Today, Tonight, Tomorrow - Rachel Lynn Solomon - E-Book

Today, Tonight, Tomorrow E-Book

Rachel Lynn Solomon

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Beschreibung

#booktokmademebuyit: Ein Spiel, zwei Herzen und 24 Stunden, die ALLES ändern  Für Rowan Roth gibt es an ihrem letzten Highschool-Tag nur noch eine Chance, ihren Rivalen Neil McNair zu schlagen: der »Howl«, eine spielerische Schnitzeljagd durch ganz Seattle. Als Rowan erfährt, dass die anderen Schüler:innen planen, sie und Neil aus dem Rennen zu werfen, tut sie das Undenkbare: Sie verbündet sich mit Neil. Während dieser 24 Stunden kommen alte Wunden, geheime Wünsche und Gefühle ans Licht, die Rowan nicht für möglich gehalten hätte. Ist er mehr als der Typ, den sie all die Jahre so verachtet hatte?  Haters-to-Lovers, Slow-Burn-Romance und Forced Proximity! 

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Seitenzahl: 419

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Rachel Lynn Solomon

Today Tonight Tomorrow

Roman

Aus dem Englischen von Jennifer Michalski

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Today Tonight Tomorrow bei

Simon & Schuster Children’s Publishing.

 

Deutsche Erstausgabe

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Today Tonight Tomorrow © 2020 by Rachel Lynn Solomon

Covergestaltung: Niklas Schütte und Johanna Lohse (W1-Verlage GmbH) unter der Verwendung des Coverdesigns von Laura Eckes

Coverillustration © 2020 by Laura Breiling

Illustration Wolfskopf: Omar Mouhib/iStock

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-178-8

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

 

 

Für Kelsey Rodkey,

die sich als Erste in dieses Buch verliebt hat

 

 

BOTE

Wenn ich es recht verstehe, junge Dame, ist er für sie kein Gentleman, wie er im Buche steht.

BEATRICE

Nein, und wäre dem so, würde ich meine Lesestube verbrennen.

(Viel Lärm um nichts von William Shakespeare)

 

 

 

5:54 Uhr

McNIGHTMARE

Guten Morgen!

Hiermit möchte ich freundlich darauf hinweisen, dass du nur noch etwas mehr als drei (3) Stunden hast, bis du eine demütigende Niederlage durch den zukünftigen Abschlussbesten einstecken musst.

Denk an Taschentücher. Du bist doch so nah am Wasser gebaut.

Dreimaliges Vibrieren reißt mich eine Minute vor meinem 5:55-Wecker aus dem Schlaf. Das heißt, mein Hassmensch ist schon wach. Neil McNair – im Handy als »McNightmare« gespeichert – ist ätzend pünktlich. Eine seiner wenigen guten Eigenschaften.

Seit der Zehnten schreiben wir uns lieber fiese Nachrichten, weil wir wegen unserer morgendlichen Auseinandersetzungen auf dem Schulflur ein paarmal zu spät im Klassenraum erschienen sind. Letztes Jahr gab es eine Phase, in der ich die Klügere sein wollte und mir geschworen habe, wenigstens mein Zimmer zu einer McNair-freien-Zone zu machen. Also habe ich mein Handy auf stumm geschaltet, bevor ich ins Bett gegangen bin. Aber es hat mir in den unterm Kissen vergrabenen Fingern gejuckt, die nächste schlagfertige Antwort zu tippen. Ich konnte nicht einschlafen bei dem Gedanken daran, dass er mir vielleicht gerade schrieb. Mich provozierte. Lauerte.

Neil McNair ist mein Wecker. Einer mit Sommersprossen, der immer einen wunden Punkt trifft.

Ich schlage die Decke zurück, bereit für die Schlacht.

oh, mir war nicht klar dass weinen noch als zeichen der schwäche gilt

und nur um das klarzustellen: du hast mich erst einmal weinen sehen, da kann man ja wohl nicht von »nah am wasser gebaut« sprechen

Wegen eines Buchs!

Und du hast dich gar nicht mehr eingekriegt.

das nennt man »gefühle zeigen«

solltest du auch mal ausprobieren

Seiner Meinung nach sind Bücher einzig und allein dafür da, damit man sich belesen fühlen kann. Er ist einer von denen, die glauben, echte Literatur käme nur von toten weißen Männern. Und wenn er könnte, würde er Hemingway für einen letzten gemeinsamen Cocktail wiederauferstehen lassen, mit Fitzgerald eine Zigarre rauchen oder mit Steinbeck die menschliche Existenz erörtern.

Unser Konkurrenzkampf hat nach einem Schulwettbewerb in der Neunten begonnen, als eine (kleine) Jury ihn mit seinem Essay über das Buch, das uns am meisten beeinflusst hat, zum Gewinner gekürt hat. Ich bin damals Zweite geworden. McNair, originell wie er ist, hat sich für Der große Gatsby entschieden. Ich für Frühlingsträume, meinen Lieblingsroman von Nora Roberts, über den er sogar nach seinem Sieg noch die Nase gerümpft hat. Offenbar war es für ihn absolut unverständlich, wie ich mit einem Liebesroman den zweiten Platz belegen konnte. Ist ja auch ein total berechtigter Einwand, wenn man selbst nie einen gelesen hat.

Seitdem kann ich ihn nicht ausstehen. Allerdings muss ich zugeben, dass er ein würdiger Gegner ist. Nach dem Essay-Wettbewerb war ich fest entschlossen, ihn bei der nächstbesten Gelegenheit zu schlagen – und so habe ich kurz darauf die Wahl zur Klassensprecherin gewonnen. Er hat direkt gekontert und mich in einer Debattierrunde in Geschichte knapp übertrumpft. Um mich mit ihm zu messen, habe ich daraufhin mehr Dosen als er für den Umweltschutzclub gesammelt. Seither vergleichen wir sämtliche Prüfungsergebnisse und unseren Notendurchschnitt und treten bei jedem Schulprojekt und jeder Klimmzug-Challenge im Sportunterricht gegeneinander an. Wir können es einfach nicht lassen, uns gegenseitig den Rang abzulaufen. Bis heute.

Nach der Abschlussfeier am Wochenende muss ich ihn nie wiedersehen. Endlich keine morgendlichen Nachrichten und keine schlaflosen Nächte mehr.

Dann bin ich frei.

Ich lege das Handy auf den Nachttisch neben mein aufgeschlagenes Notizbuch. Darin steht ein Satz, den ich um zwei Uhr hineingekritzelt habe. Mal gucken, ob mein nächtlicher geistiger Erguss auch bei Tag was taugt. Ich knipse das Licht an, doch es bleibt dunkel.

Verdutzt drücke ich noch ein paarmal auf den Schalter, ehe ich aus dem Bett steige und es mit der Deckenlampe versuche. Nichts. Seit gestern Abend regnet es durchgehend, und ein Junisturm fegt Zweige und Kiefernnadeln gegen unser Haus. Bei dem Wind muss eine Stromleitung beschädigt worden sein.

Schnell schnappe ich mir wieder mein Handy. Zwölf Prozent Akku.

(Und keine Antwort von McNair.)

»Mom?«, rufe ich, renne aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Vor Anspannung ist meine Stimme eine Oktave höher als sonst. »Dad?«

Mom steckt den Kopf aus dem Büro. Die Brille mit den orangefarbenen Gläsern sitzt ihr schief auf der Nase, und ihre langen, dunklen Locken – die ich geerbt habe – sind noch wirrer als üblich. Bändigen lassen sie sich eh nie. Meine Endgegner? Neil McNair und meine Haare.

»Rowan? Warum bist du auf?«

»Weil es Morgen ist?«

Sie rückt die Brille gerade und wirft einen Blick auf die Uhr. »Oh, dann sind wir wohl schon länger hier drin.«

In ihrem fensterlosen Büro ist es duster, nur das Licht von ein paar Kerzen auf dem riesigen Schreibtisch flackert über die Papierstapel mit den rot gekürzten Sätzen.

»Arbeiten bei Kerzenschein?«, frage ich.

