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Niemand, der ihnen hilft. Und ein Monster auf der Jagd.
Packend, nervenaufreibend, spannend: Ein neuer Fall für Franziska Frey
Eine junge obdachlose Frau wird tot auf einem Spielplatz gefunden – erwürgt, missbraucht und ihr rechter Fuß abgetrennt. Ein Verbrechen, das Kommissarin Franziska Frey zutiefst erschüttert. Doch während die Ermittlungsarbeiten auf Hochtouren laufen, schlägt der Täter erneut zu – nach dem selben brutalen Muster. Für Franziska ist umgehend klar: Es handelt sich um einen Serienmörder. Kommissarin Frey und ihr Team stehen vor einem Rätsel. Es gibt kaum brauchbare Hinweise auf den Täter. Doch plötzlich überschlagen sich die Ereignisse und Tessa Anders gerät in das Visier des Mörders. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …
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Seelenkalt (ISBN: 9783987782954)
Erste Leser:innenstimmen
„Nervenkitzel bis zur letzten Seite.“
„Ich konnte diesen Kriminalthriller gar nicht aus der Hand legen. Unglaublich packend!“
„Die Charakterentwicklung von Kommissarin Frey war super spannend zu lesen.“
„Eine mitreißende Jagd nach einem Serienmörder, ein richtiger Pageturner!“
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Seitenzahl: 552
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Eine junge obdachlose Frau wird tot auf einem Spielplatz gefunden – erwürgt, missbraucht und ihr rechter Fuß abgetrennt. Ein Verbrechen, das Kommissarin Franziska Frey zutiefst erschüttert. Doch während die Ermittlungsarbeiten auf Hochtouren laufen, schlägt der Täter erneut zu – nach dem selben brutalen Muster. Für Franziska ist umgehend klar: Es handelt sich um einen Serienmörder. Kommissarin Frey und ihr Team stehen vor einem Rätsel. Es gibt kaum brauchbare Hinweise auf den Täter. Doch plötzlich überschlagen sich die Ereignisse und Tessa Anders gerät in das Visier des Mörders. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …
Erstausgabe Januar 2025
Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-260-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-853-8
Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © PNG Kingdom, © dule964, © MM, © Lilia7-7, © Visualmind, © artem_goncharov shutterstock.com: © aswphotos134 Lektorat: Katrin Gönnewig
E-Book-Version 13.06.2025, 00:52:29.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Er setzt sich an den Tisch, öffnet eine Flasche Bier und betrachtet sein Werk. Die Fackeln brennen und die Flammen tanzen flackernd an den Steinwänden der Höhle.
Es sieht richtig heimelig aus. Es wird ihr sicher gefallen.
Das Bettzeug ist in ihren Lieblingsfarben bezogen, rosa und hellblau, und er hat sogar einen dieser großen Spiegel mit goldenem Rahmen besorgt, die sie schön findet. In seinen Augen sind die schnörkeligen Verzierungen zwar unnützer Tinnef, aber seine Mitzi ist wählerisch und wenn sie glücklich ist, ist er es auch.
Er kann es kaum erwarten, sie endlich wieder in seine Arme zu schließen. Fast zwei Jahre hat er sie nicht gesehen. Zwei Jahre, in denen er sie nicht berühren, sie nicht schmecken konnte.
Er hat sich für Köln entschieden, weil Jahrhunderte der Besiedlung ein weit verzweigtes System aus Tunneln, alten Wasserleitungen und römischen Straßen unter der Stadt hinterlassen haben, die längst nicht alle erforscht sind. Man kann sich darin wunderbar von A nach B bewegen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Das Einzige, was man dazu braucht, sind die richtigen Karten, ein Nachtsichtgerät und die Zeit, alles zu erkunden. Und die hat er sich genommen.
Monatelang ist er, von den Einwohnern unbemerkt, unter Köln umhergewandert und hat per Zufall eine alte preußische Waffenkammer entdeckt, die im Laufe der Jahrhunderte in Vergessenheit geraten ist. Den oberirdischen Zugang hat er selbst freigelegt. Die Schwielen an seinen Händen schmerzen noch immer. Aber das war es wert. Schon als Jugendlicher hat er von einem Ort wie diesem geträumt und jetzt ist er endlich Wirklichkeit geworden.
Er ist bereit. Die Jagd kann beginnen.
Betty warf einen Blick auf die Uhr. Es war an der Zeit aufzubrechen, bevor sie rausgeschmissen wurde. Sie legte DEN SPIEGEL zurück auf das Tischchen mit den Zeitungen, zog das Aufladegerät für ihr Handy aus der Steckdose und griff nach ihrem Rucksack. Zu lange schon saß sie in dem Café und die Kellnerin verlor allmählich die Geduld, wie man an ihrem säuerlichen Gesichtsausdruck unschwer erkennen konnte. Ein Getränk in zwei Stunden war ihr dann doch zu wenig Umsatz und ein viertes Mal wollte Betty nicht gefragt werden, ob sie noch einen Wunsch hatte.
Wünsche hatte sie viele, einen warmen Tee zum Beispiel oder ein Stück von dem Apfelkuchen, der so verführerisch nach Zimt duftete. Aber sie konnte sich weder das eine noch das andere leisten. Sie gab Loki ein Zeichen und sie brachen auf.
Wenn ihr vor wenigen Monaten jemand erzählt hätte, dass ein Stück Kuchen in einem Café, eine warme Mahlzeit am Tag oder der Zugang zu einer sauberen Toilette für sie zu einer täglichen Zerreißprobe werden würde, sie hätte wahrscheinlich nur den Kopf geschüttelt und gelacht. Doch diese Zeiten waren vorbei. Und seit ihrer Flucht hatte sich ihr Leben radikal verändert.
Als Betty vor die Tür trat, fröstelte sie. Es war ziemlich kalt geworden und sie musste sich langsam was einfallen lassen. Sie lief Gefahr zu erfrieren, wenn sie weiter draußen schlief. Aber es war nicht leicht, einen Platz in einer der wenigen Notschlafstellen für Frauen zu ergattern. Die Adressen hatte sie zwar mittlerweile herausbekommen, aber die meisten waren für Hunde tabu und ein Tierheim wollte sie Loki nicht antun. Er war alles, was sie noch hatte. Er war ihre Familie. Sie atmete die kalte Januarluft ein und zog ihre Mütze tief über die Ohren.
Loki stupste sie am Bein an und schaute schwanzwedelnd zu ihr hoch. Betty streichelte seinen Kopf. „Gleich gibt’s was. Ich muss nur noch schnell zum Aldi.“
Der Hund bellte kurz zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und zusammen machten sie sich auf den Weg. Der Supermarkt war gleich um die Ecke.
„Du wartest hier“, sagte Betty und huschte in den Discounter.
Nur wenige Minuten später war sie wieder draußen, ihren Rucksack prall gefüllt mit Hundefutter, ein paar Dosen Linsensuppe und Ravioli, ein Baguette und eine Flasche Apfelsaft. Einen neuen Guthabenbon für ihr Prepaid-Handy hatte sie sich auch gegönnt.
