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Der nervenaufreibende Kriminalthriller über die Schatten der gesellschaftlich akzeptierten Prostitution
Kriminalhauptkommissarin Franziska Frey steht vor einem verzwickten Fall: Ein angesehener Steuerberater wird brutal zusammengeschlagen und alle Hinweise führen ins düstere Rotlichtmilieu. Als verstörende Foltervideos auftauchen, wird klar, dass ein skrupelloser Serienkiller sein Unwesen treibt. Die Kommissarin enthüllt ein Netz aus Lügen, das ihr selbst zum Verhängnis werden könnte und muss den Täter stoppen, bevor er erneut zuschlägt. Während Franziskas Ermittlungen Fahrt aufnehmen, kämpft Richard Erdmann gleichzeitig darum, seine Tochter aus den Fängen des Milieus zu befreien. Doch für das Leben seiner Tochter muss er das eigene riskieren …
Erste Leser:innenstimmen
„Die komplexe und gut durchdachte Handlung dieses Kriminalromans hat mich immer wieder überrascht und mitgerissen.“
„Der Thriller ist Spannung und Nervenkitzel pur! Die Jagd der Ermittlerin nach dem Serienkiller und die verzweifelten Versuche von Richard Erdmann, seine Tochter zu retten, haben mich förmlich an die Seiten gefesselt.“
„Die Autorin gestaltet die Protagonisten vielschichtig und authentisch, ihre inneren Konflikte und emotionalen Kämpfe machen sie greifbar und berührend.“
„Ein düsterer Pageturner mit einem Serienmörder, der ein brutales Katz und Maus Spiel betreibt.“
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Seitenzahl: 525
Veröffentlichungsjahr: 2023
Kriminalhauptkommissarin Franziska Frey steht vor einem verzwickten Fall: Ein angesehener Steuerberater wird brutal zusammengeschlagen und alle Hinweise führen ins düstere Rotlichtmilieu. Als verstörende Foltervideos auftauchen, wird klar, dass ein skrupelloser Serienkiller sein Unwesen treibt. Die Kommissarin enthüllt ein Netz aus Lügen, das ihr selbst zum Verhängnis werden könnte und muss den Täter stoppen, bevor er erneut zuschlägt. Während Franziskas Ermittlungen Fahrt aufnehmen, kämpft Richard Erdmann gleichzeitig darum, seine Tochter aus den Fängen des Milieus zu befreien. Doch für das Leben seiner Tochter muss er das eigene riskieren …
Erstausgabe September 2023
Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98778-295-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-316-6
Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Aggie 11, © Nik Merkulov, © benntennsann Lektorat: Claudia Wuttke
E-Book-Version 21.02.2025, 14:21:11.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Sie schlug die Augen auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie versuchte, sich aufzusetzen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Nicht mal einen Finger konnte sie krümmen. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie an Hand- und Fußgelenken auf einem Stahltisch fixiert war.
Sie befand sich in einem Raum, dessen Dimensionen sie nicht ermessen konnte. Das meiste lag im Dunkeln. Vor dem Stahltisch war eine Kamera aufgebaut. Ein blinkendes rotes Lämpchen signalisierte, dass sie aufzeichnete. Daneben stand ein Wagen mit Werkzeugen, Zangen, einem Skalpell und ein paar anderen Gegenständen, deren Zweck sie nur mit Grauen erahnen konnte.
Die Panik attackierte sie mit voller Wucht. Das kann nicht sein. Ich träume. Bitte, lieber Gott, mach, dass ich träume.
Sie versuchte zu schreien, aber ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen. Ihre Lippen fühlten sich taub an und die Worte kamen nur undeutlich heraus. „Finn?“
Niemand antwortete.
Sie suchte fieberhaft einen Ankerpunkt in ihrer Erinnerung, der ihre Situation erklären konnte. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der Fernsehabend mit Finn. Danach Blackout. Vielleicht war das nur eins von seinen Spielchen. Sie hatte sich falsch verhalten auf dem Parkplatz vom Paradies, das wusste sie. Er war so sauer gewesen. War das jetzt ihre Strafe? „Tut mir leid“, wimmerte sie. „Bitte, hör auf damit.“
Niemand antwortete. Sie hörte nur ihr eigenes Herz, das gegen ihren Brustkorb hämmerte.
Die Minuten verstrichen und nichts geschah.
„Bitte“, flehte sie. „Bitte, ist da jemand?“
Statt einer Antwort wurde eine Tür geöffnet. Sie spürte den kalten Luftzug und hob den Kopf. Als ihr Verstand begriff, wer da hereingekommen war, gefror ihr das Blut in den Adern.
Das Klingeln des Handys riss Claire aus ihren Gedanken. Seit acht Tagen war sie im Dauereinsatz, ein Freier nach dem anderen. Dazwischen kaum Zeit für eine Verschnaufpause, zu wenig Schlaf, weil sie von den Drogen und dem ganzen Alkohol zu aufgeputscht war. Aber nüchtern war dieser Marathon nicht zu ertragen. Sie musste sich betäuben, um das durchstehen zu können. Sie brauchte das Geld.
Die letzten beiden Kunden hatten sich an Widerlichkeit übertroffen. Der eine war krankhaft übergewichtig, mit einem sehr kleinen Penis, der von einem monströsen Haufen Fett verdeckt wurde. Er verlangte, dass sie ihn mit der Hand befriedigte, wozu sie sich durch seine Fettschwarten wühlen musste. Der Gestank seiner Genitalien war ekelerregend und es hatte sie einiges an Mühe gekostet, den Brechreiz zu unterdrücken. Gott sei Dank hatte er keinen Blowjob gewollt und während er unter Stöhnen und Grunzen zum Höhepunkt kam, summte sie stumm eines der Kinderlieder, das ihre Mutter ihr früher vorgesungen hatte.
Der andere war ein Sadist, der einen Haufen Kohle springen ließ, um seine Vergewaltigungsfantasien an ihr auszuleben. Einzige Bedingung: keine sichtbaren Verletzungen. Sie hatte ihn schon öfter getroffen und jedes Mal wurde es schlimmer. Aber fünfhundert Euro für zwei Stunden waren ein schlagendes Argument. Und wenn der Kunde zufrieden war, steckte er ihr ein paar Scheine extra zu, die sie heimlich zur Seite legte für ihren großen Traum. Dana hatte ihr erklärt, dass niemand sie zwingen konnte, sich misshandeln zu lassen. Nicht einmal Nick. Aber Dana hatte gut reden. Sie war frei in ihren Entscheidungen. Claire hingegen musste tun, was ihr Zuhälter verlangte.
Die Prügel und die schmerzenden sexuellen Handlungen des Freiers bekam sie nur wie durch einen Schleier mit. Ihr Trick bestand darin, in Gedanken einen anderen, einen schönen und friedvollen Ort aufzusuchen. Sie nannte diesen Ort Elysium. Den Begriff hatte sie mal irgendwo aufgeschnappt und nachgeschlagen, weil ihr der Klang des Namens so gut gefiel. Die Insel der Glückseligen aus der griechischen Mythologie. Auf Claires Insel gab es dieses Tal, umringt von hohen Bergen. Auf den Wiesen blühten Sommerblumen, Hummeln summten, der Himmel war blau und in der Nähe gurgelte ein kleiner Bach. Dorthin zog sie sich in schwierigen Momenten zurück und tauchte erst wieder auf, wenn alles vorbei war.
Der letzte Job hatte ein paar Probleme gelöst. Sie konnte Nick ihren Mietanteil geben und die Schulden bei ihrem Dealer bezahlen. Aber Prügel blieb Prügel. Und nicht sichtbar hieß nicht, dass sie keine Verletzungen davontrug. Ihre Blutergüsse am Rücken und im Bauchbereich waren schmerzhaft und Claire wünschte sich nichts sehnlicher, als ein paar Tage einfach mal auszuspannen. Einmal hatte ein Freier sie überwältigt und missbraucht, ohne zu bezahlen. In dieser Nacht hatte sie sich wie ein nutzloses Stück Scheiße gefühlt und kurz darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Eine Vergewaltigung blieb eine Vergewaltigung, auch in ihrem Job.
Sie nahm das Gespräch trotzdem entgegen und nach wenigen Minuten war die Verabredung mit einem weiteren Kunden gesetzt. Angeblich handelte es sich um einen Teddybären. Das war der Code für den Typ Mann, der selten vögeln, sondern oft nur reden wollte. Über Probleme bei der Arbeit, mit der Ehefrau oder, was häufig vorkam, mit seiner Mutter. Die meisten Teddybären waren harmlos und ihnen war es egal, dass alles – Claires Verständnis, ihr Mitleid, ihre Orgasmen – gespielt und aufgesetzt war. Sie waren einsame Menschen, auf der Suche nach Intimität und emotionaler Wärme. Dafür gab es zwar keine fünfhundert Euro, aber es war leicht verdientes Geld.
Claire strich ihr Minikleid glatt, das mit den glitzernden Pailletten, überprüfte ihr Make-up und gönnte sich noch eine Nase Pep gegen die Müdigkeit. Vor dem Spiegel rückte sie ihre schwarze Perücke zurecht. Dann machte sie sich auf den Weg.