»Uns blieb nichts anderes übrig. Die ganze Straße ist ohne Strom, und wir stehen kurz vor der Deadline.«

Meine Eltern, das Autorin-Illustrator-Duo Ilana García und Jared Roth, haben bisher mehr als dreißig Bücher herausgebracht, angefangen bei Bilderbüchern über skurrile Tierfreundschaften bis hin zu einer Kinderbuchserie mit einem jungen Mädchen, das Paläontologin ist und Riley Rodriguez heißt. Mom ist in Mexiko-Stadt geboren und ist die Tochter einer russisch-jüdischen Mutter und eines mexikanischen Vaters. Als sie dreizehn war, heiratete ihre Mutter einen Texaner und zog mit der Familie Richtung Norden. Bevor Mom meinen ebenfalls jüdischen Dad am College kennenlernte, hat sie die Sommer ihrer Kindheit und Jugend in Mexiko bei ihrem Vater verbracht. Mit den Büchern wollen Mom (mit Worten) und Dad (mit Bildern) zeigen, dass ein Kind sich in zwei Kulturen zu Hause fühlen kann.

Jetzt taucht Dad hinter Mom auf. Er gähnt. Die beiden arbeiten gerade an einem Spin-off zu Rileys jüngerer Schwester, einer aufstrebenden Konditorin. Auf den Seiten springen einem überall pastellfarbene Torten und Kuchen und französische Macarons entgegen.

»Hey, Ro-Ro«, begrüßt er mich mit seinem speziellen Spitznamen für mich. Als ich noch klein war, hat er immer »row, row, Rowan your boat« gesungen. Ich war am Boden zerstört, als ich herausfand, dass das nicht der richtige Liedtext war. »Fröhlichen letzten Schultag.«

»Wahnsinn, dass es schon so weit ist.« In einem Anflug von Nervosität starre ich auf den Teppich. Dabei habe ich das Ausräumen meines Spinds und die Abschlussprüfungen ganz ohne Nervenzusammenbruch überstanden. Und heute habe ich definitiv zu viel zu tun, um mich meinen Gefühlen hinzugeben. Als Co-Schulsprecherin leite ich nämlich die Abschiedsversammlung für die Zwölfte.

»Oh!«, ruft Mom auf einmal hellwach. »Wir brauchen noch ein Foto mit dem Einhorn.«

Ich stöhne. Ich hatte gehofft, sie würden es vergessen. »Kann das nicht warten? Ich will nicht zu spät kommen.«

»Dauert doch nur zehn Sekunden. Schreibt ihr heute nicht sowieso nur in eure Jahrbücher und spielt Spiele?« Mom schüttelt mich sanft. »Du hast es fast geschafft. Stress dich nicht so.«

Sie meint immer, ich wäre so verkrampft, dass meine Schultern mir mit dreißig wahrscheinlich an den Ohrläppchen kleben.

Mom kramt im Flurschrank und kehrt mit dem Einhornrucksack zurück, den ich am ersten Tag im Kindergarten getragen habe. Auf dem Heute-ist-der-erste-Tag-im-Kindergarten-Foto strahle ich vor Begeisterung. Aber auf dem Bild, das meine Eltern am letzten Kindergartentag von mir geschossen haben, sehe ich aus, als wollte ich den Rucksack abfackeln. Das fanden sie so lustig, dass sie seitdem jedes Jahr am ersten und letzten Schultag ein Foto von mir machen. Genau das hat sie zu ihrem Bilderbuchbestseller Einhorn geht zur Schule inspiriert. Ist manchmal ein seltsamer Gedanke, wie viele Kinder mit mir aufgewachsen sind, ohne mich tatsächlich zu kennen.

Obwohl ich mich sträube, muss ich beim Anblick des Rucksacks lächeln. Das armselige Horn des Einhorns hängt nur noch an einem Faden, und ein Huf fehlt komplett. Ich ziehe die Riemen so weit wie möglich nach vorn und posiere mit Leidensblick vor meinen Eltern.

»Perfekt.« Mom lacht. »Du wirkst richtig gequält.«

Dieser Moment führt mir vor Augen, wie viele letzte Male ich heute wahrscheinlich erleben werde. Das letzte Mal, dass ich zur Schule gehe, das letzte Mal, dass McNair mir morgens eine Nachricht schreibt, das letzte Mal, dass wir ein Foto mit dem guten alten Rucksack schießen.

Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, von alldem Abschied zu nehmen.

Dad tippt auf seine Uhr. »Wir müssen uns ranhalten.« Er wirft mir eine Taschenlampe zu. »Damit du nicht im Dunkeln duschen musst.«

Das letzte Mal, dass ich vor der Schule dusche.

Vielleicht geht es bei Nostalgie genau darum: unbedeutenden Dingen nachzutrauern.

 

 

Nach dem Duschen zwinge ich meine Haare in einen feuchten Knoten, weil das Ergebnis nach dem Lufttrocknen sowieso nie schön ist. Mit dem flüssigen Eyeliner gelingt mir rechts direkt beim ersten Versuch ein perfektes Cat-Eye, links muss ich mich mit einem bescheideneren Schwung zufriedengeben. Was würde ich darum geben, mich auf beiden Seiten gleichmäßig schminken zu können.

Das letzte Mal, dass ich mir Cat-Eyes für die Highschool mache, denke ich, bremse mich aber sofort. Wenn ich jetzt wegen Eyeliner sentimental werde, schaffe ich es auf keinen Fall durch den Tag.

Da ploppt auf einmal wieder McNair mitsamt Interpunktion und korrekter Groß- und Kleinschreibung auf, wie bei einer grausamen Partie Hau-den-Maulwurf.

Wohnst du nicht da, wo der Strom ausgefallen ist?

Wir wollen doch nicht, dass ich dich als »zu spät« eintragen muss und du die Null-Fehlzeiten-Urkunde nicht bekommst.

Gab es eigentlich je eine (Co-)Schulsprecherin, die keine einzige Auszeichnung erhalten hat?

Ich habe mir schon vor Tagen überlegt, was ich heute anziehe: mein ärmelloses, blaues Lieblingskleid mit dem weißen Bubikragen, das ich in der Vintage-Abteilung von Red Light gefunden habe. Als ich es anprobiert und die Hände in die Taschen gesteckt habe, wusste ich sofort, dass ich es haben muss. Meine Freundin Kirby hat meinen Kleidungsstil mal als Hipster-Bibliothekarin-trifft-auf-Hausfrau-aus-den-50ern beschrieben. Ich bin von der Körperform her das, was man in Frauenzeitschriften den Birnen-Typ nennt. Mit dem breiten Kreuz und den noch breiteren Hüften passt mir Vintage-Kleidung grundsätzlich besser als moderne. Heute runde ich den Look mit Kniestrümpfen, flachen Ballerinas und einem cremefarbenen Cardigan ab.

Ich befestige gerade einen schlichten goldenen Ohrstecker, da fällt mir ein Umschlag ins Auge. Stimmt ja, den habe ich Anfang der Woche rausgelegt und seitdem jeden Tag angestarrt. Bei seinem Anblick ringen in mir Angst und Aufregung miteinander. Die Angst behält fast immer die Oberhand.

In der Schrift meines vierzehnjährigen Ichs, die etwas größer und schnörkeliger ist als heute, habe ich darauf notiert:

Am letzten Highschooltag öffnen

Es ist eine Art Zeitkapsel, die ich vor vier Jahren verschlossen und an die ich zwischendurch nur hin und wieder gedacht habe. Ich weiß nur noch grob, was drinsteht.

Da die Zeit knapp ist, stecke ich den Umschlag zusammen mit dem Jahrbuch und dem Notizbuch in meinen dunkelblauen Rucksack.

wahnsinn dass dir die blöden sprüche selbst nach vier jahren nicht ausgehen

Was soll ich sagen? Du bist eine unerschöpfliche Inspirationsquelle.

und du bist eine unerschöpfliche migränequelle

»Ich bin weg. Hab euch lieb. Viel Erfolg noch!«, rufe ich meinen Eltern zu, bevor ich die Haustür hinter mir zuziehe und geknickt begreife, dass das nächstes Jahr nicht mehr möglich ist.

Dann halt Taschentücher und Kopfschmerztabletten. NICHTVERGESSEN!

