See You Yesterday - Rachel Lynn Solomon - E-Book

See You Yesterday E-Book

Rachel Lynn Solomon

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Beschreibung

Eine zeitlos unterhaltsame RomCom über Traumata der Vergangenheit, Neuanfänge und die erste große Liebe! Barrett Bloom kann den ersten Collegetag kaum erwarten: Nach einem traumatischen letzten Highschool-Jahr braucht sie diesen Neuanfang mehr denn je. Als am 21. September jedoch das erste Semester beginnt, läuft alles schief: In der Vorlesung wird sie von einem arroganten Physiknerd bloßgestellt, verpfuscht am Nachmittag ihr langersehntes Vorstellungsgespräch für die College-Zeitung und an jenem Abend ist sie (total unschuldig natürlich!) für einen Brand verantwortlich. Als Barrett dann auch noch merkt, dass ihre neue Mitbewohnerin alias Highschool-Dämon Lucie sie aus ihrem Wohnheim ausgesperrt hat, schläft sie im Gemeinschaftsraum ein. Am nächsten Morgen ist Barrett ratlos: Sie liegt in ihrem Bett, riecht nicht mehr nach Asche und auch die Hassnachrichten auf ihrem Handy sind gänzlich verschwunden. Es ist der 21. September. SCHON WIEDER. Nach einem Zusammenstoß mit Miles, dem unnahbaren Typen aus der Physikvorlesung, erfährt sie, dass sie nicht allein ist - er ist seit Monaten gefangen. Nachdem sich auch durch das Wälzen von Physikbüchern keine Veränderung zeigt, beschließen die beiden, die geschenkte Zeit und all die zur Verfügung stehenden Ressourcen zu nutzen und den 21. September zum besten "Tag" ihres Lebens zu machen. Was Barrett nicht ahnt: Miles hat ein Geheimnis, das ihre Gefühle komplett auf den Kopf stellen wird.     

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Seitenzahl: 548

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Rachel Lynn Solomon

See You Yesterday

Roman

Aus dem Englischen von Jennifer Michalski

Triggerwarnung

See You Yesterday enthält Elemente, die triggern oder belastend sein können. (Achtung, Spoiler!)

Diese sind:

Bodyshaming, Mobbing, Cybermobbing, Drogenkonsum, sexuelle Traumatisierung.

 

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel See You Yesterday bei Simon & Schuster Children’s Publishing.

 

Deutsche Erstausgabe

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

SEE YOU YESTERDAY © 2022 by Rachel Lynn Solomon

Übersetzung: Jennifer Michalski

Covergestaltung: Niklas Schütte unter der Verwendung des Coverdesigns von Laura Eckes

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-177-1

 

www.arctis-verlag.com

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Für Rachel Griffin und Tara Tsai

 

Ich würde mich jederzeit mit euch auf einen Kaffee im Buchladen treffen –

immer und immer wieder.

 

 

 

Mittwoch, 21. September

 

 

 

Kapitel eins

Tag 1

»Das ist doch wohl ein Scherz!«

Ich ziehe mir die XXL-Decke über die Ohren und vergrabe das Gesicht im Kissen. Es ist zu früh für Stimmen. Und definitiv zu früh für einen so vorwurfsvollen Ton. Der Nebel in meinen Gedanken lichtet sich und lässt langsam die Realität zu mir durchdringen: Hier ist jemand im Zimmer.

Dabei bin ich gestern Abend allein eingeschlafen – während ich meine gesamten Lebensentscheidungen noch mal überdacht habe, und nachdem ich klammheimlich ein paar Teller Pasta aus der Mensa des Studierendenwohnheims nach oben geschmuggelt hatte, um bei der All-you-can-eat-Pastabar voll auf meine Kosten zu kommen. Wie viele Vorträge musste ich mir zum Thema »Sicherheit auf dem Campus« anhören. Mom hat mir sogar eine kleine rote Dose Pfefferspray mitgegeben. Und jetzt steht tatsächlich eine fremde Person in meinem Zimmer. Vor sieben Uhr am Morgen! Am ersten Vorlesungstag!

»Nein, das ist kein Scherz«, erwidert eine zweite Stimme etwas leiser als die andere. Wahrscheinlich aus Rücksicht auf mich – das Knäuel unter der Decke. »Wir haben dieses Jahr nicht genug Kapazitäten, daher mussten wir spontan ein bisschen umdisponieren. Die meisten Erstis sind zu dritt.«

»Und niemand hat es für nötig gehalten, mich zu informieren?«

Die erste Stimme ist hochnäsig, arrogant … und kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber nein, sie kann unmöglich ihr gehören. Diese Stimme habe ich zusammen mit der Highschool hinter mir gelassen. Genau wie die Lehrkräfte, die kollektiv aufgeatmet haben, als der Direktor mir mein Zeugnis aushändigte. Gott sei Dank sind wir die los, hat der Schulzeitungsbetreuer in einer feierlichen Happy Hour bestimmt zu meiner Mathelehrerin gesagt und mit Champagner darauf angestoßen. Jetzt bin ich endgültig reif für die Rente.

»Lass uns das draußen im Flur klären«, schlägt die zweite Person vor. Die Tür knallt mit solcher Wucht zu, dass irgendetwas prompt auf dem Teppich landet.

Ich drehe mich um und blinzle. Das Whiteboard, das ich Sonntag aufgehängt habe, liegt auf dem Boden – gemeinsam mit meinen Träumen, darüber Nachrichten und Kritzeleien mit meiner zukünftigen Mitbewohnerin auszutauschen. Eine Designer-Reisetasche reserviert das andere Bett. Ich muss gegen einen Schauer aus Panik und Kälte ankämpfen, denn der Baum vor dem Fenster schirmt den Raum erfolgreich vor Hitze und Tageslicht ab.

Olmsted Hall ist ausschließlich für Erstis und die Campusältesten und soll nächsten Sommer abgerissen werden. »Du hast so ein Glück«, meinte Paige, Betreuerin für die achte Etage, als sie mir mein Zimmer im Wohnheim zugewiesen hat. »Du gehörst zu den Letzten, die hier wohnen.« Dieses »Glück« trieft nur so – manchmal im wahrsten Sinne des Wortes – aus den grau-beigen Wänden, den klapprigen Bücherregalen und den gruseligen Gemeinschaftsduschen mit den flackernden Glühbirnen und undefinierbaren Pfützen. So viel zum unwiderstehlichen Charme dieses Betonbunkers.

Nachdem ich das Zimmer als Erste bezogen hatte, sind zwei, drei, vier Tage vergangen, ohne ein Zeichen der mir zugeteilten Mitbewohnerin Christina Dearborn aus Lincoln in Nebraska. Ich habe schon befürchtet, dass ihnen ein Fehler unterlaufen ist und sie mir doch ein Einzelzimmer gegeben haben. Meine Mom ist heute noch mit ihrer damaligen College-Mitbewohnerin befreundet, und genau das wünsche ich mir später auch. In einem Einzelzimmer versauern zu müssen, wäre nur ein weiterer blöder Zufall in meiner seit Jahren andauernden Pechsträhne. Wobei ich mich insgeheim frage, ob es so nicht besser ist. Vielleicht war es auch das, was die Wohnheimbetreuerin mit Glück meinte.

Die Tür wird wieder geöffnet, und Paige betritt das Zimmer – zusammen mit dem Mädchen, das mir auf der Highschool das Leben zur Hölle gemacht hat.

Es gibt mehrere Tausend Erstis, und ich schlafe ausgerechnet in einem Raum mit meiner Erzfeindin. Die Uni ist so riesig, da dachte ich, wir würden uns erst gar nicht über den Weg laufen. Das ist kein blöder Zufall, eher ein schlechter Scherz des Schicksals.

»Hallo, Mitbewohnerin.« Ich setze mich mit einem gezwungenen Lächeln im Bett auf und streiche mir die dunkle Lockenmähne aus dem Gesicht. Hoffentlich ist sie nicht so struppig wie sonst morgens.

Lucie Lamont, ehemalige Chefredakteurin des Navigators an der Island Highschool, wirft mir einen abschätzigen Blick aus ihren blauen Augen zu. Sie ist zierlich, eingebildet und absolut Furcht einflößend – ich habe keinerlei Zweifel, dass sie einen Mann mit bloßen Händen umbringen könnte. »Barrett Bloom.« Sie gibt sich einen Ruck, und ihre Miene wird weicher, als wollte sie über das Gespräch hinwegtäuschen, das gerade draußen auf dem Flur stattgefunden hat. »Was für eine … Überraschung.«

Das ist einer der netteren Kommentare, die ich in letzter Zeit gehört habe.

Warum muss ich in so einer Situation eine Eulen-Schlafanzughose, kombiniert mit dem sauteuren T-Shirt der University of Washington aus dem Campus-Buchladen tragen? Ein Kettenhemd wäre angemessener. Und ein Orchester, das die Szene mit ergreifender, unheilvoller Musik untermalt.

»Oh Luce, ich hab dich auch vermisst. Wie lang haben wir uns nicht mehr gesehen? Drei Monate?«

Auf der einen Seite verstärkt sie den Griff um ihren Designer-Koffer, auf der anderen treten die Fingerknöchel um ihre Handtasche weiß hervor, und die rötlich braunen Haare lösen sich allmählich aus dem Pferdeschwanz. Mein Anblick muss sie ganz schön unter Stress setzen, die Ärmste. »Drei Monate«, wiederholt sie. »Und jetzt wohnen wir zusammen.«

»Tja, dann lasse ich euch beide mal allein, damit ihr euch miteinander vertraut machen könnt«, flötet Paige. »Oder wieder miteinander vertraut machen könnt.« Sie winkt übertrieben und flieht aus dem Zimmer. Wenn irgendwas ist, egal zu welcher Zeit, braucht ihr einfach nur an meine Tür zu klopfen, meinte sie am ersten Abend, als sie uns mit Marshmallow-Sandwiches aus der Mikrowelle zu Kennenlernspielen animiert hat. Die Uni ist ein Netz aus Lügen.

