführen wollte.

»Ist dir klar, dass heutzutage kein Mensch mehr den Junggesellenabschied am Vorabend der Hochzeit feiert? Das macht man Wochen vor dem großen Tag, damit man Zeit hat, sich davon zu erholen.«

»Es ließ sich vorher nicht einrichten«, hatte Finn entgegnet, die Arme um meine Taille geschlungen und mich an sich gedrückt. »Ich hab die ganze Zeit geackert, um die Abgabe noch vor den Flitterwochen zu schaffen.« Dann hatte er den Kopf geneigt und mich auf die Art geküsst, bei der mir immer die Knie weich wurden. »Vielleicht weißt du es ja noch nicht, aber ich werde heiraten«, hatte er mit den Lippen an meinem Hals geflüstert.

»Hab davon gehört. Hat die ein Glück.«

Finn hatte den Kopf geschüttelt und mir in die Augen geschaut. »Nein. Ich bin derjenige, der Glück hat.«

 

Dad wartete am Fuß der Treppe auf mich, jener Treppe, auf deren Geländer ich in meinem dreiunddreißigjährigen Leben so oft hinuntergerutscht, deren Stufen ich hinuntergesprungen und manchmal sogar -gefallen war. Auf seinen Lippen lag ein stolzes Lächeln, das mich jetzt eher aus dem Tritt zu bringen drohte als die Treppenstufen. Durch die offene Haustür erhaschte ich einen Blick auf einen glänzenden, silberfarbenen, mit bunten Bänderngeschmückten Bentley, der am Straßenrand auf uns wartete.

»Bevor wir losfahren …«, sagte Dad plötzlich. Er war so aufgeregt, dass sein Adamsapfel hektisch auf und ab hüpfte, und musste sich räuspern. »Also, ich möchte dir etwas geben.« Nervös nestelte er in der Tasche seines Jacketts herum. »Von deiner Mutter und mir.«

Als ich die kleine Schmuckschatulle aus Samt entgegennahm, merkte ich, dass ich schon jetzt den Tränen nahe war. Plötzlich bangte ich um das von der Visagistin so sorgfältig aufgetragene Make-up, samt »Tsunami-fester« Mascara.

Ich hielt die Schachtel eine Weile in den zitternden Fingern, bevor ich sie öffnete. Die zartgliedrige Kette war aus Silber, doch was mir fast den Boden unter den Füßen weggerissen hätte, war der dazugehörige Anhänger.

»Der Stein von Mums Verlobungsring«, sagte ich fassungslos. Ich hatte ihn sofort wiedererkannt.

»Sie hätte gewollt, dass du ihn bekommst«, sagte Dad, und seine Stimme klang wieder rau. »Ich dachte, wenn ich ihn zu einem Anhänger umarbeiten lasse, ist das so, als wäre sie heute bei uns.«

Ich wandte mich zum Flurspiegel und strich mir die Haare aus dem Nacken, um mir die Kette umzulegen. Der tropfenförmige Diamant fiel wie eine Sternschnuppe auf meine nackte Haut, knapp über der Wölbung meiner Brust. Ich spürte sein Gewicht dicht an meinem Herzen, als ich meinen Vater an mich drückte. »Er ist wunderschön. Wirklich. Aber Mum wäre heute sowieso bei uns gewesen, auch ohne diesen Anhänger. Keine zehn Pferde könnten sie davon abhalten.«

Dad hielt fest meine Hand, als er mich über den gepflasterten Weg zum Wagen führte, stieg vorsichtig nach mir ein und setzte sich auf den kleinen Teil der Rückbank, den mein Kleid nicht in Beschlag nahm. Es war, als würden wir in einem Meer aus Tüll versinken, doch die Kirche war zum Glück nur eine halbe Stunde Fahrt entfernt.

»Nervös?«, erkundigte sich Dad. Dieselbe Frage hatte er mir gestellt, als er mich an meinem ersten Schultag vor dem Schulgebäude abgesetzt hatte, und dann wieder dreizehn Jahre später, vor der Uni.

Diesmal fiel es mir leicht, zu verneinen.

»Ich freu mich einfach auf dieses neue Kapitel in meinem Leben«, sagte ich und beugte mich über die Wogen aus feinemStoff, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken.

»So kenne ich meine Tochter«, sagte er mit vor Liebe und Stolz belegter Stimme.

 

Eine große Hochzeit in Weiß hatte nie weit oben auf meiner Wunschliste gestanden. Aber im Leben kommt es ja oft anders, als man denkt. Man begegnet jemandem, in den man sich verliebt, man verliert einen geliebten Menschen, und plötzlich probiert man Brautkleider an und bucht eine Kirche und Räumlichkeiten für die Feier. Das alles war zum großen Teil eine Hommage an Mum, denn so eine Hochzeit hatte sie sich immer für mich erträumt.

Ich weiß noch, wie ich zu Finn sagte: »Sie hätte dich sehr gemocht«, als wir die Städte hinter uns gelassen hatten und nun über die Dörfer zu meinem Elternhaus fuhren, wo er meinen Vater kennenlernen sollte.

Finn hatte eine Hand vom Lenkrad genommen und meine sanft gedrückt. »Wenn sie nur ein kleines bisschen so war wie du, hätte ich sie auch sehr gemocht. Ich mach mir eher Sorgen wegen deines Vaters. Ich seh schon vor mir, wie er heute Abend im Flur Wache schiebt, für den Fall, dass ich mich aus dem Gästeschlafzimmer schleiche.«

Ich hatte gelacht, obwohl Finn vielleicht gar nicht so falschlag. »Na ja, du weißt doch, wie Väter sind.«

»Kann man so nicht sagen«, entgegnete Finn.

Hätte ich mir eine Superkraft aussuchen können, dann die, die Zeit zurückspulen zu können, um meine unbedachte Bemerkung ungeschehen zu machen.

»Finn, es tut mir leid. Ich –«

»Schon okay«, unterbrach er mich und wechselte das Thema, so wie immer, wenn das Gespräch auf seine Eltern kam. »Also, glaubst du, eine Flasche Scotch wird reichen, um ihn zu bezirzen, oder hätte ich eine ganze Kiste besorgen sollen?«

»Dad wird von dir begeistert sein«, hatte ich geantwortet. »Wie alle, die dir zum ersten Mal begegnen.«

Finn hatte den Blick auf die Straße gerichtet, aber ich sah sein spöttisches Lächeln.

»Außer dir.«

Kapitel 2

Die erste Begegnung

Sieben Jahre zuvor

Haare hochgesteckt oder offen?«, fragte ich beim Betreten unserer winzigen Küche, wo Hannah mit ihrem Smartphone beschäftigt war. Sie legte es beiseite und nahm nicht nur meine Haare, sondern auch mein Outfit genauestens in Augenschein. Noch vor zwei Minuten hatten die schwarze Stoffhose und die figurbetonte weiße Bluse im Spiegel bei mir im Zimmer gut ausgesehen, aber auf Hannah hatte es nicht die erhoffte Wirkung.

»Du bewirbst dich also als Kellnerin?«

Ich verzog bei ihrem bissigen Kommentar das Gesicht und ließ den angedeuteten hohen Dutt los, sodass mir die Haare über die Schultern fielen, was den ganzen Look auflockerte.

»Besser«, sagte meine Freundin.

»Ich will bloß professionell rüberkommen … und intelligent.«

»Dafür braucht man mehr als eine vernünftige Frisur«, sagte Hannah und fuhr sich grinsend über ihren stachlig gestylten Kurzhaarschnitt mit den pink gefärbten Haarspitzen. Mit einem IQ auf Mensa-Niveau hatte Hannah keine Schwierigkeiten, ernst genommen zu werden, obwohl ihre Frisur an das Gefieder eines Paradiesvogels erinnerte.