Die Adresse war die Hotelbar des Hotel Zeitlos in der Nähe vom Eigelstein, einem Viertel, das früher mal eins der bekanntesten Rotlichtviertel von Köln gewesen war. Davon übriggeblieben waren nur noch ein paar Anbahnungskneipen und schmuddelige Hinterzimmer. Das Hotel war allerdings High Class. Für viele Stars der Medienbranche war es die erste Adresse. Claire hatte dort schon öfter Kunden getroffen. Sie freute sich auf ein paar leckere Drinks.
Ein Mann mittleren Alters saß an der Bar und hatte die gelbe Rose als Erkennungszeichen neben sich liegen. Claires siebter Sinn schlug leise Alarm. Irgendwas stimmte nicht und sie dachte kurz darüber nach, ob sie wieder gehen sollte. Irgendwo hatten sie den Typen schon mal gesehen, aber ihr fiel beim besten Willen nicht ein, wo. Sie ignorierte den Alarm in ihrem Kopf, zupfte sich das hautenge Kleid ein letztes Mal zurecht und begrüßte den Mann, der sich ihr als Richard vorstellte, was sicher nicht sein richtiger Name war.
Er war attraktiv, maskulin, mit einer tiefen, angenehmen Stimme. Alles an ihm wirkte selbstbewusst und cool. Sein blondes kurzgeschnittenes Haar, das an den Schläfen langsam grau wurde, der gepflegte Vollbart, der modern geschnittene braune Anzug, mit blauem Hemd und italienischen Schuhen. Seine Körpersprache und sein Auftreten hatten etwas von einem Wolf. Der Typ war kein Teddybär, so viel stand fest. Er bestellte Claire ihren Lieblingsdrink, einen Cosmopolitan, und sie sprachen über belanglose Dinge.
„Ich würde mit dir gerne woanders hingehen“, eröffnete ihr Richard nach wenigen Minuten. „Ich wohne gleich um die Ecke. Da sind wir ungestörter. Ich fühle mich hier, ehrlich gesagt, nicht so wohl. Zu viele Menschen.“
Als Claire nicht sofort antwortete, zog er dezent ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und legte sie ihr in die Hand.
„Das sind dreihundert mehr als vereinbart. Was sagst du? Wir sparen uns das teure Hotelzimmer. Du kannst die Kohle doch sicher gebrauchen.“
Diese Stimme. Wo hatte sie die bloß schon mal gehört? Claire kramte in ihren Erinnerungen. Sie sah dem Mann in die Augen, erkannte dort aber nichts Hinterhältiges oder Brutales.
Ach, was soll’s, dachte sie, steckte das Geld in ihre Handtasche und nickte.
Im Stavenhof hieß die kleine Seitenstraße vom Eigelstein, und der Hauseingang befand sich versteckt in einem Hinterhof. Richard öffnete die Tür und ließ sie eintreten. Claire hörte, wie hinter ihr die Tür wieder verriegelt wurde. Nicht gut, dachte sie, folgte ihrem Kunden aber dennoch durch einen schmalen Flur ins Wohnzimmer.
Mann und Ambiente passten überhaupt nicht zusammen. Das Zimmer sah aus wie aus einem Fünfzigerjahre-Film. Eine Rautentapete in Ocker- und Grüntönen, Holzvertäfelung an der Decke, ein braunes Sofa, Perserteppich, ein Nierentisch und zwei kleine Sessel, einer rot, einer grün. In einer Ecke stand sogar noch ein alter Fernsehschrank.
„Setz dich, bitte“, sagte Richard und deutete auf die Sessel.
Claire wählte den roten. Sie kramte ihr Handy aus der Tasche, um Dana die neue Adresse durchzugeben. Das war ihre Vereinbarung, damit sie stets voneinander wussten, wo die andere gerade war. Aber der Bildschirm blieb schwarz.
Scheiße. Sie hatte vergessen, es aufzuladen. Nicht zu ändern. Sie verfluchte sich für diese Nachlässigkeit und steckte das Handy wieder in ihre Handtasche.
„Nett hast du es hier“, sagte Claire, um das Schweigen zu brechen.
„Hm“, brummte Richard. „Gehörte meiner Mutter.“
Claire war aufgestanden und stand ihm jetzt direkt gegenüber.
„Sag mir einfach, was du gern magst.“ Sie lächelte verführerisch und streichelte seine Wange.
Richard schob sie weg. „Ich will nur mit dir reden.“
„Okay. Kein Problem.“ Lass mich raten. Du willst über deine verstorbene Mutter reden, die in dieser angestaubten Filmkulisse gewohnt hat.
„Ich brauche Informationen über das Paradies.“
Claire starrte den Mann an. Für einen Moment stand ihr die Überraschung ins Gesicht geschrieben.
Das Paradies war ein Bordell oder, eleganter ausgedrückt, ein Saunaclub, in dem sie hin und wieder arbeitete. Nick, ihr Zuhälter, hatte das arrangiert. Den Club gab es noch nicht lange, aber das Konzept hatte eingeschlagen wie eine Bombe. Todschick, alles neu und edel, teuer und sauber. Das Ambiente gefiel ihr. Besser als in den Laufhäusern oder Bordellen, in denen sie sonst arbeiten musste. Die Kunden waren wohlhabend und gepflegt, kein Abschaum von der Straße, der für fünf Euro einen Blowjob erwartete. Normale Typen aus der Mittel- und Oberschicht, die sich nach Feierabend oder an den Wochenenden eben mal was anderes gönnen wollten als die übliche Hausmannskost. Dagegen war nichts einzuwenden, fand Claire. Sie bekam Drinks spendiert und das Essen war fabelhaft. Außerdem hatte sie dort Dana kennengelernt.
Sie schüttelte den Gedanken an ihre Freundin ab und konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt. Ganz gleich, was dieser Richard von ihr wissen wollte, sie würde auf keinen Fall irgendwelche Interna aus dem Club ausquatschen. Es spielte keine Rolle, ob er ihr wehtun würde, um an Informationen zu kommen. DIE würden ihr noch viel mehr Schmerzen zufügen.
„Leute wie ich haben im Paradies keinen Zutritt. Unsereins ist eher für die unteren Etagen gebucht“, sagte sie daher ausweichend.
Statt einer Antwort schubste Richard sie in den Sessel zurück.
„Hey, was soll das?“, rief Claire überrascht. „Was ist denn mit dir los?“
„Bleib sitzen“, blaffte er. Er stand vor ihr und blickte auf sie herunter.
Irgendwas stimmte nicht und sie hatte es von Anfang an gewusst. Warum höre ich auch nicht auf meinen Instinkt. Sie schaute zum ihm hoch.
„Hör zu“, versuchte sie es in einem neuen Anlauf und zog sich die Jacke aus. Darunter trug sie nur das paillettenbesetzte kurze Schwarze mit dem tiefen Ausschnitt. „Sag mir einfach, worauf du stehst. Ich mach so ziemlich alles, nur keine Schläge ins Gesicht, bitte. Das ist schlecht fürs Geschäft.“ Sie lächelte ihn an. „Soll ich mich ausziehen? Oder ein bisschen für dich tanzen?“
„Ich suche jemanden und du wirst mir helfen, sie zu finden“, war die Antwort.
Claire sah Richard an und ihr Puls beschleunigte sich. Das Verhalten des Mannes hatte sich auf gefährliche Weise verändert. Vorhin war er cool und überlegt gewesen, distanziert, jetzt war seine Körperhaltung bedrohlich, bereit zum Angriff. Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an. So hatte ihr Vater ausgesehen, bevor er seinen Gürtel auszog.
„Wen suchst du denn?“, fragte sie eingeschüchtert und kauerte sich instinktiv tiefer in den Sessel.
„Meine Tochter, sie heißt Antonia oder Toni und sie arbeitet im Paradies. Oder hat dort gearbeitet.“
Also daher wehte der Wind. Scheiße.
„Ich weiß nicht, wer das ist“, antwortete Claire und sie hatte wirklich keinen blassen Schimmer, wovon der Mann redete. Sie kannte keine Antonia. Aber seine Stimme. Wo hatte sie die schon mal gehört? Es war keine angenehme Situation gewesen, das stand fest. Aber sie kam nicht drauf. Normalerweise vergaß sie nie ein Gesicht. Das war überlebenswichtig in ihrem Job. Und Stimmen konnte sie sich eigentlich auch gut merken. Es war zum Verrücktwerden.
„Kann ich was zu trinken haben?“, fragte sie ausweichend. „Ein Glas Sekt vielleicht?“
„Erst, wenn du mir gesagt hast, wo Toni ist.“
„Ich hab wirklich keine Ahnung.“ Claire versuchte, ihrer Stimme den entsprechenden Nachdruck zu verleihen. „Hör zu“, schlug sie vor. „Ich gebe dir die Kohle zurück und wir vergessen die ganze Sache.“ Sie machte Anstalten aufzustehen, aber Richard drückte sie wieder in den Sessel.
„Du gehst nirgendwo hin“, befahl er. „Erst will ich wissen, was mit meiner Tochter passiert ist.“
„Wieso fragst du ausgerechnet mich das?“, rief Claire. „Ich kenne deine Tochter nicht.“
„Du lügst“, schrie Richard in einem plötzlichen Gefühlsausbruch und er holte aus, um sie zu schlagen. Claire riss instinktiv die Arme hoch, um sich zu schützen, aber der Schlag blieb aus. Richard ließ den Arm wieder sinken. Er sah auf sie herunter.