Ich deute mit dem Daumen zur Tür. »Die ist ja lustig. Ein echtes Vermittlungsgenie.« Damit will ich Lucie zum Lachen bringen, aber keine Chance.

»Ich fasse es nicht.« Sie schaut sich um und wirkt ungefähr so beeindruckt wie ich am Umzugstag. Ihr Blick bleibt an dem Stapel Zeitschriften auf dem Regal hängen. Eigentlich war es unnötig, die alle herzuschleppen, aber ich wollte meine Lieblingsartikel in der Nähe haben. Zur Inspiration. »Ich sollte in ein Einzelzimmer im Lamphere Hall«, sagt sie. »Das war so nicht geplant. Ich spreche nachher mit der Wohnheimleitung und versuche, das zu regeln.«

»Wahrscheinlich hättest du mehr Glück gehabt, wenn du am Wochenende angereist wärst, wie alle anderen.«

»Ich war auf Saint Croix. Wir konnten wegen eines Tropensturms nicht zurückfliegen.« Schon verrückt, dass Lucie Lamont, spätere Erbin eines Medienunternehmens, mit solchen Aussagen davonkommt. Stattdessen war ich die Außenseiterin beim Navigator.

Auch verrückt: dass wir zwei Jahre lang so was wie Freundinnen waren.

Sie stellt die Handtasche auf ihren Schreibtisch und verfehlt nur knapp einen meiner Pastateller. Ravioli mit Spinat, soweit man das noch erkennen kann.

»Es gibt eine All-you-can-eat-Pastabar.« Ich stehe auf, sammle die Teller ein und staple sie in meiner Zimmerhälfte. »Ich dachte, nach fünf Portionen zeigen sie mir den Vogel, aber nein. Der Name ist Programm.«

»Hier riecht’s wie bei Olive Garden.«

»Nett. Und ich wollte schon die Wir-sind-jetzt-eine-Familie-Schiene fahren.«

Ich nehme zurück, dass Lucie Lamont Männer mit bloßen Händen umbringen könnte. Ihre Blicke würden reichen.

»Normalerweise bin ich nicht so unordentlich. Ehrlich«, plappere ich weiter. »Ich war die letzten Tage allein hier. Die Freiheit des Alleinwohnens hat mich wohl ein bisschen wirr im Kopf gemacht. Eigentlich sollte ich das Zimmer mit jemandem aus Nebraska teilen, aber sie ist nie aufgetaucht, deswegen …«

Ich verstumme, und wir schweigen uns an. Wenn ich vom College geträumt habe, habe ich mir immer vorgestellt, dass meine Mitbewohnerin und ich am Ende Freundinnen fürs Leben wären, zusammen verreisen, Yogaseminare besuchen und auf unseren Hochzeiten Reden halten. Bei Lucie Lamont würde es mich wundern, wenn sie bei meiner Beerdigung auftauchen würde.

Sie sinkt auf den Plastikstuhl am Schreibtisch und wendet die Atemtechnik an, die sie auch den Leuten beim Nav beigebracht hat. Tief einatmen, lang ausatmen. »Falls das hier funktionieren soll – bis sie mich woanders unterbringen –, brauchen wir ein paar Regeln.«

Weil ich mir neben Lucie in ihrem Haute-Couture-Sportdress wie eine Vogelscheuche vorkomme, schlüpfe ich in den grauen Strick-Cardigan, der achtlos über meinem Stuhl hängt. Leider scheint er den Vogelscheuchen-Look nur zu vervollständigen, aber immerhin friere ich nicht mehr. Ich stand schon immer in Lucies Schatten. Selbst als wir gemeinsam an einem Artikel zur frauenfeindlichen Kleiderordnung für unsere Schulzeitung gearbeitet haben – zu der Zeit für uns der Inbegriff von seriösem Journalismus. VON LUCIE LAMONT, lautete damals die Verfasserzeile, womit unser Lehrer Lucie klar den Vorzug gab. Darunter war in winziger Schrift zu lesen: UND BARRETT BLOOM. Die dreizehnjährige Lucie hat sich in meinem Namen darüber aufgeregt. Aber was uns damals verbunden hat, war ab dem Ende der neunten Klasse passé.

»Na gut, dann schleppe ich eben nur jeden zweiten Abend einen Typen mit aufs Zimmer. Und damit du weißt, dass du nicht reinkommen solltest, hänge ich diese Socke an die Tür.« Ich greife in den schmalen Schrank und werfe ihr die erstbeste zu. Darauf steht: DAS LEBEN IST EIN SCHEISSZIRKUS UND ICH BIN DIE DOMPTEURIN. Die andere Socke hat gestern der Trockner auf der achten Etage verschluckt. Darüber bin ich immer noch traurig. »Und mit dem Masturbieren warte ich, bis du ganz sicher eingeschlafen bist.«

Lucie blinzelt mehrfach. Entweder deutet das auf eine fehlende Würdigung meiner SCHEISSZIRKUS-Socke hin, auf eine tief sitzende Angst vor dem M-Wort oder aber auf blankes Entsetzen bei der Vorstellung von mir mit jemandem im Bett. Als hätte sie nicht mitgekriegt, was nach dem Abschlussball passiert ist. Als hätte sie sich darüber nicht mit dem Schulzeitungsteam kaputtgelacht. »Denkst du jemals nach, bevor du was sagst?«

»Willst du eine ehrliche Antwort? Nicht oft.«

»Mit Regeln meinte ich, wie wir das Zimmer sauber halten und so. Ich hab eine Hausstauballergie. Und weder Pastateller noch Klamotten noch sonst irgendwas gehören auf den Boden.« Sie deutet mit dem Fuß unter meinen Schreibtisch. »Und der Mülleimer quillt heute zum letzten Mal über.«

Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange und schweige. Offenbar einen Moment zu lang, denn Lucie zieht die dünnen Augenbrauen hoch.

»Mann, Barrett, das ist doch wohl nicht zu viel verlangt!«

»Sorry. Ich wollte nachdenken, bevor ich was sage. Hat das zu lang gedauert? Könntest du mir nächstes Mal einen Timer stellen?«

»Davon kriegt man ja Kopfschmerzen«, erwidert sie. »Und schlimm genug, dass ich es überhaupt aussprechen muss, aber allein aus Rücksicht sollte man nicht … du weißt schon. Diese Art von Selbstliebe ausleben, solange eine andere Person anwesend ist. Ganz egal, ob sie schläft oder nicht.«

»Ich kann sehr leise dabei sein«, versuche ich es noch einmal.

Lucie sieht aus, als würde sie gleich an die Decke gehen. Das war ja einfach. »Mir war nicht klar, dass dir das so wichtig ist.«

»Wenn man sich ein Zimmer teilt, muss man sich aufeinander einstellen. Wir wollen uns doch beide wohlfühlen.«

»Das hat sich bis Ende nächster Woche hoffentlich sowieso erledigt.« Sie öffnet den Reißverschluss an ihrem Koffer, holt ihren Laptop heraus und entrollt das Kabel ihres Ladegeräts. Dann bückt sie sich und guckt sich vergeblich nach einem Anschluss um. Schuldbewusst zeige ich ihr, dass sich die einzigen Steckdosen im Raum unter meinem Schreibtisch befinden. Will sie den Laptop auf ihrer Seite benutzen, verwandelt sich das Kabel also unweigerlich in eine Stolperfalle. Stöhnend geht sie zurück zu ihrem Koffer. »Ich will mir gar nicht ausmalen, was für Vorteile du dir rausgenommen hättest, wärst du unsere Chefredakteurin geworden. Zum Glück ist uns das erspart geblieben.«

Mit diesen Worten packt sie ein mir bekanntes Holzschild aus und platziert es auf ihrem Schreibtisch. CHEFREDAKTEURIN, verkündet es. Und verhöhnt mich.

Allein die Vorstellung von mir als Chefredakteurin ist lächerlich. Schon wenn ich die Leute um ein Interview bitten musste, fühlte es sich manchmal an, als wollte ich ihnen eine Wurzelbehandlung aufschwatzen.

Macht nichts, rede ich mir ein. Ich habe heute ein Vorstellungsgespräch bei der Washingtonian für eine Ersti-Stelle. Da kümmert es niemanden, ob ich mal Artikel für den Nav geschrieben habe. Oder ob Lucie ein Schild besitzt oder nicht.

»Ich finde das alles auch nicht optimal. Aber können wir die Vergangenheit nicht hinter uns lassen?«, frage ich. Auch wenn die Vergangenheit mich scheinbar bis hierher verfolgt hat, soll sie mich am College nicht ständig begleiten. Beste Freundinnen werden Lucie und ich wohl nie, aber deswegen müssen wir ja nicht gleich Feindinnen sein. Wir könnten es mit einer friedlichen Koexistenz versuchen.

»Na klar«, antwortet Lucie, und sofort hebt sich meine Laune, leichtgläubig wie ich bin. »Lassen wir deinen Sabotageakt an der Schule einfach hinter uns. Wir können uns die Haare flechten, Partys schmeißen und uns darüber amüsieren, wie du fröhlich eine ganze Sportmannschaft zerschlagen und Blaines Chance auf ein Stipendium ruiniert hast.«

Okay. Sie übertreibt. Teilweise. Ihr Ex Blaine, damals einer der besten Tennisspieler an der Island Highschool, hat sich die Chance auf das Stipendium selbst verbaut. Ich habe es nur aufgedeckt.

Außerdem sind die Blaines dieser Welt am Ende ja doch immer diejenigen, die zuletzt lachen.

