Seebeben - Djaimilia Pereira de Almeida - E-Book
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Beschreibung

Der alte Boa Morte zieht durch die Gassen Lissabons, findet Obdach in verborgenen Winkeln, lauscht dem Gebimmel erzürnter Straßenbahnen und dem Gesang der Betrunkenen. Früher hat er in der Kolonialarmee gegen die Unabhängigkeit seiner Landsleute gekämpft, heute verdient er sich als Parkplatzeinweiser ein paar Münzen für die nächste Mahlzeit. Zusammen mit seiner Freundin Fatinha erhascht er Momente der Zufriedenheit, wenn abends zu ihren Füßen die Lichter des Viertels aufleuchten. Doch seine Erinnerungen fordern ihren Tribut, und die dunklen Bilder seiner Vergangenheit hüllen die Farben der Stadt in einen grauen Schleier. Ohne zu urteilen, erzählt Almeida von einem Gestrandeten, den die Geschichte vergessen will, der selbst jedoch seine Geschichte nicht vergessen kann.

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Seitenzahl: 166

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Über dieses Buch

Der alte Boa Morte zieht durch die Gassen Lissabons, verdient sich ein paar Münzen als Parkplatzeinweiser, findet Obdach in verborgenen Winkeln. Früher hat er in der Kolonialarmee gekämpft, heute sucht er ein wenig Glück in den Lichtern des Viertels. Doch die dunklen Bilder seiner Vergangenheit hüllen die Farben der Stadt in einen grauen Schleier.

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Djaimilia Pereira de Almeida (*1982 in Angola) wuchs in Portugal auf. Sie ist promovierte Literaturtheoretikerin, Autorin und schreibt für verschiedene Zeitschriften und Magazine. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. den Prémio Oceanos. Almeida lebt in Setúbal.

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Barbara Mesquita, geboren 1959 in Bremen, arbeitet u. a. als Literaturübersetzerin für Portugiesisch und Spanisch mit Schwerpunkt auf den lusofonen Ländern Afrikas. Sie hat u. a. Patrícia Melo, Luis Fernando Veríssimo, Pepetela und Arménio Vieira übersetzt.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Djaimilia Pereira de Almeida

Seebeben

Roman

Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Übersetzung wurde gefördert durch DGLAB/Cultura und das Instituto Camões, IP - Portugal.

Originaltitel: Maremoto

© by Djaimilia Pereira de Almeida 2021

Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit Literarische Agentur Mertin Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main

© by Unionsverlag, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Pflanzen – Illustration aus Les liliacées (1805) von Pierre-Joseph Redouté, New York Public Library; hinteres Haus – Unsplash; übrige Motive – Alamy Stock Foto

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31135-0

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 19.01.2023, 14:56h

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Im Andenken an meinen Vater

Vielleicht hat jemand das Mädchen bemerkt, das an der Haltestelle der Straßenbahnlinie 28 in der Rua do Loreto lebte. Sie redete wirres Zeug. Er, der Kombattant, war Parkplatzeinweiser, ein paar Straßen weiter unten, in der António Maria Cardoso. Ob sie sich begegnet sind oder nicht, ob sie sich unterhalten haben oder nicht, sie waren Zeitgenossen, wie zwei Bäume, zwei streunende Hunde, zwei Schauspieler Zeitgenossen sind. Er lief immer in kurzen Ärmeln herum, ihm war nie kalt. Sie trug einen langen Rock und schwarze, zerschlissene Pullover. Deckte sich mit Pappkartons zu. Schlief im Regen. Wer weiß, ob die beiden merkten, dass wir die Straßenseite wechselten, um ihnen aus dem Weg zu gehen, die Straßenseite, auf der unser Tod wandelte und nicht der ihre.