„Ich muss wissen, wo sie ist und ob es ihr gut geht. Ich weiß, dass du sie kennst. Ich habe euch zusammen gesehen.“
Claire stutzte. „Wann denn?“
„Am 28. September, das war ein Samstag. Auf dem Parkplatz hinter dem Paradies.“
Mit einem Schlag war die Erinnerung an die Situation zurück, in der sie dem Mann schon einmal begegnet war. Sie hatte wieder alles klar vor Augen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Der Bart. Das war es. Er hatte damals keinen Bart getragen. Deswegen hatte sie ihn nicht wiedererkannt.
„Da gehe ich immer zum Rauchen hin“, erklärte sie, um Zeit zu gewinnen. „Ich steh da bestimmt zehnmal am Tag. Keine Ahnung. Ehrlich, ich kenne keine Antonia. Ist wahrscheinlich auch nicht der Name, den sie im Club benutzt.“
Richard packte sie und zog sie aus dem Sessel. „Du lügst“, knurrte er wütend. Sie standen sich jetzt ganz nah gegenüber. Sie konnte seinen Atem riechen. Er roch noch Lakritz. „Ich habe nichts mehr zu verlieren. Meine Tochter ist alles, was mir noch geblieben ist. Und wenn es sein muss, werde ich dir wehtun, um an Informationen zu kommen.“
Raus hier, hau ab. Claire zog panisch ihr rechtes Bein hoch und rammte dem Mann mit voller Wucht ihr Knie in die Eier. Er ließ sie los, krümmte sich und schnappte nach Luft. Dann schubste sie ihn zur Seite und rannte durch den Flur zur Haustür. Verzweifelt rüttelte sie an der Klinke, aber die Tür war ja verschlossen und er hatte den Schlüssel. Was für eine verdammte Scheiße. Sie sah sich um. Richard stand bereits wieder fest auf zwei Beinen. Nochmal würde er sich nicht überrumpeln lassen.
„Musste das sein?“, keuchte er. „Ich will doch nur ein paar Antworten.“
Claire schrie ihn an. „Ich habe keine Antworten für dich. Und ich will jetzt gehen.“
„Lass uns was trinken“, schlug Richard vor. „Bitte, setz dich wieder. Es tut mir leid.“
Claire sah sich um wie ein gehetztes Tier. Der Ausgang war versperrt also ging sie zurück ins Zimmer. Ihr Kunde verschwand in der Küche. Als er mit zwei Gläsern Sekt zurückkam, entspannte sie sich etwas und setzte sich wieder hin.
„Ich bin das Ganze falsch angegangen“, entschuldigte er sich. „Du hast vollkommen Recht. Antonia ist sicher nicht der Name, den sie verwendet, aber einen anderen kenne ich nicht. Vielleicht hilft dir das hier auf die Sprünge.“
Er zog eine Fotografie aus seiner Geldbörse und hielt sie ihr unter die Nase. Das Foto war ganz verknittert. Er trug es sicher schon länger mit sich rum. Claire warf einen Blick darauf und erkannte das Mädchen sofort. Das schmale Gesicht, die dunklen Augen, die braunen Korkenzieherlocken. Das war Momo. Eins von Finns Mädchen.
Sie schüttelte den Kopf. „Kenn ich nicht. Ehrlich.“ Sie sah Richard fest in die Augen und hoffte, dass ihr schauspielerisches Talent ausreichte, um ihn zu überzeugen.
„Das ist schade“, sagte Richard, aber in seiner Stimme schwang kein Ärger mehr mit. Es schien, als hätte er endlich eingesehen, dass er mit ihr nicht weiterkam.
Claire trank den Rest von ihrem Sekt aus. „Sorry, dass ich dir nicht helfen kann“, sagte sie. Sie hatte fast ein bisschen Mitleid mit dem Mann. Er hatte seine Tochter an Finn verloren und die Verzweiflung darüber stand ihm ins Gesicht geschrieben. Aber sie konnte nichts für ihn tun, nicht ohne sich selbst oder Dana in Lebensgefahr zu bringen. Finn war unberechenbar. Ein Zuhälter und Schläger, jemand, der bereit war, für Geld über Leichen zu gehen. Mit dem wollte sie sich wirklich nicht anlegen. Sie hatte die Kleine auch schon ewig nicht mehr im Paradies gesehen. Nicht seit dem Vorfall. Claire wusste nicht, wo sie jetzt war. Oder ob sie überhaupt noch lebte. Dana hatte ihr erzählt, dass Finn kalte Füße bekommen hatte, dass es da einen Typen gab, der Geld für sie bezahlt hat ... warum drehte sich das Zimmer ... Dana, war ihr letzter Gedanke. Dann verlor Claire das Bewusstsein.
Kriminalhauptkommissarin Franziska Frey saß am Frühstückstisch und hielt sich an einem heißen Glas Latte Macchiato fest. Sie hatte miserabel geschlafen, pochende Kopfschmerzen und fühlte sich matt und ausgelaugt. Toller Urlaub.
Sie beobachtete die Aspirin, die sich langsam in einem Wasserglas auflöste und wünschte sich, dass Tochter Jenny und Ehemann Heiner endlich ihre nervtötende Debatte über Recycling beendeten.
„Bei einer Glasflasche hängt die Ökobilanz nur von zwei Faktoren ab“, erklärte Jenny, „nämlich, wie oft du sie verwendest und über welche Strecke sie transportiert wird. Bei den Tretrapacks kommt zusätzlich hinzu, wie hoch der Plastik- und Aluanteil ist, ob das Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammt und ob der Karton später sachgemäß entsorgt wird.“
„Das Institut für Energie- und Umweltforschung hat aber ermittelt, dass bei Milch die Tetrapacks besser sind, weil wir in Deutschland kaum Mehrwegsysteme für Milchflaschen ohne lange Transportwege haben.“ Heiner goss sich Orangensaft ein.
Jenny grinste ihren Vater an. „Das ist ein Test, oder? Diese Studie ist stark umstritten und ich bleibe dabei. Die Produktion von Kunststoff und Aluminium für die Kartons ist eine riesen Umweltsauerei.“
„Bitte, ihr beiden“, flehte Franziska. „Könnten wir heute mal über was anderes reden?“
Seit Jenny im letzten Schuljahr einen Pro- und Contra Aufsatz vergeigt hatte, übte Heiner mit ihr das Debattieren. Im Hause Frey wurden seitdem alle relevanten politischen Themen durch die Mangel gedreht. Über das Thema Recycling redeten die beiden jetzt schon fast vier Wochen. Manchmal wünschte Franziska sich insgeheim ihre alte Tochter zurück. Die Maulfaule, die auf ihr Handy starrend ihr Müsli verschlang und sich ohne ein Wort in ihr Zimmer zurückzog, um den Nachmittag im abgedunkelten Raum mit ihren Freundinnen zu chatten.
„Du bist mich ja bald los, Mama“, ätzte Jenny und sah ihre Mutter wütend an. „Dann hast du deine Ruhe.“
Franziskas Herz verkrampfte sich. In ein paar Tagen würde ihre Kleine für ein Jahr nach Kanada fliegen. Schüleraustausch in ein abgelegenes Kaff in der Mitte von nirgendwo. Ihr graute vor diesem Tag, seit sie gemeinsam den Entschluss gefasst hatten.
„Ach Süße“, flüsterte sie und versuchte, die Hand ihrer Tochter zu greifen. „So war das doch nicht gemeint.“
Jenny zog die Hand zurück.
„Bitte“, flehte Franziska. „Lass uns nicht streiten. Ich habe etwas Kopfweh, das ist alles.“
„Dann sauf nicht so viel, wenn du es nicht verträgst.“ Jennys Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Was ist denn los mit dir? Es war so ein schöner Abend.“
Sie hatten eine kleine Abschiedsparty für Jenny gegeben. Nur die engsten Freunde und Familie. Es wurde mit Sekt auf Jennys bevorstehendes Abenteuer angestoßen und danach waren sie zu Rotwein übergegangen, den Heiners Vater mitgebracht hatte. Aus der Toskana, wie er immer wieder betonte.
„Du warst voll peinlich, Mama.“
Franziska war wie vor den Kopf geschlagen. „Wie meinst du das?“
„Du hast mich vor all meinen Freunden total blamiert.“
„Wie das denn?“
„Du hast dich volllaufen lassen. Und dann ständig das mit den Babyfotos. Mega ätzend.“ Jenny rollte mit den Augen.
Franziska wurde wütend. „Ich habe zwei Gläser Wein getrunken, Jenny. Das ist nicht volllaufen lassen. Ich verbitte mir diesen Ton.“
Jenny holte Luft für eine Erwiderung, aber Heiner ging dazwischen. „Es reicht“, befahl er. „Ich wünsche mir, dass ihr zwei euch die letzten Tage nicht ständig zankt. Reißt euch zusammen! Alle beide.“
Franziska konnte es nicht leiden, wenn ihr Mann sie wie eine seiner Schülerinnen maßregelte. Schon gar nicht vor ihrer Tochter. Was bildete er sich ein? Sie hatte das Bedürfnis aufzuspringen und irgendwas zu zerschlagen. Stattdessen atmete sie tief durch und nickte. Sie wollte vor dem Kind keinen Streit anzetteln. Für den Moment würde sie nachgeben und das Gespräch mit ihrem Mann vertagen. Auch Jenny lenkte ein. Wie immer, wenn ihr Vater ein Machtwort sprach.