Mein Auto ist um die Ecke geparkt, da in die meisten Garagen von Seattle nicht mal unsere Halloween-Deko passen würde. Nachdem ich eingestiegen bin, stöpsle ich mein Handy an, um es zu laden, fische eine Haarklammer aus dem Getränkehalter und schiebe sie in das Haarknäuel auf meinem Kopf. Lieber würde ich sie McNightmare in die Stirn bohren.

Bald könnte ich zur Abschlussbesten der Westview High ernannt werden. In weniger als drei Stunden, wie McNair mir ja netterweise mitgeteilt hat. Bei der Abschiedsversammlung wird die Schulleiterin einen unserer Namen ausrufen. Und in meiner schönsten Fantasie ist es meiner. Seit Jahren träume ich von diesem letzten, alles entscheidenden Wettbewerb. Der Samtschleife meiner Highschoolzeit.

Das wird im ersten Moment so niederschmetternd für McNair sein, dass er mir bestimmt nicht in die Augen sehen kann. Wahrscheinlich zieht er die Schultern hoch und starrt auf seine Krawatte, immerhin macht er sich an Versammlungstagen immer extrafein. Das wird so was von peinlich für ihn. Vielleicht läuft die blasse Haut unter seinen Sommersprossen so rot an wie seine Haare. Wobei die vielen Sommersprossen kaum noch etwas von seinem Gesicht übrig lassen. Dann durchläuft er alle fünf Phasen der Trauer, ehe er akzeptiert, dass ich ihn nach all den Jahren endgültig besiegt habe. Dass ich die Gewinnerin bin.

Mit einem Ausdruck größten Respekts und demütig gesenktem Kopf wird er zu mir aufschauen und sagen: »Du hast es verdient, Rowan. Herzlichen Glückwunsch.«

Und das wird sein voller Ernst sein.

Triff Delilah Park in Seattle, heute Abend!

Delilah Park PR <[email protected]>

An: Undisclosed recipients

12. Juni, 6:35 Uhr

 

Guten Morgen, Lovers of Love!

 

Die Tour der internationalen Bestsellerautorin Delilah Park geht weiter! Mit ihrem Roman Skandal bei Sonnenuntergang legt sie heute Abend um 20:00 Uhr einen Stopp bei Books & More in Seattle ein. Lasst euch die Chance nicht entgehen, sie persönlich kennenzulernen, eure Lieblingsbücher von ihr signieren zu lassen und in einer drei Meter großen Nachbildung der Sugar-Lake-Laube ein Foto mit ihr zu machen!

 

Sichert euch außerdem Delilahs neuen Roman Skandal bei Sonnenuntergang, ab sofort im Handel!

 

Knuddler und Knutscher

Delilah Parks PR-Team

6:37 Uhr

McNIGHTMARE

Ticktack.

Der graue Himmel grollt und droht mit dem nächsten Regenschauer, Zedern biegen sich im Wind. Oberste Priorität hat gerade Kaffee. Zum Glück liegt das Two Birds One Scone auf dem Weg zur Schule. Da jobbe ich, seit ich sechzehn bin und meine Eltern mir klargemacht haben, dass sie kein Studium in einem anderen Bundesstaat finanzieren können. Obwohl ich mein ganzes Leben in Seattle verbracht habe, wollte ich fürs College immer schon weiter weg. Letztendlich habe ich mich für eine kleine Kunsthochschule namens Emerson in Boston entschieden. Den Großteil der Kosten für das erste Semester decken Stipendien ab, den Rest muss ich von meinem Ersparten bezahlen.

Das Café ist so eingerichtet, dass es einem Vogelkäfig ähnelt. Aus allen Ecken wird man von Plastikvögeln beobachtet. Das Two Birds ist übrigens nicht für seine Scones bekannt, sondern für die frisbeegroßen Zimtschnecken mit Frischkäseglasur, die hier warm serviert werden.

Vom Tresen aus winkt mir Mercedes zu. Sie hat gerade in Seattle ihren Bachelorabschluss gemacht und arbeitet oft morgens, damit sie abends in ihrer Van-Halen-Frauencoverband spielen kann.

»Hey, hey«, begrüßt sie mich, für diese Zeit eindeutig zu munter, und greift auch schon nach einem der nachhaltigen Becher. »Haselnusslatte mit extra Sahne?«

»Du bist die Beste. Danke.« Das Two Birds ist klein. Es arbeiten nur ungefähr acht Leute hier, zwei pro Schicht. Mercedes mag ich von allen am liebsten, besonders, weil bei ihr die beste Musik läuft.

Während ich warte und Mercedes die Greatest Hits von Heart mitsummt, vibriert mein Handy. Ich rechne fest damit, dass es wieder McNair ist. Doch es ist etwas viel Spannenderes.

Die Lesung meiner Lieblingsautorin Delilah Park steht seit Monaten bei mir im Kalender, aber wegen der schlimmen Nostalgitis um den Abschluss herum habe ich sie glatt vergessen. Delilah Park schreibt Liebesromane mit weiblichen Heldinnen und schüchternen, süßen Helden. Ihre Romane Behütete Herzen, Immer für dich da und Zucker am Sugar Lake habe ich quasi inhaliert. Für Letzteren hat sie mit zwanzig den im ganzen Land angesehensten Literaturpreis für Liebesromane erhalten.

Nur dank Delilah Park glaube ich daran, aus meinen Notizen könnte eines Tages mehr werden. Trotzdem: Zur Lesung für einen Liebesroman zu gehen, würde bestätigen, dass ich diese Art von Büchern mag. Und das habe ich seit dem niederschmetternden Essay-Wettbewerb in der Neunten vermieden.

Geschweige denn herumerzählt, dass ich selbst einen schreibe.

Das Dilemma ist: Meine Leidenschaft für Romance-Bücher ist für andere bestenfalls eine heimliche Leidenschaft. Fast die gesamte Welt putzt bei jeder Gelegenheit dieses eine Medium runter, das Frauen wie kein zweites in den Mittelpunkt rückt. Liebesromane taugen oft nur als Pointe, obwohl damit ein Millionengeschäft gemacht wird. Nicht mal meine Eltern haben einen Funken Respekt davor. Mom hat sie mehr als nur einmal als »Schund« bezeichnet, und Dad wollte letztes Jahr einen kompletten Karton an Goodwill spenden, weil mein Bücherregal aus allen Nähten geplatzt ist und er dachte, ich würde sie eh nicht vermissen. Zum Glück konnte ich ihn abfangen, bevor er zur Haustür raus war.

Mittlerweile verrate ich niemandem mehr, was ich lese. Und meinen ersten Roman habe ich einfach stillschweigend angefangen zu schreiben. Ich bin davon ausgegangen, ich würde es meinen Eltern irgendwann erzählen, aber jetzt fehlen mir nur noch ein paar Kapitel bis zum Ende, und sie haben nach wie vor keinen blassen Schimmer.

»Voilà, der leckerste Haselnusslatte in ganz Seattle«, sagt Mercedes, als sie ihn mir überreicht. Im Licht blitzen sechs Gesichtspiercings auf, die ich mir nie stechen lassen könnte. »Arbeitest du heute?«

Ich schüttle den Kopf. »Ist mein letzter Schultag.«

In gespielter Sehnsucht fasst sie sich ans Herz. »Hach, die Schule. Wie gut ich mich daran erinnere. Zumindest an die Tribüne von unten. Da haben meine Leute und ich immer heimlich Joints geraucht.«

Mercedes will kein Geld von mir, trotzdem stecke ich einen Dollarschein ins Trinkgeldglas. Auf dem Weg nach draußen komme ich an der Küche vorbei und rufe Colleen, der Eigentümerin und Chefbäckerin, ein schnelles Hallo und Tschüss zu.

 

 

Die Ampeln auf der Fünfundvierzigsten sind alle aus, sodass ich an jeder Kreuzung halten muss. Schule startet um fünf nach sieben. Das wird knapp – was McNair zu freuen scheint, so oft, wie er mein Handy aufleuchten lässt. Als ich wieder mal stehe, schicke ich Kirby und Mara eine Sprachnachricht mit der Info, dass ich im Verkehr feststecke. Laut singe ich meinen Soundtrack für regnerische Tage mit. Natürlich ist er von The Smiths, von wem sonst. Meine Tante aus Portland ist New-Wave-Fan, und bei ihr laufen die Lieder an Chanukka und Pessach rauf und runter. Bei trübem Wetter gibt es nichts Besseres als Morrisseys Songtexte.