Heiße Maroni am Eingang zur Metro. Sie erinnern mich daran, was ich seit meiner Kindheit mit der Zeit verloren habe. Der Rauch steigt in die Luft und verfliegt. Der Duft breitet sich in der Straße aus und weht bis zur António Maria Cardoso, wo ich meinen Dienst versehe. Ich werde mit leeren Händen alt. Das Leben, Aurora, mitunter ist es eine Spazierfahrt in einem Boot ohne Ruder. Manchmal vergeht eine lange Weile ohne ein einziges Auto, das mir eine Münze einbringt. Der Kopf fängt an davonzufliegen und ist nur schwer wieder einzufangen. Ich bin da, vielleicht sieht man mich dort stehen, die Straße auf und ab gehen, aber der Kopf von Boa Morte ist unterwegs zum Cais das Colunas, überquert den Tejo nach Barreiro, tanzt, Seixal, Sacavém, der Kopf von Boa Morte wandert hinunter zur Algarve und wieder zurück. Wer hätte gedacht, dass ich einmal so enden würde, als einer, der diese Straße der Lebenden und der Toten auf und ab läuft, der von der Barmherzigkeit der anderen lebt und bewacht, was gar nicht in Gefahr ist? Mitunter, stets gegen sieben Uhr abends, taucht ein junges Liebespaar auf. Sie gehen im Theater einen Kaffee trinken, ich kenne sie schon, sie geben mir jedes Mal einen Euro. Die Gewohnheiten aller, die hier verkehren, sind mir vertraut. Nach einer gewissen Zeit ist die Straße ein Zuhause oder das Büro der Revison, mit festen Zeiten und den immergleichen Gesichtern. Man könnte erwarten, dass jeder Tag etwas Neues bringen würde. Aber die António Maria Cardoso ist wie eine vom Uhrmacher aufgezogene Uhr. Wir sind Gewohnheitstiere, und die Stadt ist aus unserer fixen Idee gemacht, stets das Gleiche zur gleichen Zeit zu tun. Ich gehe die Straße hinauf, ich gehe die Straße hinunter, ich komme mit meinen Studien voran.

Ich bleibe in der Rua António Maria Cardoso nahe der Unterstadt. Boa Morte tritt seinen Dienst frühmorgens an, bricht in Prior Velho auf, wenn es noch Nacht ist. Mit dem Wind um die Nase ist Lissabon am Morgen richtig schön. Gestern habe ich bis zu so später Stunde geschrieben, dass mir heute die Finger wehtun. Nachträge zu dem Plan für den Gemüsegarten, den wir hinter dem Haus von Dona Idalina, unserer Vermieterin, anzulegen gedenken, aber eins nach dem anderen. Beim Parkplatz angekommen, ziehe ich meine Weste an. Das dort ist die Straße, sie gehört niemandem, aber ich trage stets die Weste, um mich, ich weiß nicht, wie ein Angestellter zu fühlen.

Dein Vater bricht gegen fünf zur Arbeit auf, um Viertel nach fünf bin ich auf dem Weg. Die Weste ist eine von diesen grauen Westen, die ich beim Paga Pouco aufgetrieben habe. Wenn es für den Bus reicht, schaue ich während der Fahrt aus dem Fenster, schlafe ein wenig, wenn nicht, gehe ich zu Fuß, aber im Herzen sage ich mir stets »Los, Boa Morte, Zeit, zur Arbeit zu gehen«. Das erinnert mich sogleich an die alten Zeiten, Speditionsangestellter Boa Morte da Silva, mit Firmenschild und Büro, schönem Schreibtisch, Walnussfurnier, das werde ich nicht vergessen, handgefertigt in der Stadt Guimarães, die Herren von der Revison haben deinen Vater geachtet, Kind, das kannst du mir glauben, ich habe sogar die Vertreter der Geschäftsleitung ganz bis nach Silva Porto, heute Cuíto, begleitet, wir sind dorthin gefahren, um die Kakaolieferungen in Empfang zu nehmen, die weiter nach Pretoria gehen sollten, dein Vater war verantwortlich für die Bestandsaufnahme und den Versand der Waren. Meine Hefte, mein Arbeitstisch, meine Hemden, Stifte, Füllfederhalter, mein Kind, eine hübsche kleine Uhr, die mir mein Chef, der unvergessene Doktor Octávio Semedo, geschenkt hat. Behandelt wie ein Mensch. Dann träume ich vor mich hin und führe laute Selbstgespräche. Wir machen unsere Bemerkungen über Frauen, ich und mein Selbst, das ja noch ein junger Knopf ist. Der Bahnhof ist immer eine Überraschung, jede Woche gibt es dort etwas Neues, stets ist irgendetwas anders, hat ein Café aufgemacht, ein Geschäft geschlossen, ist der Wachmann ein anderer junger Mann. Die Münzen vom Vorabend reichen nur für die Hinfahrt, für die Rückfahrt muss ich das Tagesende abwarten. Am Chiado, so heißt der Ort, bleibe ich vor dem Theater stehen, einem schönen großen Gebäude, dem Teatro São Luiz.