Franziska betrachtete die beiden. Vater und Tochter. Ein Herz und eine Seele. Sie als Mutter war schon länger abgemeldet, was zum Teil auch ihre Schuld war. Wechselschicht- und Bereitschaftsdienste hatten in den vergangenen sechzehn Jahren den Besuch so mancher Schulaufführung oder Basketballspiele verhindert. Nur Heiner war immer da gewesen. Jenny himmelte ihren Vater an und er vergötterte seine Prinzessin. Nur, dass Baby Jen, wie er sie hin und wieder noch nannte, nicht mehr das kleine Mädchen mit den geflochtenen Zöpfen war. Sie war ein Teenager und hatte es faustdick hinter den Ohren. Als Heiner vor ein paar Wochen auf Klassenfahrt war, war Jenny betrunken und bekifft nach Hause gekommen. Franziska hatte ihr beim Kotzen den Kopf gehalten und feierlich versprechen müssen, ihrem Vater nichts davon zu erzählen.
Sie hatte zugestimmt, denn er hätte Jenny an die kurze Leine genommen. Aber Franziska hatte Vertrauen zu ihrer Tochter und entschieden, dass fast siebzehn das Alter ist, in dem man sich ausprobieren muss. Es gab bisher keine Anzeichen von besorgniserregenden Veränderungen. Alles war normal und ein Auslandsjahr würde ihr guttun.
„Sorry, Mama“, lenkte Jenny ein und ergriff jetzt doch die Hand ihrer Mutter. „Es war ein schöner Abend gestern und es tut mir leid, dass es dir heute Morgen nicht gut geht.“ Sie lächelte ein falsches Lächeln, was Franziska mehr verletzte als die frechen Antworten. „Ich geh mal packen“, sagte sie und verschwand in ihrem Zimmer.
Heiner goss sich Kaffee ein und kaute schmatzend auf seinem Brötchen. „Dass ihr immer so aneinandergeraten müsst. Das ist wirklich anstrengend.“
„Es ist anstrengend für mich, Heiner. Nicht für dich. Dich vergöttert sie. Mich hasst sie.“
„Jetzt übertreibst du aber.“ Heiner legte sein Brötchen auf den Teller und nahm seine Vortragshaltung ein. Gerader Rücken, erhobener Zeigefinger. „Sie hasst dich nicht. Sie ist sechzehn und sehr verwirrt. In der Pubertät spielen die Hormone ...“
Franziska fiel ihm ins Wort. „Ich weiß, was Pubertät ist. Spar dir deinen Vortrag.“ Ihre Wut war zurück und sie hatte Lust, ihrem Mann den Zeigefinger zu brechen.
Heiner schüttelte den Kopf. „Gib mir nicht die Schuld für deinen Kater. Mach doch mal einen Spaziergang. Das wird dir guttun.“
Franziska starrte ihn an. Wann war er zu so einem Arschloch mutiert? Aber sie sagte nichts, stand auf, verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie fuhr zum Präsidium. Auf ihrem Schreibtisch lagen haufenweise unerledigte Berichte. Wenn ihre Familie sie nicht dahaben wollte, konnte sie genauso gut etwas Nützliches tun. Sie parkte und blieb noch einen Moment im Wagen sitzen. Ihre Wut war so schnell verraucht, wie sie gekommen war. Sie dachte an die zugeknallte Tür. Was war nur mit ihr los? Ihre Emotionen fuhren in letzter Zeit in der gleichen Achterbahn wie die von Jenny. Vielleicht war das sowas wie Co-Pubertät. Eine Art Solidarität unter Frauen. So wie der parallele Zyklus, der für den Familienfrieden auch nicht gerade zuträglich war. Armer Heiner. Ihr Mann tat ihr fast ein bisschen leid. Eine Woge der Sympathie für ihren Ehemann spülte das letzte Körnchen Wut weg. Sie stieg aus dem Auto.
Vor der Eingangstür stand eine junge Frau mit Lammfellmütze, braunen langen Haaren und großer Sonnenbrille. Sie war elegant gekleidet. Beige Marlenehose, schwarzer Rollkragenpullover, teurer Wollmantel, Handtasche von Gucci, kirschrote manikürte Fingernägel. Sie rauchte und wirkte sehr nervös.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte Franziska, der ein Veilchen am linken Auge auffiel, das von der Sonnenbrille nicht ganz verdeckt wurde.
Die Frau schüttelte den Kopf. „Sind Sie von der Polizei?“
Der Akzent war definitiv slawisch.
„Kriminalhauptkommissarin Frey“, stellte Franziska sich vor.
Die Frau trat ihre Zigarette aus, schaute sich um, als hätte sie Angst, beobachtet zu werden und atmete tief durch. „Ich suche meine Freundin. Sie ist verschwunden.“
Das war jetzt eigentlich ein Fall für die Vermisstenabteilung. Aber irgendwas am Verhalten der Frau hatte Franziskas Interesse geweckt.
„Kommen Sie mit“, sagte sie und ging voran in ihr Büro. Auf dem Weg dorthin begegneten sie keiner Menschenseele. Die Abteilung war wie ausgestorben. Nur Beimer hockte hinter seinem Schreibtisch in eine Akte vertieft. Er bemerkte sie nicht.
„Setzen Sie sich, bitte.“ Franziska bot ihrem Gast einen Stuhl an. „Möchten Sie etwas trinken?“
Die Frau nickte und Franziska stellte Gläser und Mineralwasser auf den Tisch.
„Haben Sie was Stärkeres?“
Franziska ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, zog eine Schreibtischschublade auf und förderte eine Flasche Rum zutage.
Die Frau legte Mütze, Mantel und Handtasche ab, setzte sich und nahm die Sonnenbrille ab. Franziska erschrak, als sie das große Veilchen sah. Da hatte jemand richtig zugeschlagen und das war noch nicht sehr lange her.
„Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?“
Die Frau versuchte ein Lächeln. „Sie meinen das hier?“ Sie zeigte auf ihr Auge. „Kein Problem. Ich habe zurückgeschlagen.“ Dann griff sie nach dem Rum, goss sich einen großen Schluck ein und leerte das Glas in einem Zug.
„Gut“, sagte sie und lächelte. „Nicht so gut wie Wodka, aber gut.“
„Sie können Anzeige erstatten. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie wollen.“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Mein Name ist Dana Markow. Ich suche meine Freundin. Sie ist seit ein paar Tagen verschwunden.“
Franziska notierte mechanisch die Informationen, die sie erhielt. „Wie alt ist ihre Freundin?“
„Dreiundzwanzig. Ihr Name ist Clarissa Müller, aber alle nennen sie Claire.“
„Und wann haben Sie Claire zum letzten Mal gesehen?“
„Am Montag. Sie hatte einen Kunden im Hotel Zeitlos und seitdem habe ich nichts mehr gehört.“
„Einen Kunden im Zeitlos?“, fragte Franziska.
„Ja, wir arbeiten als Escort.“ Dana Markow sah Franziska direkt in die Augen. Selbstbewusst und auffordernd. Diese Frau stand zu dem, womit sie ihr Geld verdiente.
„Warum kommen Sie erst jetzt? Eine Woche ist lang.“
„Zuerst habe ich gedacht, sie ist bei einem ... Bekannten. Aber seit vorgestern weiß ich, dass sie da nicht ist.“ Sie lächelte schief und zeigte auf ihr Auge. „Dann habe ich im Zeitlos gefragt, aber die wissen nichts. Dann musste ich nachdenken und jetzt bin ich hier.“
Wahrscheinlich musste sie entscheiden, ob sie den Schritt wagen sollte, zur Polizei zu gehen, überlegte Franziska.
„Wer ist dieser Bekannte? Hat er einen Namen?“
„Der Name ist nicht wichtig. Er weiß nicht, wo sie ist, und ich glaube ihm.“
„Ist er euer Zuhälter?“
„Ich arbeite auf eigene Rechnung“, erklärte Dana Markow mit Stolz in der Stimme.
„Haben Sie ein Foto von Claire?“
Dana kramte in ihrer Handtasche und zog eine Fotografie heraus. Darauf war eine schmale junge Frau mit kurzen blonden Haaren und einem sympathischen Lächeln zu sehen. Sie wirkte etwas verloren, aber glücklich.
„Das war vor zwei Monaten an ihrem Geburtstag. War schöner Tag.“
„Wenn eine erwachsene Person verschwindet, ist das oft geplant“, erklärte Franziska. „Vielleicht braucht Claire eine Auszeit oder versteckt sich vor ihrem ... Bekannten.“
Dana schüttelte energisch den Kopf. „Niemals. Wenn sie abgehauen wäre, hätte sie sich gemeldet.“
„In Ordnung“, sagte Franziska. „Ich nehme die Daten Ihrer Freundin jetzt auf. Sie werden dann in ein europaweites Computersystem eingespeist. Wir können auch versuchen, ihr Handy zu orten. Sie hat doch eins?“
Dana nickte. „Ist ausgeschaltet. Hab’ ich schon versucht.“
„Geben Sie mir einfach die Nummer“, bat Franziska. „Vielleicht haben wir ein paar mehr Möglichkeiten. Und Ihre Kontaktdaten lassen Sie mir bitte auch da.“ Sie schob der Frau einen Block und einen Stift hin.