Lange konnte sie so nicht mehr weitermachen. Ihr ging das Geld aus. Vielleicht noch eine Woche, dann waren ihre Reserven endgültig verbraucht und sie würde betteln müssen. Eine demütigende Vorstellung. Aber die Alternative gefiel ihr noch weniger: ein Antrag auf staatliche Unterstützung. Die beim Sozialamt würden ihr keinen Cent geben und sie auslachen, wenn sie Grundsicherung beantragte. Immerhin war sie die Frau von Dr. Thomas Funke, einem wohlhabenden und hoch angesehenen Rechtsanwalt mit gut laufender Kanzlei und Penthousewohnung mit Rheinblick. Aber Bettys größte Angst war, dass Tom von so einem Antrag Wind bekam. Dann würde er sie zwingen, nach Hause zu kommen, und das wäre ihr Todesurteil.
Ein kleiner Junge von vielleicht sechs Jahren stand vor Loki und beide, Hund und Kind, beäugten sich kritisch.
„Hallo“, sagte Betty. Sie war froh, dass der Junge respektvoll Abstand zu Loki gehalten hatte. Es war besser, wenn sie dabei war, wenn sich jemand dem Hund näherte.
„Ist das ein Wolf?“ Der Kleine schaute Betty aus großen Augen an.
Sie lächelte. „Nein, Loki ist ein Hund. Aber er wurde so gezüchtet, damit er aussieht wie ein Wolf. Die Rasse heißt Tamaskan. Das bedeutet mächtiger Wolf.“
Betty ging in die Hocke und kraulte Lokis Kopf. „Er mag Kinder. Willst du ihn streicheln?“
„Lieber nicht“, sagte der Junge. „Er hat gelbe Augen.“ Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand zwischen den Autos auf dem Kundenparkplatz der Supermarktkette.
Betty zuckte mit den Achseln. „Komm, Loki. Wird Zeit, dass wir was zu futtern kriegen.“
Die beiden überquerten die Venloer Straße, liefen in den Stadtgarten und steuerten auf Bettys aktuelles Nachtlager zu, einem Gestrüpp, direkt am Bahndamm. Vom Park aus war ihr Versteck vor neugierigen Blicken geschützt, weil die Arbeiter vom Grünflächenamt ein paar Baumopfer des letzten Herbststurms fein säuberlich zu einer Barriere aufgeschichtet und bisher nicht abtransportiert hatten. Obwohl in einem dunklen Park gelegen, fand Betty ihren Schlafplatz sicherer als einen Hauseingang oder eine Bank auf einem öffentlichen Platz. Dort war sie sichtbar und sie befürchtete, dass die Polizei sie von dort vertreiben oder andere Menschen sie angreifen könnten.
Es war lebensgefährlich auf der Straße, vor allem für Frauen. Der Schlafplatz für die Nacht entschied darüber, ob man am nächsten Tag noch atmete oder nicht. Eine Bekannte aus einer Notschlafstelle hatte mal zu Betty gesagt: „Sobald du einen Schlafsack dabei hast, bist du ein nackter Körper mit breiten Beinen.“
Die Frauen redeten untereinander nicht viel über ihre Erlebnisse auf der Straße, aber doch genug, dass Betty verstanden hatte, wie gefährlich es war, allein unterwegs zu sein. Trotzdem war sie nach wie vor eine Einzelgängerin. Loki war bei ihr und beschützte sie. Mit ihm fühlte sie sich sicher.
Bevor Betty und Loki hinter den Baumstämmen verschwanden, sah sie sich ein letztes Mal um, ob sie auch niemand beobachtete. Sicherer als eine Bank in der Fußgängerzone hieß ja nicht, dass sie in Sicherheit war wie in den eigenen vier Wänden hinter einer abgeschlossenen Tür. Aber um diese Uhrzeit war der Park fast menschenleer. Nur ein junger Mann mit einem Hund war noch unterwegs.
Betty atmete erleichtert aus, als sie ihren Verschlag betrat und alles noch an seinem Platz war. Die alte Matratze, das Tischchen, der Grill, in dem sie sich gleich ein wärmendes Feuer machen konnte, und die Plastikplanen, die ihr Schutz vor Wind und Regen boten. Diese wenigen Habseligkeiten konnte sie tagsüber schlecht mit sich rumtragen und alles neu zu beschaffen, war mit erheblichem Aufwand verbunden.
Sie packte ihre Einkäufe aus und als Erstes bekam Loki eine ordentliche Portion, die er gierig verschlang. Betty tat es in der Seele weh, ihren Hund so hungrig zu sehen. Früher, in einem anderen Leben, hatte er regelmäßig seine Mahlzeiten bekommen, immer das beste und teuerste Futter. Jetzt musste er, genau wie sie, nehmen, was kam, und manchmal dauerte es eben eine Weile, bis Nachschub organisiert war. Aber Loki schien das alles nichts auszumachen. Er war jung und stark, das Leben auf der Straße war für ihn ein großes Abenteuer und der Wolf in ihm war durchaus imstande, ein Kaninchen zu jagen. Gott sei Dank hatte Betty ihn gut erzogen. Er hörte aufs Wort, war gutmütig und geduldig. Aber er konnte auch ungemütlich werden, wenn jemand seinem Frauchen zu nah kam. Dieses Verhalten hatte er erst auf der Straße entwickelt und Betty war froh darüber, denn ein Beschützer wie Loki war besser als jede Lebensversicherung. Bisher war es Gott sei Dank bei ein paar knurrenden Verwarnungen geblieben.
Nachdem Loki sein Abendessen verputzt hatte, verschwand er in der Dunkelheit, um sein Geschäft zu verrichten und vielleicht ein paar Kaninchen zu scheuchen. Er blieb nie lange weg und war immer in Rufweite.
Betty machte sich an ihre eigene Abendroutine. Sie entfachte ein Feuer im Grill, um Regenwasser zu erhitzen, das sich über Tag in einem alten Eimer gesammelt hatte. Damit konnte sie sich waschen und die Linsensuppe darin erwärmen. Anschließend überprüfte sie die Planen. Es war ätzend, mitten in der Nacht von einem Regenschauer überrascht zu werden. Die Klamotten wurden tagelang nicht richtig trocken.
Für den nächsten Tag hatte sie sich vorgenommen, eine der Anlaufstellen für wohnungslose Frauen in Köln aufzusuchen, wo sie duschen und ihre Sachen waschen konnte. Dort würde sie auch ein warmes Mittagessen und einen leckeren Cappuccino bekommen. Darauf freute sie sich am meisten.
Ein Rascheln im Gebüsch ließ sie kurz aufhorchen. Aber da war nichts. Wahrscheinlich nur eine kleine Maus auf der Suche nach Nahrung. Betty machte sich daran, ihre Einkäufe zu verstauen, als Zweige knackten. Sie sprang auf und starrte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und ihr Herzschlag setzte aus. Vor dem Eingang zu ihrer Behausung stand ein glatzköpfiger großer Mann und versperrte ihr grinsend den Fluchtweg. Betty wollte zur anderen Seite flüchten, aber da stand ein zweiter Mann mit schwarzem Vollbart, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Hallo, Süße“, sagte er. „Wohin denn so eilig?“
Und bevor Betty nach Loki rufen konnte, hatte der Bärtige ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Ein altvertrauter Schmerz bemächtigte sich ihrer, ihr wurde schwarz vor Augen und sie ging zu Boden. Der Mann war sofort über ihr, zog sie auf die Matratze und steckte ihr einen alten, dreckigen Lappen als Knebel in den Mund, mit dem sie vor Kurzem erst ihren Hund trocken gerubbelt hatte. Er hielt ihre Arme fest, während der andere sich daran machte, ihr die Hose runterzuziehen. Betty trat nach ihm, aber der Mann hinter ihr verpasste ihr einen weiteren heftigen Schlag ins Gesicht. Loki, war ihr letzter Gedanke, bevor sie das Bewusstsein verlor! Als sie wieder zu sich kam, spürte sie etwas Hartes und Brennendes in ihrer Vagina. Der Glatzkopf war in ihr und stöhnte.