»Eine letzte Frage hätte ich noch«, sage ich und verdränge die Erinnerung, ehe sie ihre scharfen Krallen in mich schlägt. »Tut es weh beim Sitzen?«

Sie mustert erst den Stuhl, dann ihre Kleidung und zieht vor Verwirrung die Stirn kraus. »Was meinst du?«

Lucie Lamont ist ein Biest. Tja, Pech gehabt. Ich kann nämlich auch eins sein.

»Der Stock in deinem Arsch. Tut es weh …«

Ich kichere immer noch, als sie die Tür schon hinter sich zugeknallt hat.

 

***

 

Am College wollte ich neu anfangen.

Darauf freue ich mich, seit ich die E-Mail mit der Zusage erhalten habe. Sie schürte die Vorfreude auf die bevorstehende Verwandlung in einen anderen Menschen, die mir auf der Highschool nie gelungen wäre. Trotz der Lage mit Lucie bin ich fest entschlossen, die College-Zeit zu genießen. Neues Jahr, neue Barrett, schlauere Entscheidungen.

Nachdem ich schnell unter die Dusche gesprungen und dabei nur knapp einer verdächtig aussehenden Pfütze ausgewichen bin, ziehe ich meine liebste High-Waist-Jeans an und kombiniere sie mit dem Strickcardigan und einem Vintage-Britney-Spears-T-Shirt, das früher mal Mom gehört hat. Heute gleitet die Jeans problemlos über meine breiten Hüften und zwickt mir auch nicht so in den Bauch wie sonst. Offenbar ist das Schicksal der Meinung, ich hätte für heute genug ertragen. Ich bin nie zierlich gewesen und würde wahrscheinlich in Tränen ausbrechen, wenn ich mich von dieser butterweichen Jeans mit der langen Knopfleiste verabschieden müsste. Dann knete ich meine dunklen Locken, die in der Familie liegen und eher nach außen als nach unten streben, mit sulfatfreiem Schaumfestiger durch. Jahrelang habe ich sie vergeblich mit einem Glätteisen bekämpft, aber inzwischen versuche ich, das Beste aus ihnen herauszuholen. Am Ende schminke ich mich und setze mir die Brille mit den ovalen Gläsern und dem Metallgestell auf, in die ich mich damals sofort verliebt habe. Damit sehe ich nämlich aus, als würde ich aus einem anderen Jahrhundert kommen. Und etwas Schöneres kann ich mir manchmal kaum vorstellen.

Dass mich die Freiheit hier ganz wirr im Kopf macht, ist noch untertrieben. Zwischendurch packt mich immer wieder eine Mischung aus Angst und dem Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten. Die University of Washington ist von uns zu Hause bei wenig Verkehr in nur dreißig Minuten erreichbar. Und obwohl ich mir ständig ausgemalt habe, wie es am College werden würde, hätte ich nie gedacht, dass ich mich hier so verloren fühlen würde. Seit Sonntag laufe ich von einer Einführungsveranstaltung zur nächsten, meide alle, die auf der Island Highschool waren, und warte darauf, dass das College mein Leben verändert.

Was mir bereits positiv aufgefallen ist: Es scheint nicht weiter wichtig zu sein, ob man alleine in der Mensa sitzt. Obwohl die neue Barrett bestimmt bald Freundinnen und Freunde findet, mit denen sie bei einer All-you-can-eat-Pasta oder einem Olmsted-Eierlei herumscherzt – und wenn es das Letzte ist, was sie tut.

Nach dem Frühstück überquere ich den Quad, einen großen Park mitten auf dem Campus mit malerischen alten Gebäuden und erst im Frühling blühenden Kirschbäumen. Studierende balancieren auf Slacklines und fahren Skateboard. Das hier war schon immer mein Lieblingsplatz. Hier könnte man den perfekten Uni-Schnappschuss machen. Dahinter liegt der Red Square, auf dem ganz viele Foodtrucks und Clubstände aufgebaut sind. In einer Ecke tanzt sogar eine Gruppe von Leuten Swing. Mir persönlich wäre das um acht Uhr morgens ein bisschen zu früh, trotzdem nicke ich ihnen aufmunternd zu.

Dann begehe ich den fatalen Fehler und halte eine Millisekunde zu lang Blickkontakt mit einem Mädchen, das vor der Odegaard-Bibliothek allein einen Stand betreut.

»Hey!«, ruft sie. »Wir setzen uns für die Mazama-Taschenratte ein.«

Ich bleibe stehen. »Die was?«

Ihr Grinsen verrät, dass ich geradewegs in die Falle getappt bin. Sie ist groß und hat braune Haare, die mit Bändern in den UW-Farben Lila und Gold zu einem hohen Dutt gebunden sind. »Die Mazama-Taschenratte. Sie ist in den Countys Pierce und Thurston heimisch, und man findet sie nur im Bundesstaat Washington. Mehr als neunzig Prozent ihres Lebensraums sind gewerblichen Bauflächen zum Opfer gefallen.«

Sie drückt mir einen Flyer in die Hand.

»Wie niedlich«, sage ich. Das gleiche Bild lacht mich auch von ihrem T-Shirt aus an. »Die haben ja eine süße Schnauze!«

»Findest du nicht, sie sollten so viel Gras essen dürfen, wie ihr Herz begehrt?« Sie tippt auf die Seite. »Das ist Tulio. Er ist so klein, dass er in deine Handfläche passt. Heute Nachmittag um halb vier schreiben wir gemeinsam Briefe an die Lokalverwaltung. Wir würden uns freuen, wenn du dabei bist.«

Ärgerlicherweise trifft sie damit einen Nerv in meiner nach Gesellschaft lechzenden Seele. »Oh, sorry. Nicht, dass mich die, äh, Taschenratten nicht interessieren würden, aber das schaff ich leider nicht.« Um vier, direkt nach meinem letzten Seminar, habe ich das Vorstellungsgespräch bei der Chefredakteurin der Washingtonian.

Als ich ihr den Flyer zurückgeben will, schüttelt sie den Kopf. »Behalt ihn. Informier dich. Sie brauchen unsere Unterstützung.«

Also stecke ich ihn hinten in die Hosentasche und gebe ihr mein Wort.

Das Physikgebäude ist viel weiter entfernt, als es der Lageplan auf meinem Handy vermuten lässt. Ständig starre ich darauf, wie ungefähr jede dritte Person, die an mir vorbeiläuft. Was nicht so nervig wäre, würde ich mich überhaupt für Physik interessieren. Eigentlich wollte ich längst getauscht haben. Ich bin nämlich nur dort gelandet, weil die Anmeldung ein Albtraum und alles so schnell ausgebucht war, dass ich einfach die erstbeste freie Veranstaltung belegt habe. Tja. Da die neue Barrett sich an Regeln hält, bin ich jetzt hier und haste über den Campus zu Physik Grundlagen I. Montag, Mittwoch, Freitag, acht Uhr dreißig.

Als endlich das Gebäude vor mir auftaucht, klebt mir das T-Shirt am Rücken und die perfekten Knöpfe meiner perfekten Jeans kneifen mir in den Bauch. Aber so schnell lasse ich mich nicht unterkriegen. Das ist kein böses Omen. Böse Omen zeigen sich nicht in Form von Schweiß.

Mein Handy vibriert, als ich gerade die Treppen hochlaufe.

Mom

How do I love thee? Joss und ich wünschen dir heute GANZ VIEL GLÜCK!

 

Geschickt wurde die Nachricht schon vor fünfundvierzig Minuten. Bestimmt ist sie wegen der Funklöcher auf dem Campus nicht früher zugestellt worden. Auf dem angehängten Bild sind Mom und ihre Freundin Jocelyn zu sehen, in den Plüschbademänteln, die ich ihnen voriges Jahr zu Chanukka geschenkt habe. Sie prosten mir mit einer Tasse Kaffee zu.

Meiner Mom ist damals in ihrem letzten Jahr an der Uni die Fruchtblase geplatzt, mitten in einer Vorlesung für britische Lyrik. Deswegen hat sie mich nach Elizabeth Barrett Browning benannt. Ihr wohl bekanntestes Gedicht ist »How do I love thee? Let me count the ways«.

Die zwei besten Dinge in ihrem Leben hat Mom von der Uni: mich und ihren Abschluss in BWL, durch den sie einen Schreibwarenladen eröffnen und uns jahrelang über Wasser halten konnte. Sie hat mir immer erzählt, wie sehr es mir an der Uni gefallen werde. Und noch gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass mich von den vierzigtausend Personen hier wenigstens eine reizend statt nervig und interessant statt abtörnend findet.

»Ich bin so aufgeregt, Barrett«, meinte Mom beim Umzug. Am liebsten hätte ich mich an ihren Rockzipfel gehängt, damit sie mich zurück zum Auto schleift, zurück nach Mercer Island, zurück zu dem gestickten HOW-DO-I-LOVE-THEE?-Banner in meinem Zimmer. In den letzten Jahren der Highschool war ich zwar einsam, aber an diese Einsamkeit habe ich mich irgendwann gewöhnt. Es ist das Ungewisse, das mir Angst macht. Vielleicht konnte ich deshalb so tun, als wäre mir egal, dass die gesamte Schule mir nach der Story beim Navigator nicht mehr über den Weg traute. Weil ich den Grund kannte. »Du wirst schon sehen. Diese vier bis fünf Jahre – in denen du hoffentlich nicht schwanger wirst! – werden die besten deines Lebens.«

Bitte, bitte, lass sie recht haben!

Kapitel zwei

»PHYSIK GRUNDLAGEN I: SPANNUNG GARANTIERT!«, heißt es auf der PowerPoint-Folie. Darunter ist eine Ente abgebildet, die »QUARK!« sagt. Ich mag Wortspiele, aber zwei auf einer Seite? Das wirkt ziemlich verzweifelt.