»Guter Punkt«, räumte ich ein, »aber bei dem Bewerbungsgespräch steht zu viel auf dem Spiel, als dass ich riskieren will, es wegen unpassender Kleidung zu vermasseln.«

»Ich dachte, es geht um deine Texte und nicht darum, dass du aussiehst wie eine Bibliothekarin aus den Fünfzigerjahren!«, zog sie mich auf und schnappte sich eine Scheibe Toast, die sie mit zwei gewaltigen Bissen hinunterschlang. Für eine so kleine Frau hatte Hannah einen enormen Appetit. Ich war mir nicht sicher, wo die ganzen Kalorien, die sie vertilgte, eigentlich blieben, denn ihr zierlicher Körper schien nur wenige davon aufzunehmen. »Und ich liebe deinen Schreibstil«, erklärte sie loyal.

Dankbar strahlte ich sie an und griff hoffnungsvoll nach der Kaffeekanne. Es gelang mir, mit dem restlichen Kaffee eine letzte Tasse zu füllen, und ich trank ihn in kleinen Schlucken, während ich auf meinem iPad noch mal die Publikationsliste mit Artikeln durchging, die ich bislang verfasst hatte. »Schwer zu sagen, welcher davon am meisten Eindruck machen wird: der mit der kleinen Katze, die vom Baum gerettet werden musste, oder der über die aufsehenerregende Marmelade-Einkochaktion vom Women’s Institute.«

»Eindeutig der mit der Katze«, sagte Hannah und legte sich eine Hand auf die Herzgegend. »Der schreit geradezu nach dem Pulitzer-Preis.«

Ich schnaubte, und um ein Haar wäre der Kaffee auf meiner Kleidung gelandet.

»Es wird bestimmt total langweilig hier, wenn du ausziehst«, sagte ich, was laut ausgesprochen noch jämmerlicher klang als in meinen Gedanken. Ich wollte nicht, dass Hannah meinetwegen traurig wurde oder Schuldgefühle bekam, doch in ihren veilchenblauen Augen sah ich eine Mischung aus beidem aufblitzen. Nachdem wir viele Jahre lang in einer Reihe schäbiger Mietwohnungen gelebt hatten, hatten Hannah und ich den Sprung gewagt und uns zusammen eine Eigentumswohnung gekauft, wobei wir irgendwie nicht daran gedacht hatten, was passieren sollte, wenn eine von uns ausziehen wollte und die andere nicht.

Ich kann mich noch lebhaft an den Abend erinnern, an dem sie verdächtig früh von einem Date mit William nach Hause kam. Sie waren schon ein halbes Jahr zusammen. Als sie mit besorgtem, leicht gequält wirkendem Gesichtsausdruck ins Wohnzimmer trat, griff ich instinktiv nach einer Flasche Wein, zwei Gläsern und einer Schachtel Kleenex, da ich das Schlimmste befürchtete. Aber ich lag falsch, William hatte nicht mit ihr Schluss gemacht – im Gegenteil.

»Er hat mich gefragt, ob ich bei ihm einziehen will«, sagte sie, und es klang, als würde sie zu etwas Gesetzeswidrigem gezwungen.

»Der Arsch«, witzelte ich mit todernster Miene. Ich war so erleichtert, dass er ihr nicht das Herz gebrochen hatte, dass es eine Weile dauerte, bis mir klar wurde, dass eher ich am Ende allein mit meinem Kummer dastehen würde. »Und was hast du gesagt?«

Sie biss sich auf die Unterlippe, als würde sie sich ein Lächeln verkneifen, aber es gelang ihr nicht ganz; ihre Augen strahlten vor Freude.

»Ja.«

Ich verschüttete etwas von dem Wein, wir weinten und umarmten uns und zitierten aus Friends, als wir sagten, dass dies das »Ende einer Ära« war. Doch die kalte, harte Realität des Ganzen wurde mir erst später bewusst. Womöglich würde ich nicht nur meine Mitbewohnerin verlieren, sondern auch die Wohnung.

»Vielleicht zahle ich einfach meine Hälfte vom Kredit weiter ab – William wird das sicher verstehen«, preschte Hannah vor.

»Auf keinen Fall. Das wär total ungerecht«, beharrte ich. »Außerdem ist da ja dieser Job bei der Zeitschrift, für den ich mich bewerben will. Wenn ich den bekomme, könnte ich die Raten auch allein bestreiten.« Solange ich alle unnötigen Ausgaben streiche, wie für Lebensmittel und so, fügte ich im Stillen hinzu.

Ob ich diesen Job bekommen würde, war tatsächlich höchst fraglich, denn ich würde damit einige Stufen auf der Karriereleiter überspringen, würde von der bescheidenen Reporterin bei einem Lokalblatt zur Feature-Autorin für ein bekanntes Hochglanzmagazin aufsteigen. Doch ich musste es wenigstens versuchen.

 

Obwohl die morgendliche Rushhour schon hätte vorbei sein sollen, war auf den Straßen immer noch überraschend viel Verkehr. Die Dreiviertelstunde Pufferzeit, die ich eingeplant hatte, schmolz durch Staus, defekte Ampeln und einen quer stehenden Laster dahin. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, schien es die Klimaanlage meines Wagens nicht zu kümmern, dass heute ein besonders ungünstiger Tag war, um endgültig den Geist aufzugeben. »Was für Temperaturen, und das im September!«, hatte der Typ im Radio begeistert festgestellt. Ich würgte ihn mitten im nächsten Satz ab.

Als ich das erste Hinweisschild zu dem Gewerbegebiet entdeckte, hatte ich bereits einen feinen Schweißfilm auf der Stirn, der fleißig meine Foundation auflöste. Ich fuhr auf den Parkplatz und geriet in Panik, als ich auf dem Armaturenbrett die Uhrzeit sah. In einer Viertelstunde hatte ich mein Bewerbungsgespräch.

Die Büros der Glow befanden sich in einem hohen Büroturm mit blauer Glasfassade, wodurch das Gebäude wie ein riesiger Gletscher wirkte, der irgendwo abgebrochen und irrtümlich in einer Großstadt gelandet war.

Wenn ich schnell einen Parkplatz finde, müsste ich es noch schaffen, sagte ich mir auf der ersten von mehreren erfolglosen Runden über das Gelände. Plötzlich entdeckte ich nicht weit vor mir einen Wagen, der gerade ausparkte. Ich bremste und schaltete den Blinker ein. Der Fahrer brauchte Ewigkeiten, um zurückzusetzen, und mein linker Fuß lauerte schon über dem Gaspedal, als wie aus dem Nichts ein anderes Auto in die frei gewordene Lücke preschte. Der Fahrer hatte mir nicht nur den Stellplatz weggeschnappt, sondern war dafür auch noch in der falschen Fahrtrichtung über den Parkplatz gerauscht.

Ich neigte nicht zu Aggressivität im Straßenverkehr, zumindest nicht bis zu diesem Zeitpunkt, doch ohne nachzudenken, brüllte ich: »Sie wollen mich wohl verarschen!«, und drückte auf die Hupe, was die morgendliche Ruhe empfindlich störte. Ich sah, wie sich der Fahrer in alle Richtungen umblickte. Da mein Wagen als einziger noch nicht eingeparkt war, musste man kein Genie sein, um zu erraten, wer da gerade gehupt hatte. Er fing meinen Blick auf, wir guckten uns durch die Windschutzscheiben an, und ich riss die Hände hoch, was in der inoffiziellen Zeichensprache der Straßenverkehrsordnung so viel wie »Was soll der Scheiß?« bedeutete.