„Jetzt mach schon!“, knurrte der mit dem Bart, der sie immer noch festhielt. „Ich will auch noch.“
Betty wollte sich wehren, um Hilfe rufen, aber sie war wie gelähmt vor Angst. Der Knebel nahm ihr die Luft zum Atmen.
Der Glatzkopf bewegte sich schneller. Sein Stöhnen wurde lauter und Betty spürte, dass er langsam zum Höhepunkt kam. Ihre Seele schrie vor Schmerz und Verzweiflung und Tränen rannen ihr über die Wangen.
Dann hörte sie das tiefe, unheilvolle Knurren ihres Hundes. Endlich! Wo hatte er nur so lange gesteckt? Ihr Vergewaltiger zog sich abrupt aus ihr zurück und schrie wie am Spieß.
„Mach was“, brüllte er.
Der zweite Mann war für ein paar Sekunden wie erstarrt. Dann ließ er Betty los und sie nutzte die Gelegenheit, zog sich den Knebel aus dem Mund und rollte sich zur Seite.
Die Szene, die sich ihr bot, war angsteinflößend und skurril zugleich.
Loki hatte ein Bein des Vergewaltigers fest im Maul. Der Mann lag mit nacktem Hintern und halb heruntergelassener Hose auf dem Rücken und versuchte, den Hund wegzutreten. Aber Loki war geschickt und der Mann erwischte ihn nicht. Das Hosenbein war völlig zerfetzt und Lokis Schnauze voller Blut. Seine Augen funkelten wild und er knurrte.
„Wo kommt der verdammte Wolf her?“, schrie der Mann. „Mach endlich was.“
Betty suchte hektisch nach einem Gegenstand, um sich zu bewaffnen und Loki zu Hilfe zu eilen. Ihr Blick fiel auf einen dickeren Ast, der hinter dem Grill lag und darauf wartete, verbrannt zu werden. Sie robbte zu der Stelle, aber der Bärtige war schneller. Er verpasste ihr einen Tritt in den Bauch, der ihr die Luft zum Atmen nahm, schnappte sich den Ast und das Nächste, was Betty hörte, war ein herzzerreißendes Jaulen. Aber der Schlag hatte Loki nicht außer Gefecht gesetzt. Er ließ das Bein des Kahlköpfigen los, bleckte die Zähne und bellte den bärtigen Mann feindselig an. Er sah gefährlich aus und war zum Angriff bereit. Atemlos beobachtete Betty, wie ihr Hund zum Sprung ansetzte. Sie wollte noch rufen „Nein, Loki, bleib“, aber es war zu spät. Loki sprang und der schwere Ast erwischte ihn am Kopf. Der Hund fiel zu Boden, wo er reglos liegen blieb.
Für einen Moment waren alle wie erstarrt.
„Verdammte Töle“, knurrte der Glatzkopf und tastete vorsichtig nach der Wunde an seinem Bein. „Scheiße, tut das weh. Ich brauch einen Arzt. Das Biest hat mich voll erwischt.“
„Jammer nicht rum, das muss warten.“ Der Bärtige sah gierig auf Betty herunter. „Jetzt bin ich dran.“
„Bist du verrückt geworden? Lass uns von hier verschwinden.“
Aber der Bärtige schüttelte den Kopf. „Dauert nicht lange. Behalt du den Köter im Auge.“
Betty war zu ihrem schwer verletzten Hund gekrochen und hielt seinen Kopf in ihrem Schoß. Überall war Blut und Loki atmete ganz flach. Sie weinte und schickte ein stummes Gebet zum Himmel.
Als der Mann sie an den Haaren von Loki wegzog, schrie und zappelte sie, aber ein Schlag ins Gesicht machte sie gefügig. Sie warf noch einen verzweifelten Blick auf ihren Hund, aber der rührte sich nicht und als der Bärtige sich auf sie legte, schloss sie die Augen.
„Runter von ihr!“
Betty blinzelte. Ein großer Mann, mit schwarzem halblangem Haar, Vollbart und grünem Armeeparka hielt dem Glatzköpfigen die gezackte Klinge eines Jagdmessers an den Hals. Blut tropfte aus einem kleinen Schnitt.
„Ich mein es ernst“, knurrte der Hüne und drückte dem Mann mit seinem Unterarm die Luft ab.
„Tu, was er sagt.“ Der Glatzkopf japste nach Luft. „Mach schon.“
Der Bärtige ließ von Betty ab, die sich sofort zur Seite rollte.
„Und jetzt verschwindet! Wenn ich einen von euch noch mal in meinem Revier erwische, töte ich euch.“ Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, stach er sein Messer dem Glatzkopf ins rechte Schulterblatt. Dann schubste er den schreienden Mann seinem Freund in die Arme und gemeinsam traten sie den Rückzug an.
Betty hatte die Szene genau verfolgt. Sie starrte den Neuankömmling mit dem Messer an. War er ein Retter oder der nächste Peiniger? Sie kniete sich neben Loki und streichelte seinen Kopf.
„Die haben ihn umgebracht.“ Ihre Stimme war nur ein heiseres Wimmern.
Der Mann tastete Loki mit ein paar fachmännischen Handgriffen ab. „Der ist nicht tot“, brummte er. „Wir müssen ihn ins Camp bringen, damit Kerstin die Kopfwunde behandeln kann. Zieh dich an und pack dein Zeug. Hier kannst du nicht bleiben.“
„Ins Camp, was …?“ Ein durchdringender Blick ihres Retters ließ sie verstummen.
„Ich trage den Hund. Ist nicht weit. Komm jetzt.“ Er stand auf und hob Loki hoch, vorsichtig darauf bedacht, seinen verletzten Kopf zu stützen.
Betty überlegte nicht lange. Lokis Leben stand auf dem Spiel und alleine wollte sie auf keinen Fall hierbleiben. Sie entschied, dass der Hüne ein bisschen Vertrauen verdient hatte, und wenige Minuten später verließ sie ihren Unterschlupf für immer.
Franziska stellte die Thermoskanne Ingwertee zusammen mit dem Obstsalat auf das Tablett und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Dort lag Tessa, dick eingepackt unter drei Decken und umrahmt von einem ganzen Areal Kissen. Im Fernsehen liefen die Gilmore Girls, ohne Ton. Lorelai stand zusammen mit ihrer Tochter Rory vor der Tür des elterlichen Anwesens, bereit, ein weiteres Mal eines der erpresserischen Freitagabendessen über sich ergehen zu lassen, damit Rory eine teure Privatschule besuchen konnte.
Franziska hatte alle Folgen der Serie gesehen. Zweimal. Das erste Mal Anfang der Nullerjahre, als die Erstausstrahlung im deutschen Fernsehen lief, und dann noch mal zusammen mit ihrer Tochter vor ein oder zwei Jahren. Sie erinnerte sich mit Wehmut an die unbeschwerte Zeit zu zweit, eingekuschelt vor dem Fernseher, mit Chips und Limo, nur sie beide. Das war lange her.