Im Hörsaal wabert mir der schwere Duft von Haarpflegeprodukten und Kaffee entgegen. Die Studierenden plappern aufgeregt über ihre Stundenpläne und die Petitionen, die sie draußen auf dem Red Square unterzeichnet haben. Die Professorin hantiert währenddessen hinter dem Rednerpult mit Kabeln herum. Dies ist einer der größeren Hörsäle auf dem Campus. Fast dreihundert Leute passen hinein, doch bis jetzt ist er zu drei Vierteln leer. Oder zu einem Viertel voll. Dieses Jahr wollte ich ja nicht pessimistisch denken.

Ich war nie eine, die sich nach ganz hinten verkrümelt, auch wenn ein paar meiner ehemaligen Lehrkräfte sich das vielleicht gewünscht hätten. Also steige ich die Treppe hinauf und bleibe vor der fünften Reihe an einem noch nicht belegten Platz stehen. Direkt daneben starrt ein schlaksiger, asiatisch aussehender Junge finster auf seinen Laptop.

»Hey«, sage ich leicht außer Atem. »Hältst du den frei?«

»Nee, kannst ihn haben«, antwortet er, schaut aber nicht mal vom Bildschirm auf.

Yay, ein neuer Freund.

Ich lege den Cardigan ab und hole mein Notebook raus. Offenbar verursache ich dabei zu viele Geräusche, denn der Typ neben mir seufzt leise.

»Kennst du das WLAN-Passwort?«, frage ich.

Er guckt mich immer noch nicht an. Selbst der Kragen seines rot karierten Flanellhemds wirkt genervt von mir, so schlaff, wie er herabhängt. »Steht an der Tafel.«

»Oh. Danke.«

Zu seinem Glück habe ich keine Gelegenheit mehr, ihn weiter zu stören, da die Professorin, eine Asiatin mittleren Alters mit knallorangefarbenem Blazer und kinnlangen schwarzen Haaren, das Mikrofon einschaltet. Punkt acht Uhr dreißig. »Guten Morgen«, begrüßt sie uns. »Ich bin Dr. Sumi Okamoto und heiße Sie herzlich willkommen in der spektakulären Welt der Physik.«

Ich öffne ein Word-Dokument und tippe drauflos. Die neue Barrett, die bessere Barrett macht sich auch in Vorlesungen Notizen, für die sie sich noch nicht ganz begeistern kann.

»Ich war neunzehn, als ich die Physik für mich entdeckt habe«, fährt die Professorin fort. Ihr Blick huscht durch den Hörsaal. »Es war das letzte Semester, bevor ich mich für ein Hauptfach entscheiden musste – was mich ziemlich gestresst hat, um es milde zu formulieren. Ich habe mich selbst nie für eine Wissenschaftlerin gehalten. Als ich frisch an der Uni war, wusste ich noch nicht, was ich studieren wollte. Die Einführungsvorlesung hat mein Leben verändert. Ich war auf Anhieb Feuer und Flamme. In anderen Veranstaltungen war das nicht der Fall. Physik hat etwas Poetisches – es liegt eine gewisse Schönheit darin, die Struktur der Welt zu verstehen.«

Sie spricht auf klare, aufrichtige Art. Die Studierenden lauschen gebannt, und ich bin fast versucht, die Veranstaltung doch weiter zu belegen.

»Diese Vorlesung wird kein Zuckerschlecken …«

Okay, ich hab nichts gesagt.

»Das heißt jedoch nicht, dass Sie nicht zu mir kommen dürfen, wenn Sie Hilfe benötigen«, fügt sie hinzu. »Dies ist zwar nur eine Einführung, trotzdem erwarte ich, dass Sie sie ernst nehmen. Mit meiner unbefristeten Position müsste ich mich mit so einer Veranstaltung nicht abgeben. Die meisten der anderen Dozierenden würden sich ihr gerade einmal so weit nähern, wie ein Drei-Meter-Pendel es zulassen würde.« Gelächter. Von denen, die den Witz kapiert haben. »Ich hingegen unterrichte Physik Grundlagen I immer für ein Quartal im Jahr. Normalerweise ist es ein typischer Schnupperkurs für diejenigen, die keine Wissenschaft im Hauptfach studieren. Tja, nicht bei mir. Einige von Ihnen sind hier, weil sie einen Abschluss in Physik anstreben. Andere sind nur hier, um wissenschaftliche Credit Points zu sammeln. Egal, aus welchem Grund es Sie hierher verschlagen hat, ich möchte, dass Sie aus dieser Veranstaltung wenigstens eines mitnehmen: die Fähigkeit, alles zu hinterfragen. Das Warum erfahren zu wollen. Natürlich habe ich nichts dagegen, wenn diese Einführung am Ende der erste Schritt ihrer Reise zum, sagen wir, PhD in Physik ist.« Sie gluckst leise. »Aber ich werte es auch schon als Erfolg, wenn Sie im Anschluss mehr über das Warum unseres Universums nachdenken. Kommen wir nun zu ein paar grundlegenden Regeln: An dieser Universität werden keine Plagiate geduldet …«

»Schreibst du das etwa auf?«, fragt der Typ neben mir. Meine Finger verharren über der Tastatur, während mein Blick zu den Notizen wandert. Pendel? Fragen: gut. Vorlesung: hart. Plagiate: schlecht.

»Guckst du auf meinen Bildschirm?«, zische ich. »Ich versuche aufzupassen. Im Gegensatz zu dir. Du surfst ja die ganze Zeit nur auf Reddit rum.« Ich recke den Hals, »r/BreadStapledToTrees kommt doch wohl auch ohne dich klar.«

»Wer guckt hier jetzt auf wessen Bildschirm?«

Ich deute auf die winzige Lücke zwischen unseren Sitzen. »Das lässt sich kaum vermeiden.«

»Wenn du so schlau bist, weißt du bestimmt, dass r/BreadStapledToTrees ein sehr kreatives und amüsantes Subreddit ist.«

Dr. Okamoto geht gerade auf der anderen Seite des Hörsaals die Treppe hoch und verteilt den Lehrplan.

»Eigentlich brauche ich keinen«, sage ich, als mein reizender Sitznachbar mir einen reicht. Trotzdem nehme ich ihn entgegen. »Ich will später wechseln.« Der Arme muss schließlich erfahren, dass unsere Liebe, obwohl es gewaltig knistert, zum Scheitern verurteilt ist.

Er lacht leise schnaubend. »Und wozu die Notizen, wenn du eh gehst?«

»Ich war letztes Jahr im Physik-Leistungskurs, von daher …« Und habe die Prüfung mit der zweitschlechtesten Note abgeschlossen, aber das muss ich ihm ja nicht auf die Nase binden.

»Entschuldige bitte, ich hatte keine Ahnung, dass ich ein Physikgenie vor mir habe.« Er zeigt auf den Lehrplan. »Dann weißt du sicher schon alles über Elektromagnetismus. Und Quantenphänomene.«

Der Typ muss genau wie Lucie Lamont die Schule für unfassbar Verklemmte besucht und dort das Fach Wie-nehme-ich-alles-persönlich mit Auszeichnung bestanden haben. Anders kann ich mir diese Streitlust um acht Uhr siebenundvierzig am Morgen nicht erklären. Und das bei allem, was auf der Welt gerade los ist. Woher nimmt er die Energie?

»Mein Hirn ist noch nicht ganz wach. Ich passe.«

Meine Antwort scheint ihn nicht zu beeindrucken. Er hat leicht abstehende Ohren, fällt mir auf. »Meine … Dr. Okamoto hat doch erzählt, dass sie diese Veranstaltung nur einmal pro Jahr anbietet. Es gibt eine Warteliste. Und darauf stehen Leute, die einen Abschluss in Physik machen wollen.«

»So wie du wahrscheinlich«, erwidere ich.

»Lass mich raten: Du hast dich noch nicht entschieden.«

Gerade will ich kontern, dass ich mich sehr wohl schon für ein Hauptfach entschieden, es nur bisher nicht angemeldet habe, da beginnt Dr. Okamoto, die inzwischen wieder am Rednerpult steht, mit der heutigen Lektion. Es geht darum, was Physik ist und was nicht.

»Ich gehöre nicht zu den Dozierenden, die fünfzig Minuten am Stück einen Vortrag halten. Ihre Teilnahme ist erwünscht, auch wenn Sie die richtige Antwort nicht parat haben. In vielen Fällen gibt es womöglich keine richtige Antwort, ganz zu schweigen von der einen richtigen.« Sie lächelt. »Und jetzt bete ich zu Newton, Galileo und Einstein, dass mehr als zwei von Ihnen die Texte für heute vorbereitet haben. Letzte Woche habe ich Ihnen dazu eine E-Mail geschickt. Starten wir mit den Basics. Wer kann mir sagen, womit sich die Physik beschäftigt?«

E-Mail. Letzte Woche. Die steckt wahrscheinlich noch ungelesen in meinem Uni-Postfach. Leider gab es nämlich eine Verwechslung mit einer anderen B. Bloom, und die UW hat mir erst gestern einen neuen Usernamen zugewiesen: babloom. Klingt wie das Geräusch, das man macht, wenn man die Texte nicht vorbereitet hat.

Der Typ neben mir reißt den Arm hoch wie ein Kindergartenkind, das dringend zur Toilette muss. Sollte ich die Veranstaltung nicht wechseln können, suche ich mir nächstes Mal definitiv einen anderen Platz. »Sie hat ganz fleißig mitgeschrieben«, verkündet er. »Ich wäre gespannt, was sie dazu zu sagen hat.«

Dabei deutet er auf mich.

Ich glaube, es hackt!