Durch den roten Nebel meiner Wut sah ich zwei Reihen strahlend weißer Zähne aufblitzen. Hatte dieser Typ mich gerade tatsächlich angegrinst? Ich glaubte zu erkennen, wie er mit den Lippen das Wort »Entschuldigung« formte. Falls ja, verschwendete er seine Zeit, denn ich war nicht in Stimmung, seine Entschuldigung zu akzeptieren. Zu allem Überfluss kurbelte er auch noch das Seitenfenster herunter.

»Tut mir leid, aber ich hab einen Termin und bin echt spät dran.« Er schenkte mir erneut sein Hundert-Kilowatt-Lächeln, das ihm wohl üblicherweise dabei half, mit solchen Unverschämtheiten durchzukommen. Doch heute würde er damit keinen Erfolg haben, ganz sicher nicht bei mir.

Ich kurbelte ebenfalls das Fahrerfenster herunter.

»Das war mein Parkplatz!«, rief ich, den Kopf aus dem Fenster gereckt wie ein Hund bei einer langen Autofahrt.

Seine Stimme trug besser als meine, er hatte solche Verrenkungen nicht nötig, um sich Gehör zu verschaffen.

»Also, genau genommen ist es erst Ihr Parkplatz, wenn Sie darauf stehen«, argumentierte er gelassen, als spielte es keine Rolle, dass er soeben alle meine Chancen auf den Job, den ich unbedingt haben wollte, zunichtegemacht hatte. »Wie gesagt, tut mir leid, aber ich bin spät dran, und …« – er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und dann wieder zu mir – »so unterhaltsam es ist, sich quer über den Parkplatz anzuschreien, ich muss mich wirklich beeilen.«

Ich war sprachlos und wütend angesichts dieser Unverfrorenheit und wusste nicht, ob ich den Mund weiter offen lassen oder ihn schließen sollte. Ich überlegte immer noch, während der Mann aus seinem Wagen stieg und auf das glasverkleidete Gebäude zueilte. Sein Weg führte ihn praktisch direkt an mir vorbei, und es kostete mich einiges an Selbstbeherrschung, meinen Motor nicht drohend aufheulen zu lassen. Ich war zwar nicht so wütend, dass ich ihn tatsächlich umgenietet hätte, doch es hätte mir gutgetan, ihn einfach nur so zu erschrecken, dass ihm sein überhebliches Grinsen verging.

Er schaute noch einmal in meine Richtung, bevor er zwischen den geparkten Fahrzeugen verschwand, und hatte doch tatsächlich die Dreistigkeit, mir zum Abschied kurz zuzuwinken. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich einen Menschen so spontan so tief verabscheut.

Kapitel 3

Die Kirche kam in Sicht, und obwohl ich behauptet hatte, ich wäre nicht nervös, spürte ich, wie mein Herz für einen Schlag aussetzte und dann zu rasen begann. St Anthony’s war eine alte, typisch englische Kirche mit einem historischen überdachten Friedhofstor, das wir uns schon als Kulisse für die Hochzeitsfotos vorgemerkt hatten. Dass die Holzbalken mit Blumengirlanden geschmückt waren, hatte ich erwartet; womit ich hingegen nicht gerechnet hatte, war, Finns Trauzeugen Doug davor auf und ab laufen zu sehen.

Als wir näher kamen, steckte er sein Handy hastig wieder in die Tasche und begann zu gestikulieren. Ich runzelte die Stirn und beugte mich vor, um besser zu erkennen, was seine Handzeichen bedeuten sollten. Es sah so aus, als würde er Teig rühren.

Unser Fahrer konnte diese Pantomime offensichtlich ebenso wenig deuten und brachte den Oldtimer neben dem Tor zum Stehen. Unerklärlicherweise wirkte Doug frustriert und gab uns – diesmal mit einer verständlichen Geste – zu verstehen, wir sollten das Seitenfenster herunterkurbeln.

Die Scheibe glitt mit einem gedämpften, irgendwie unheilvoll klingenden Geräusch nach unten.

»Könnten Sie noch eine Runde um den Block fahren?«, bat Doug den Chauffeur, bevor er mit einem aufgesetzten Lächeln, das selbst ein Blinder durchschaut hätte, zu uns auf die Rückbank blickte.

»Wir brauchen noch ein paar Minuten«, erklärte er, weiter mit dem gezwungenen Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.

Ich hatte ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube, als würde sich ein Aal darin winden. »Warum? Was ist los?«

»Nichts. Alles in Ordnung.«

Ich kannte Doug nicht gut genug, um zu merken, dass er besorgt war, doch ich war schon lange genug Journalistin, um zu erkennen, wenn ich belogen wurde.

»Wo ist Finn? Er ist doch da, oder?« Meine Stimme wurde höher, schien mühelos Tonleitern zu überspringen.

»Ja, er ist … das heißt, er kommt bestimmt gleich.«

»Also, was denn nun, Junge?«, unterbrach mein Vater sein Gestammel.

»Finn verspätet sich bloß ein bisschen«, sagte Doug matt. »Wahrscheinlich hat er die Ringe vergessen oder so.«

»Aber ich dachte, du hättest die Ringe«, wandte ich ein und war mir des Zitterns in meiner Stimme unangenehm bewusst. »Finn hat mir gestern gesagt, er hätte sie dir gegeben.«

Dougs Wangen färbten sich tiefrot. »Ach ja. Stimmt.« Er klopfte demonstrativ auf die Brusttasche seiner Seidenweste, als wären sämtliche Probleme nun zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst. »Nur noch eine Runde ums Quadrat, und dann sind wir sicher so weit«, fügte er hinzu.

Der Fahrer drehte sich zu uns um. In seinem Gesicht war nichts von Panik zu erkennen, die mir hingegen nur zu deutlich anzumerken sein musste. Womöglich kam so was ja öfter vor, vielleicht sogar ständig. Allerdings zuckte an seinem Auge ein Muskel, was eher dagegensprach.

Mein Vater übernahm das Kommando. »Dann fahren wir mal gemütlich um den Block und geben Doug Zeit, die Lage zu klären.«

Jetzt war weder der richtige Moment noch der passende Ort, um Zweifel an Dougs Fähigkeiten anzubringen, die anscheinend höchstens dafür reichten, einen Junggesellenabschied in einer Brauerei zu organisieren. Er war Finns ältester Freund, und wenn mein Verlobter fand, dass er der Richtige für die Aufgabe des Trauzeugen war, dann musste ich seinem Urteil vertrauen.

Dennoch konnte ich es mir nicht verkneifen, nochmals nachzufragen: »Bist du sicher, dass er bloß spät dran ist?«

»Ja. Absolut«, sagte Doug und richtete sich auf.

Ich hätte mich weit besser gefühlt, wenn ich nicht gehört hätte, wie er beim Zurücktreten auf den Bürgersteig leise zu unserem Chauffeur sagte: »Fahr langsam, Kumpel.«

 

Als der Wagen anfuhr, drehte ich mich auf der Rückbank genau in dem Augenblick um, als Doug die Schultern hängen ließ und sich nervös mit der Hand durchs Haar fuhr. Dann sah ich, wie ein Mann, den ich nicht kannte, zu Doug lief und dabei den Kopf schüttelte. Die Neuigkeit – worum auch immer es gehen mochte – ließ den Trauzeugen erneut zum Handy greifen.