Wie sie wohl in Boston klingen, wenn sie mir bei einem Spaziergang auf dem schneebedeckten Campus unter der Strickmütze ins Trommelfell wummern?

Der rote SUV vor mir kriecht vorwärts. Ich krieche vorwärts. In Gedanken bin ich bei heute Abend. Wie ich in den Buchladen stolziere, hoch erhobenen Hauptes und ohne die von Mom beklagte Anspannung in den Schultern. Ich gehe zu Delilah an den Signiertisch, wir machen uns gegenseitig Komplimente zu unseren Outfits, und ich erzähle ihr, wie sehr ihre Romane mein Leben verändert haben. Am Ende des Gesprächs erkennt sie das überragende Talent in mir und bietet an, meine Mentorin zu werden.

Abrupt bremst der SUV vor mir ab – was ich nicht mitkriege. Bis ich hineinkrache. Ein Schwall heißer Kaffee ergießt sich über mein Kleid.

»Scheiße!« Als der Schock des Aufpralls etwas nachlässt, hole ich ein paarmal tief Luft und versuche zu begreifen, was passiert ist. Mein Verstand treibt sich allerdings nach wie vor auf einer exklusiven Party für Autorinnen und Autoren herum, zu der Delilah mich eingeladen hat. Der laute blecherne Knall schrillt mir noch in den Ohren, da wird hinter mir schon gehupt. Ich bin eine gute Fahrerin!, würde ich ihnen gern zurufen. Ich hatte bisher keinen Unfall und halte mich immer an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Seitlich rückwärts einzuparken ist zwar nicht meine Stärke, aber entgegen der aktuellen Beweislage bin ich wirklich eine gute Fahrerin. »Scheiße, scheiße, scheiße.«

Es wird weiter fleißig gehupt. Der SUV-Fahrer vor mir streckt einen Arm aus dem Fenster und bedeutet mir, ihm in eine Seitenstraße zu folgen.

Mit einem Kloß im Hals nestle ich am Gurt. Der Kaffee tropft an mir runter und bildet eine Pfütze in meinem Schoß. Draußen läuft der Fahrer des SUV steif um den Wagen herum zum Heck. Mein Magen zieht sich zusammen.

Ich habe ausgerechnet den Typen erwischt, der kurz vor dem Abschlussball mit mir Schluss gemacht hat.

»Das tut mir echt leid.« Ich taumle aus dem Auto. Dann, weil ich das Fahrzeug nicht erkenne: »Ähm. Ist der neu?«

Spencer Sugiyama schaut mich finster an. »Ja, gerade mal eine Woche alt.«

Ich schaue ihm dabei zu, wie er den Schaden begutachtet. Seine etwas längeren schwarzen Haare fallen ihm ins Gesicht, während er vor dem Auto kniet. Es hat kaum einen Kratzer abbekommen. Bei meinem hingegen ist die vordere Stoßstange übel zugerichtet und das Nummernschild verbogen. Es ist ein gebrauchter Honda Accord, grau, nichts Besonderes, mit einem sehr speziellen Geruch im Innenraum, den ich nie losgeworden bin. Aber er gehört allein mir. Ich habe ihn letzten Sommer von meinem Two-Birds-Gehalt bezahlt.

»Was sollte das, Rowan?« Spencer, zweiter Klarinettist und besagter Ex-Freund, hat mich sonst immer angeguckt, als hätte ich auf alles eine Antwort. Als würde er mich bewundern. Jetzt sehe ich in seinen Augen nur Frust. Und vielleicht noch Erleichterung, weil wir nicht mehr zusammen sind.

»Glaubst du, das war Absicht? Du hast doch plötzlich gebremst!« Ich brauche wohl nicht zu erklären, dass wir nicht im Guten auseinandergegangen sind. Insgeheim verschafft es mir eine gewisse Genugtuung, dass er nie erster Klarinettist geworden ist. (Und ja, versucht hat er es.)

»Da war ein Stoppschild! Warum bist du so schnell gefahren?«

Ich hüte mich, Delilah Park zu erwähnen. Wahrscheinlich ist der Unfall wirklich auf meinem Mist gewachsen.

Die Beziehung mit Spencer war nicht meine erste, aber meine längste. In der Neunten und Zehnten hatte ich hin und wieder für eine Woche einen Freund. Das waren allerdings nur so Intermezzos, die meistens per Textnachricht beendet wurden, weil es uns in der Schule zu peinlich war, sich auch nur anzuschauen. Am Ende der elften Klasse bin ich mit Luke Barrows gegangen, einem Tennisspieler, der dauernd alle zum Lachen gebracht und etwas zu gern Partys gefeiert hat. Damals dachte ich, ich wäre in ihn verliebt, heute glaube ich, ich war einfach nur in den Menschen verliebt, der ich in seiner Gegenwart war: ein lustiges, ausgelassenes und hübsches Mädchen, das mit Vorliebe klassische Essays schreibt und auf dem Autorücksitz rummacht. Als die Schule im Herbst wieder anfing, war es vorbei. Er wollte sich auf Tennis konzentrieren, und ich war froh, mich intensiver mit den College-Bewerbungen beschäftigen zu können. Trotzdem grüßen wir uns noch, wenn wir uns im Gang über den Weg laufen.

Spencer hingegen … Mit Spencer war es kompliziert. Er sollte mein perfekter Highschool-Freund werden, an den ich später zurückdenken würde, während ich anzüglich klingende Cocktails mit Freundinnen schlürfe. Von so einem Freund hatte ich immer geträumt. Einer, der in Englisch hinter mir sitzt, mir irgendwann auf die Schulter tippt und mich schüchtern nach einem Stift fragt.

Und da die Zeit knapp wurde, dachte ich, Spencer und ich müssten nur genug zusammen unternehmen, dann würde sich das von allein ergeben. Allerdings hielt er sich eher zurück, wodurch ich wie eine Klette an ihm hing. So gut ich mich in Lukes Gegenwart leiden konnte, so wenig mochte ich mich in Spencers. Ich fand es schrecklich, nicht zu wissen, woran ich bin. Die offensichtliche Lösung wäre natürlich gewesen, ihn abzuschießen, aber ich habe weiter geklammert und gehofft, es würde sich noch ändern.

Spencer zieht die Service-Card seiner Versicherung aus dem Portemonnaie. »Am besten tauschen wir Daten aus, oder?«

Ich erinnere mich vage daran, das in der Fahrschule so gelernt zu haben. »Ja, gut.«

Es war nicht nur ätzend mit Spencer. Nach unserem ersten Mal hat er mich lange in den Armen gehalten und mir das Gefühl gegeben, besonders und wertvoll zu sein. »Wir können ja Freunde bleiben«, hat er vorgeschlagen, als er Schluss gemacht hat. Feigling. Er wollte mich loswerden, ohne dass ich sauer auf ihn bin. Das war in der Schule, direkt vor einer SV-Versammlung. Er meinte, er wolle das College als Single anfangen. »Spencer und ich haben gerade unsere Beziehung beendet«, habe ich McNair kurz darauf erklärt, bevor wir die Versammlung eröffnet haben. »Ich wäre dir also sehr verbunden, wenn du die nächsten vierzig Minuten nicht so fies wärst wie sonst.«

Keine Ahnung, was ich erwartet habe. Dass er Spencer gratulierte, mir sagte, ich hätte es verdient? Stattdessen nahm sein Gesicht einen weichen Ausdruck an, den ich nicht einordnen konnte. »Okay. Tut … tut mir leid«, stammelte er.

Eine Entschuldigung aus seinem Mund klang fremd, aber ehe ich darüber nachdenken konnte, ging die Besprechung los.

»Ich habe wirklich gehofft, wir könnten befreundet bleiben«, erklärt Spencer, nachdem wir Fotos von den Service-Cards gemacht haben.

»Sind wir. Auf Facebook.«

Er verdreht die Augen. »Doch nicht so.«

»Wie soll das denn aussehen?« Ich lehne mich an meinen Wagen. Ob es jetzt endlich mal zu einer Aussprache kommt? »Schicken wir uns gegenseitig unsere College-Stundenpläne? Oder gucken in den Ferien zu Hause zusammen einen Film?«

Pause. »Wahrscheinlich nicht«, gibt er zu.