Die Professorin wirft ihm einen seltsamen Blick zu und meint dann: »Okay. Wie ist Ihr Name?«

Scheiße. Ich überlege, einen falschen Namen zu benutzen, aber das Einzige, was mir einfällt, ist Nancy Namenlos. Improtheater wär bestimmt voll meins. »Ähm. Barrett. Barrett Bloom.«

»Hallo, Barrett Bloom.« Sie tritt ohne Mikro hinter dem Pult hervor. Ihre kräftige Stimme ist auch so deutlich hörbar. »Womit beschäftigt sich die Physik? Die Frage zielt natürlich auf die Texte ab, die Sie gelesen haben.«

»Also …« Die schlechte Note im Physik-Leistungskurs kam nicht von ungefähr. Ich rücke mir die Brille zurecht, als hätte ich dann den Durchblick. »Mit der Untersuchung physikalischer Körper?« Noch während ich es ausspreche, weiß ich, dass es falsch ist. Wir haben letztes Jahr genug Dinge thematisiert, die man nicht anfassen konnte. »Und … nicht-physikalischer Körper?«

Hinter mir ertönt gedämpftes Lachen, doch Dr. Okamoto hebt die Hand. »Könnten Sie etwas spezifischer werden?«

»Ehrlich gesagt bin ich unsicher.«

»Genau deshalb fangen wir ganz von vorn an. Miles, möchtest du das weiter ausführen?«

Der Typ neben mir rutscht bis an die Kante seines Sitzes. Natürlich kennt die Dozentin seinen Namen. Bestimmt war er superfrüh hier, hat ihr Kaffee und einen Muffin mitgebracht und davon geschwärmt, wie interessant die Texte waren. »Physik ist die Wissenschaft von Materie und Energie und deren Wechselwirkung«, antwortet er selbstgefällig. »Dank ihr verstehen wir die Vorgänge im Universum und sind in der Lage, gewisse Voraussagen über die Zukunft zu treffen.«

»Perfekt«, kommentiert Dr. Okamoto, und ich spüre förmlich, wie zufrieden Miles mit sich ist.

Als Dr. Okamoto die Sitzung um Punkt neun Uhr zwanzig beendet, schmerzt mir der Nacken vom sturen Geradeausgucken.

Miles lässt sich Zeit, alles wieder in seinem Rucksack zu verstauen. PHYSIK SCHAFFT WISSEN, verkündet ein Sticker auf seinem Laptop. An Wortwitzen mangelt es in diesem Wissenschaftsbereich echt nicht.

»Du warst nicht auf der Island Highschool, oder?«, frage ich misstrauisch. Wäre ja möglich, dass ich mich nicht an ihn erinnere und er den gleichen Groll gegen mich hegt wie der Rest meiner ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler.

»Nein. Auf der West Seattle.« Aha, Großstädter also.

»Keine Ahnung, womit ich die Aktion verdient habe. Ich habe nur angedeutet, dass Physik nicht gerade mein Lieblingsfach ist. Der Tag ist so schon beschissen genug. Mit siebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit füllt mir meine Mitbewohnerin nämlich gerade Enthaarungscreme ins Shampoo.«

Er verzieht das Gesicht, nur die dunklen Augen starren mich reglos an. »Ja, geht mir auch so«, murmelt er und lässt die Finger durch eine Welle schwarzer Haare gleiten. »Was den Tag betrifft, meine ich. Nicht die Enthaarungscreme.«

»Muss echt schwer gewesen sein«, entgegne ich, »genau den Platz auszusuchen, von dem aus du die besten Chancen hast, zum Schleimer des Jahres zu werden.«

»Und sieh an, wer sich direkt neben mich gesetzt hat.«

»Den Fehler mache ich bestimmt kein zweites Mal!« Ich packe meinen Rucksack und funkele ihn wütend an, in der Erwartung, dass seine Fassade bröckelt. Eigentlich sollte ich erleichtert sein. Vermutlich habe ich die eine Person gefunden, die ein noch größeres Problem damit hat, Freunde zu finden, als ich. Ablehnung ist mir nicht fremd, aber so heftig, so früh morgens, und dann von jemandem, den ich gar nicht kenne? Das ist mir neu. »Tja. Ich wollte gerade sagen ›bis Freitag‹. Da ich allerdings jetzt sofort zur Studienberatung gehe, kreuzen sich unsere Wege heute höchstwahrscheinlich zum letzten Mal.« Ich wedele mit der Hand Richtung Pult. »Viel Spaß noch beim Verstehen des Universums.«

 

***

 

Worauf man in der Uni immer wieder trifft: Schlange stehende Menschen. In der Mensa, vorm Klo und so auch im Beratungszentrum, wo wir, die es bei der Anmeldung verkackt haben, ergeben auf unser Schicksal warten. Als ich endlich dran bin, muss ich nur ein Formular ausfüllen. Sollte mein Antrag bewilligt werden, schicken sie mir per E-Mail eine Bestätigung an babloom.

Mein zweistündiges Englischseminar am Nachmittag ist für Erstis Pflicht und wird von einem gelangweilten, aber auf lässige Art attraktiven Tutor unterrichtet, der die Hälfte der Zeit Sätze analysiert. Mich beschleicht das Gefühl, dass die meisten Dozierenden längst nicht so dynamisch sind wie Dr. Okamoto. Ich habe ein schlechtes Gewissen wegen des Wechsels – aber nicht so sehr, dass ich es mir anders überlegen würde.

Worauf ich den ganzen Tag schon hinfiebere, ist das Vorstellungsgespräch bei der Washingtonian. Da sich die Journalismusveranstaltungen schnell mit Leuten aus den höheren Quartalen gefüllt haben, kann ich sie wahrscheinlich erst später dieses Jahr besuchen. Das Journalismusgebäude ist hinter dem Quad in der Nähe vom Olmsted Hall. Ein gutes Zeichen. Auf dem Weg dorthin sehe ich einen Skateboarder, der den Hinweis SKATEBOARDFAHREN VERBOTEN auf dem Red Square gekonnt ignoriert und mitten in die Swing-Tanzgruppe kracht. Und wie es sich für die konfliktscheue Bevölkerung im pazifischen Nordwesten gehört, entschuldigen sich einfach alle beieinander.

Ich erklimme drei steile Treppen und schwitze mehr als mir lieb ist, ehe ich die Redaktion auf der oberen Etage erreiche. Laut Handy sind es draußen knapp vierundzwanzig Grad, ungewöhnlich warm also für einen September in Seattle. Ich lege einen Zwischenstopp auf den Toiletten ein, um mich zu vergewissern, dass mir das Make-up nicht in Strömen übers Gesicht läuft.

Die Tür zur Redaktion ist offen, und in den Räumen ist es brütend heiß, obwohl sich an der Decke die Ventilatoren drehen. Die Arbeitsplätze für die einzelnen Zeitungsressorts sind räumlich voneinander getrennt. In einer Ecke befindet sich besondere Ausrüstung für die Videoleute, und in der Mitte stehen die großen Bildschirme für die Layout-Verantwortlichen. Und dann sind da noch die Wände: orange gestrichen und mit Edding bekritzelt. Was dahintersteckt, habe ich gestern auf einer Infoveranstaltung erfahren. Wäre ich nicht vorher schon Feuer und Flamme für diese Zeitung gewesen, hätten die Wände mich definitiv überzeugt. Darauf erstrecken sich in unterschiedlichen Handschriften und Größen aus dem Kontext gerissene Zitate von ehemaligen Mitarbeitenden der Washingtonian. Mindestens ein Drittel davon ist nicht jugendfrei. Die Regel ist: Haut jemand einen Spruch raus, den man für würdig befindet, ruft man »An die Wand damit!«. Natürlich ist es mein Traum, irgendwann etwas so Cleveres zu sagen, dass es mit Edding verewigt wird.

»Hi«, grüße ich unbeholfen in die Runde. »Ich bin hier für ein Vorstellungsgespräch bei Annabel Costa, der Chefredakteurin.«

Ein Mädchen mit blonder Kurzhaarfrisur, die an einem der Layout-Computer sitzt, dreht sich zu mir herum. »Barrett? Du warst auf der Infoveranstaltung, oder? Die, die so viele Fragen gestellt hat?«

Ich gebe mir Mühe, keine Miene zu verziehen. »Ja, sorry.«

»Quatsch, dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen! Der Job als Journalistin besteht zu sechzig Prozent aus Fragen. Hast also alles richtig gemacht.«

Sie führt mich etwas abseits in ein Büro und streicht ihr langes schwarzes Kleid glatt, bevor sie sich hinsetzt. Es ist schlicht, außerdem trägt sie eine große Havanna-Brille und kein Make-up. Sie wirkt viel älter als eine Studierende im dritten oder vierten Studienjahr. Irgendwie reifer, so als hätte sie genug Zeit gehabt, herauszufinden, wer die wahre Annabel Costa ist. So herzlich wurde ich schon ewig nicht mehr behandelt – nicht von Lucie, nicht von irgendjemandem auf der Island High und auch nicht von Physikfanatiker Miles. Sofort fühle ich mich wohler.

»Du erinnerst dich noch an die allgemeinen Infos von gestern?«, beginnt Annabel. »Früher haben wir die Zeitung täglich herausgebracht, heute veröffentlichen wir aufgrund von Budgetkürzungen nur noch montags und mittwochs. Normalerweise holen wir jeden Herbst ungefähr sechs neue Leute an Bord, je nachdem wie gut wir in den einzelnen Ressorts aufgestellt sind.« Sie lehnt sich im Stuhl zurück und testet, ob sich das Fenster hinter ihr ein Stückchen weiter öffnen lässt. Irgendwann gibt sie mit einem Seufzer auf. »Vorstellungsgespräche machen mehr Spaß, wenn man sie locker und zwanglos angeht. Ich will dich nicht fragen, wo du dich in Zukunft siehst. Deinen Lebenslauf habe ich vorliegen, genau wie die Links zu den Storys, die du für«, sie schaut nach, »den Navigator verfasst hast. Beeindruckend. Du hast fast fünfzig Artikel innerhalb von nur vier Jahren geschrieben? Für eine Monatszeitung?« Sie pfeift leise.