»Glaubst du, ich sollte mal versuchen, Finn zu erreichen?«, fragte ich meinen Vater und kam mir ohne mein Telefon, das sich in einer Tasche befand, welche Hannah zur Hochzeitsfeier mitbringen würde, ziemlich hilflos vor. »Vielleicht könnte ich ihn kurz mit deinem Handy anrufen?« Doch ich wusste bereits, was mein Vater antworten würde.

»Lass uns erst mal tief durchatmen und ihnen einfach noch zehn Minuten geben.« Dad war schon immer eher der Abwarten-und-Teetrinken-Typ gewesen.

Ich drehte mich wieder nach vorn und hielt während der Fahrt nach Finn Ausschau, der womöglich neben einem mit Bändern geschmückten, qualmenden Wagen am Straßenrand stand oder vielleicht gegen einen Reifen trat, der ausgerechnet jetzt einen Platten hatte. Aber er war nirgends zu entdecken.

»Ich dachte immer, die Braut kommt auf den letzten Drücker zur Trauung, nicht der Bräutigam«, sagte ich und versuchte zu lachen, doch es klang zu hoch, zu schrill und zu sehr den Tränen nah.

Dad legte seine Hand auf meine, sodass ich sie stillhalten musste. »Keine Sorge. Du wirst sehen, es gibt eine ganz vernünftige Erklärung für alles.«

Der Fahrer schien sich an Dougs Rat zu halten. Selbst in meinen Satinschuhen mit Kitten Heels und meinem ausladenden Hochzeitskleid wäre ich die Strecke schneller gejoggt. Wir brauchten genau dreizehn Minuten und zwanzig Sekunden – wie an der eleganten Uhr im Armaturenbrett des Bentleys abzulesen war –, bis die Kirche wieder in Sicht kam.

Diesmal standen mehr Leute vor dem Kirchhoftor. Finn war allerdings nicht darunter.

»Dad …?«, fragte ich zaghaft, als wir erneut am Straßenrand hielten.

»Vielleicht bleibst du besser im Wagen, Gemma«, schlug er vor, doch ich war längst ausgestiegen. Ohne die anderen Anwesenden zu beachten, lief ich schnurstracks zu Hannah, die meine Hände nahm und sie so fest hielt, dass ich mich schon geerdet fühlte, bevor ich überhaupt merkte, dass ich es brauchte.

»Finn ist noch nicht da«, sagte sie, geradeheraus wie immer. »Die Jungs versuchen schon seit vierzig Minuten, ihn zu erreichen, aber anscheinend ist sein Handy ausgeschaltet.«

Ich runzelte die Stirn, als würde Hannah eine Fremdsprache sprechen, die ich nicht besonders gut beherrschte. Ihre Worte ergaben für mich keinen Sinn.

»Wie kann das sein? Wir heiraten heute.«

Das war für das Organisations-Team unserer Hochzeit, das besorgt im Kreis um uns herumstand und überallhin schaute, nur nicht zu mir, offensichtlich keine Neuigkeit.

Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie der Spitzenbrautschleier meine Wange streifte. Ich schlug ihn zurück, was eigentlich Finn vor dem Altar hätte machen sollen, bevor er mich küsste.

»Wie ging es ihm heute früh? War alles okay mit ihm?«, fragte ich Doug.

Finns Trauzeuge fuhr sich nervös mit einem Finger unter den Kläppchenkragen, wie ein zum Galgen Verurteilter, der die Schlinge um seinen Hals lockern will. »Ähm, schwer zu sagen«, gab er mit sichtlichem Unbehagen zu. »Also, ich hab die Nacht nämlich nicht in seiner Wohnung verbracht. Ich war … woanders.«

Fünf Augenpaare schauten ihn verblüfft an, mich überraschte das allerdings nicht. Ich hatte schon oft genug von Dougs zahlreichen One-Night-Stands gehört, um sofort zu begreifen.

Hannah kapierte es als Zweite. »Du hast in der Bar jemanden abgeschleppt?«, rief sie ungläubig. »Verdammt noch mal, was hast du dir dabei gedacht? Du bist Finns Trauzeuge – du hättest dich um ihn kümmern sollen.«

»Finn ist erwachsen und bestens in der Lage, auf sich aufzupassen. Er braucht keinen Babysitter und niemanden, der ihm sagt, was er zu tun hat.« Er schaute kurz in meine Richtung. Ich hatte schon immer vermutet, dass Doug mich nicht besonders mochte, und in diesem Moment beruhte das wahrlich auf Gegenseitigkeit.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass sich eine kleine Traube Schaulustiger gebildet hatte, die neugierig verfolgten, wie sich unser Drama entspann wie eine Folge aus einer Seifenoper.

»Hat einer von euch Finn heute Morgen schon gesehen?«, fragte ich die beiden Männer, die links und rechts von Doug standen.

Den Rosen in ihren Knopflöchern nach zu schließen, handelte es sich um Trevor und Pete, Finns Freunde aus Uni-Zeiten, die er als Platzanweiser eingeteilt hatte. In meiner Panik konnte ich mich nicht mehr erinnern, wer wer war. Nicht, dass es von Bedeutung gewesen wäre, denn sie schüttelten gleichzeitig den Kopf. »Wir sind direkt vom Hotel hierhergefahren«, sagte Trevor oder Pete und machte dabei den Eindruck, als fühle er sich nicht besonders wohl in seiner Haut.

Ich richtete mich wieder an Doug. »Wann bist du heute früh bei Finn vorbeigefahren?«, fragte ich und klang dabei eher wie eine Journalistin als eine Braut.

Doug wand sich wie ein Wurm am Angelhaken. »Ich … ich war gar nicht bei ihm zu Hause. Ich hab ihm spätnachts eine Nachricht geschrieben, dass wir uns stattdessen vor der Kirche treffen, wenn das okay wäre. Er hat nicht geantwortet, also hab ich angenommen, dass er einverstanden ist. Wirklich, ich bin genauso überrascht wie du, dass er noch nicht aufgetaucht ist.«

Auf der Liste der Gefühle, die ich gerade durchlebte, war Überraschung nicht mal in den Top Ten.

»Aber wo steckt er denn?«, fragte mein Vater.

»Irgendetwas stimmt da nicht. Ihm muss was passiert sein.« Meine Stimme klang, als würde sie aus einem tiefen Brunnenschacht heraufschallen.

Wir zuckten alle miteinander zusammen, als sich das Kirchenportal öffnete und ein besorgt dreinblickender Pfarrer auf uns zueilte, dessen Soutane hinter ihm herwehte, was mich an die Flügel eines aufgescheuchten Raben erinnerte.

»Gibt es Probleme?«, fragte er, und sein Blick glitt an mir vorbei zu meinem Vater.

»Wie es aussieht, ist uns vorübergehend der Bräutigamabhandengekommen«, antwortete Dad. Ich war ihm unheimlich dankbar dafür, dass er es so klingen ließ, als sei das alles nur ein kleiner Ausrutscher, über den wir bald gemeinsam bei Champagner und Kanapees lachen würden.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, wiederholte ich jedoch wie eine Schallplatte mit Sprung.

»Oh, das ist ja misslich«, sagte der Pfarrer, womit er gute Chancen auf die Untertreibung des Jahrhunderts hatte.

»Wir versuchen schon die ganze Zeit, ihn zu erreichen«, mischte sich Hannah ein und deutete mit einer Kopfbewegung zu den beiden Platzanweisern, die eilfertig ihre Handys wieder hervorholten. »Aber bis jetzt hatten wir keinen Erfolg.«

Ich schaute weg, als ich den mitleidigen Blick des Pastors auf mir spürte, und registrierte dabei, dass die Schaulustigen, deren Zahl inzwischen merklich zugenommen hatte, mich anstarrten.