Nebenan befindet sich das Café A Brasileira, vor dem sich eine Statue des Dichters Fernando Pessoa befindet. Oh salzige Flut, wie viel von deinem Salz sind Tränen Portugals. Morgens muss ich zu der Baustelle am Ende der Straße gehen und die Poller holen, die Jacaré mir besorgt hat, um die Parkplätze für die Geschäftsinhaber der Gegend zu markieren. Das ehemalige Gebäude der Geheimpolizei Pide wird gerade zu einer geschlossenen Wohnanlage umgebaut. Wenn ein Wagen wegfährt, markiere ich den Platz mit zwei Pollern, so müssen die Herren nicht suchen. Sie kommen gegen acht, halb neun, manchmal gehe ich für einen von ihnen in die Wäscherei, die Hemden abholen, er gibt mir zwei Euro, ein andermal bringe ich ein Kind in die Schule, noch ein Euro oder irgendetwas anderes, und wenn auch nur ein Butterbrötchen und ein Espresso. Manchmal stelle ich mich in der Brasileira an den Tresen, dein Vater läuft nämlich nicht schmutzig herum, mein Kind. Hab niemals, niemals, niemals Mitleid mit deinem Vater.

Gerne würde ich deine Stimme hören, Aurora, deinen Worten lauschen und in deine Augen sehen, neben dir lebendig sein, atmen wie du. Ich werde Abdul von Tia Nina teuer dafür bezahlen, dass er einen Stapel Papiere und Informationen mitnimmt, um in Bissau nach dir zu suchen. Ein kleines Armband für dich ist auch dabei, ich weiß nicht einmal deine Größe, ich habe sie mithilfe der jungen Frau im Laden überschlagen. Der Alltag lässt keine großen Sprünge zu. Ich denke an dich in Bissau, wo so viel Missachtung und Gewalt herrschen, da kann eine alte Seele keine Ruhe finden. Hast du das Gymnasium abgeschlossen, Kind? Vielleicht bin ich sogar schon Großvater und weiß es nicht, bin Vater einer verheirateten Tochter und weiß es nicht. Ich habe einen Platz im Fegefeuer erwischt, Abteilung Parkplatz in der Stadt.

Mädchen, was ein Mann den ganzen Tag auf der Straße nicht alles zu sehen bekommt! Kleine Kinder mit Mutter und Vater, große Motorräder, traurige Männer, Männer mit fröhlichem Gesicht. Frauen, also gut, Damen, schick gekleidet, wie ich sie nur zu meiner Zeit in Pretoria gesehen habe. Anfangs hat es mich gestört, den ganzen Tag zu stehen.

Ich habe furchtbare Rückenschmerzen bekommen, den Kopf zu voll gehabt vom Anblick der vielen Leute. Man gewöhnt sich an alles, und immerhin reicht es für das Abendessen und ein Zimmer in Dona Idalinas Viertel. Dona Idalina? Ein Engel, diese Frau. Ich gehe immer in das Haus meiner Vermieterin, um das Telefon zu benutzen. Neulich, habe ich es schon erzählt?, habe ich mir in den Finger geschnitten, als ich Vando dabei geholfen habe, die Satellitenantenne in der Kneipe des Viertels anzubringen, Dona Idalina hat mir einen Verband angelegt und mir auch ein Medikament gegen die Kopfschmerzen besorgt, der Arzt vom Gesundheitszentrum kommt manchmal nicht, keine Ahnung, warum nicht, entweder, weil er nicht kann, oder weil er es nicht schafft. Aber die eigentliche Neuigkeit ist meine Idee, hinter Dona Idalinas Haus einen Gemüsegarten anzulegen. Sie überlässt mir das Grundstück, es hat einen Brunnen. Ich könnte Avocados pflanzen, Tomaten, Rüben, Spinat, Kartoffeln, vielleicht sogar Zuckerrohr. Das würde reichen, um die Kinder im Viertel satt zu bekommen und womöglich sogar noch etwas zu verkaufen, in der Innenstadt am Rossio oder am Largo de São Domingos. Mit dem Geld wäre ich dann nicht mehr nur auf den Parkplatz angewiesen.