»Ich hatte nicht viele Freundinnen«, erwidere ich, und für den Lacher, der folgt, hat es sich wenigstens gelohnt, meinem Selbstwertgefühl einen Tritt zu verpassen.

»Wie bist du zum Journalismus gekommen?« Sie zieht die Nase kraus und schiebt die Brille hoch. »Tut mir leid, das ist wahrscheinlich eine von diesen typischen Fragen, aber das würde mich wirklich interessieren.«

Ich schenke ihr ein Lächeln. Annabel und ich könnten Kolleginnen werden, vielleicht sogar Freundinnen.

»Wie schon gesagt: Ich bin unausstehlich. Also wie geschaffen für den Job.« Sie lacht wieder, und ich mache weiter. »Als ich klein war, waren meine Mom und ich verrückt nach Promi-Porträts, die die Leute in ein ganz anderes Licht rücken.«

Ein paar meiner Favoriten: ein vor zehn Jahren erschienenes Interview mit Chris Evans im Gentlemen’s Quarterly, bei dem man sich fragt, ob die Verfasserin nicht doch eine intimere Beziehung zu ihm hatte. Außerdem ein Behind-the-Scenes-Bericht zu Natürlich blond und der Artikel »Frank Sinatra ist erkältet« von Gay Talese – der wohl einflussreichste Beitrag des Popjournalismus. Sinatra weigerte sich, mit ihm zu sprechen, trotzdem folgte Talese ihm drei Monate überallhin, beobachtete ihn und unterhielt sich mit den Leuten aus Sinatras Umfeld, die sich dazu bereit erklärten.

Das daraus entstandene erzählerische Kunstwerk erschütterte den Journalismus von damals. Es war eine kraftvolle, persönliche Story, die sich wie ein fiktionales Werk liest, aber keins ist.

»Ich mag Berichte, die einen offenbar unerreichbaren Menschen nahbar machen«, erzähle ich weiter. »Unter der Oberfläche ist oft so viel mehr verborgen. Nur kriegen die meisten von uns das nicht zu sehen.«

Das ist nicht gelogen, allerdings lasse ich dabei eine unangenehme Wahrheit aus: Ich schaffe es nie, lockere Gespräche mit Leuten zu führen. Bei anderen wirkt es manchmal so einfach. Ein Leben lang stand ich meiner Mom näher als irgendwem sonst. Das war für mich schon auf der Grundschule die Ausrede dafür, mich nicht mit jemandem anfreunden zu müssen. Ich habe Mom. Ich brauche mich nicht mit Gleichaltrigen zu treffen. Bei ihr war es ähnlich. Da sie mich sehr jung bekommen hat, war sie nie auf einer Wellenlänge mit den anderen Eltern.

Auf der Middle School merkte ich dann, dass es nicht unbedingt cool war, seine Mom als beste Freundin zu haben. Obwohl ich persönlich es schon cool fand, wenn wir uns bis spät in die Nacht grenzwertige Sprüche für Grußkarten ausdachten, die sie niemals in ihrem Laden verkaufen würde. Oder wenn wir einen Themenfilmmarathon starteten, zum Beispiel den Judy-Greer-ist-der-wahre-Star-Abend oder das Austen-in-der-Moderne-Wochenende. Wir haben beide den gleichen Geschmack, was Popkultur betrifft, und den gleichen trockenen Humor. Als ich mir schließlich doch andere Leute in meinem Leben wünschte, hatten alle längst einen festen Freundeskreis aufgebaut. Ich kam mir vor wie eine Spätzünderin – offenbar hatte ich verpasst, rechtzeitig Kontakte zu knüpfen.

Und dann entdeckte ich den Journalismus für mich. In der siebten Klasse saß ich einmal allein in der Bibliothek und aß meinen Mittagssnack, als ein mir unbekannter Junge auf mich zusteuerte. Er war aus der Achten. »Hi!«, flötete er. »Darf ich dir ein paar Fragen stellen?«

»Ich … Wir kennen uns nicht, oder?«, erwiderte ich.

Er lachte. Es war das selbstbewusste Lachen eines älteren Schülers, der seine Mittagspause normalerweise nicht in der Bibliothek verbrachte. »Ich weiß. Es ist für die Schulzeitung.«

Sein Artikel war ein belangloser Beitrag über die Modernisierung der Bibliothek. Daneben waren ein paar sprechende Köpfe abgebildet, unter anderem meiner, der sagte: »Ich liebe es, in der Bibliothek zu essen!« Auf dem Foto hatte ich die Augen fast geschlossen. Im darauffolgenden Halbjahr machte ich selbst bei der Zeitung mit. Und was als soziales Experiment begann, entwickelte sich zu einer Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen.

Annabel ist offenbar zufrieden mit meiner Antwort und geht noch einige allgemeine Fragen durch, ehe sie konkreter wird. »Wir haben in jedem Bereich Stellen zu besetzen: bei Schlagzeilen, Features, im Kultur- und im Sportteil«, zählt sie auf. »Hast du irgendeine Vorliebe?«

»Ich habe eine Handvoll Schlagzeilen und Features geschrieben – soweit man auf der Highschool von ›Schlagzeilen‹ sprechen kann. Meistens ging es dabei um das neueste Pizzatopping auf dem Speiseplan der Mensa. Aber solange ihr mich ins Team aufnehmt, würde ich sogar über das Abwassersystem berichten.«

»Oh ja, eine sehr gefragte Sparte.« Sie deutet auf den Bildschirm, den ich von hier aus nicht sehen kann. »Was mich aber viel neugieriger macht, ist dieser Artikel über die Tennismannschaft.«

»Sicher? ›Gossenvibes: Hinter den Kulissen unserer Kanalisation‹ könnte zu einem wichtigen Pressebeitrag werden. Ich wäre sofort dabei.«

Annabels Lächeln schwindet, und allmählich lässt mich mein Charme im Stich. »Hier steht, die Kommentarfunktion wurde deaktiviert, was bei anderen Beiträgen nicht der Fall ist.«

Ich atme ein paarmal tief durch. Es ist nicht so, als würde ich mich für die Story schämen. Nur will ich nicht an das denken, was danach passiert ist. Und das werde ich auch nicht. Nicht hier. »Ich habe herausgefunden, dass einige Tennisspieler bei einer Prüfung geschummelt haben«, erzähle ich, darum bemüht, meine Stimme fest klingen zu lassen und die Worte mit Bedacht zu wählen. »Da war diese eine Klausur in Trigonometrie, die kaum zu schaffen war. Fast niemand hatte eine bessere Note als B-Minus. Nur die Tennisspieler aus meinem Kurs haben alle mit A bestanden. Und bei meinen Nachforschungen stellte sich heraus, dass das in sämtlichen Kursen dieser Lehrerin so war.«

Mercer Island ist ein wohlhabender Vorort von Seattle, in dem sich öffentliche Schulen nicht groß von Privatschulen unterscheiden. Die Tennismannschaft mit ihren glänzenden Schlägern, Poloshirts und Turnierbannern war das Juwel der Island High. Als sie zum ersten Mal die Meisterschaft auf Bundesstaatenebene gewann – im Frühling zu Beginn meiner Highschoolzeit –, fiel der Unterricht für einen halben Tag aus, und die ganze Schule wurde ihnen zu Ehren zusammengetrommelt.

Ms. Murphys Pokerface war ein Witz. Als ich sie auf die Sache ansprach, rückte sie sofort mit der Sprache heraus. Es war lächerlich, wie stolz ich auf die Story war. Der Traum, Auszeichnungen dafür zu erhalten, vielleicht sogar Stipendien, platzte nach fünf Minuten. Die Beweise waren so erdrückend, dass die Island High disqualifiziert wurde und gut ein Dutzend Spieler in der Summer School endeten, darunter Lucies Freund Blaine. Lucie gab mir die Schuld, als er kurz darauf mit ihr Schluss machte. Sie redete nur noch das Nötigste mit mir und sorgte dafür, dass all ihre wohlhabenden, einflussreichen Freundinnen und Freunde es ihr gleichtaten.

Und zack, hatte ich die gesamte Schule gegen mich.

»Oh, davon habe ich gehört«, sagt Annabel. »Ich war auf der Bellevue, da haben auch alle darüber gesprochen.«

Ist schon eine Leistung, wenn man sogar an Schulen, auf die man nicht geht, einen Ruf weghat.

»Die Zeit danach war nicht ganz einfach, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.« Ich hole tief Luft, um mich zu sammeln. Sollten die Knöpfe an meiner Jeans bis zum Ende der Woche halten, ist das der Beweis dafür, dass es einen Gott gibt. »Ich denke, durch diese Erfahrung bin ich zu einer besseren Journalistin geworden.«

»Inwiefern?«

»Zum Beispiel habe ich keine Angst davor, mir Feinde zu machen.«

Annabel runzelt die Stirn. »Wir sind zwar nur eine College-Zeitung, trotzdem pflegen wir hier einen professionellen Umgang. Wir wollen nicht, dass irgendjemand unserem Image schadet.«

»Wahrscheinlich habe ich mich gerade unglücklich ausgedrückt«, sage ich, verzweifelt darum bemüht, das Gespräch wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. »Was ich meine, ist … Ich habe kein Problem damit, mir für eine gute Story ein bisschen Ärger einzuhandeln. Falls du eine Person brauchst, die unbequeme Fragen stellt und sich ab und zu arschig verhalten muss, bin ich perfekt dafür.« Ich lache gezwungen. »Ich habe genug Erfahrung mit Leuten, die mich hassen. Meine Mitbewohnerin zum Beispiel …«

»Deine Mitbewohnerin hasst dich jetzt schon?«

»Nein, nein«, werfe ich hastig ein. Was ist los mit dir? »Also … Ja, aber nur, weil wir auf derselben Highschool waren. Das ist … schwer zu erklären.«

Damit mache ich es nur schlimmer.