„Ich danke Ihnen vielmals“, sagte Dana und notierte alles. „Ich bin sehr in Sorge. Ihr ist etwas zugestoßen. Das weiß ich.“
„Machen Sie sich nicht verrückt. Die meisten Vermissten tauchen nach kurzer Zeit wieder auf. Hier“, Franziska gab Dana ihre Karte. „Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch was einfällt. Ihre Telefonnummer haben wir ja jetzt. Wir melden uns.“
Dana stand auf und zog ihren Mantel an. Dann sah sie Franziska an. „Sie sind eine sehr nette Frau“, sagte sie. „Ich war in Sorge, dass niemand sich kümmern wird um Claire. Aber Sie sind anders. Ich hatte Glück, Sie zu treffen.“
Du hast Glück, dass ich überhaupt hier bin, dachte Franziska, nachdem Dana Markow gegangen war, und nahm sich vor, sich für das Türenknallen zu Hause zu entschuldigen. Vielleicht konnte sie Heiner und Jenny ja mit einem Besuch im Sushi Restaurant bestechen. Dem guten und teuren am Zülpicher Platz. Sie entschied, die beiden einfach damit zu überraschen, und griff zum Hörer, um einen Tisch zu reservieren. Anschließend machte sie eine Personenabfrage in POLAS, dem Polizei Auskunftssystem. Eine Clarissa Müller oder Claire Müller war zwar als Sexarbeiterin offiziell gemeldet, aber es lag nichts gegen sie vor. Sie schloss das Programm und wendete sich ihren Berichten zu.
Die Aktion mit Claire war gründlich schiefgelaufen. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Er war davon ausgegangen, dass sie schlau sein, das Geld nehmen und ihm alles erzählen würde. Aber sie war stur geblieben. Er hatte die Panik in ihren Augen gesehen und verstanden, dass sie mehr Angst vor dem Zuhälter hatte als vor ihm. Daher musste jetzt Plan B herhalten. Das gefiel ihm nicht, aber es war nicht zu ändern. Er brauchte Informationen und sie würde sie ihm liefern.
Als er sie in den alten Luftschutzkeller trug, konnte er spüren, wie zart und zerbrechlich sie war. Und als er ihre Kleidung wechselte, fielen ihm die Blutergüsse auf.
Was sind das für Männer, die sich Frauen kaufen, um sie zu schlagen? Er hatte das im Laufe seines Lebens schon oft erlebt. Früher war er selbst ein Freier gewesen. Als er noch auf Montage in der Welt unterwegs war. Als Single ist man niemandem Rechenschaft schuldig. Eine Baustelle ist wie die andere. Keine festen Bindungen, keine tiefen Freundschaften. Für sexuelle Befriedigung sind die Prostituierten zuständig. Die stellen keine Ansprüche und keine Fragen. Es ist ein Geschäft mit einem Vertrag. Geld wechselt den Besitzer und dafür bekommt man ein paar entspannte Stunden. Aber man misshandelt die Frauen nicht.
Eine Szene mit einem deutschen Kollegen hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Zu Hause war er ein braver spießiger Saubermann mit Eigenheim, blonder Vorzeigfrau und zwei Kindern. Aber fernab der Heimat war sein moralischer Kompass abgeschaltet. Er war nicht nur fast täglich im Bordell, sondern behandelte die Prostituierten dort wie den letzten Dreck. Ein Widerling. Einmal hatte er eins der Mädchen durch den ganzen Puff gejagt, ihr immer wieder ein Bein gestellt und sie an den Haaren hinter sich her geschleift. Alle hatten gejohlt und ihn angefeuert. Außer ihm. Er war dazwischen gegangen und hatte dem Typen ein paar aufs Maul gehauen.
Als er Corinna kennenlernte, änderte sich sein Leben. Er suchte sich einen festen Job in Köln, wurde sesshaft, und es verging kein Jahr, da war sie schwanger. An dem Tag, an dem er sein Baby in den Armen hielt, durchströmte ihn ein unbeschreibliches Gefühl von Glück und Zufriedenheit. Er war endlich angekommen. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, dass ihm kalt das Rückgrat hochkroch. Panische Angst davor, dass diesem zerbrechlichen Wesen irgendetwas zustoßen konnte. Und in dem sterilen Kreißsaal schwor er einen heiligen Eid: dass er für den Rest seines Lebens alles tun würde, um seine Tochter und ihre Mutter zu beschützen.
Vor der Geburt hatte er keine genaue Vorstellung davon gehabt, was es bedeutete, Vater zu sein. Er wusste nur, dass er es besser machen wollte als seine eigenen Eltern. Aber die Realität übertraf alles. Da war dieser kleine Mensch, mit winzigen Fingerchen, einem niedlichen Stupsnäschen und braunen Augen. Von wegen, alle Babys kommen blauäugig zur Welt. Seine Tochter jedenfalls nicht. Sie hatte vom ersten Atemzug an die Augen ihrer Mutter, tiefgründig dunkel und wunderschön. Sie konnte mit ihrem Lächeln sein Herz erwärmen und ihre bedingungslose Liebe zu ihm war sein Lebenselixier. Der Tag, an dem sie zum ersten Mal Papa zu ihm sagte, war, abgesehen von ihrer Geburt, der schönste Tag in seinem Leben.
Dieses Kind großzuziehen, war sein größtes Abenteuer. Sie umarmte ihn, wenn er nach Hause kam, rannte mit ihm um die Wette und entdeckte lachend auf seinen Schultern die Welt. Er brachte ihr das Radfahren bei, das Schwimmen, er verpasste kein Hockeyspiel. Er verarztete Knieschrammen und trocknete Tränen. Sie lasen zusammen Momo, die Brüder Löwenherz, Harry Potter und Asterix. Er zeigte ihr, wie man einen Fisch ausnimmt und wie man aus einem Haufen Restholz einen Kaninchenstall baut. Für sie war er eine Art Superheld. Sechzehn Jahre waren sie eine glückliche Familie.
Bis vor drei Jahren der Teufel in ihr Leben einbrach und das Kind stahl. Von einem auf den anderen Tag war sie weg. Kontakt zu halten war schwierig, ihr Handy war meistens abgeschaltet und ihre Nummern wechselten ständig. Am Anfang kam sie ab und zu noch zu Besuch, aber das hörte irgendwann auf.
Nachdem er endlich verstanden hatte, was passiert war, fuhr er wochenlang herum, auf der Suche nach ihrem Roller. Immer einen Brief an sie in der Tasche, in dem stand, dass er und ihre Mutter nicht böse seien, sie sich nicht schämen müsse und sie zu Hause jederzeit willkommen sei. Das hatten die in der Selbsthilfegruppe empfohlen.
Jahrelang taten sie so, als wäre es nur eine Phase, die vorbeigehen würde. Sie redeten sich ein, dass sich alles wieder einrenkte. Dass ihre Tochter eines Tages zurückkäme. Sie malten sich diesen Tag in den tollsten Farben aus. Wie sie sie in die Arme nehmen, ihr keine Fragen stellen würden, froh darüber, dass sie zurück war. In ihrer Vorstellung war dieser Tag hell und strahlend. Ein Glückstag.
Den Roller hat er nie gefunden. Vielleicht hat sie ihn gar nicht mehr. Stattdessen fand er sie. Und hat alles versaut. Jemand hatte ihm einen Tipp gegeben, dass Antonia im Paradies anschaffte. Also war er hingefahren, hatte den Eintritt bezahlt und sich umgesehen. Und tatsächlich. Da war sie. Sie saß halbnackt bei einem Mann auf dem Schoss, der ihr gerade etwas ins Ohr flüsterte und dabei seine feisten Hände über ihre Oberschenkel gleiten ließ. Sie war so dünn, so zerbrechlich. Sein Herz drohte beim Anblick seiner geliebten Tochter, die im Begriff war, mit diesem Mann auf eines der Zimmer zu gehen, zu zerspringen. Und als er den Gedanken zu Ende dachte, brannte ihm die Sicherung durch. Anstatt behutsam vorzugehen, war er wie ein Elefant durch den Laden getrampelt und hatte das ganze Porzellan zerschlagen. Er zerrte Antonia von dem Mann runter und ihre Blicke trafen sich. Verwirrung, Erkenntnis, panische Angst. Das alles spielte sich im Bruchteil einer Sekunde in ihrem Gesicht ab und er verstand, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Dann schrien plötzlich alle durcheinander und bevor er wusste wie ihm geschah, hatten starke Hände ihn gepackt, nach draußen auf den Parkplatz gezerrt und er wurde mit Schlägen und Fußtritten übel zugerichtet.
Der Blick seiner Frau, als er ihr von seinem Versagen berichtete, hat sich auf seiner Netzhaut eingebrannt. In dem Moment hat sie aufgegeben. Drei Tage später schnitt sie sich die Pulsadern auf. Während er sie in den Armen hielt und auf den Notarzt wartete, war er kurz in Versuchung, sich ebenfalls einen Schnitt zu setzen und sich neben sie zu legen.
In diesen Minuten auf dem kühlen Kachelboden, während das Leben aus dem Körper seiner wunderbaren Frau entwich, verstand er, dass er ein Eisbär auf einer schmelzenden Eisscholle war. Nur er konnte Antonia noch retten und diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die ihnen das angetan hatten. Vor neunzehn Jahren im Kreißsaal hatte er einen Eid geschworen und den würde er nicht brechen. Er war jetzt als Einziger übrig.
Claire erwachte mit einem Schlag aus der Bewusstlosigkeit. Es fühlte sich an, als hätte sie lange die Luft angehalten und sie nahm einen tiefen Atemzug, um ihre Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Sie richtete sich auf und schaute sich um.
„Oh Scheiße“, murmelte sie, als ihr Verstand begriff, in welcher Situation sie sich befand.