„Du siehst nicht gut aus“, sagte Franziska mit einem Blick auf das bleiche, fiebrige Gesicht zwischen den Kissen. „Hier, nimm die Tabletten. Die drücken dein Fieber und sind gut gegen die Gliederschmerzen.“
„Ja, Chefin“, antwortete Tessa und schluckte ohne einen Tropfen Flüssigkeit eine Ibuprofen runter.
Franziska reichte ihr ein Glas Wasser zum Nachspülen. Dann griff sie zum Fieberthermometer und hielt es Tessa einmal kurz ins Ohr.
„39,8“, sagte sie kopfschüttelnd. „Ich fände es besser, wenn du dich noch länger krankschreiben lässt. Im Moment haben wir ja keinen neuen Fall.“
Franziska war besorgt, weil die Nachrichten aus China wegen des neuartigen Coronavirus immer alarmierender wurden. Denn das Virus hatte nicht nur seinen tierischen Wirt überwunden, sondern war längst auf dem globalen Vormarsch.
„Das ist nur ein Schnupfen“, sagte Tessa. Ihre Nase war verstopft und ihre Stimme klang, als hätte ihr jemand mit Schmirgelpapier die Stimmbänder bearbeitet. „Es ist Januar. Halb so wild. Montag bin ich wieder am Start.“ Ein Hustenanfall strafte ihre Worte Lügen.
„Wir werden sehen.“ Franziska seufzte resigniert. Tessa war eine erwachsene Frau und nicht ihre Tochter. „Ich muss jetzt los. Die haben noch eine Leiche gefunden.“
„Echt jetzt?“ Tessa setzte sich auf. „Ich dachte, wir wären damit durch?“
„Sie war etwas abseits von den anderen vergraben. Wie es aussieht, hatte die Frau ein Kind.“
„Dieses Drecksschwein“, brummte Tessa. „Ist es seins?“
„Da müssen wir den DNA-Test abwarten. Aber ich schätze schon. Es handelt sich um einen Säugling, vielleicht vier Monate alt.“
„Manchmal ist unser Job einfach nur Scheiße“, sagte Tessa und ließ sich wieder in die Kissen sinken. „Aber Gott sei Dank konnten wir das Arschloch aus dem Verkehr ziehen.“
„Ja, Gott sei Dank.“ Franziska überprüfte mit einem letzten Blick den Wohnzimmertisch. Hustensaft, eine Flasche Wasser, der Ingwertee, Obst, Taschentücher, 600er Ibuprofen und das Handy, alles griffbereit. Dann verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg ins Bergische Land.
Es war Donnerstag, der 23. Januar 2020, 7:30 Uhr am Morgen.
Sie trat aus dem Haus und die kalte Januarluft fuhr ihr durch alle Glieder. Nach einem kurzen Kälteeinbruch am Jahresanfang waren die Temperaturen zur Monatsmitte hin auf erträgliche zehn Grad geklettert. Aber seit gestern war es wieder kalt und regnete ununterbrochen. Ein sprichwörtliches Sauwetter.
Franziska zog ihre Wollmütze tiefer ins Gesicht, spannte ihren Regenschirm auf und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto. Sie fragte sich, wie es Jenny wohl ging.
Ihre sechzehnjährige Tochter war vor ein paar Wochen für ein Jahr nach Kanada geflogen und erlebte ihren ersten richtigen Winter. Sie berichtete von hohen zweistelligen Minusgraden und Schneestürmen, die alles lahmlegten, davon, dass Autotüren bei minus vierzig Grad nicht mehr schlossen, wenn sie einmal geöffnet wurden, und sie bereicherte den Englischwortschatz ihrer Mutter um ein paar neue Vokabeln, wie Windchill oder Frostbite. Das A und O bei solchen Witterungsverhältnissen war die Kleidung und Jenny hatte sich vor Ort beraten lassen. Auf den Fotos sah sie aus, als würde sie zu einer Expedition in die Antarktis aufbrechen.
„Das ist so cool, Mama. Alles, was ihr mir beigebracht habt, ist hier andersrum. Kein Lüften im Bad, um Schimmel vorzubeugen. Zumindest nicht im Winter. Denn wenn man die Fenster aufmacht, erfrieren sofort die Pflanzen. Und die lassen die Motoren laufen, während sie einkaufen gehen.“
Jenny berichtete weiter von zersplitterndem Plastik und Metall, fantastischen Eisblumen und dass man besser ein Kissen dabeihat, wenn man in ein Auto steigt, weil die Sitze eingefroren sind. Franziska wusste nicht, wie sie die Informationen einordnen sollte. Ihr fehlte die Erfahrung und so blieb sie nach den Telefonaten mit Jenny immer mit einem diffusen Gefühl der Angst um ihr Kind zurück, und der Vorstellung von einer Welt, die zur Tiefkühltruhe geworden war.
In Deutschland waren es an diesem Morgen drei Grad plus, Franziskas Auto musste nicht zehn Minuten vorgewärmt werden und ein Kissen brauchte sie auch nicht. Trotzdem war ihr kalt. Sie zog die Tür hinter sich zu und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Ihr Handy vibrierte und sie warf einen Blick auf das Display.
Heiner.
Was wollte der denn schon wieder?
Willst du die Kaffeemaschine???
Drei Fragezeichen und dieses dämliche Emoji, das ein nachdenkliches Gesicht macht.
Franziska war genervt. Ihr Mann und sie hatten sich kurz nach Weihnachten getrennt und seit ihrem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung verging kein Tag, an dem Heiner nicht irgendeine nervige Frage zum weiteren Verbleib diverser Haushaltsgeräte stellte. Das brachte sie tierisch auf die Palme.
Nein!!!
Drei Ausrufezeichen. Eins für jedes Fragezeichen.
Franziska hatte den Vollautomaten nie leiden können. Er fabrizierte zwar zugegebenermaßen guten Kaffee, aber der Wartungsaufwand stand dazu in keinem Verhältnis. Sie trank ihren Kaffee am liebsten mit aufgeschäumter Milch und Tessas italienischer Espressokocher war für ihre Zwecke vollkommen ausreichend. Sie hatte einen kleinen Milchaufschäumer in die WG eingebracht und jetzt lief morgens alles reibungslos und ohne nervige Kommandos wie leer mich, füll mich oder entkalk mich!
„Leck mich“, rief Franziska und schlug auf das Lenkrad. „Leck mich, leck mich, leck mich.“
Sie würde Heiner am liebsten blockieren. Was natürlich nicht ging. Er war Jennys Vater und noch wusste ihre Tochter nicht, dass Mama und Papa die Welt, wie sie sie kannte, pulverisiert hatten, kaum dass sie im Flugzeug Richtung Kanada entschwunden war. Und so sollte es vorerst auch bleiben. Zumindest darüber waren sie sich einig.
Aber jeden Tag diese nervigen Meldungen ging auch nicht. Sie musste mit ihm darüber sprechen. Erst gestern hatte er die Frechheit besessen, sie nach dem Verbleib seines Lieblingspullis zu fragen. Sie hatte nicht auf die Nachricht geantwortet. Denn sie war nicht mehr zuständig, wenn der zerstreute Herr Oberstudienrat mal wieder seinen Schulschlüssel, seine Lesebrille oder seinen Pullover verbummelte. Dafür hatte er jetzt die Trulla, wie Tessa sie nannte. Heiners neue Freundin, deren Namen Franziska nicht kannte, weil sie nicht gefragt hatte, und von der sie bisher nur ein diffuses Bild hatte, seit sie die beiden mal auf der Straße gesehen hatte: blond, schlank, jung.