»Ah.« Annabels Blick huscht zu einem Stapel Papiere auf ihrem Schreibtisch. Eingereichte Lebensläufe. Shit. Ich hab sie abgeschreckt. Tolle Bewerbungsstrategie, zu sagen, dass man sich richtig arschig verhalten kann.

Mein Highschool-Ruf kann mir doch nicht ewig nachhängen. An diesen Gedanken habe ich mich oft geklammert, während ich mich abends durch die Archive von Vanity Fair geklickt habe oder in meiner metaphorischen Rüstung durch die Schule gelaufen bin. Klar, die Tennismannschaft war nicht allen wichtig, aber es hat sich stark danach angefühlt. Ich musste so tun, als wäre es mir egal, wenn Mitschülerinnen oder Mitschüler vortäuschten, Tennisbälle in meine Richtung zu schlagen. Oder wenn sie, bevor sie Tests abgaben, vor meinem Tisch stehen geblieben sind, um mir zu versichern, sie hätten nicht geschummelt. Oder als der Geschichtslehrer mir ein Referat über Benedict Arnold aufgebrummt hat und die anderen leise »Verräterin« gemurmelt haben.

Ohne meinen Panzer hätte ich mich wieder und wieder von ihnen fertigmachen lassen, und das wäre noch viel, viel schlimmer gewesen.

Monatelang habe ich mich gefragt, ob ich richtig gehandelt hatte, und ich kam immer zu demselben Schluss: Es war ein Vorgeschmack auf das, womit ich es als ausgewachsene Journalistin später zu tun kriegen würde. Ich musste mir ein dickes Fell aneignen.

Trotz der Folgen ist meine Liebe für den Journalismus ungebrochen. Ich gehöre zu der schwindenden Anzahl von Leuten, die nach wie vor die Druckausgaben der New York Times und der Entertainment Weekly abonniert haben. Der Job bei der Studierendenzeitung wäre für die neue Barrett ein echtes Upgrade und würde bestätigen, dass Journalismus definitiv das Richtige für mich ist.

»Das war sehr aufschlussreich, Barrett«, meint Annabel nach einigen weiteren Fragen. Ich spüre, dass ich sie nicht überzeugt hatte. Sie steht auf und reicht mir über den Schreibtisch hinweg die Hand. »Wie gesagt, wir haben nur ein paar Stellen zu besetzen und die Konkurrenz ist groß, von daher … Wir melden uns bei dir.«

Spiel, Satz. Und versiebt.

Kapitel drei

Wieder in einer Schlange zu stehen, diesmal in der Mensa, klingt ungefähr so verlockend wie die akrobatischen Verrenkungen, zu denen ich beim Rasieren der Beine in den winzig kleinen Duschen des Olmsteds gezwungen bin. Da mache ich lieber einen ausgiebigen Spaziergang über den Campus. Das erste Herbstlaub und die Jahrhunderte alten Backsteingebäude bilden einen scharfen Kontrast zu den neuen, teilweise komplett verglasten Bauten mit den klaren Strukturen.

Diesen Ort fand ich schon als Kind magisch, wenn Mom mich hierher mitgenommen und mir ihre Lieblingsplätze gezeigt hat. Unsere Tour endete meist vor dem Gebäude, wo ihre Wehen eingesetzt hatten. Nach der Schwangerschaft war es zwischen Mom und Dad schnell vorbei. Er war nicht interessiert daran, Vater zu sein. Außer Mom brauche ich auch niemanden. Für sie war es hart, mit einem Neugeborenen den Abschluss zu machen, doch mit ein wenig Unterstützung ihrer Eltern hat sie es geschafft, und dafür habe ich sie immer bewundert. »Die University of Washington steckt in deiner DNA«, hat sie oft gesagt. Das klang zwar kitschig, geglaubt habe ich es ihr aber trotzdem. Wir hatten mal eine gewisse Connection, die Uni und ich.

Jetzt gerade spüre ich nur, wie einfach es ist, hier in der Masse nicht aufzufallen. Bei der Washingtonian war ich mir so sicher! Und jetzt hab ich es verbockt, da ich aus irgendeinem Grund meinen Mund nicht halten konnte – obwohl ich gemerkt habe, dass es aus dem Ruder lief.

Während ich schmollend vor mich hintrotte, ruft Mom an. Ich lasse die Voicemail drangehen. Dann schreibt sie mir, und prompt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich das Gespräch nicht angenommen habe.

 

Falls du deine gute alte Mom vermisst, könnten wir uns was beim Thailänder bestellen. Bin ganz gespannt, was du vom ersten Tag zu berichten hast.

 

Na schön. Ich bin diejenige, die dich vermisst.

 

Am liebsten würde ich ihr sofort erzählen, was passiert ist, aber leider weiß sie nicht konkret, was alles an der Highschool vorgefallen ist. Sie war nie eine überfürsorgliche Mutter, und ich wollte nicht, dass die Hexenjagd nach dem Tennisdesaster daran etwas ändert. Hätte sie sich eingeschaltet und meine Probleme für mich gelöst, wäre die Beziehung zwischen uns vielleicht aus dem Gleichgewicht geraten.

 

Hab superviele Hausaufgaben. Der Tag war gut. Wie wär’s am WE?

 

Es fängt schon an zu dämmern, als ich das Wohnheim erreiche und die Tür zu unserem Zimmer öffne, aus dem mir laute, unbekannte Musik entgegenschallt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so darüber freuen würde, Lucie zu sehen. Ein buntes Durcheinander von Make-up und Klamotten ist über ihr Bett und beide Schreibtische verteilt, und das trotz des Sauberkeitsvortrags, den sie mir heute Morgen gehalten hat. Mit einem Verlängerungskabel hat sie ihren Lockenstab unter meinem Schreibtisch angeschlossen.

Lucie Lamont, die Gelegenheitschaotin. Damit werde ich sie so was von aufziehen.

Sie trägt gerade flüssigen Eyeliner auf. »Keine Sorge«, sagt sie in den schmalen Spiegel ihrer Schrankseite. »Ich bin gleich weg, dann kannst du deine Opferrituale oder was auch immer zelebrieren.«

»Hilfreich wäre ja, wenn ich vorher noch eine Haarlocke von dir kriege.« Ich schließe die Tür, und wir tänzeln unbeholfen umeinander herum, ehe ich mich mit einem Seufzer aufs Bett fallen lasse.

»Harter Tag?«

»Kann man so sagen«, murmle ich ins Kissen. »Wir müssen uns nicht unterhalten, nur weil wir in einem Zimmer sind.«

»Wie du willst.« Ihre unerwartet gute Laune beunruhigt mich.

»Hast du mit der Wohnheimleitung gesprochen? Sind unsere gemeinsamen Tage gezählt?«

»Besser«, entgegnet sie. »Ich bewerbe mich bei einer Studentinnenverbindung.«

»Das heißt, du hast kein Einzelzimmer bekommen.«

Prompt ist der fröhliche Unterton verschwunden. »Mit dem Gedanken habe ich vorher schon gespielt. Meine Mom ist schließlich auch eine Gamma Tau. Und … ich habe kein Einzelzimmer bekommen.«

Ich hole mein Handy aus der Hosentasche, ehe ich mich umdrehe. Keine neue Nachricht.

Lucie wickelt eine rötlich-braune Strähne um den Lockenstab. »Die erste Auswahlrunde findet diese Woche statt. Ich gehe später mit ein paar Mädels auf eine Party in der Greek Row. Auf dem Quad läuft heute übrigens ein Film, falls du noch eine Beschäftigung suchst. Ich glaube, sie zeigen Und täglich grüßt das Murmeltier.«

»Traust du mir keine wilden Mittwochabendpläne zu?«

»Wir wissen beide, dass du am zufriedensten bist, wenn du dir mit deiner Mutter Veronica Mars ansehen kannst.«

Meine Mom hat mit mir all ihre liebsten Filme und Serien geguckt, und Lucie war während unserer kurzen Freundschaft auch manchmal dabei. Da hatten wir gerade den Status »Schulbekanntschaft« hinter uns gelassen und den Grundstein für »Freundinnen-auf-Lebenszeit« gelegt. Spricht sie das jetzt an, weil sie sich auch an diese Zeit erinnert?

»Sag nichts gegen Veronica Mars. Das ist ein echter Klassiker aus den 2000ern.« Ich deute auf ihre Oversize-Bluse mit den Trompetenärmeln, die sie mit teuer wirkenden schwarzen Leggings, vielleicht sogar aus Leder, kombiniert hat. »Ist wohl eine Mottoparty mit dem Thema ›Zieh dich an wie dein Lieblingsgründungsvater‹? Oder nur wie der am wenigsten rassistische Gründungsvater?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, die waren alle rassistisch. Und das Thema ist: Fick dich«, erwidert sie zuckersüß. Trotzdem krempelt sie die Ärmel hoch, zupft die Bluse aus den Leggings und knotet sie vor dem Bauch zusammen.

»Gute Idee. Soll ja schließlich ein wilder Mittwochabend werden.«

Ist bestimmt nur Wunschdenken, aber ich meine, ein gedämpftes Lachen zu hören.

Fast bin ich enttäuscht, dass sie einer Verbindung beitreten möchte. Wobei sie mich wahrscheinlich nur so nett behandelt hat, weil sie sicher ist, in Zukunft nicht mit mir zusammenwohnen zu müssen. Kurz überlege ich, sie zu fragen, ob sie sich bei der Washingtonian beworben hat. Aber eigentlich kann ich mir die Demütigung auch ersparen, falls sie wirklich einen der begehrten Plätze ergattern konnte.

Vielleicht war mir das heute einfach alles zu viel, und meine Gefühle spielen jetzt verrückt. Das klingt jedenfalls realistischer als der Wunsch, Lucie als Mitbewohnerin behalten zu wollen.