Sie lag zugedeckt auf einer Pritsche in einem fensterlosen Raum, der von einer Glühbirne nur spärlich beleuchtet wurde. In der Mitte standen ein Tisch und zwei Stühle, an der linken Wand ein Regal mit Wasserflaschen, Kekspackungen und ein bisschen Obst, daneben ein Plastikeimer mit Deckel. Ansonsten war der Raum leer. Es roch muffig und es war kalt.
Sie stand auf, schlurfte zur Tür und versuchte, sie zu öffnen. Natürlich verschlossen. Eine massive Stahltür. Sie hämmerte mit den Fäusten gegen das Metall und schrie um Hilfe, bis sie erschöpft aufgab.
Claire hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war. War es Tag oder Nacht? Sie schleppte sich zum Regal, öffnete eine der Wasserflaschen und leerte sie in einem Zug. Dann setzte sie sich auf die Pritsche und umschlang ihre Beine gegen die Kälte. Wie gerne hätte sie sich jetzt eine Nase Pep gegönnt oder eine geraucht. Aber sie konnte ihre Handtasche nirgendwo entdecken.
„Fuck“, fluchte sie.
Der falsche Teddybär hatte sie betäubt und eingesperrt. Nur weil sie seine scheiß Fragen nicht beantworten wollte. Außerdem hatte er sie umgezogen. Sie trug nicht mehr ihr Kleid, sondern einen Trainingsanzug. Und die Perücke, die ihr diesen Schneewittchen-Look gab, auf den ihre Freier so standen, war auch weg. Reflexartig unterzog sie ihren Körper einer kurzen Untersuchung. Fühlte sich nicht so an, als hätte er sie vergewaltigt. Sie war erleichtert. Für den Moment zumindest.
„Hey Mann?“, rief Claire. „Ist hier jemand?“
Keine Antwort.
„Ist das ein beschissenes Spiel?“, schrie sie. „Wenn ja, ist es nicht besonders witzig.“
Sie zog die Beine an und legte den Kopf auf ihre Knie. Ihr war hundeelend zumute, sie fror und sie hatte Angst.
Die Stille um sie herum dröhnte in ihren Ohren. Claire konnte sich nicht erinnern, jemals von so vollkommener Ruhe umgeben gewesen zu sein. Das Leben in einer Großstadt war erfüllt von ewigem Lärm, der auch nachts niemals ganz nachließ. Irgendwas war immer los, wenn hunderttausende von Menschen auf engstem Raum lebten, arbeiteten und ihrer Freizeitbeschäftigung nachgingen: Hupende Autos, vorbeifahrende Züge, eine Fahrradklingel, Sirenen, ein Streit, ein Lachen, ein Hund, der bellte. Die Abwesenheit von Geräuschen kam ihr eigenartig vor. Sie dachte darüber nach, wie oder wo man so einen Zustand erreichen konnte und als der Groschen fiel, blieb ihr das Herz stehen. Ihr Gefängnis war außerhalb der Stadt oder lag weit unter der Erde in einer Art Bunker oder der Raum war schallisoliert. Oder alles zusammen.
Der Teddybär war ein Psycho. Und sie saß in einer Falle, aus der sie sich selbst nicht würde befreien können. Eine Reihe schrecklicher Folterszenarien rasten durch ihren Kopf, bis sie vor lauter Panik kaum noch Luft bekam.
Hör auf mit dem Mist, ermahnte sie sich. Reiß dich zusammen. Du hast keine Wahl, als abzuwarten. Weiter um Hilfe rufen würde nichts bringen. Wenn von außen kein Geräusch hereinkam, ging auch keins heraus. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Er will Informationen und er wird kommen und sie sich holen.
Wie aufs Stichwort gab es ein metallenes Klicken. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, die Tür ging auf. Richard betrat den Raum und verschloss die Tür wieder mit einem Schlüssel, den er in seine Hosentasche steckte.
„Du bist wach. Wie schön“, sagte er. „Ich hab’ uns was zu essen besorgt.“ Er hielt einen Pizzakarton hoch. Die heiße Pizza roch verführerisch und obwohl die Situation alles andere als entspannt war, merkte Claire, dass ihr Magen knurrte.
„Hab’ keinen Hunger“, sagte sie aus Angst vor weiteren Betäubungsmitteln.
„Ich schulde dir ein Abendessen“, entgegnete Richard, stellte den Karton und eine Flasche Cola mit zwei Pappbechern auf den Tisch und setzte sich auf einen der Stühle. „Keine Sorge. Da ist nichts drin.“ Und zum Beweis nahm er ein Stück, rollte es zusammen und biss davon ab. „Hmm lecker“, sagte er genüsslich kauend.
Claire beobachtete ihn von ihrer Pritsche aus, wie er langsam die Pizza verspeiste, bis nur noch zwei Stücke übrig waren. Danach goss er sich einen Becher Cola ein. Erst als er alles ausgetrunken hatte, knickte sie ein.
„Kann ich vielleicht doch was haben?“, fragte sie kleinlaut.
„Klar“, sagte er, schob ihr den Pizzakarton über den Boden und rollte ihr die Colaflasche zu. Sie hob beides auf und machte sich gierig darüber her.
„Und jetzt reden wir.“
„Worüber denn?“, fragte Claire kauend.
„Über das, was im Paradies passiert ist.“
Sie starrte ihn an. „Ich weiß nichts.“
Richard lachte verächtlich. „Ich glaub dir kein Wort. Erstens war deine Reaktion auf das Foto eindeutig und zweitens“, er machte eine kurze Pause, „habe ich dich mit Toni gesehen.“
Claire schüttelte trotzig den Kopf. „Dann verwechselst du mich“, beharrte sie. „Viele von uns sehen sich ähnlich. Der gleiche Look und so.“
Richard sah sie an. „Wir machen es so. Du bleibst eine Weile hier unten und denkst nach. Wenn du zur Besinnung kommst und mir hilfst, meine Tochter zu finden, werde ich dich laufen lassen. Wenn nicht, dann ist das heute der erste Tag vom Rest deines jämmerlichen Lebens.“ Er zeigte auf die Wasservorräte an der Wand. „Das ist alles, was ich dir zuteile. Danach wirst du langsam verdursten. Überleg es dir.“
Claire blickte auf das Regal. Zwei Liter Wasser. Das war nicht viel. Das würde höchstens für drei oder vier Tage reichen, wenn sie sparsam war. Sie starrte Richard an. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es ihm bitterernst.
„Wenn ich sterbe, erfährst du erst recht nichts“, sagte sie trotzig.
„Mal sehen, wer länger durchhält. Der Entzug wird dich durstig machen.“
Claire starrte ihn an.
„Das Zeug war in deiner Handtasche. Amphetamine. Das ist nicht gut für dich.“ Richard stand auf und verließ den Raum. Die Tür wurde abgeschlossen. Dann ging das Licht aus.
„Hey, was soll das?“, schrie Claire. Die plötzliche Dunkelheit erschreckte sie.
„Betrachte es als Übung für die Hölle, mein Engel“, hörte sie ihn dumpf von der anderen Seite. Dann wurde es still.
Sie tobte und schrie, aber ihr Entführer ließ sich nicht blicken. Irgendwann schlief sie vor Erschöpfung ein.
Als sie aufwachte, musste sie sich erst zurechtfinden. Sie hatte pochende Kopfschmerzen und großen Durst. Scheiße. Sie rappelte sich auf und suchte nach der Cola. Ein Rest musste noch drin sein. Ihre Finger waren so klamm, dass sie die Flasche kaum aufdrehen konnte. Dann stand sie auf und tastete sich vorsichtig in Richtung des Eimers und pinkelte hinein. Sie kroch zurück zu ihrer Pritsche.
Als das Licht anging, schreckte sie hoch. Wie viel Zeit war vergangen? Sie hielt sich schützend den Arm vor die Augen, setzte sich auf und starrte auf die Tür.
Richard kam herein und stellte ein Tablett mit ein paar Sandwiches und einer neuen Flasche Cola auf den Tisch. Er bot ihr einen Stuhl an.
Claire stand zögernd auf und bewegte sich langsam auf den Tisch zu, setzte sich und verschlang gierig die beiden Brote. Als sie nach der Cola greifen wollte, zog Richard die Flasche weg.
„Die bekommst du, wenn du mir Informationen lieferst.“
Claire verzog das Gesicht. „Macht es dir Spaß, Frauen zu quälen?“
„Die blauen Flecken hast du nicht von mir“, brummte er. „Wer war das?“
Claires Miene verfinsterte sich. „Berufsrisiko.“
„Tut mir leid für dich.“
„Hab schon Schlimmeres erlebt.“
Sie schwiegen beide für einen kurzen Moment.
„Ich weiß nichts über deine Tochter“, brach Claire das Schweigen.
„Und ich weiß, dass du lügst. Ich habe gesehen, wie du ihr ein Brett über den Kopf gezogen hast.“
Claire starrte ihn überrascht an. Ihr war nicht klar gewesen, wie viel Richard damals mitbekommen hatte. Sie hatte draußen auf dem Club-Parkplatz vom Paradies eine geraucht, als plötzlich die Tür aufflog, Mike und Finn einen Mann rauszerrten und ihn zwischen den Müllcontainern in die Mangel nahmen, bis er keinen Mucks mehr von sich gab. Momo kam hinterhergelaufen und fing an panisch rumzuschreien. Claire hatte der Szene ungerührt zugesehen, bis Finn sie aufforderte, die Kleine ruhigzustellen. Stopf ihr das Maul. Sie versuchte zuerst, Momo wegzuziehen, aber die riss sich wieder los und dann war da dieses Brett und bevor sie nachdenken konnte, lag Momo am Boden.