Sechs lange Monate hatte Heiner die Trulla bereits gevögelt, bis Franziska dahintergekommen war. Und seit er sein Verhältnis gestanden hatte, verging kaum ein Tag, an dem sie nicht darüber nachdachte, warum ihre Ehe gescheitert war und was ihren Ehemann in die Arme einer anderen Frau getrieben hatte.
Für Tessa war Heiners Untreue ein klarer Fall von Midlife-Crisis. Denn die Trulla war ja nicht nur neu, sondern auch erheblich jünger. „Finde den Fehler“, hatte sie gesagt und Franziska dabei tief in die Augen gesehen. „Wehe, du gibst dir die Schuld.“
Aber das mit der Schuldfrage war so eine Sache.
Ihr Job als Kriminalhauptkommissarin bei der Mordkommission war alles andere als familienfreundlich und sie hatte ihren Mann und ihre Tochter nicht nur einmal enttäuscht. Mörder hielten sich eben nicht an Uhrzeiten oder Wochentage, und so hatten viele geplante Familienausflüge, Verabredungen mit ihrem Mann und Basketballspiele von Jenny ohne sie stattgefunden. Ein paar Mal musste sie wegen eines Falls sogar ihren Urlaub abbrechen oder verschieben. Heiner hatte ihr das regelmäßig aufs Butterbrot geschmiert und ihr jahrelang das Gefühl gegeben, eine schlechte Ehefrau und Mutter zu sein.
„Arschloch“, rief Franziska und schlug ein weiteres Mal auf das Lenkrad ein.
Eine neue WhatsApp lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihr Handy. Diesmal war die Nachricht nicht von Heiner, sondern von Paul. Sie las den Text und schmunzelte. Dann tippte sie eine kurze Antwort und startete den Wagen.
Betty schlug die Augen auf. Ihr Herz raste und im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Um sie herum war es dunkel, kalt und es roch widerlich nach Kloake. Sie hatte von Tom und einer wilden Kostümparty geträumt, auf der sie niemanden kannte und alle Gäste wahnsinnig betrunken waren. Hände hatten nach ihr gegriffen und versucht, sie auf ein Sofa zu ziehen. Sie hatte sich gewehrt und um Hilfe geschrien und dann war sie aufgewacht.
Erst als Loki ihr die Hand leckte, beruhigte sich ihr Puls wieder. Sie war in Sicherheit, sie war im Camp, wohin ihr hünenhafter Retter sie nach dem Vorfall im Stadtgarten vor einer Woche gebracht hatte. Sein Name war Wolff, kein Nachname, und er war der Anführer einer Gruppe obdachloser Menschen, die sich in einem stillgelegten Eisenbahntunnel der Deutschen Bahn am Rande des Mediaparks häuslich eingerichtet hatte. Der Eingang lag direkt neben den Bahngleisen, die nach Aachen und Koblenz führten, war aber vom Parkgelände aus wegen dichten Buschwerks am Bahndamm nicht zu sehen.
Wolff und seine Leute hatten sich in dem alten Tunnel ein kleines Paradies geschaffen. Bewohnt war nur der vordere Teil, der nach ein paar Metern an einer provisorischen Mauer aus Kisten und Kartons endete, in denen die Gemeinschaft ihre Schätze lagerte. Rechts und links der alten verrosteten Schienen lagen die Schlafstellen der Campbewohner, die meisten von ihnen ebenfalls durch Kisten oder Vorhänge voneinander getrennt. Dadurch entstand so was wie Privatsphäre. Ein rares Gut für Menschen ohne eigene Wohnung.
Hinter der Vorratswand führten die Gleise noch ein paar Meter weiter in den Tunnel hinein und endeten vor einer gemauerten Backsteinwand. Zumindest hatte man Betty das so erzählt. Sie verspürte kein Verlangen, alleine in die Dunkelheit vorzudringen, und hielt sich lieber im bewohnten Teil des Camps auf.
Der Tunnel hatte nur einen Zugang. Es war zwar möglich, den Eingang mit ein paar Kisten und Buschwerk vor unerwünschten Blicken zu verstecken, aber bei einem Angriff von außen saßen sie in der Falle. Manchmal, wenn Betty nachts wach lag, ergriffen schwarze Gedanken von ihr Besitz. Was würden sie tun, wenn der Ausgang blockiert wäre, zum Beispiel durch ein Feuer oder eine gierige Meute Junkies, die an die Vorräte wollten? Aber sie hatte diese Angst noch nicht laut geäußert, und die anderen Bewohner schienen kein Problem mit der Architektur ihrer Unterkunft zu haben.
Bettys Blutergüsse waren verblasst und die Verletzungen in ihrer Vagina schmerzten nicht mehr beim Pinkeln. Damit war der Fall für sie erledigt. Was blieb ihr auch anderes übrig? Anzeige gegen Unbekannt erstatten? Das Leben auf der Straße war eben gefährlich. Das hatte sie gewusst und in Kauf genommen. Außerdem konnte sie sich an keine Einzelheiten erinnern, nur daran, dass Loki bei dem Überfall verletzt worden war und irgendwann Wolff mit seinem großen Messer dagestanden und sie gerettet hatte.
Eigentlich hätte sich Betty medizinisch auf Krankheiten wie Hepatitis, HIV oder andere übertragbare Infektionen untersuchen lassen müssen. Aber sie wollte auf gar keinen Fall im System auftauchen und war nicht zu überzeugen, auch nicht, als Wolff ihr versicherte, dass es Ärzte gab, die sie ohne Krankenkarte behandeln würden.
Sie setzte sich auf und streichelte Lokis Kopf. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Die anderen schliefen noch, aber für sie war die Nacht vorbei. Es war kurz vor sieben Uhr. Sie griff nach ihrer Wasserflasche und trank erst mal einen großen Schluck.
Trotz des Albtraums hatte sie tief und fest geschlafen. Hier im Camp war es sicher. Alleine da draußen war sie nachts in ständiger Alarmbereitschaft gewesen, jedes Geräusch hatte sie geweckt. Daran hatte auch Lokis Anwesenheit nichts geändert. Das hinterließ auf Dauer Spuren.
Sie schälte sich aus ihrem Schlafsack, zog sich Hose, Pullover, Mütze und Schuhe an und tastete nach ihrer hellblauen Winterjacke. Aber die war nicht an ihrem Platz. Betty beleuchtete ihre nähere Umgebung mit der Handytaschenlampe, aber die Jacke war nirgends zu finden.
Dann kam ihr ein Verdacht.
Diese verdammte kleine Ratte, grollte sie und schlich zu Linas Schlafplatz, doch der war leer und Linas Rucksack weg. Gestern Abend hatten sie noch zusammen am Lagerfeuer gesessen, ein paar Bier getrunken und Joints geraucht, und der alte Arnold hatte Geschichten aus seinem Leben erzählt. Irgendwann war Betty dann angenehm stoned in ihren Schlafsack gekrochen und sofort eingeschlafen.
Sie zog ihren Hoodie über und schlich zum Ausgang. Sie musste pinkeln. Das mit der Jacke würde sich von selbst klären. Damit kam Lina nicht durch. Es gab schließlich Regeln.