Von einem von ihnen hörte ich es zum ersten Mal. Die Frage des Unbekannten dort auf dem Gehweg fühlte sich an wie ein vergifteter Pfeil, der mitten ins Herz traf.

»Die Arme. Glaubst du, sie wurde sitzen gelassen?«

Ich drehte mich wieder zum Hochzeits-Organisationsteam um und wusste, dass sie es genauso deutlich gehört haben mussten wie ich.

»Vielleicht möchten Sie lieber drinnen warten? Da sind Sie etwas mehr für sich«, schlug der Pastor freundlich vor.

Ich schüttelte den Kopf, und mein Schleier flatterte im Wind wie ein weißer Umhang. »Nein, danke. Ich warte hier, bis Finn kommt.«

Es sollte noch eine Dreiviertelstunde dauern, bis ich die erschütternde Wahrheit akzeptierte, dass Finn nicht auftauchen würde.

 

Die Bücher und Webseiten, die Dad gelesen hatte, um sich auf seine Rolle als Brautvater vorzubereiten, hatten sich über einen solchen Fall ausgeschwiegen. Dad konnte eine humorvolle Rede halten und einen Trinkspruch ausbringen, aber das Problem, dass vom Bräutigam jede Spur fehlte, war in seinen Informationsquellen eindeutig nicht behandelt worden.

Als Doug anbot, unseren Gästen Bescheid zu sagen, dass es eine kleine »Verzögerung« geben würde, hatte Dad meinen Blick gesucht. Ich nickte traurig und hoffte inständig, der Trauzeuge würde diese Nachricht ohne die mit den Fingern angedeuteten Anführungszeichen übermitteln, die er verwendet hatte, als er uns den Vorschlag unterbreitete.

»Komm, wir setzen uns ins Auto, da kannst du mal versuchen, Finn zu erreichen«, drängte mich Hannah und drückte mir mein Handy in die Hand. Sicher war ihr Vorschlag eher dazu gedacht, mich den Blicken der Schaulustigen zu entziehen, und die Leute taten mir beinahe leid, als Hannah sich beim Einsteigen in den Bentley noch einmal zu ihnen umwandte und sie wütend anfunkelte. Ein paar gingen daraufhin schnell ihrer Wege, sodass nur eine kleine Gruppe hartgesottener Gaffer zurückblieb.

»Ich weiß, was du denkst – was wahrscheinlich alle denken«, sagte ich, als sich die Wagentür mit einem lauten Rums hinter uns schloss. »Aber ihr irrt euch. Finn würde mir das niemals antun. Das passt einfach nicht zu ihm.«

Hannah war eine zu gute Freundin, um jetzt zu erwähnen, dass die Fakten derzeit eine andere Sprache sprachen. »Es ist wirklich … sehr seltsam«, räumte sie nur ein.

Den Blick halb auf das Telefon gerichtet, halb auf die Straße, um nach Finns auffälligem rot-weißem Retro-Gran-Torino Ausschau zu halten, wählte ich seine Nummer. Als ich seine Stimme hörte, hielt ich den Atem an, und ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass es bloß die Ansage seiner Mailbox war. Die erste Nachricht, die ich nach dem Piepton hinterließ, war so wirr, dass sie keinen Sinn ergab. Nummer zwei und drei waren auch nicht viel besser, aber sobald er die vierte abgehört hatte, würde er sicherlich begreifen, was ich ihm zu sagen versuchte. Dann wartete ich auf seinen Rückruf, das Telefon auf dem Schoß wie eine entsicherte Handgranate.

Die Stille zog sich in die Länge wie ein Gummiband, das einem höllisch wehtun würde, wenn es riss. Hannah wagte es schließlich, das Schweigen zu brechen.

»Vielleicht steckt er in einem Funkloch«, überlegte sie laut.

»Oder er hatte einen Unfall«, entgegnete ich.

Wir dachten über den Vorschlag der jeweils anderen nach. Schwer zu sagen, was schlimmer gewesen wäre.

»William muss jede Minute zurück sein«, bemerkte sie und schaute auf ihrem Handy nach der Uhr.

Ich lächelte matt. Hannahs Mann war losgefahren, um auf den verschiedenen Routen zwischen Finns Wohnung und der Kirche nach ihm zu suchen. Es war nicht so, dass ich Finns Freunden unterstellte, sie würden nicht richtig nach ihm suchen, wollte ich mir einreden – bis mir klar wurde, dass das sehr wohl der Grund gewesen war, wieso ich William losgeschickt hatte.

Hannah schaute besorgt zur Kirche. »Ich hoffe, deine Tante Helen bereut nicht, dass sie sich darauf eingelassen hat, auf Milly aufzupassen, während er weg ist. Die Kleine kann ziemlich anstrengend sein.«

Es war zwar schwer vorstellbar, dass mich in dieser Situation irgendetwas hätte zum Lachen bringen können, doch der Gedanke an meine bezaubernde Patentochter hätte es beinahe geschafft.

»Schau ruhig mal nach, ob sie klarkommt. Ich kann hier warten, bis Finn auftaucht.«

Hannahs Lächeln gefror, doch sie nickte, drückte kurz meine Hand und stieg aus dem Wagen. Nur wenige Sekunden später nahm mein Vater ihren Platz ein.

»Wie geht es dir, Kleines?«

Der alte Kosename brachte mich spürbar aus dem Gleichgewicht. »Mir geht’s erst wieder gut, wenn ich weiß, wo er steckt.«

Dad nickte, doch er hatte einen angespannten Zug um den Mund, den ich noch nie bei ihm wahrgenommen hatte, wenn es um Finn ging. Du etwa auch, Dad? Du hast uns doch zusammen erlebt. Du musst doch wissen, dass er mich nie so hängen lassen würde.

Dad betrachtete mit gesenktem Kopf seine Hände. Es fiel ihm offenbar leichter, zu einem Niednagel an seinem Daumen zu sprechen, als mir dabei in die Augen zu sehen. »Der Pastor ist vor einer Weile rausgekommen und hat gesagt, es täte ihm sehr leid, aber nachher würde noch eine weitere Hochzeit stattfinden, und wenn die Lage nicht bald geklärt wäre, würde nicht mehr genug Zeit bleiben, um die nächste Trauung vorzubereiten.«

Verzweifelt schaute ich zur Kirche. Hinter einem Schleier aus Tränen, die frei fließen zu lassen ich mich weigerte, sah ich Finn und mich, wo wir hätten stehen sollen: neben dem Kirchhoftor, mit strahlenden Gesichtern, während die Fotografin uns knipste; und dann unter den ausladenden Ästen der alten Eiche, wie wir uns an den Händen hielten und einander in die Augen blickten. Ich wusste, was wir in jeder einzelnen Minute dieses ganz besonderen Tages hätten tun sollen. Jeder Schritt war genau festgelegt, aber nun hatte ich die Orientierung verloren und keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.

»Sollen wir die Gäste nach Hause schicken?«, schlug Dad behutsam vor. Er war der Einzige, der diese Frage stellen konnte, ohne dass ich auf ihn losging.

»Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf so heftig, dass mein Schleier sich löste und seitlich herunterrutschte. Ich atmete tief durch. »Nein. Sag ihnen, sie sollen zur Feier gehen.«

»Wirklich, Pumpkin?« Du meine Güte, heute kam er mit den ganzen alten Kosenamen an. Diesen hatte ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gehört.

»Es ist schließlich alles bezahlt«, sagte ich und versuchte, pragmatisch zu klingen, was ziemlich schwer ist, wenn einem die Stimme zu brechen droht. »Sobald Finn aufgetaucht ist, kommen wir nach.«

Dad nickte zögerlich, aber zumindest sagte er nicht, ich sei verrückt.