Von wegen Aussprache.

»Wir sollten zur Schule«, sagt Spencer, als ich einen Tick zu lange schweige. »Wir sind eh schon zu spät, aber am letzten Tag ist das bestimmt egal.«

Zu spät. Ich will mir gar nicht vorstellen, was für McNachrichten diesmal auf dem Handy warten.

Ich winke zum Abschied mit der Service-Card und stecke sie ein. »Schätze, deine Leute rufen meine Leute an. Oder so.«

Er rast davon, bevor ich den Motor überhaupt starten kann. Von dem Vorfall müssen meine Eltern nichts erfahren. Nicht jetzt, kurz vor ihrer Deadline. Immer noch zittrig – ob vom Aufprall oder dem Gespräch – versuche ich, die Schultern zu entspannen. Sie sind echt verkrampft.

Wäre ich eine Figur in einem Liebesroman, hätte ich diesen kleinen Crash mit einem süßen Typen gehabt, der eine Bar besitzt und in Teilzeit auf Baustellen arbeitet. Mit einem von den Typen, die geschickt mit den Händen sind. Die meisten Helden in Liebesgeschichten sind geschickt mit den Händen.

Während unserer Beziehung habe ich mir eingeredet, Spencer würde sich irgendwann bestimmt in so einen Typen und das zwischen uns sich in Liebe verwandeln. Ich steh zwar auf Romantik, aber an das Konzept der Seelenverwandtschaft habe ich nie geglaubt. Das ist doch nur ein Hirngespinst, genau wie Männerrechtsaktivismus. Liebe kommt nicht von jetzt auf gleich oder automatisch – dafür braucht es Initiative, Zeit und Geduld.

Wahrscheinlich werde ich niemals so ein Glück in der Liebe haben wie die Frauen in fiktionalen Küstenstädten. Aber manchmal habe ich diese seltsame Sehnsucht in mir. Nicht nach etwas, das mir fehlt, sondern nach etwas, das ich noch nie erlebt habe.

 

 

Als ich mich der Westview Highschool nähere, fängt es wieder an zu regnen. Seattle halt. Eigentlich sollte ich längst zur Anwesenheitskontrolle im Klassenraum sein, aber meine Eitelkeit siegt. Ich bin sowieso zu spät. Die paar Extraminuten spielen jetzt auch keine Rolle mehr.

Auf den Toiletten in der ersten Etage schaue ich in den Spiegel und sauge scharf die Luft ein. Der Kaffeefleck auf meinem Kleid bedeckt eineinhalb Brüste. Ich wasche den Stoff so kräftig wie möglich mit Seife und Wasser aus. Trotzdem ist er nach fünf Minuten immer noch ziemlich braun. Dann hat die ganze Fummelei ja nicht mal was gebracht.

So viel zum perfekten Outfit für den letzten Schultag. Klamotten zum Wechseln habe ich leider nicht. Ich tupfe die nassen Stellen mit einem Papiertuch ab, damit es nicht aussieht, als würde ich Milch absondern. Danach rupfe ich den Cardigan zurecht, um den Fleck bestmöglich zu verstecken, und kämme mir den Pony erst zur rechten, dann zur linken Seite. Ich kann mich nie entscheiden, ob ich ihn rauswachsen oder kurz lassen soll. Im Moment reicht er mir bis zu den Augenbrauen und ist lang genug, um mich zu nerven. Vielleicht schneide ich fürs College die Spitzen und versuche mich an einem Bettie-Page-Look.

Als ich ausgiebig herumgezupft habe, fällt mir im Spiegel ein rotes Poster ins Auge:

DIEPIRSCH

12. JUNI

12 UHR

PREIS: LASSTEUCHÜBERRASCHEN

Die zweite Sache, die ich bei der morgendlichen Hektik verdrängt habe. Die Pirsch ist Tradition für die Abschlussklasse der Westview High und funktioniert wie eine Mischung aus Schnitzeljagd und dem Spiel Mörder. Die Teilnehmenden jagen sich gegenseitig, während sie einem Leitfaden nachgehen, der sie durch ganz Seattle führt. Wer zuerst alle Hinweise enträtselt und gelöst hat, gewinnt bares Geld. Organisiert wird das Spektakel von der Schülervertretung der elften Klasse, sozusagen als Verabschiedung der Abschlussklasse. Letztes Jahr haben McNair und ich uns bei der Organisation fast die Köpfe eingeschlagen. Natürlich werde ich dieses Jahr selbst mitmachen, aber darüber kann ich auch nach der Versammlung noch nachdenken.

Auf dem Gang laufe ich Miss Grable in die Arme, meiner Englischlehrerin in der Zehnten und Elften, die gerade aus dem Lehrerzimmer hastet.

»Rowan!«, ruft sie mit leuchtenden Augen. »Kaum zu fassen, dass Sie uns verlassen.«

Miss Grable, bestimmt erst Ende zwanzig, hat immer darauf geachtet, dass auf der Lektüreliste überwiegend Bücher von Frauen und People of Color standen. Ich habe sie geliebt.

»Alles Gute ist irgendwann vorbei. Sogar die Highschool«, erwidere ich.

Sie lacht. »Die Schülerinnen und Schüler, die das so sehen, kann ich an einer Hand abzählen. Das sollte ich jetzt wahrscheinlich nicht sagen, aber …« Sie beugt sich verschwörerisch zu mir und flüstert: »Sie und Neil, Sie zwei waren mir die Liebsten.«

Das versetzt mir einen Stich. Auf der Westview wurde ich immer in einem Atemzug mit McNair genannt. Rowan gegen Neil und Neil gegen Rowan. Jahr für Jahr für Jahr. Die Gesichter der Lehrkräfte waren mal von Horror, mal von Entzückung gezeichnet, wenn sie zu Beginn des Schuljahres erfahren haben, dass wir beide bei ihnen im Kurs sind. Die meisten finden unseren Konkurrenzkampf unterhaltsam, lassen uns beim Debattieren gegeneinander antreten und weisen uns gemeinsame Projekte zu. Deswegen möchte ich so gerne Abschlussbeste werden. Ich möchte die Highschool als ich beenden, nicht als ein Teil eines streitsüchtigen Duos.

Gezwungen lächle ich Miss Grable an. »Danke.«

»Sie gehen auf die Emerson, oder?«, erkundigt sie sich, und ich nicke. »Ihre Essays waren immer sehr informativ. Haben Sie vor, in die Fußstapfen Ihrer Eltern zu treten?«

Wie schwer wäre es, darauf mit Ja zu antworten?

Natürlich mache ich mir Sorgen darüber, wie die Leute auf Liebesromane von mir reagieren würden. Aber abgesehen davon ist da noch eine zweite Angst, die mich bei der Frage, was ich später werden will, mit den Schultern zucken lässt. Solange es nur mein Traum ist, Schriftstellerin zu werden, muss ich keinen Gedanken daran verschwenden, eventuell nicht gut genug zu sein. In meinem Kopf kann nur ich mich kritisieren. In der Öffentlichkeit können das alle tun.

Als Tochter von Ilana und Jared würde man gewisse Erwartungen an mich stellen, sobald ich mich zur Autorin erkläre. Und sollte ich die nicht erfüllen, es nicht sofort auf die Reihe kriegen und erst langsam dazulernen, würde das Urteil wahrscheinlich ziemlich hart ausfallen. Meine Eltern sind nun mal keine Podologen, Köche oder Statistiker. Es herumzuerzählen würde bedeuten, dass ich mindestens okay – wenn nicht sogar gut – darin bin. Und so sehr ich mir das auch wünsche, habe ich doch Angst, dass es nicht der Realität entspricht.

Wenigstens drängt mich niemand festzulegen, worin ich den Bachelor machen werde. Emerson habe ich mir zwar bewusst wegen des tollen Studiengangs im Kreativen Schreiben ausgesucht, aber auf die Frage, was ich später im Hauptfach studieren will, antworte ich immer mit einem »Weiß ich noch nicht«. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in die Fußstapfen meiner Eltern treten würde. Tja, und jetzt träume ich davon, wie ich über ein Buchcover streiche, auf dem mein Name steht – im Idealfall natürlich in schimmernd geprägten Lettern.