Als Betty ins Freie trat, zog sie ihre Kapuze über, lief neben Loki ein kurzes Stück die Gleise entlang und an einer geeigneten Stelle erleichterte sie ihre Blase. Gerade regnete es nicht, sodass sie entschied, eine kleine Morgenrunde zu drehen. Sie erklommen den mittlerweile aufgeweichten Bahndamm und zusammen liefen sie dann den Hügel hinauf, der den Mediapark mit dem Stadtgarten verband. Aber dorthin lenkte Betty ihre Schritte nicht. Sie wendete sich nach links, Richtung Bäckerei. Vielleicht arbeitete ja wieder die nette junge Türkin, die ihr immer Brot vom Vortag schenkte, wenn was übrig war. Die anderen würden sich sicher über ein paar Brötchen freuen.
Die anderen waren zurzeit fünf weitere Personen.
Wolff war ihr Anführer. Betty fand es schwer, sein Alter zu schätzen. Anfang vierzig vielleicht. Er hatte auf jeden Fall noch keine grauen Haare. Von Kerstin wusste sie, dass Wolff in Afghanistan gekämpft hatte, was ihm aber außer einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Vorstrafe und einem schwierigen Verhältnis zu Alkohol nichts Gutes eingebracht hatte. Betty wusste nicht viel über PTBS bei Soldaten, wollte aber auch nicht nachfragen. In einer Gemeinschaft wie der ihren wurden Geschichten freiwillig erzählt oder gar nicht.
Von Kerstin wusste Betty nur, dass sie in ihrem früheren Leben Krankenschwester gewesen war und diverse Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken hinter sich hatte. Davon verstand Betty was. Und dass Kerstin psychische Probleme hatte, war nicht zu übersehen. Manchmal stand sie vor einer Wand oder einem Zaun und redete mit jemandem, der gar nicht da war. Arnold hatte Betty anvertraut, dass Kerstin in diesen Momenten mit ihrer Tochter sprach, die man ihr weggenommen hatte. Die kleine Frau mit den grünen Augen war in kurzer Zeit für Betty zu einer guten Freundin geworden. Sie war fürsorglich und hatte immer ein offenes Ohr für die kleinen und größeren Probleme der Campbewohner. Wie alt Kerstin war, konnte Betty nur schätzen. Sie hatte schlechte Zähne und sehr unreine Haut und sah aus wie Mitte fünfzig, aber sie war ganz sicher nicht viel älter als dreißig. Das Leben auf der Straße hinterließ auf Dauer Spuren.
Arnold, der Dritte im Bunde, war ein Mann Ende siebzig mit Glatze und Vollbart. Er war ein interessanter Typ, fand Betty, ein ehemaliger Seemann, der fast alle Meere der Welt bereist hatte. Ob die Geschichten, die er aus dieser Zeit erzählte, gesponnenes Seemannsgarn waren oder nicht, wusste Betty nicht. Das spielte auch keine Rolle, denn sie hörte Arnold einfach gerne zu. Er war der geborene Geschichtenerzähler. Einige der Orte, von denen er berichtete, hatte sie selbst schon bereist, wie Neuseeland, Australien oder den Panamakanal. Allerdings Jahrzehnte später, und sie behielt das lieber für sich. Es musste keiner wissen, dass sie in ihrem früheren Leben eine reiche, verwöhnte Tussi gewesen war, die ihre Freizeit mit Shoppen, Social Media und anderem nutzlosen Kram verbracht hatte.
Nummer vier war ein schweigsamer junger Afrikaner aus Burkina Faso, der sich selbst Sansabri nannte, was auf Französisch so viel wie heimatlos oder obdachlos bedeutete. Seinen richtigen Namen kannte niemand und alle nannten ihn Sansa. Er war ein hagerer Bursche mit Brandnarben auf Rücken und Armen, die aussahen, als hätte ihn einer mit einem Flammenwerfer gefoltert. Kerstin behandelte ihn regelmäßig mit einer Tinktur aus gesammelten Kräutern. Woher diese Verletzungen stammten, wusste keiner. Kerstin tippte auf Kindersoldat. Betty schätzte Sansa auf neunzehn oder zwanzig. Seine Deutschkenntnisse waren erbärmlich, dafür war er geschickt darin, Dinge zu organisieren. Betty, deren Französisch ganz gut war, hatte angefangen, ihm Unterricht zu geben. Das war mühselig, denn offenbar hatte der Junge nie richtig lesen und schreiben gelernt. Aber sie machten Fortschritte, und wenn sie eines im Überfluss hatten, dann Zeit.
Und schlussendlich gab es da noch die diebische Lina.
Sie war Anfang zwanzig und das Enfant terrible der Gruppe. Lina lebte auf der Straße, seit sie mit zwölf vor ihrem Stiefvater davongelaufen war, dem Arschficker, wie sie sich ausdrückte. Lina war vorlaut, frech und aggressiv und die Einzige, die Bettys Einzug ins Camp nicht gut aufgenommen hatte. Sie zeigte ihre Ablehnung bei jeder sich bietenden Gelegenheit und hatte unverhohlen ein Auge auf Bettys Jacke geworfen. Nur Wolffs strenges Regelwerk hatte sie davon abgehalten, die Jacke einfach zu nehmen. Bis jetzt.
Natürlich war das Camp auch offen für andere. Aber im Moment waren sie nur zu sechst. Denn Wolffs Regeln, die das reibungslose Miteinander sicherstellten, waren nicht jedermanns Sache.
Wer klaute, flog raus. Harte Drogen und Schnaps waren tabu, Gras und Bier hingegen erlaubt. Körperliche Auseinandersetzungen wurden nicht geduldet, und wer schon besoffen oder zugedröhnt ankam, wurde wieder weggeschickt. Regelmäßige Körperhygiene war verpflichtend. Wolff hasste Stinker. So nannte er diejenigen, die die Pflege ihres Körpers und damit, seiner Meinung nach, ihre Würde aufgegeben hatten. Denn es gab durchaus Orte in der Stadt, wo Menschen ohne eigene Wohnung duschen und ihre Wäsche waschen konnten. Außerdem war jeder, der im Camp leben wollte, verpflichtet, etwas beizusteuern, egal wie lange man blieb. Alles war willkommen: Nahrungsmittel, Hygieneartikel, Werkzeug, Medikamente oder Klamotten, es spielte keine Rolle. Hauptsache, es diente der Allgemeinheit.
Betty war mittlerweile bei der Bäckerei angekommen, vor der eine lange Schlange stand. Hier versorgten sich die Mitarbeiter vom Saturn mit belegten Brötchen und Kaffee, bevor ihre Schicht anfing. Sie wartete geduldig, bis die Schlange sich aufgelöst hatte, und suchte dann den Augenkontakt mit der jungen Frau hinter der Theke. Als sich ihre Blicke trafen, nickte die Frau, und das war für Betty das Zeichen, zum Hintereingang zu kommen.
„Ich hab nicht viel heute“, flüsterte die Verkäuferin und hielt Betty eine Tüte hin. „Der Chef ist da, ich muss zurück.“
„Vielen Dank“, sagte Betty, aber da war die Frau schon wieder im Inneren der Bäckerei verschwunden.
Sie steckte ihre Nase in die Tüte. Das Brot war vom Vortag, aber ein paar Brötchen waren frisch. Sie dufteten himmlisch und Betty konnte nicht anders. Sie fischte eins heraus und biss hinein. Dann gab sie Loki ein Stück ab und machte sich auf den Weg zurück ins Camp.