Ich hob hoffnungsvoll den Kopf, als neben uns ein Wagen auf den kleinen Parkplatz gefahren kam. Doch es war nicht das auffällige, rot-weiße amerikanische Coupé, auf das ich so verzweifelt wartete, sondern ein glänzender weißer Rolls-Royce, aus dem zwei Fremde mit Zylinder und Frack stiegen. Sie scherzten und knufften einander freundschaftlich, den Blick auf St Anthony’s gerichtet. Der Größere der beiden sagte etwas zu seinem Begleiter, woraufhin dieser folgsam eine Ringschachtel aus seiner Tasche zog. Der Bräutigam war da – bloß leider nicht meiner. Schon bald würden Gäste, die ich nicht kannte, voller Vorfreude auf eine Trauung aus zahlreichen Autos steigen.

Es war Zeit, dass wir das Feld räumten.

Kapitel 4

Dad ging in die Kirche, um dort eine völlig andere Rede zu halten als die, die er einen Monat lang ausgearbeitet und so oft geübt hatte, dass inzwischen selbst sein Kater sie hätte rezitieren können.

Ich wandte mich an William, der ein paar Minuten zuvor zurückgekommen war. Er stand neben Hannah, und man konnte die Vertrautheit zwischen den beiden deutlich wahrnehmen, was bei mir den Schutzwall einzureißen drohte, den ich gerade rings um mein Herz zu errichten versuchte.

Die beiden gehörten nicht zu den Paaren, die zu Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit neigten, doch jetzt sah ich, wie Hannah hinter den Falten ihres magentafarbenen Kleides nach der Hand ihres Mannes griff, die bereits auf sie wartete. Meine Sehnsucht nach Finn wurde überwältigend und war beinahe körperlich spürbar.

»Und du hast definitiv bei ihm geklingelt?«, fragte ich nochmals.

William hatte in Cambridge Naturwissenschaften studiert, und seine akademischen Titel waren abgekürzt immer noch länger als mein gesamter Name. Doch er nahm es nicht persönlich, dass ich seine Kompetenz anzweifelte. »Ich hab so lange die Klingel gedrückt, bis eine alte Schabracke das Fenster aufgerissen und mich beschimpft hat, von wegen, das sei Ruhestörung.«

Ich nickte grimmig, denn ich wusste genau, wen er meinte. Mrs Barnard, Finns Nachbarin, war eine mürrische alte Frau, der nichts über einen ordentlichen Streit ging.

»Auf seinem Stellplatz hast du auch nachgeschaut?«

»Hab ich gemacht. Fehlanzeige«, sagte William. »Und sein Wagen ist ja kaum zu übersehen.« Er blickte mich schuldbewusst an. »Leider wissen wir jetzt bloß, wo Finn nicht ist.«

»Waren seine Vorhänge offen oder zugezogen?«, fragte ich, da mein Reporterinneninstinkt sich wieder regte.

»Ähm … Ich weiß nicht genau. Ich glaube, offen.«

Ich schloss die Augen und sah in Gedanken das Haus vor mir, in dem sich Finns Mietwohnung befand. Es war ein kleiner, unauffälliger, quaderförmiger Bau mit zweckmäßigen Apartments. Finns Wohnung befand sich im zweiten Stock, sein Schlafzimmer lag nach hinten raus, mit Blick auf ein verwildertes Areal, das der Vermieter großspurig als Gemeinschaftsgarten bezeichnete. Wenn William nicht auf die fast zwei Meter hohe Mauer hinter den Mülltonnen geklettert war, konnte er nicht wissen, ob Finns Schlafzimmervorhänge offen oder vors Fenster gezogen gewesen waren.

In den Gesichtern der Platzanweiser und dem von Doug, die inzwischen wieder zu uns gestoßen waren, lag eine Mischung aus Mitgefühl und Frust. Mir war klar, dass ich mich eher mit der Frage beschäftigen sollte, wieso mein Verlobter nicht vor der Kirche aufgekreuzt war, doch in dem Moment konnte ich mich nur auf die Details konzentrieren, denn ich war überzeugt, dort des Rätsels Lösung zu finden.

»Leihst du mir deinen Wagen?«, fragte ich William und streckte die Hand nach den Autoschlüsseln aus.

»Äh … klar«, antwortete er zögernd und holte sie aus seiner Tasche.

Ich griff danach, aber Hannah war schneller.

»Auf gar keinen Fall!«, sagte sie energisch und hielt den Zündschlüssel so fest umklammert, als würde ich sie gleich niederringen wollen, um ihn in die Finger zu kriegen. Ein weiteres gefundenes Fressen für die Zuschauer, dachte ich und verkniff mir ein Lachen, das wahrscheinlich ziemlich hysterisch geklungen hätte.

»Du bist nicht in der Verfassung, um irgendwohin zu fahren. Und außerdem kannst du unter diesem Tüllberg deine Füße nicht mal sehen.«

Ich schaute an mir hinunter auf den voluminösen Rockteil meines Brautkleides und musste zugeben, dass ihr Einwand durchaus berechtigt war.

Frustriert biss ich mir auf die Unterlippe und blickte zu dem livrierten Chauffeur des Bentleys. Durfte er mich überall hinfahren, wohin ich wollte?, fragte ich mich. Aber diese Frage musste ich gar nicht stellen.

»Ich fahre«, sagte Hannah und drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. »Kannst du bitte Gemmas Tante Helen von ihren Kindermädchen-Pflichten erlösen?«, bat sie ihn und fügte stirnrunzelnd hinzu: »Und sag Milly, ich bin so bald wie möglich zurück.«

 

»Das war doch nicht nötig«, sagte ich, als ich es endlich geschafft hatte, den Sicherheitsgurt vom Beifahrersitz über den Unmengen von Stoff zu schließen, die ich zwischen meinen Beinen zusammengerafft hatte. Aber Hannah hatte völlig recht – ich hätte es nie geschafft, mit so viel Tüll im Fußraum die Pedale zu bedienen.

»Das sehe ich anders!«, antwortete sie und wartete, bis sie sich in den regen Nachmittagsverkehr eingefädelt hatte, ehe sie mich ansah. »Steht in einer Klausel des Brautjungfernvertrags«, witzelte sie, wohl in der Hoffnung, mich zum Lachen zu bringen. Aber es gelang ihr nicht. »Oder im Beste-Freundinnen-Vertrag«, korrigierte sie sich leise. Das entlockte mir immerhin den Anflug eines Lächelns.

»Erklärst du mir noch mal, was genau wir gerade eigentlich machen?«

Wir waren schon seit fünf Minuten schweigend unterwegs, bevor Hannah die Frage aussprach, die sich wahrscheinlich auch unsere Gäste stellten, während sie in dem Hotel, wo gerade mein Hochzeitsempfang stattfand, in Abwesenheit sowohl der Braut als auch des Bräutigams an ihrem Begrüßungschampagner nippten.

»Wir suchen Finn.«

Wir mussten an einer Ampel halten, sodass Hannah sich auf ihrem Sitz umdrehen und mir ihre volle Aufmerksamkeit schenken konnte. »Glaubst du, er versteckt sich in seiner Wohnung?«

Ihr Blick gefiel mir nicht, und ich schaute stattdessen zur Ampel, in der Hoffnung, sie würde auf Gelb umspringen, doch sie blieb stur auf Rot stehen.