»Vielleicht«, erwidere ich schließlich. Es fühlt sich an, als würde ich es mir damit schon halb eingestehen, aber Miss Grable sehe ich nach dem Abschluss sowieso nicht wieder. Für einen Menschen, der Wörter liebt, fällt mir das Sprechen manchmal echt schwer.

»Wenn jemand ein Buch herausbringen kann, dann ja wohl Sie! Es sei denn, Neil kommt Ihnen zuvor.«

»Ich sollte los«, werfe ich vorsichtig ein.

»Alles klar, logisch«, sagt sie und umarmt mich, bevor sie weiterläuft.

Heute gibt es so viele letzte Gelegenheiten, und die womöglich wichtigste ist, McNair zu schlagen. Wenn ich Abschlussbeste werde, hat das intellektuelle Tauziehen endgültig ein Ende. Ich wäre Rowan Luisa Roth, Abschlussbeste der Westview Highschool, Punkt. Kein Komma. Kein »und«. Nur ich.

Dank meines inneren Monks steuere ich nicht direkt den Klassenraum, sondern zuerst das Sekretariat an. Ich würde mich nämlich noch schlechter fühlen, wenn ich für meine Verspätung nicht mal eine Entschuldigung vorzuweisen hätte – selbst am letzten Schultag. Mit gestrafften Schultern drücke ich die Tür auf. Und finde mich Auge in Auge mit Neil McNair wieder.

Eine kurze Geschichte von Rowan Roth vs. Neil McNair

 

SEPTEMBER, NEUNTE KLASSE

Der Essay-Wettbewerb, mit dem alles begann, angekündigt für die erste Woche nach den Sommerferien. Ich war immer die Beste im Schreiben. Schon auf der Middleschool. Genau wie der dünne Rotschopf mit dem Sommersprossenüberschuss wahrscheinlich. Erster Platz geht an McNair mit seinem geliebten Fitzgerald, zweiter Platz an Roth. Ich schwöre, ihn bei nächster Gelegenheit zu schlagen – egal worin.

NOVEMBER, NEUNTE KLASSE

Der Schulsprecher fragt nach Freiwilligen für das Stufensprecheramt. Da eine Führungsrolle sich sicher gut in meiner College-Bewerbung macht und ich auf Stipendien angewiesen bin, melde ich mich. Ebenso McNair. Keine Ahnung, ob er das wirklich will oder mich nur ärgern möchte. Wen kümmert’s. Ich habe am Ende drei Stimmen mehr.

FEBRUAR, ZEHNTE KLASSE

Wir werden gezwungen, das Pflichtfach Sport zu belegen, obwohl wir uns bei der Stundenplanberatung den Mund fusselig reden, dass wir die Zeit besser für unsere anspruchsvollen Advanced-Placement-Kurse (kurz AP-Kurse) nutzen könnten. Wir kommen beide nicht mit den Fingerspitzen an die Zehen, aber McNair schafft ganze drei Klimmzüge, ich nur eineinhalb. Seine Arme sind kein bisschen definiert. Wie kann das überhaupt sein?

MAI, ZEHNTE KLASSE

McNair erzielt volle 1600 Punkte im Eignungstest fürs College, ich 1560. Ich wiederhole ihn im Monat darauf und erreiche 1520. Die Info nehme ich mit ins Grab.

JANUAR, ELFTE KLASSE

Unser Chemielehrer macht uns zu Laborpartnern. Nach ein paar Auseinandersetzungen, chemikalischen Unfällen und einem (kleinen) Feuer, das hauptsächlich auf meine Kappe geht – auch diese Info nehme ich mit ins Grab –, hat er genug und trennt uns.

JUNI, ELFTE KLASSE

Bei der Schulsprecherwahl steht es 50:50. Niemand von uns verzichtet auf das Amt. Widerwillig teilen wir es uns.

APRIL, ZWÖLFTE KLASSE

Bevor die College-Antworten eintrudeln, wette ich mit ihm, wer von uns die meisten Zusagen bekommt. McNair schlägt vor, prozentual zu vergleichen. Davon ausgehend, dass wir unsere Fühler in mehrere Richtungen ausstrecken, stimme ich zu. Ich werde an sieben von zehn angenommen. Erst nach Ablauf der Frist erfahre ich, dass McNair, oberschlau und selbstsicher wie immer, sich nur für ein College beworben hat.

Seine Erfolgsquote: 100 Prozent.

7:21 Uhr

Am Empfang sitzt mein schlimmster Albtraum. »Rowan Roth. Ich hab dir was mitgebracht.«

Mein Puls schießt in die Höhe, wie immer kurz vor einem Wortgefecht mit McNair. Ich habe total vergessen, dass er vor Unterrichtsbeginn im Sekretariat aushilft (Schleimer – ernsthaft, so was hab ich nicht nötig). Hinüber ist die Hoffnung, dass er mich bis zur Versammlung nur übers Handy terrorisiert.

Mit den vor sich verschränkten Händen erinnert er mich an einen grausamen König, der auf den Knochen seiner Widersacher thront. Die roten Haare sind noch feucht von der morgendlichen Dusche, oder vom Regen. Wie erwartet trägt er einen seiner Versammlungsanzüge: ein schwarzes Sakko, dazu ein weißes Hemd und eine blau gemusterte Krawatte – unnormal sorgfältig und fest geknotet. Trotzdem fallen mir die kleinen, aber feinen Makel sofort auf. Seine Hose ist einen Zentimeter zu kurz, seine Ärmel einen Zentimeter zu lang. Auf dem linken Brillenglas prangt ein Fingerabdruck, und hinter dem Ohr steht eine ungebändigte Haarsträhne ab.

Das allerschlimmste aber ist sein Gesichtsausdruck. Er hat die Lippen zu diesem Grinsen verzogen, das er seit dem Sieg im Essay-Wettbewerb perfektioniert hat.

Ehe ich etwas erwidern kann, greift er in die Sakkotasche und wirft mir eine Minipackung Taschentücher zu. Zum Glück schaffe ich es trotz meiner mangelnden Hand-Augen-Koordination, sie zu fangen.

»Wäre nicht nötig gewesen«, sage ich trocken.

»Meiner Co-Schulsprecherin soll es doch am letzten Tag an nichts fehlen. Was führt dich an diesem stürmischen Morgen ins Sekretariat?«

»Du weißt genau, warum ich hier bin. Stell mir einfach so einen Wisch aus.«

Er runzelt die Stirn. »Was für einen Wisch hättest du denn gerne?«

»Du weißt, welchen!« Als er mit den Schultern zuckt und weiterhin den Ahnungslosen mimt, verbeuge ich mich salbungsvoll vor ihm. »Oh McNair, Herrscher über das Sekretariat«, trällere ich melodramatisch, um ihn auf die Palme zu bringen. Er hat schließlich mit diesem Theater angefangen, und mir bleiben nicht mehr viele Gelegenheiten, ihn zu ärgern. Also sollte ich mich danebenbenehmen, solange ich noch kann. »Untertänigst bitte ich Euch um einen letzten Gefallen: eine vermaledeite Verspätungsbescheinigung!«

Er schwingt mit dem Stuhl herum und holt einen Stapel grüner Formulare aus der Schreibtischschublade – in der Geschwindigkeit ziemlich zähen Ahornsirups. Bevor ich McNair kennengelernt habe, wusste ich nicht, dass Geduld sich wie ein Körperteil anfühlen kann, den er dehnt und verbiegt, wie es ihm passt.

»War das deine Interpretation von Prinzessin Leia in den ersten fünfundzwanzig Minuten von Eine neue Hoffnung, in denen sie noch nicht erkennt, dass es ihr nichts bringt, die Nase so hochzutragen?« Angesichts meines verwirrten Blicks schnalzt er mit der Zunge, als würde es ihm körperlich wehtun, dass ich die Anspielung nicht verstehe. »Ach stimmt, diese großartigen Insider aus Star Wars weißt du ja nicht zu schätzen, Erzwo.«

Da bei mir Vorname und Nachname mit R anfangen, hat er mich Erzwo getauft, nach R2-D2. Ich habe die Filme zwar nie gesehen, weiß aber, dass R2-D2 eine Art Roboter ist, also meint er es als Beleidigung. Seine förmliche Besessenheit hat mein Interesse für Star Wars im Keim erstickt.