Als Franziska später am Abend die Wohnungstür aufschloss, umfing sie ein verführerischer Duft nach Lorbeer, Nelken und Anis. Sie hatte einen langen Tag gehabt und freute sich auf einen gemütlichen Abend mit Tessa und Paul. Er hatte sich heute Morgen per WhatsApp angekündigt, um seine berühmte Hühnersuppe zu kochen, ein Rezept von seiner Großmutter, das angeblich magische Heilkräfte besaß und Tessa ruckzuck wieder auf die Beine bringen würde.
Paul war Tessas älterer Bruder. Franziska hatte ihn erst vor Kurzem kennengelernt, als er zur Unterstützung für ihren letzten Fall hinzugezogen wurde. Gemeinsam hatten sie einem sadistischen Serienmörder das Handwerk gelegt, der osteuropäische Prostituierte entführt, monatelang eingesperrt und gequält hatte. Und das über Jahrzehnte.
Sie war anfangs dagegen gewesen, einen Zivilisten mit ins Team zu nehmen, aber ihr Chef hatte sie umgestimmt. Und sie hatte es nicht bereut. Denn Paul war nicht nur scharfsinnig und kannte sich gut mit dem Prostitutionsmilieu aus, sondern er hatte in Franziska auch eine Saite zum Klingen gebracht, von der sie dachte, dass sie längst gerissen war. Immer wenn sie ihn ansah, bekam sie weiche Knie und es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren.
Der Geruch nach frisch zubereitetem Essen weckte aber auch andere, nostalgische Gefühle in ihr. Denn Heiner hatte oft für sie beide gekocht und sie hatte es geliebt, sich hungrig und erledigt vom Tag an einen gedeckten Tisch zu setzen.
Sie schob den Gedanken beiseite, hängte ihre Jacke auf, tauschte die Winterstiefel gegen Hausschuhe und verschloss ihre Waffe im Tresor im Arbeitszimmer. Dann öffnete sie die Tür zur Wohnküche. Keiner da. Ein großer Topf stand auf dem Herd und die Suppe köchelte auf kleiner Flamme vor sich hin. Der Tisch war für drei Personen gedeckt. Sie warf einen Blick ins Wohnzimmer, aber auch da war niemand. Wo steckten die nur? Dann hörte sie die Toilettenspülung und wenig später stand Paul vor ihr.
Was für ein attraktiver Mann. Er war wie immer unrasiert und trug seine Dockermütze, die ihm diese raubeinige Ausstrahlung verlieh. Ein paar Strähnen seiner strubbeligen hellblonden Haare lugten darunter hervor. Er begrüßte sie mit einem angedeuteten Kuss auf die Wange und bedachte sie aus dunklen Augen mit einem tiefen Blick, der ihr Herz höherschlagen ließ.
„Wo ist deine Schwester?“, fragte sie.
„Macht einen kurzen Spaziergang“, antwortete Paul. „Sie kommt jeden Moment zurück.“
„Frische Luft und Bewegung sind gut.“ Was für eine dümmliche Bemerkung. Wer war sie? Ihre Mutter?
Paul nickte. „Es geht ihr besser und mit Omas Suppe ist sie Montag wieder fit. Willst du was trinken?“, fragte er.
„Das fragst du mich? Wer ist hier der Gast?“
Paul lachte. „Wie es aussieht, wohl ich.“ Er sah Franziska wieder tief in die Augen. „Ich muss mich erst dran gewöhnen, dass du jetzt hier wohnst.“
„Ich nehme ein Bier.“
„Eine gute Wahl. Das passt perfekt zu Hühnersuppe.“ Er holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank und sie stießen an. „Wie war dein Tag?“
Franziska war überrascht. Heiner hatte diese Frage nie gestellt. Zwischen ihr und ihrem Noch-Ehemann gab es diese Vereinbarung, dass die pikanten Details von Franziskas Beruf keinen Platz hatten im Hause Frey. Dem Kind zuliebe und weil Heiner mit Mord und Totschlag nicht täglich konfrontiert werden wollte. Sie nahm es ihm nicht übel. Es war für sie als ausgebildete Kriminalpolizistin schon schwer genug, nicht hinter jedem Gesicht einen potenziellen Betrüger, Mörder oder Vergewaltiger zu sehen. Daher hatte sie die Vereinbarung zwar nie infrage gestellt, aber sich dennoch gewünscht, Heiner hätte wenigstens ab und zu mal ein bisschen Interesse gezeigt.
Irgendwann hatte sie aufgehört, ihrem Mann überhaupt noch was zu erzählen. Er wusste nicht, woran sie arbeitete, welche Fälle gelöst worden waren, welche nicht. Manchmal erfuhr er ein paar Details aus der Zeitung, aber auch dann sprach er sie nicht darauf an. Als sie einmal in eine Schießerei geraten war, hatte sie sich für eine Nacht in ein Hotel eingemietet, damit zu Hause niemand mitbekam, wie zittrig und aufgeregt sie war. Sie wusste schon damals, dass das nicht gesund war und ihr Mann ein Recht darauf hatte zu erfahren, dass sie an dem Tag hätte sterben können. Aber sie hatte eine Diskussion über die Gefahren ihres Jobs befürchtet, die sie nicht führen wollte. Und je mehr Zeit sie verstreichen ließ, desto schwieriger wurde es, Heiner von dem Tag zu erzählen. Also hatte sie es einfach gelassen.
Und jetzt fragte Paul sie unvermittelt, wie ihr Tag war.
„Du musst nicht drüber reden“, sagte er, als sie mit ihrer Antwort zögerte.
„Nein, schon gut. Ich bin es nur nicht gewohnt, mit Außenstehenden über meine Arbeit zu sprechen. Wir haben das zu Hause immer ausgeklammert, verstehst du?“
Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Franziska hatte das Böse, wie Heiner es ausdrückte, jeden Abend an der Fußmatte abgestreift, und sich dann mit einem aufgesetzten Lächeln an den Abendbrottisch gesetzt. Sie hatte sich verstellt, eine Rolle gespielt. Und sie hatte sich Mühe gegeben. Sechzehn Jahre lang. Gedankt hatte es ihr niemand. Ihre Tochter hasste sie, zumindest fühlte es sich manchmal so an, und ihr Mann hatte sich in eine andere verliebt. Das Unausgesprochene hatte immer zwischen ihnen gestanden. Erst waren es nur einzelne kleine Buchstaben gewesen, kaum lesbar, keine ganzen Wörter, aber mit den Jahren war daraus eine Riesengeschichte geworden. Entfremdung auf Raten.
„Klingt nicht gesund“, sagte Paul und lächelte sein Grübchenlächeln. „Aber ich bin Anders, Paul Anders, der durchgeknallte Journalist. Ich hab erst kürzlich mein Leben für euch riskiert. Mit mir kannst du offen sprechen.“
„Du meinst die selten dämliche Aktion im Gruselhaus des Prostituiertenmörders?“
„Ich meine die selbstlose und heroische Aktion. Genau.“ Er lachte und Franziska wurde warm ums Herz.
Mit Paul zu reden, war so leicht. Er war nicht wie Heiner, der Deutschlehrer, dessen aufregendstes Erlebnis der Tod von Macbeth auf der Bühne war. Er war ein Mann, der genau wie sie schon viel gesehen hatte und bereit war, sein Leben zu riskieren, wenn es darum ging, das Verbrechen zu bekämpfen. In Pauls Gegenwart konnte sie ganz sie selbst sein. Das fühlte sich gut an.