»Nein. Natürlich nicht. Aber was ist, wenn er in der Dusche ausgerutscht ist und bewusstlos in einer Blutlache liegt? Oder vielleicht ist er krank, zu schwach, um an sein Telefon zu kommen und Hilfe zu rufen.«

Hannah atmete tief durch, schürzte die Lippen und entgegnete dann: »Und Finns Wagen? Warum ist der auch verschwunden?«

Es war eine alte Gewohnheit von uns, Advocatus Diaboli zu spielen, wenn eine von uns mit einer eigenwilligen Theorie daherkam. Früher hatte mir dieses Spiel immer Spaß gemacht, aber heute gingen mir Hannahs scharfsinnige Fragen gegen den Strich. Wahrscheinlich, weil ich sie mir selbst hätte stellen sollen.

»Bei Finn um die Ecke ist ein Parkplatz. Da stellt er manchmal sein Auto ab, wenn er Besuch erwartet.«

Die Ampel war während unseres Wortwechsels umgesprungen, und ein ungeduldiges Hupen unterbrach unser Frage-und-Antwort-Spiel, bevor Hannah einwenden konnte, aus welchem Grund Finn so etwas Abwegiges wohl hätte tun sollen. Sie vergaß kurz, dass sie eine verantwortungsvolle Ehefrau und Mutter war, und gab dem anderen Fahrer ein höchst unappetitliches Handzeichen. Sein entgeisterter Blick, als er beim Überholen sah, dass in dem Wagen eine Braut und ihre Brautjungfer saßen, hätte mich fast zum Lachen gebracht.

Als wir uns Finns Wohnung näherten, verspürte ich nicht dieselbe Vorfreude wie sonst, wenn ich wusste, dass ich ihn in wenigen Minuten sehen würde. Anstatt vor Erwartung zu sprühen, merkte ich, wie ein scheußlich kaltes Gefühl der Furcht sich in meiner Magengrube einnistete.

Mit gedämpfter Stimme lotste ich Hannah zu dem kleinen Parkplatz, den ich erwähnt hatte. Wir drehten dort langsam eine Runde, aber man erkannte auf den ersten Blick, dass sich Finns Wagen nicht unter dem halben Dutzend Autos befand, die dort abgestellt waren. Hannah schwieg.

Sie brauchte auch nichts zu sagen, und doch reagierte ich, als hätte sie es getan. »Das beweist gar nichts. Vielleicht wurde sein Auto in der Nacht geklaut. So was kommt vor«, stellte ich trotzig fest.

»Ja«, stimmte mir Hannah zu, während wir wieder von dem Gelände fuhren. »Aber man kann sich schon fragen, was für ein Pech Finn haben müsste, dass sein Wagen ausgerechnet an dem Tag gestohlen wird, als er im Badezimmer das Bewusstsein verliert.«

Sie versuchte, mich darauf vorzubereiten, auch weitere – plausiblere – Erklärungen zuzulassen. Doch es war noch zu früh.

Ich ließ meinen Blick noch einmal über den Parkplatz schweifen und spürte, wie die Erinnerungen hochkamen und mich wieder an den Tag zurückversetzten, als Finn und ich uns kennengelernt hatten.

Kapitel 5

Das Bewerbungsgespräch

Sieben Jahre zuvor

Ich brauchte zehn Minuten, um die nächste Parklücke zu finden. Als ich danach über den Platz zur Rezeption der Glow sprintete, schmolz mein Make-up endgültig dahin wie die Polkappen. Meine Haare klebten mir unangenehm im Nacken, und ich machte mir ernsthafte Sorgen, dass mein Deo den Anforderungen, denen ich es ungeplant ausgesetzt hatte, nicht gewachsen war.

Die klimatisierte Raumluft am Empfang war Balsam für meine überhitzte Haut, doch ich hatte nicht die Zeit, mich dort lange aufzuhalten und die Kühle zu genießen.

»Guten Tag«, keuchte ich und wartete gar nicht ab, bisdie Empfangsdame von ihrem Computerbildschirm hochschaute. »Mein Name ist Gemma Fletcher, ich habe ein Bewerbungsgespräch bei der Glow.« Ich hielt einen Moment inne und versuchte, zu Atem zu kommen. »Ich bin leider etwas spät dran.«

Die Empfangsdame schenkte mir ein professionelles Lächeln, und ich spürte förmlich, wie mein Selbstbewusstsein auf die Größe einer Rosine zusammenschnurrte. Sie war jene Sorte von makellos gestylter Frau, die man eigentlich nur auf einem Zeitschriftencover erwartet, nicht im echten Leben. Selbst an einem meiner besten Tage hätte ich mich neben ihr ungepflegt und derangiert gefühlt, und heute war definitiv nicht mein bester Tag.

»Die Büros der Glow befinden sich in der achten Etage. Sie werden am Aufzug abgeholt«, trällerte sie und schob mir über die Marmorplatte des Tresens einen Besucherpass zu.

Der Fahrstuhl war innen mit Spiegeln verkleidet, was ideal war, um während der Fahrt noch mal das eigene Erscheinungsbild zu überprüfen. Doch das Gebäude hätte höher als das Empire State Building sein müssen, um mir genug Zeit zu verschaffen, das auszubügeln, was die schwülwarme Luft mit meinen Haaren angerichtet hatte, oder um die Röte auf meinen Wangen in den Griff zu bekommen, die viel zu intensiv war, um noch als schmeichelhaft durchzugehen.

Aufgelöste Versionen meiner selbst blickten mir entgegen, wohin ich auch schaute. Wer brauchte eigentlich so viele Spiegel? Das Ambiente war weit davon entfernt, was ich vom Cronicle gewohnt war, wo es nur einen einzigen uralten, rahmenlosen, wasserfleckigen Spiegel im Damenklo gab. Bei der Glow zu arbeiten, würde mich entweder unglaublich eitel machen oder mir einen gigantischen Minderwertigkeitskomplex bescheren. Dass ich schon vor dem Bewerbungsgespräch versuchte, die guten Seiten daran zu finden, dass ich den Job womöglich nicht bekam, war ziemlich beunruhigend.

Eine junge, trendy gekleidete Assistentin erwartete mich vor dem Lift, und alles an ihr war schnell: ihr Gang, ihr Sprechtempo und die Art, wie sie die Kombination des Zahlenschlosses eingab, um Zutritt zu den Büros zu erhalten. Ich musste ihr förmlich hinterherjoggen, als sie mich einen Flur mit Glaswänden entlangführte. »Leider sind wir mit dem Zeitplan fürchterlich in Verzug«, entschuldigte sie sich in auffallend distinguiertem Englisch, was darauf hindeutete, dass sie eine Privatschule in Südengland besucht hatte. »Tut mir leid, dass Sie noch warten müssen.«

»Kein Problem«, antwortete ich und schaffte es gerade eben, mir einen großen Seufzer der Erleichterung zu verkneifen. »Ich hatte schon Sorge, dass ich selbst zu spät dran bin. Es war unheimlich viel Verkehr, und dann tauchte draußen auf dem Parkplatz auch noch so ein Idiot auf, der –« Ich unterbrach mich, denn selbst ich merkte, dass ich mich um Kopf und Kragen redete. Das passierte mir immer, wenn ich aufgeregt war, aber ich war fest entschlossen, es mir nicht dadurch zu vermasseln. »Ich warte gern so lange, wie es eben dauert«, ergänzte ich in der Hoffnung, dass mir das ein paar Pluspunkte einbrachte.