»Ist nur fair. Du weißt ja auch so vieles nicht zu schätzen«, entgegne ich. »Meine Zeit zum Beispiel. Geht’s noch langsamer?«

Wir sabotieren uns immer gegenseitig, aber nie auf richtig böse Art. Wie damals, als er seinen USB-Stick in einem Büchereicomputer hat stecken lassen, und ich ihn mit Dubstep-Musik vollgeladen habe. Oder als er in der Cafeteria das Chili-con-keine-Ahnung über meine Mathehausaufgabe (die hätte Zusatzpunkte gegeben!) geschüttet hat. Und woran ich mich persönlich am liebsten erinnere: Als ich die Hausmeisterin mit einem Set signierter Bücher von meinen Eltern für ihre Kinder bestochen habe, damit sie McNairs Spindkombination verrät. Mit anzusehen, wie er sich daran die Zähne ausbeißt, war unbezahlbar.

»Fordere mich nicht raus. Ich kann noch viel langsamer.« Als Beweis braucht er ganze zehn Sekunden, um die Kappe des Stifts abzuziehen. Sehr witzig! Es kostet mich alles an Zurückhaltung, nicht über den Tresen zu langen und ihm den Stift wegzuschnappen. »Das heißt dann wohl: Adé, Null-Fehlzeiten-Urkunde«, meint er und schreibt meinen Namen auf.

Selbst seine Hände sind mit Sommersprossen übersät. In einer unserer SV-Sitzungen habe ich aus Langeweile angefangen, die kleinen Punkte in seinem Gesicht zu zählen. Bei Hundertzwanzig habe ich aufgehört.

»Mir genügt es, Abschlussbeste zu werden«, erwidere ich mit gezwungen süßem Lächeln. »Uns beiden ist doch klar, dass die anderen Auszeichnungen total banal sind. Aber für dich wäre die Null-Fehlzeiten-Urkunde natürlich ein guter Trostpreis. Die kannst du dir zu Hause neben die Dartscheibe mit meinem Bild hängen.«

»Woher weißt du, wie mein Zimmer eingerichtet ist?«

»Versteckte Kameras. An allen Ecken und Enden.«

Er schnaubt. Ich recke den Hals, um zu sehen, was er als Verspätungsgrund notiert.

Hat versucht, Kleid braun zu färben. Spektakulär gescheitert.

»Echt jetzt?«, frage ich und ziehe den Cardigan über den Fleck, der geradezu schreit: Hier! Brüste! »Ich stand im Stau. Die Ampeln in unserem Stadtteil waren aus.« Den Auffahrunfall erwähne ich mit keiner Silbe.

Er kreuzt UNENTSCHULDIGT an und reißt das Formular vom Block und in der Mitte durch. »Ups«, sagt er, klingt aber ganz und gar nicht so, als würde es ihm leidtun. »Da muss ich wohl noch mal neu anfangen.«

»Super. Ich hab’s ja nicht eilig.«

»Erzwo, heute ist der letzte Schultag.« Er schlägt die Hände vors Herz. »Wir sollten diese kostbaren gemeinsamen Momente genießen. Wenn ich es mir recht überlege …« Er holt einen schicken Kalligrafie-Stift aus seiner Sakkotasche. »Das ist die perfekte Gelegenheit, meine Schönschrift zu üben.«

»Das ist doch nicht dein Ernst!«

Unbeeindruckt mustert er mich über den Rand seiner dünnen ovalen Brillengläser. »Darüber würde ich nie Witze machen.«

Dies könnte der Anfang meiner villain era sein. Er drückt die Spitze aufs Papier und lässt langsam Buchstaben darauf entstehen. Dabei rutscht ihm die Brille immer weiter die Nase runter. McNairs konzentrierter Gesichtsausdruck ist zum Schießen, aber irgendwie auch gruselig. Er presst Kiefer und Zähne aufeinander und verzieht den Mund leicht zu einer Seite. In dem Anzug wirkt er steif, wie ein Buchhalter oder Versicherungsberater oder ein kleines Licht in einer Software-Firma. Ich habe ihn noch nie auf einer Party getroffen und kann mir auch nicht vorstellen, dass er je entspannt genug ist, einen Film zu gucken. Nicht mal Star Wars.

»Sehr beeindruckend. Ganz klasse«, bemerke ich sarkastisch, dabei sieht mein Name in den feinen schwarzen Tintenschnörkeln gar nicht mal schlecht aus. Auf einem Buchcover würde sich das bestimmt gut machen.

Er hält mir das Formular hin, gibt es aber noch nicht aus der Hand, damit ich nicht direkt abhaue. »Warte kurz. Ich will dir was zeigen.«

McNair lässt den Zettel so abrupt los, dass ich nach hinten taumele, springt auf und marschiert aus dem Sekretariat. Ich bin zwar genervt, aber auch neugierig, also hefte ich mich an seine Fersen. Vor der Pokalvitrine bleibt er mit einer ausladenden Geste stehen.

»Ich gehe seit vier Jahren auf diese Schule. Ich kenne die Vitrine«, sage ich.

Doch er lenkt meine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Gedenktafel, in die Namen und Abschlussjahre graviert sind. Er tippt gegen das Glas. »Donna Wilson, 1986. Westviews erste Abschlussbeste. Weißt du, was sie gemacht hat?«

»Sich vier Jahre der Qual erspart, weil sie schon drei Jahrzehnte, bevor du kamst, ihren Abschluss in der Tasche hatte?«

»Nah dran. Sie war US-Botschafterin in Thailand.«

»Wo ist das denn nah dran?«

Er wedelt mit der Hand. »Steven Padilla, 1991. Hat den Nobelpreis für Physik erhalten. Swati Joshi, 2006. Hat olympisches Gold im Stabhochsprung gewonnen.«

»Falls du mich mit deinem Wissen über vergangene Abschlussbeste beeindrucken willst – Mission accomplished.« Ich trete an ihn heran und klimpere mit den Wimpern. »Das törnt mich so was von an.«

Ich übertreib’s, schon klar, aber das ist die leichteste Art, diesen nicht aus der Ruhe zu bringenden Typen aus der Ruhe zu bringen. Er und seine letzte Freundin, Bailey, haben sich in der Schule nicht mal angeguckt. Da habe ich mich öfter gefragt, was wohl privat so lief. Allein bei dem Gedanken, er könnte seine harte Schale lange genug abstreifen, um rumzumachen, wurde mir flau im Magen – so furchtbar fand ich die Vorstellung, dass jemand Neil McNair küsst.

Wie erhofft wird er rot. Normalerweise ist die Haut unter den Sommersprossen superhell, von daher bekommt man jede noch so kleine Gefühlsregung mit.

Er räuspert sich. »Was ich eigentlich sagen will: Westview High hat viele erfolgreiche Abschlussbeste zu verzeichnen. Was würde bei dir stehen? Rowan Roth – Liebesromankritikerin? Ist irgendwie nicht auf dem gleichen Level, oder?«

Kirby und Mara habe ich erzählt, dass ich keine Liebesromane mehr lese, aber McNair erwähnt sie immer noch bei jeder Gelegenheit. Sein abfälliger Tonfall ist einer der Gründe, warum ich mit meiner Vorliebe für diese Bücher nicht hausieren gehe.

»Vielleicht schreibst du mit deinem guten Abschluss ja sogar einen eigenen«, fährt er fort. »Noch ein Liebesroman – genau das, was die Welt braucht.«

Bei seinen Worten weiche ich zurück, bis seine Sommersprossen zu einer Masse verschwimmen. Er soll nicht merken, wie sehr mich das trifft. Selbst wenn ich irgendwann den Titel »Romance-Autorin« trage, würden Leute wie McNair keine Sekunde zögern, mich niederzumachen und das zu verspotten, was ich so liebe.

»Muss ganz schön traurig sein, Romantik so zu verabscheuen, dass man sie nicht mal anderen gönnt«, sage ich.

»Du bist doch gar nicht mehr mit Sugiyama zusammen, oder?«

»Ich … Was?«

»Wegen der Romantik? Ich dachte, das hätte sich erledigt.«

Hitze steigt mir ins Gesicht. Das ist … Mit diesem Gesprächsverlauf habe ich nicht gerechnet.