„Hast du sie umgebracht?“, fragte Richard.
Claire schüttelte den Kopf. „Nein, das habe ich nicht, ehrlich. Nur eine kleine Gehirnerschütterung.“
„Wo ist sie jetzt?“
„Hab sie seitdem nicht mehr gesehen.“
„Du lügst!“, schrie Richard.
„Nein, ich lüge nicht“ schrie sie zurück. „Sie ist im Paradies seit dem Tag nicht mehr aufgetaucht. Ich schwöre.“
„Wer kann wissen, wo sie ist?“
Claire schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“
Richard schlug mit der Faust auf den Tisch.
Claire zuckte zusammen. Sie starrte Richard ängstlich an. Noch hatte er sie nicht geschlagen. Aber sie war nicht sicher, wie lange das so blieb, wenn sie ihm nicht die richtigen Antworten lieferte. Sie spielte ihre Optionen durch. Wenn sie weiter schwieg, würde sie in diesem Kellerloch verrecken. Wenn sie die Namen der Männer preisgab, die ihr Kidnapper wissen wollte und das rauskam, war sie ebenfalls geliefert. Hassan würde sie töten. Es war sein Club und er achtete streng darauf, dass alle, die dort arbeiteten, die Regeln einhielten.
„Du hast doch keine Ahnung.“ In ihrer Stimme schwang die nackte Angst mit. „Die bringen mich um, wenn ich quatsche. Du weißt nicht, wie die sind.“
Richard zeigte sich unbeeindruckt. „Du hast deine Situation noch immer nicht ganz verstanden. Aber du bist ein schlaues Mädchen. Finde den Fehler und dann reden wir weiter.“ Er stand auf. „In ein paar Stunden komme ich zurück.“
„Nein, bitte“, flehte Claire. „Bitte lass mich hier nicht wieder im Dunkeln sitzen.“
„Dann rede. Ich bin ganz Ohr.“
Claire überlegte kurz, dann setzte sie alles auf eine Karte. „Wenn ich dir was erzähle, will ich eine Gegenleistung.“
„Du bist eigentlich nicht in der Position, um Forderungen zu stellen.“
„Bitte“, bettelte sie und die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Es ist kalt hier unten und ich habe Angst im Dunkeln.“
Zu Claires großer Überraschung nickte ihr Entführer. „Wenn mir gefällt, was du zu sagen hast, bekommst du Vergünstigungen. Das ist fair. Also? Wo ist mein Kind?“
Claire überlegte, was und wie viel sie Richard erzählen konnte. Sie wusste nicht, wo seine Tochter sich momentan aufhielt. Aber sie hatte eine Information, die ihm helfen würde, das Mädchen zu finden. Claire entschied sich, ihm den Namen zu geben in der Hoffnung, dass das reichen würde.
„Als Erstes solltest du davon ausgehen, dass deine Tochter noch lebt. Dein Auftritt im Paradies war zwar gefährlich für sie, aber das Geschäft mit ihr ist zu lukrativ, um sie einfach aus dem Weg zu räumen. Ich habe Gerüchte gehört, dass sie verkauft wurde.
„An wen?“
„An Immanuel“, log Claire. Sie wusste zwar nicht, wer Momo gekauft hatte, aber Immanuel ganz sicher nicht. Dafür war er einfach nicht der Typ. „Er ist ihr Stammfreier. Der hat sie regelmäßig gebucht.“ Auch das war eine Lüge. Momo hatte ihr erzählt, dass immer ein anderer Mann auf sie wartete, wenn sie von Immanuel privat gebucht wurde.
Richard wich alle Farbe aus dem Gesicht. „Sie hat einen Stammfreier?“
„Ja“, antwortete Claire, „so einen haben wir fast alle. Hat Vor- und Nachteile. Der redet sicher. Er ist ein braver Bürger. Wenn du ihm ein bisschen Druck machst, knickt der ein. Jede Wette.“
„Warum kauft jemand eine Frau?“, fragte Richard.
„Vielleicht, weil er sie retten will? Was glaubst du denn, wie viele Typen sich in eine Prostituierte verknallen?“, Claire lachte höhnisch. „Dann träumen sie von Heirat und Kindern und einem bürgerlichen Leben.“
„Aber in dem Fall hätte sie sich doch längst gemeldet“, widersprach Richard.
„Und wenn sie nicht will?“, fragte Claire. „Vielleicht schämt sie sich zu sehr und ist jetzt glücklich mit ihrem Retter.“
„Weißt du, wo ich diesen Mann finden kann?“
Claire nickte. „Klar. Ich kenne die Adresse, zu der er uns bestellt, wenn wir ihn nicht im Club treffen. Aber die Info kostet dich was.“
„Was willst du haben?“
„Licht, einen Radiator und Zigaretten.“
Richard nickte und stand auf.
„Ach, und noch was“, sagte Claire. „Sie heißt in der Szene Momo. Wegen der Locken, du weißt schon.“
Er war es. Ihr allerschlimmster Albtraum war Wirklichkeit geworden, nur dass sie aus diesem Traum nicht mehr aufwachen würde.
„Hallo, meine Schöne“, sagte er und lächelte.
Er trug wie immer den Latexoverall und den schwarzen Kapuzenumhang. Sie hatte ihn noch nie ohne diese Verkleidung gesehen.
„Endlich bist du da. Ich habe lange darauf gewartet.“
Er setzte sich auf einen Drehhocker und seine kalten Augen ruhten auf ihrem Gesicht. Er strich ihr sanft über die Wange. Als sie den Kopf zur Seite drehen wollte, hielt er sie mit hartem Griff davon ab. Er atmete schnell und sie roch Alkohol.
„Wir werden viel Spaß miteinander haben“, flüsterte er und als sie das Messer sah, hielt sie den Atem an und starrte ihn angsterfüllt an.
Er lachte und fuhr mit der Klinge über ihren Nasenrücken, ihr Kinn, ihren Hals hinunter bis zu ihrer Kehle. „Du bist so schön“, flüsterte er. Dann zerschnitt er ihr Oberteil, ihren BH, ihre Trainingshose und zum Schluss ihren Slip. Langsam und bedächtig zog er sie aus, bis sie vollkommen nackt war. Dann umkreiste er mit dem Messer ihre Brüste, berührte mit der Spitze ihre Brustwarzen, die rechte, die linke, wanderte weiter hinunter zu ihrem Bauchnabel und zeichnet die Konturen ihrer Vagina nach. Sie spürte die kalte, scharfe Klinge und wartete auf den Schmerz, der nicht kam.
„Ich kann es kaum erwarten“, sagte er.
Sie wusste, was mit ihr passieren würde. Er hatte es ihr ins Ohr geflüstert, jedes Mal, wenn er sie missbraucht hatte. In der Kanzlei, in dem Raum mit der Rosentapete.
Der Anruf vom Präsidium kam um 08:43 Uhr. Kriminalhauptkommissarin Franziska Frey spürte die Vibration in ihrer Manteltasche, bevor das Handy anfing zu klingeln. Sie schaute auf das Display, dann schuldbewusst zu ihrem Mann und ihrer Tochter.
„Ich muss da kurz ran“, sagte sie.
„Echt jetzt Mama“, ätzte Jenny, „das Boarding beginnt doch gleich.“
„Dauert nur eine Minute, Liebes.“ Franziska drückte den grünen Hörer und ging ein paar Meter zur Seite.
„Ich bin am Flughafen, Horst“, sagte sie ohne eine Begrüßung. Sie war genervt. Sie hatte den Urlaub schon vor Monaten eingereicht, damit sie in der Woche des Abflugs genug Zeit mit ihrer Tochter verbringen konnte. Ihr Chef, der Leiter der Kriminalinspektion 1, Horst Rabenmacher, den alle nur den Raben nannten, wusste also, wie wichtig ihr das war – und rief trotzdem an. Genau in dem Moment, vor dem sie sich die letzten Wochen am meisten gefürchtet hatte. Jenny auf dem Weg in ein weit entferntes fremdes Land. Abschied für ein Jahr. Sie hätte England oder Frankreich besser gefunden, aber Jenny hatte sich für Kanada entschieden. Franziska lauschte in den Hörer, dann schaute sie kurz auf ihre Armbanduhr, sagte „in einer Stunde ungefähr“ und legte auf.
„Was war denn?“, wollte ihr Mann Heiner wissen, als sie wieder zu ihrer Familie stieß.
„Nichts, was uns jetzt belasten müsste“, antwortete Franziska und versuchte sich an einem tapferen Lächeln. „Hast du auch wirklich an alles gedacht, Liebes?“
„Mensch Mama, jaaaa“, Jenny verdrehte genervt die Augen. „Ich habe mein Ticket, den Pass, Personalausweis, die ganzen Unterlagen“, sie klopfte auf ihre Tasche, „und die tausend Notfallnummern, die du mir gegeben hast, sind auch eingespeichert.“
In dem Moment wurde der Flug aufgerufen und Franziskas Herz machte einen Satz. Jetzt war es soweit. Sie warf ihrem Mann einen Blick zu, der sich mit der rechten Hand über seine Glatze strich. Das machte er immer, wenn er nervös war. Dann umarmten sich alle und Franziska musste zusehen, wie ihre Sechzehnjährige hinter einer Schranke in einem Gang verschwand. Sie winkte ein letztes Mal, dann war Jenny außer Sichtweite.