Ich kann mich an den Chiado noch aus den Zeiten des Wiederaufbaus erinnern, nach dem Brand. Alles hat sich verändert. Morgens komme ich an, wenn die Bäcker nach Hause gehen, abends geht es hier schlimm zu. Die Fixer, sie rennen nachts von einer Ecke zur anderen, ich mit meinem Geld vom Parkplatz beschleunige meinen Schritt und bin immer auf der Hut. Es ist, als könnte ich sie riechen. Kind, dein alter Vater hinkt bereits. Die Zeit walzt uns nieder, das wirst du noch lernen, wenn es bei dir so weit ist.

Im vergangenen Frühling habe ich Jardel kennengelernt. Es nieselte, als ich aus dem Bus stieg und diesen Hund neben mir sah. Klein, voller Flöhe, trottete er hinter mir her, vom Campo Grande bis zum Chiado. An dem Tag konnte ich nicht mit der Metro fahren, ich hatte kein Geld. Seit dieser ersten Begegnung begleitet mich der kleine Jardel überallhin, nachts schläft er am Chiado, wenn ich morgens eintreffe, erwartet er mich schon, als würde ich gerade nach Hause kommen. Er kann zwar nicht sprechen, aber sobald er mich erblickt, leckt er mir die Beine und wedelt überglücklich mit dem Schwanz.

Anfangs hat mich das ganz durcheinandergebracht, dieser Hund, verdammt, keine Ahnung, ob das Tier jemandem gehört, nachher heißt es noch, ich hätte ihn gestohlen, aber wenn ich ihn jetzt sehe, überkommt mich die Freude, und die Straße wird ein bisschen heiterer.

Jetzt ist hier August, die Stadt schläft. Der Ferienmonat ist hart, in der António Maria Cardoso kommen keine Autos vorbei, niemand kommt vorbei. Ich gehe zur Rua do Loreto, dort kenne ich ein Mädchen, das an der Straßenbahnhaltestelle lebt, sie ist aus São Tomé und Príncipe, aber geboren in Portugal, sie tut mir leid.

Sie sitzt den ganzen Tag an der Haltestelle der 28, wann immer sie mich sieht, wechseln wir ein paar Worte, wenn ich mit Jardel komme, freut sie sich, sie heißt Fatinha und hat mir gesagt, sie sei zwanzig Jahre alt.

Die Kleine duscht nicht, sie hat schwer Diabetes, und ich gebe ihr Ratschläge. Das Mädchen muss ins Krankenhaus. Sie redet wirres Zeug, und so sitzen wir zwei da im August, »damit die Sonne uns bräunt«, so ihre Worte, sie nennt mich »mein Prinz«, vielleicht aus Sehnsucht nach ihrer Heimat. Ich habe sie auch schon dabei ertappt, wie sie Marihuana geraucht hat, aber wenn es gerade passt, wenn der Anblick Jardels sie beflügelt, unterhalten wir uns angeregt, auf ihre Art und Weise, sie stellt mir schwierige Fragen. »Haben Sie schon mal jemanden umgebracht, Senhor Boa Morte? Sind Sie ein Mörder, Senhor Boa Morte? Wenn ja, behalten Sie es für sich, es macht mir nichts aus.« Ihr Gesichtsausdruck verändert sich, sie wird ernst, ich wünschte, du könntest das sehen, wir sitzen an der Haltestelle, überall Müll, Pappkartons, Kleiderbündel. »Hallo, mein Prinz, willkommen in meinem Palast.« Sie behauptet, die Straßenbahnhaltestelle sei ihr Palast, und es kann vorkommen, dass wir den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend dort sitzen und uns unterhalten, derweil der kleine Jardel seelenruhig schläft und niemand uns eines Blickes würdigt oder in unsere Nähe kommt.