»Spencer hat damit nichts zu tun.« Dann hole ich zum Gegenschlag aus, tief unter der Gürtellinie: »Du siehst heute so anders aus, McNair. Haben sich die Sommersprossen über Nacht vermehrt?«

»Müsstest du mit deinen versteckten Kameras doch am besten wissen.«

»Tja, die übertragen die Bilder leider nicht in HD.« Ich verkneife mir den schmutzigen Witz, der mir auf der Zunge liegt, und fuchtle mit dem grünen Formular vor seinem Gesicht herum. »Da du so nett warst und mir eine Bescheinigung ausgestellt hast, sollte ich sie wohl besser nutzen.«

Das letzte Mal, dass die Anwesenheit überprüft wird. Ich hoffe, der Spaziergang zum Klassenzimmer hilft meinem Puls dabei, sich zu beruhigen. Das Adrenalin gibt immer Vollgas, wenn ich mit McNair rede. Der Stress, den er bei mir auslöst, hat meine Lebenserwartung wahrscheinlich schon um ein halbes Jahrzehnt verkürzt.

Er nickt. »Das Ende einer Ära. Du und ich.« Seine Stimme klingt sanfter als noch vor zehn Sekunden.

Einen Moment lang sage ich nichts, sondern frage mich, ob sich der heutige Tag für ihn wohl genauso endgültig anfühlt wie für mich. Schließlich erwidere ich: »Ja. Sieht ganz so aus.«

Auf einmal scheucht er mich mit einer Geste fort und reißt mich damit aus der Nostalgie. Sofort verspüre ich wieder die altbekannte Verachtung.

Bye, bye, McNightmare.

LEIHFRIST-ERINNERUNG

Westview Highschool Bücherei

<[email protected]>

An: [email protected]

10. Juni, 14:04 Uhr

 

Diese Mail wurde automatisch erstellt.

 

Die Leihfrist der folgenden entliehenen Medien ist abgelaufen. Bitte geben Sie sie zurück oder verlängern Sie die Frist, um Mahngebühren zu vermeiden.

 

Dein Weg zur Bestnote: Analysis für Fortgeschrittene / Griffin, Rhoda

Meisterlich durch die Prüfung: Politik für Fortgeschrittene / Wagner, Carlyn

Liebeserklärungen: Liebesromane im Wandel der Zeit / Smith, Sonia und Tilley, Annette

Austen analysieren / Ramirez, Marisa

Was nun? Das Leben nach der Highschool / Holbrook, Tara

8:02 Uhr

Fünfzehn Minuten mit McNerv, und schon kündigen sich Kopfschmerzen an. Ich massiere mir die Schläfen und haste zum Klassenzimmer.

»Unsere zukünftige Abschlussbeste«, begrüßt mich Mrs. Kozlowski lächelnd, als ich ihr die Bescheinigung reiche. Hoffentlich hat sie recht.

Die erste Stunde verbringen wir jeden Tag in einer Art Klassenverband, bunt zusammengewürfelt aus Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Stufen. Das hat McNair vor zwei Jahren bei einer SV-Sitzung angeregt, und die Schulleiterin hat ihm natürlich sofort aus der Hand gefressen. Die Idee an sich war nicht schlecht, nur gäbe es wesentlich dringendere Baustellen: die immer extremeren Plagiatsversuche in der Neunten, die Verkleinerung unseres CO2-Fußabdrucks und die längst überfällige Erweiterung des Speiseangebots in der Cafeteria, damit Unverträglichkeiten endlich berücksichtigt werden.

Bevor ich mir einen Weg zu Kirby und Mara bahnen kann, stürzen drei Mädchen aus der Elften auf mich zu.

»Hi, Rowan!«, sagt Olivia Sweeney.

»Wir haben uns schon Sorgen gemacht, dass du nicht kommst«, meint ihre Freundin Harper Chen.

»Jetzt bin ich ja da«, erwidere ich.

»Zum Glück«, wirft Nisha Deshpande ein, und die drei kichern.

Wir sind zusammen in der Schülervertretung, und sie stehen geschlossen hinter mir, nicht hinter McNair, wofür ich echt dankbar bin. Sie machen mir immer Komplimente zu meiner Kleidung, haben bei etlichen Kampagnen geholfen und mir nach der Zusage für die Emerson sogar Cupcakes mitgebracht. Kirby und Mara nennen sie meinen »Fanclub«. Und die Mädels sind wirklich etwas übereifrig, wenn auch sehr lieb.

»Steht alles für die Pirsch?«, frage ich.

Die drei grinsen sich verschmitzt an.

»Wir sind schon seit Wochen fertig«, erklärt Nisha. »Ich will ja nicht angeben, aber das könnte die beste Pirsch ever werden.«

»Von uns gibt es keine Tipps«, fügt Harper hinzu.

»So gern wir dir einen Vorsprung verschaffen würden.« Olivia bückt sich und zieht ihre Kniestrümpfe hoch, die verblüffende Ähnlichkeit mit meinen haben.

»Okay, keine Tipps.« Voriges Jahr haben McNair und ich das Spiel organisiert. Da allerdings kein Ort zweimal benutzt werden darf, sind wir genauso ahnungslos wie alle anderen Mitspielenden.

»Schreibst du uns was ins Jahrbuch?«, fragt Nisha. »Ist ja dein letzter Schultag.«

Prompt halten mir alle drei einen Edding hin. Also kritzle ich fleißig eine etwas abgewandelte Nachricht in jedes Buch. Nachdem sie sich im Chor bei mir bedankt haben, steuere ich auf Kirby und Mara zu, die mir aus einer Ecke des Raumes zuwinken. Mom hatte recht, wir tauschen in der ersten Stunde nur Jahrbücher hin und her. Im Anschluss wird die Versammlung stattfinden, und für diejenigen, die ihren Abschluss noch nicht gemacht haben, gilt heute ein verkürzter Stundenplan.

»Da bist du ja«, begrüßt mich Kirby. Sie hat sich die schwarzen Haare wie eine Krone um den Kopf geflochten. Letztes Jahr haben wir stundenlang zu dritt den Bauernzopf geübt, aber Kirby ist die Einzige, die es richtig hinkriegt. »Was war heute Morgen los?«

Ich berichte von dem Stromausfall und der Spencer-Panne. »Und dann wurde ich im Sekretariat gemacnairvt. Was für ein Tag! Dabei ist es erst acht Uhr.«

Mara legt mir beschwichtigend eine Hand auf den Arm. Sie ist ruhiger und bedachter als Kirby, reißt in der Gruppe selten das Gespräch an sich und stellt sich nur in den Mittelpunkt, wenn sie auf der Bühne ein Solo tanzt. »Alles okay bei dir?«

»Ja, McNair hat sich nur wieder unmöglich benommen. Die Verspätungsbescheinigung hat er in Schönschrift ausgefüllt. Ist das zu fassen? Hat mich an letzten Herbst erinnert, als ich für den Jane-Austen-Aufsatz recherchieren musste und er das Internet in der Bücherei mit dem Runterladen seiner bescheuerten Hundevideos lahmgelegt hat. Er lässt sich einfach Chance entgehen, mich auszubremsen.«

Sie zieht eine helle Augenbraue hoch. »Eigentlich habe ich wegen des Unfalls gefragt.«

»Oh, ach so. Mir geht’s gut, bin nur noch etwas geschockt. Ich bin noch nie jemandem hinten reingefahren.« Keine Ahnung, warum meine Gedanken direkt zu McNair gewandert sind, wo der Unfall eindeutig das heftigere Erlebnis war.

»Mara«, ruft Kirby plötzlich aus und deutet auf ein Foto im Jahrbuch, das die beiden tanzend bei der Wintertalentshow zeigt. »Guck mal, wie süß wir zusammen aussehen.«

Kirby Taing und ich haben uns angefreundet, als wir beim klassischen Vierte-Klasse-Vulkanexperiment Partnerinnen waren. Kirby wollte mehr Natron reinkippen, um einen stärkeren Ausbruch zu provozieren. Es war eine Riesensauerei, aber immerhin wurde es mit B bewertet. Wenig später hat sie die viel ehrgeizigere Mara Pompetti in einem Ballettkurs kennengelernt.