Sie schaute ihren Mann an. „Ich hab’ nicht geweint“, sagte sie grinsend und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Heiner nahm sie in den Arm und drückte sie fest an sich. Sein neuer Bart war überraschend weich. „Wird schon alles gut gehen“, flüsterte er. „Sie ist klug und mutig und sie brennt darauf, auf eigenen Füßen zu stehen.“
„Ich weiß“, schniefte Franziska, „ich weiß nur nicht, ob ich bereit bin, sie loszulassen. Das kam so plötzlich.“
„Wir planen das seit anderthalb Jahren“, sagte Heiner lächelnd. „Sooo plötzlich ist das jetzt auch nicht.“
„Für mich schon.“ Franziska schnäuzte in ein Taschentuch. „Ich finde es so traurig, dass sie Weihnachten nicht zu Hause ist.“
„Das war ja auch nicht geplant, aber dass sie mit ihrer Gastfamilie in den Skiurlaub fahren kann, ist doch toll.“
„Ich weiß“, sagte Franziska und stellte sich mit Grauen vor, wie ihr Töchterchen eingeschneit in einer Blockhütte festhing und von hungrigen Eisbären bedroht wurde. „Ich hoffe, die passen gut auf die Kinder auf.“
„Was hältst du davon, wenn wir jetzt hier verschwinden und irgendwo was Leckeres frühstücken gehen.“
Franziska sah ihren Mann schuldbewusst an. „Geht leider nicht. Ich muss arbeiten.“
„Das kann doch nicht wahr sein“, polterte Heiner los. „Ausgerechnet heute. Kann Frank nicht für dich einspringen?“
„Der ist in Rente? Schon vergessen?“ Franziskas Puls beschleunigte sich. Frank Bermann, ihr ehemaliger Mentor und langjähriger Partner hatte überraschend den Dienst quittiert. Ein für Franziska einschneidendes Ereignis, das auch zu Hause für ein paar Wochen Dauerthema war.
„Ich dachte erst ab Januar?“
„Resturlaub. Frank ist weg. Ich habe nur freibekommen, wenn ich im Ernstfall zur Verfügung stehe. Das wusstest du.“ Und in etwas versöhnlicherem Ton schob sie hinterher: „Ich bin froh, dass wir noch ein paar schöne Tage hatten. Das hätte alles ganz anders laufen können.“
„Ja, ja, schon gut“, brummte Heiner und zog einen Schmollmund.
Franziskas Herz zog sich zusammen. Sie enttäuschte ihn. Mal wieder. Sie hatten den Tag eigentlich anders verbringen wollen. Jenny zum Flughafen bringen, danach ein gemeinsames Frühstück, Schwelgen in schönen Erinnerungen, Kochen, Sekt trinken auf den Abschied und den neuen Lebensabschnitt zu zweit und vielleicht sogar mal wieder Sex. Franziska überlegte, wann sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten? Vor sechs Wochen, oder waren es acht? Wahrscheinlich noch länger, wenn sie sich nicht daran erinnern konnte. Aber es war nicht zu ändern. Der Rabe hatte sich deutlich ausgedrückt. Vier weitere Kollegen krank und niemand da, außer der Neuen. Sie hatte keine Wahl, sie musste los. Eine Leiche am Eigelstein.
„Es tut mir leid“, sagte sie traurig. „Ich mache, so schnell ich kann und dann kochen wir heute Abend was Schönes zusammen. Okay? Nur das Frühstück fällt aus.“
„Wir werden sehen“, antwortete Heiner. „Nimm du den Wagen. Ich fahre mit der S-Bahn zurück, geh einkaufen und warte zu Hause auf dich.“ Er küsste sie zum Abschied auf die Wange, dann drehte er sich um und war nach kurzer Zeit in der Menge verschwunden.
***
Als Franziska bei der angegebenen Adresse ankam, herrschte dort bereits hektisches Treiben. Der SUV der KTU parkte im Innenhof, daneben ein schwarzer E-Roller. Ein Beamter stand frierend vor der Eingangstür.
„Guten Morgen“, begrüßte er sie.
Franziska erwiderte die Begrüßung mit einem knappen Nicken „Wo muss ich hin?“
„Hier durch und dann gleich rechts“.
Sie machte sich auf den Weg ins Innere des Gebäudes. Die Kanzlei des Opfers, ein Steuerberater, lag im Souterrain eines alten Backsteinhinterhauses. Von der Eingangstür aus betrat man einen großen Empfangsraum mit einem langgezogenen Tresen, dahinter standen ein Schreibtisch und mehrere Aktenschränke. Zur Rechten gab es zwei Büros und zur Linken eine Küche und die Toilette. Rechts neben dem WC führte eine Wendeltreppe nach unten. Wahrscheinlich in ein Archiv.
„Moin, Franzi.“ Die näselnde Stimme von Heribert Wallmann, dem Leiter der KTU, hätte sie überall herausgehört. Er reichte Franziska Überzieher für die Schuhe und ein paar Handschuhe.
„Danke, Wallmann“, antwortete sie knapp. Sie mochte den Mann nicht. Sie hielt ihn für einen Macho und Klugscheißer, der keine Gelegenheit ausließ, um sich wichtig zu machen. Nächstes Jahr würde er endlich in Pension gehen.
„Was haben wir?“
„Ne ganze Menge“, sagte Wallmann und grinste breit. „Du hast echt was verpasst. Die neue Maus ist spitze.“
„Die neue was?“ Es waren Äußerungen wie diese, die Franziska auf die Palme brachten. Sie würde diesem Idioten keine Träne nachweinen.
„Achten Sie einfach nicht auf den“, sagte eine angenehm tiefe weibliche Stimme hinter ihr. „So reden nur Typen mit ganz kleinem Schwanz.“
Wallmanns Grinsen fror ein und Franziska drehte sich um. Sie starrte den Neuzugang an. Jung, schlank, hochgewachsen, verdammt attraktiv. Haare dunkelbraun, kurzgeschnitten, Lederjacke, Jeans, Stiefel. Franziska erinnerte sich an den Roller vor der Tür.
„Kriminalkommissarin Tessa Anders, Ihre neue Maus“, stellte sich die Kollegin vor und strahlte Franziska aus grünen Augen an. „Sie müssen Frau Frey sein.“ Sie streckte ihre Hand zur Begrüßung aus. „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.“
Ein einsilbiges Ja, war alles, was Franziska über die Lippen kam. Sie war überfordert. In Gedanken war sie noch bei ihrer Tochter und es fiel ihr schwer, sich auf die neue Situation einzustellen. Aber Tessa Anders schien das nicht weiter zu stören. Sie machte eine Kopfbewegung Richtung Büro.
„Kommen Sie, ich bringe Sie auf den aktuellen Stand. Ich bin froh, dass Sie endlich da sind. Die letzte Stunde war ganz schön heftig.“
Dann erzählte sie, dass sie, abgesehen von den zwei Streifenbeamten, die Erste am Tatort gewesen war. Die Sekretärin Gabriele Kramer hatte ihren Arbeitgeber tot aufgefunden und den Notruf gewählt.
„Als ich ankam, war die Frau völlig aufgelöst und kaum ansprechbar. Also habe ich sie in der Obhut des Kollegen gelassen und mir erstmal das Büro von dem Herrn Koch vorgenommen. So heißt der Steuerberater, dem die Kanzlei hier gehört. Der lag auf dem Teppich in seinem Büro und überall war Blut. Und Sie sehen ja selbst, hier hat definitiv ein Kampf stattgefunden.“
Franziska sah einen umgekippten Bürostuhl, einen heruntergerissenen Vorhang und verstreut liegende Gegenstände und nickte.
„Aber es sieht nicht nach einem gewaltsamen Eindringen aus“, erklärte Tessa Anders. „Keine Einbruchsspuren, nichts durchwühlt, Geldbörse ist auch noch da. Der Mann ist verheiratet. Da“, sie zeigte auf eine Fotografie, die neben der Blutlache auf dem Boden lag. „Die Frau ist bestimmt fünfzehn Jahre jünger und die Tochter ist ein Teenager, zumindest auf dem Foto, aber er trägt keinen Ehering, hab’ auch keinen gefunden. Auf jeden Fall kam mir das alles gleich spanisch vor.“
Franziska starrte die Kollegin fragend an und versuchte, aus dem Wust von Informationen schlau zu werden, die auf sie einprasselten.
„Wieso?“, fragte sie einsilbig.
„Der sah einfach nicht … tot aus. Also habe ich den Puls gefühlt und bingo!“ Tessa strahlte triumphierend.
„Bingo?“
„Na, der war noch am Leben, das glauben Sie nicht. Ganz schwacher Puls, aber eben Puls. Damit hat ja keiner mehr gerechnet. Die Sekretärin ist sogar in Ohnmacht gefallen vor Schreck. In dem Moment kam der KTU-Dino mit seinen Leuten und ich habe den RTW gerufen. Notarzt war ja schon auf dem Weg.“
KTU-Dino. Die Bezeichnung für Wallmann gefiel Franziska. „Wo ist denn der Herr Koch jetzt?“, fragte sie.
„Uniklinik. Hier, ich hab’ Fotos gemacht!“ Tessa Anders kramte ihr Handy aus der Jackentasche, öffnete die Foto-App und hielt Franziska die Bilder unter die Nase.