»Die Party ist bei Zeta Kappa«, sagt sie. »Das ist diese große Studierendenverbindung auf der Fiftieth Street. Die, vor der die riesigen Husky-Statuen stehen.« Der Husky ist das Maskottchen der UW, und bei Sportveranstaltungen haben sie immer einen Welpen namens Dubs dabei. Der würde sogar mich zu einem Sportevent locken.

An dem Verbindungshaus bin ich schon zigmal vorbeigefahren – es ist das protzigste von allen. »Warum erzählst du mir das?«

»Ach, keine Ahnung …« Lucie stöpselt ihren Lockenstab aus. Ihre Haare sind von Natur aus so schnurgerade, dass sie sich auch jetzt kaum wellen. »Wir wohnen zusammen. Zumindest für den Moment. Da macht es Sinn, dass wir Bescheid wissen, wenn die andere abends den Campus verlässt.«

»Okay.« Ich wühle in meiner Tasche nach dem Pfefferspray. »Möchtest du das mitnehmen?«

Sie öffnet den Reißverschluss einer Clutch in Metalloptik und zeigt mir ihre eigene Dose. »Bin versorgt.« Nachdem sie das Zimmer aufgeräumt hat, betrachtet sie sich noch einmal im Spiegel und lockert die Haare auf, in einem letzten Versuch, ihnen Volumen zu verleihen. »Tja, dann: Bye.«

Ich grunze zur Antwort. Erst als sie weg ist, kommt mir eine Idee. Eine Idee, wie ich, wenn auch nicht mein gesamtes Uni-Erlebnis, so doch immerhin diesen schrecklichen ersten Tag retten kann.

 

***

 

Gut, dass ich Lucie nicht das Pfefferspray überlassen habe. Jetzt halte ich es nämlich die ganze Zeit krampfhaft fest, während ich über den Campus stapfe. Ob ich weiß, wie man es benutzt, falls jemand aus dem Gebüsch springt und die kompletten sieben Dollar aus meinem Portemonnaie verlangt? Nope. Vertraue ich darauf, dass ich in einer solchen Situation angemessen reagiere und auf den roten Knopf drücke, statt schreiend wegzurennen und dabei über meine eigenen Füße zu stolpern? Nope.

Es geht bergauf. Nach einer Minute bin ich total aus der Puste. Entweder bringt mich die Uni also um oder macht mich zu einer Power-Walking-Legende. Ich werde der UW zur ersten Meisterschaft verhelfen. Schuhmarken werden sich darum reißen, mich zu sponsern. Wie hast du das geschafft?, werden sie fragen. Mit Ausdauer, werde ich antworten. Mit Ausdauer, einem starken Willen und dem richtigen Paar Schuhe.

»Barrett?«, ruft da eine männliche Stimme.

Ich wirble herum und entdecke einen Schatten, der sich nähert. Keine Ahnung, woher der plötzlich kommt, wer das ist oder warum er meinen Namen kennt. Der Typ hebt abwehrend die Hände. Mein Finger liegt schon auf dem Auslöser. Ich kneife die Augen zusammen. Hätte ich doch nur die Anleitung gelesen!

»Warte … Ich will dir nichts …«

Ich bin so geschockt, dass ich das Pfefferspray fallen lasse. »Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Tut mir so leid!«

»Du hättest mir fast Pfefferspray ins Gesicht gesprüht!«

»Tut mir so leid«, wiederhole ich. Mir zittern die Hände. Da erkenne ich ihn, und schon tut es mir gar nicht mehr so leid. Es ist Miles, Mr. Physik schafft Wissen. Wem würde man im Dunkeln lieber über den Weg laufen, und das um diese Zeit. Wobei, okay, es ist erst viertel nach neun. Aber trotzdem! Der beste Zeitpunkt, jemandem zu begegnen, der einen öffentlich blamiert hat, ist um viertel nach nie.

»Es ist nicht ganz ungefährlich abends auf dem Campus«, meint er. »Du solltest hier nicht allein umherwandern.«

Er hat sich umgezogen und trägt jetzt ein schlichtes marineblaues T-Shirt. Seine dunklen Haare sind zerzaust, als hätte er mit den Händen darin gewühlt. Die Ohren stehen ab, aber nicht so extrem, dass sie mir direkt aufgefallen wären. Ob er deswegen mal gehänselt worden ist? Trotz seiner Größe, mit der er viel imposanter wirkt als ich mit meinen eins sechzig, stolziert er nicht herum. Und vielleicht liegt es am Licht der Straßenlaterne, aber aus seiner Miene spricht eine Erschöpfung, die ich in der Vorlesung nicht bemerkt habe. Eine gewisse Resignation.

»Merkwürdige Typen sollten auch nicht meinen Namen rufen und mich zu Tode erschrecken.«

»Touché. Tut mir leid.« Und tatsächlich sieht er leicht zerknirscht aus, als er sich durch die Haare fährt und damit meine Theorie bestätigt: Miles – wer immer er ist – kann die Hände nicht stillhalten.

»Außerdem habe ich ja das hier.« Ich halte die vertrauenswürdige rote Dose hoch, die ich gerade aufgehoben habe. Wenn ich so weitermache, sprühe ich mir selbst noch ins Gesicht.

»Kannst du damit bitte nicht so rumfuchteln?«, sagt er, was irgendwie vernünftig klingt, daher stecke ich sie schnell weg. »Was machst du eigentlich hier?«

»Ich will zu einer Party. Und du?«

»Ich treffe mich mit jemandem.«

Es ist frischer geworden, und so kuschle ich mich tiefer in die Strickjacke. Rechts von uns ist das Theatergebäude, links die Wirtschaftsfakultät. Wenn wir beide den Campus verlassen wollen, müssen wir in die gleiche Richtung und sind mehr oder weniger gezwungen, zusammen zu gehen.

»Und, hast du die Physikveranstaltung schon gewechselt?«, fragt er, bevor das Schweigen zwischen uns unangenehm wird. Er fummelt wieder, diesmal an seiner Smartwatch.

»Noch nicht. Ich musste ein Formular ausfüllen, und jetzt bete ich zu den Göttern der Menschen, die ihre Texte nicht vorbereiten, dass es klappt.«

»Ah, diese Götter. Die haben bestimmt alle Hände voll damit zu tun, dass ihre Schutzbefohlenen nicht erwischt werden, aber ich drück die Daumen. Vielleicht können sie ja doch Zeit für dein Anliegen erübrigen.«

Sein Sinn für Humor überrascht mich. »Apropos erwischt werden«, greife ich seine Worte auf, »Willst du dich nicht für die Aktion heute entschuldigen?«

»Hilf mir kurz auf die Sprünge?«

Abrupt bleibe ich stehen. »Ist das dein Ernst? Du hast dich gemeldet und der Physikprofessorin gesagt, du wolltest wissen, was ich beizutragen hätte. Am ersten Tag! Und aus irgendeinem Grund hat die Professorin auch noch auf dich gehört.«

Miles blinzelt, als würde er sich nicht erinnern. Dabei ist es gar nicht lange her! So etwas wie Bedauern huscht über sein Gesicht, und er zieht die Brauen zusammen, ehe er einlenkt. »Du hast recht. Das war blöd von mir, tut mir leid. Es war eine … verrückte Woche.«

Wer hätte das gedacht? Ein Mann, der einen Fehler zugibt. Vielleicht kann ich ihm noch mal verzeihen. Und wahrscheinlich hätte ich mich auch ohne ihn blamiert.

Er führt nicht weiter aus, warum seine Woche so verrückt war. Resigniert stoße ich einen Seufzer aus. Na gut, soll er halt mit mir gehen. Nein, nicht mit mir. Neben mir.

An einem der Campusausgänge – dem mit dem großen bronzenen W – gabelt sich der Weg, und ich studiere die Karte auf meinem Handy. Gemeinsam überqueren wir die Straße, wobei ich mich anstrengen muss, mit seinen langen Schritten mitzuhalten. So schnell lasse ich mir den Power-Walking-Titel nicht streitig machen.

»Wo musst du denn eigentlich hin?«, hake ich nach.

Nervös kratzt er sich am Handgelenk. »Noch ein paar Blocks weiter.«

Doch er weicht mir nicht von der Seite, nicht einmal, als wir das Haus mit den Husky-Statuen erreichen.

Ich bleibe stehen.

Er bleibt stehen.

Synchron biegen wir ab und laufen durch den Vorgarten.

»Hast du nicht gesagt, du triffst dich mit jemandem?«, frage ich.

»Ja, auf der Party.«

Frustriert werfe ich die Arme in die Luft und lasse ihn mit einer Geste vor. Nach kurzem Zögern setzt er sich in Bewegung. Klar landen wir beide auf derselben Party. Das Universum lacht sich bestimmt schlapp.

»Gehört ihr zusammen?«, fragt der Typ an der Tür, als Miles sich nähert, und reckt den Hals, um mich zu mustern. Ist Türsteher ein Job für die eher Hohen oder die eher Niedrigen in der Rangordnung der Verbindung? »Wir wollen nicht mehr Typen als Mädels. Der Anteil soll ausgeglichen sein. Wenn du nicht zu ihr gehörst, kannst du leider nicht rein.«

Miles wirft mir einen flehenden Blick zu. Ich weiß nicht, was er hier will, ob er einen Kumpel in der Verbindung hat oder ob er sich nach seiner »verrückten Woche« einfach abschießen will. Ich habe aber auch keine Lust, jetzt näher auf dieses bescheuerte binäre Geschlechterverhältnis einzugehen.

»Er gehört zu mir«, sage ich, woraufhin der Typ uns einlässt. »Du schuldest mir was«, zische ich Miles zu, als wir das Haus betreten.

»Ich könnte dir Physiknachhilfe geben«, erwidert er mit diesem seltsamen, schiefen Lächeln.