Vor zwei Monaten gab es einen guten Tag. Ich habe fünfunddreißig Euro eingenommen. Also wollte ich Fatinha zum Abendessen in ein Restaurant einladen, aber man hat uns nicht hineingelassen, sie war nicht dafür angezogen, und es war schwierig, sie von dort wieder wegzubekommen, weil sie sich vor der Tür auf den Boden zu setzen und den Gästen den Eingang zu versperren gedachte. Sie wollten schon die Polizei rufen, Kind, mich hat die Angst gepackt, meine Papiere sind abgelaufen, ich muss mir eine neue Aufenthaltsgenehmigung besorgen. Ich habe Fatinha von dort weggezerrt, bin in den Supermarkt gegangen, habe zwei Baguettebrötchen, Käse und Kochschinken gekauft und Fatinha zu unserem Festessen auf die Aussichtsterrasse mitgenommen.

An dem Tag war Jardel gar nicht mehr wiederzuerkennen, das Tier hat mit uns zusammen Schinken und Brot gegessen. Wir haben uns auf die Aussichtsterrasse von Santa Catarina gesetzt, den Schiffen zugeschaut und unser Picknick vertilgt. Fatinha hat mich gefragt: »Du läufst allein hier herum, mein Prinz, hast du keine Familie in deiner Heimat, vermisst du sie nicht?« Kind, ich war ganz gerührt, ich hatte Fatinha in einem ihrer seltenen lichten Momente erwischt und blickte auf die Schiffe. Ich weiß nicht einmal, wo ihr alle steckt, meine verstorbenen Geschwister, all die Geister meiner Vorfahren, du, meine Tochter, die ich praktisch seit deiner Geburt nicht mehr gesehen habe, seit du geboren wurdest, deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten warst du bei der Geburt, deine Mutter, auch wo sie ist, weiß ich nicht, ich bin ein Mann ohne Gepäck, mein Kind, ein Seemann ohne Schiff. Meine Heimat sind die Verrückten hier vom Chiado, niemand auf der Straße sieht uns, wir können zerlumpt herumlaufen, niemand schaut uns an, aber wir sehen einander, wir leben hier, in der Durchsichtigkeit, tauschen Worte, tauschen Brot, tauschen Wein, Geister des Jenseits, die durch Lissabon wandern, weiter unten wohnt Ti Zeca, gebürtig aus Santiago, aber der ist problematisch, ständig betrunken, und es gibt auch etliche Portugiesen, manche treffe ich um die Mittagszeit, wenn ich essen gehe. Brunão, der Junge tut mir leid, er hat die Schule abgebrochen, war drogenabhängig, jetzt ist er Parkplatzeinweiser, Cinha und Pedro, Fatinha hat erzählt, es gebe da einen Jungen aus dem Senegal, seinen Namen hat sie mir nie genannt, der sich nur mit seinem Tetrapack Wein unterhält, es sind viele: Joca, ein Junge aus Santarém, Cátia, ein immer noch sehr hübsches Mädchen, aber klapperdürr, wir sind fast ein ganzes Heer, aber niemand hier in der Gegend sieht uns, der Chiado gehört auch uns, mein Kind, wir sind die Wächter der Straßen, schon früher in den Burgen gab es Wächter, die Chefs vom Parkplatz geben mir jeden Tag, den Gott werden lässt, eine Münze, ohne mich auch nur nach meinem Namen zu fragen, sie blicken nicht einmal auf meine Hand, sie zahlen in die Hand eines Geistes, der sie vor dem Tod bewahren soll, sie zahlen, damit ich keinen Ärger mache. Fast hätte ich jetzt geschrieben, dass wir hier lebendig begraben sind, Kind, meine Freunde vom Chiado und ich. Da ist auch noch Pilantra, ich nenne ihn Meister, denn er ist ein Herr mit Ingenieursausbildung, den seine Frau auf die Straße gesetzt hat. Er nennt mich Doktor Boa Morte. Es gibt auch viele Kriminelle und Drogenabhängige. Sie haben uns begraben, aber wir sind nicht zu unserer Beerdigung gegangen. Sie haben einen leeren Sarg beigesetzt und ihn unter einem Stein mit unserem Namen in die Erde gelassen. Nun sind wir Geister, die die Straßen bewohnen, wir laufen auf Beinen und Füßen, wir sprechen und atmen, aber die Leute, die an uns vorübergehen, sehen uns nicht.