Das Lächeln der Frau währte kaum länger als das Blitzlicht einer Fotokamera. »Die Bewerber warten im Konferenzraum«, erklärte sie mir, als wir vor einer Flügeltür stehen blieben. »Sie werden zu Ihren verschiedenen Gesprächen abgeholt.« Das klang alles sehr nach der vorletzten Episode von The Apprentice, aber hoffentlich ohne den Teil, wo sie deinen Lebenslauf vor deinen Augen zerreißen und jemand mit dem Finger auf dich zeigt und sagt: »Sie sind gefeuert.«

»Hier stehen Tee und Kaffee bereit, bitte bedienen Sie sich. Und die Toiletten sind den Flur entlang.«

Ich lächelte dankbar und wusste bereits, was ich als Erstes tun würde.

Das gesamte Gebäude war derart stark klimatisiert, dass man es beinahe als kalt bezeichnen konnte, doch in der Toilette lag die Temperatur noch ein paar Grad niedriger. Es war dort auch unglaublich dunkel. Erst nach einigen Augenblicken hatte ich mich daran gewöhnt und verschwand in einer Kabine ganz hinten. Nach etwa einer Minute hörte ich, wie sich eine andere Kabinentür leise schloss.

Kurz darauf trat ich im Vorraum vor den Kabinen vor den Spiegel, und selbst bei der schlechten Beleuchtung war unverkennbar, wie schrecklich ich aussah. Ich kramte in meiner Handtasche nach einem Kamm, doch trotz aller Bemühungen konnte ich die Folgen der feuchtwarmen Luft nicht rückgängig machen. Ich blickte mein Spiegelbild finster an, da meine widerspenstigen Locken sich einfach nicht in den Griff kriegen ließen.

Was mein Deo betraf, hatten sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet, und auch wenn meine Bluse keine verräterischen nassen Flecken aufwies, musste ich mich wirklich dringend frisch machen. Unentschlossen biss ich mir auf die Unterlippe. Wenn der Spruch, dass Frauen nicht schwitzen, sondern glitzern, stimmte, dann glitzerte ich gewaltig. Aber es war definitiv nicht der Look, den ich angepeilt hatte.

Ich sah kurz auf meine Uhr und traf eine Entscheidung. Ich zog die Bluse aus und formte aus ein paar Papierhandtüchern in Windeseile einen behelfsmäßigen Schwamm. Eine Achsel hatte ich schon bearbeitet und wollte mich gerade um die andere kümmern, als mein Tag eine abrupte Wendung zum Schlimmeren nahm. Ich hörte, wie sich eine verriegelte Kabinentür öffnete, hob den Kopf – und mir rutschte förmlich das Herz in die Hose, denn heraus kam dieser unausstehliche Typ, dem ich kurz zuvor noch auf dem Parkplatz begegnet war.

Zugegeben, ich bin mir nicht sicher, wer von uns verblüffter war, doch immerhin war ich diejenige, die halb nackt dastand, sodass der Titel wohl mir gebührte.

»Was zum Teufel machen Sie hier?«, fuhr ich ihn an.

Sein Blick war nur für eine Millisekunde zu meinem Spitzen-BH gewandert, was höflich von ihm war, auch wenn ich das erst später würdigen konnte. Es war in einer Weise ritterlich, wie es wohl keiner meiner Ex-Freunde geschafft hätte. Hastig unterbrach ich meine Waschaktion und verschränkte die Arme vor meiner ziemlich entblößten Brust. »Also, was machen Sie hier?«

Er schaute sich nach hinten um, von wo man immer noch das Gurgeln des Spülkastens hörte, der sich wieder mit Wasser füllte. »Eine ziemlich persönliche Frage, finden Sie nicht?«

Ich sah ihn fassungslos an, nach wie vor zu überrascht, um klar denken zu können. »Auf dem Damenklo?«, sagte ich spitz, und meine Stimme war so laut, dass sie an den gefliesten Wänden wie eine Billardkugel abzuprallen schien. »Sie haben sich in der Tür geirrt.«

»Nein, die Toiletten sind hier tatsächlich unisex«, entgegnete er, schritt zu dem Waschbecken neben meinem und begann, sich in aller Seelenruhe die Hände zu waschen.

»Aber … aber wieso steht das nirgendwo? Das müsste doch irgendwo stehen«, stammelte ich.

»Tut es ja auch. An der Tür ist ein Schild.«

Selbst im schlechten Licht konnte ich genau sehen, wie seine Augen vor diebischem Vergnügen funkelten. Vermutlich hatte er recht. Ich war so in Eile gewesen, dass ich nicht auf das Türschild geachtet hatte.

»Was ich viel interessanter finde«, fuhr er fort, »wieso stehen Sie hier halb nackt rum und werfen mir schon wieder vor, mich irgendwo unberechtigt aufzuhalten? Ist das eine spezielle Vorliebe von Ihnen?«

Mir fehlten die Worte. Ich war sicher, dass mir Stunden später, wenn ich im Bett liegen würde, mindestens ein Dutzend markige Retourkutschen einfallen würden, aber im Moment war ich innerlich genauso derangiert wie äußerlich.

»Sind Sie fertig?«, fragte ich und deutete mit dem Kopf auf seine Hände, die er mit der gleichen Sorgfalt wusch wie ein Chirurg seine vor einem operativen Eingriff. »Wenn ja, wäre ich Ihnen nämlich sehr verbunden, wenn Sie verschwinden würden, damit ich mich wieder anziehen kann. Ich muss zu einem Bewerbungsgespräch.«

Über sein Gesicht huschte ein Ausdruck, der mir plötzlich weit mehr Sorgen bereitete als alles Bisherige an diesem Vormittag. »Bewerben Sie sich auf die Stelle als Feature-Autorin?«, fragte er.

Ich spürte, wie mir die Farbe aus den Wangen wich, als plötzlich alles Sinn ergab. Er musste zur Personalabteilung gehören, und bis jetzt hatte ich ihn nur angeschnauzt. Eigentlich konnte ich meinen Besucherpass direkt wieder abgeben und nach Hause fahren.

Fünf Minuten später schlich ich, noch immer völlig durcheinander von der Begegnung, in den Konferenzraum. Dort saßen an einem riesigen, ovalen Tisch zwei Bewerberinnen einander gegenüber. Bei meinem Eintreten schauten sie von ihren Handys hoch, und wir grüßten uns höflich, aber beide klangen überraschend kühl. War es naiv von mir, etwas anderes zu erwarten? Schließlich bewarben wir uns alle um dieselbe Stelle.

Es fiel mir relativ leicht, Menschen zu durchschauen – ihre Körpersprache und Mimik verrieten ihre Geheimnisse. Diese Fähigkeit war praktisch, wenn man Reporterin war, selbst wenn man nur für ein kleines Lokalblatt arbeitete. Gerade sagte mir mein Instinkt, dass meine Mitbewerberinnen in Sekundenschnelle zu dem Schluss gelangt sein mussten, dass ich keine Bedrohung für sie darstellte. Und wahrscheinlich hatten sie damit auch recht. Mit ihrer Kleidung, ihrem makellosen Make-up und ihrer ruhigen, selbstsicheren Ausstrahlung passten sie viel besser zu der Stelle als ich, und, was noch wichtiger war, sie waren im Vorfeld des Bewerbungsgesprächs nicht gegenüber ihrem potenziellen Arbeitgeber ausfallend geworden.

Die Atmosphäre erinnerte mich an eine öffentliche Bibliothek, wo selbst ein dezentes Hüsteln wie ein Donnerschlag klang. Wir warteten darauf, dass man uns zum ersten Gespräch hereinbat. Meine beiden Mitbewerberinnen waren vor mir dran, und sobald ich allein im Raum war, stand ich auf und begann, hin und her zu tigern, in der Hoffnung, dadurch meine Nervosität abzubauen.