Paul wurde ernst. „Tessa hat erzählt, ihr habt eine Kinderleiche gefunden?“
Franziska nickte. „Mutter und Säugling. Vier Monate alt. Die DNA-Analyse hat ergeben, dass es sein Kind war.“
„Und wisst ihr schon, wie …?“
„Erstickt. Das Baby. Wahrscheinlich mit einem Kissen.“
„Das tut mir leid“, sagte er. „Kinderleichen sind schlimm.“
„Ich hoffe, das war auch das letzte Grab.“
„Wie viele sind es bisher?“
„Fünf in Much, die acht auf dem Fabrikgelände in Leipzig und noch mal drei in der näheren Umgebung.“ Franziska zählte zusammen. „Sechzehn. Von denen wir wissen. Und vergiss die arme Natalia nicht, die er ganz gegen seine Gewohnheiten in den Rhein geworfen hat.“
Der Schlüssel rasselte im Schloss und wenig später stand Tessa im Türrahmen, dick eingepackt mit Mütze, Schal und Daunenjacke.
„Wie seht ihr denn aus?“, rief sie und lachte. „Hab ich euch beim Knutschen erwischt?“
Franziska schwieg. Sie mochte es nicht, wenn Tessa so distanzlos war. Zusammenleben hieß doch nicht, dass man jede intime Kleinigkeit miteinander teilte. Oder war das nur ihre verstaubte Ansicht von einer Zweck-WG? Sah die junge Generation das vielleicht einfach entspannter?
„Wir wollten damit warten, bis du da bist, Schwesterchen“
Franziska entspannte sich etwas. Sie sah Paul an, dass er Tessas Bemerkung ebenso unpassend fand wie sie selbst.
Nur Tessa schien von all dem nichts mitzubekommen. Im Gegenteil. Sie lachte über die Bemerkung ihres Bruders, als hätte der einen Witz gemacht. Sie war eindeutig auf dem Weg der Besserung. Das Fieber war weg und die kalte Winterluft hatte ihre Wangen gerötet. Sie sah fit aus. Ihre Stimme war noch etwas belegt, aber das würde sich in ein paar Tagen geben.
„Ich hab einen Bärenhunger“, rief sie aus dem Flur, während sie ihre Jacke auszog.
„Dann hock dich mal zu uns“, sagte Paul und kurze Zeit später hatten alle drei eine dampfende Schüssel mit Hühnersuppe vor sich auf dem Tisch stehen. Dazu gab es Baguette.
„Die ist superlecker, Paul. Was ist dein Geheimnis?“ Franziska sah ihn an.
„Sternanis. Aber nicht zu viel und nicht zu lang, sonst schmeckt es zu sehr nach Lakritz.“
„Wirklich gut. Du kannst öfter für uns kochen.“
„Eine gute Idee“, rief Tessa. „Wir haben dich gerne hier, nicht wahr, Franzi?“
Franziska gefiel die Richtung nicht, die das Gespräch annahm. Sie lächelte verlegen und entschuldigte sich dann, um auf die Toilette zu gehen.
„Was ist denn jetzt los? Ist sie sauer?“ Tessa hatte ihre Stimme gedämpft, aber Franziska konnte dennoch gut verstehen, was gesprochen wurde.
Sie blieb in der offenen Badezimmertür stehen, um zu lauschen. Es war falsch, aber ihre Neugier war stärker.
„Du hast sie in die Ecke gedrängt.“
„Ich mach doch nur Spaß.“
„Wir haben dich gerne hier? Und eben das mit der Knutscherei. Was soll das?“
„Ach komm schon, ihr steht doch aufeinander.“
„Wir sind nur Freunde.“
„Mir kannst du nichts vormachen.“
„Halt dich da raus, Tessa. Ich mein’s ernst.“
„Kein Grund, gleich sauer zu werden.“
„Franzi macht grade eine schlimme Zeit durch. Und ich werde einen Teufel tun …“
„Du bist verknallt, Bruderherz.“
„Weißt du, Tessa, ich …“ Er brach ab. „Ich werde das nicht weiter mit dir diskutieren.“
Franziska hatte genug gehört. Bei wir sind nur Freunde, hatte sich ihr Herz verkrampft. Sie schloss leise die Tür und setzte sich auf den Hocker neben der Badewanne.
Was war nur mit ihr los? Die Trennung von Heiner war ganz frisch, die Details noch nicht verhandelt und sie fühlte sich bereits zu einem anderen Mann hingezogen. Wohin sollte das führen? Sie befand sich emotional in einer Ausnahmesituation. Ihr Gefühlsleben pendelte zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. In einem Moment fühlte sie sich einsam und verlassen, weil sie das erste Mal seit fünfundzwanzig Jahren ohne ihren Mann auskommen musste. Und die Sache mit dem Betrug machte sie wütend und nagte an ihrem Selbstwertgefühl. Dann gab es Momente, wie gerade eben, da war sie glücklich wie schon lange nicht mehr. Sie war endlich wieder frei und hatte Gefühle wiederentdeckt, die Jahrzehnte geschlummert hatten.
Sie atmete tief durch.
Mach dir doch nicht so einen Stress, lass es langsam angehen.Kleine Schritte. Erst mal das Familiäre klären, dann die Wohnsituation. Und dann den Rest.
Es gab keinen Grund zur Eile und Paul tat gut daran, sie auf Distanz zu halten. Sie wusch sich das Gesicht und ging zurück zu den anderen.
Kurz vor zwanzig Uhr am Freitagabend traf Betty zusammen mit Loki, Wolff und Arnold am Verwaltungsgericht am Appellhofplatz ein. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag organisierte die Emmaus-Gemeinschaft dort vor dem Eingang der Poststelle eine Essensausgabe. Hier bekam man kostenlos eine warme Mahlzeit, nicht alkoholische Getränke, Kleidung und Hygieneartikel, was vor allem für Frauen eine willkommene Möglichkeit war, sich mit Tampons und Binden zu versorgen. Zweimal pro Woche konnte man dort auch medizinische Versorgung in Anspruch nehmen, kostenlos, ohne Formalitäten und ohne Fragen. Es gab Medikamente und frisches Verbandszeug, die Mitarbeiter waren freundlich und Hunde willkommen. Gerade Letzteres war für Betty wichtig, weil sie Loki nur ungern für längere Zeit allein ließ. Sie und die anderen kamen regelmäßig zum Gericht. Das Essen schmeckte gut und es war nicht allzu weit entfernt vom Camp, höchstens fünfzehn Minuten zu Fuß.
Betty hatte einen guten Tag gehabt. Sie war mit Loki zu ihrem neuen Lieblingsplatz vor einem Biosupermarkt gegangen, hatte dort einiges an Bargeld, frisches Obst und ein großes Paket Taschentücher ergattern können, das ihr eine Frau in die Hand gedrückt hatte. Betty hatte alles, bis auf ein paar Euro, die sie behalten durfte, im Camp abgeliefert und Wolff war zufrieden.
Sie war mittlerweile ganz gut im Schnorren. Am Anfang hatte sie sich furchtbar dafür geschämt, auf der Straße zu sitzen und Passanten um Kleingeld anzuhauen. Außerdem fürchtete sie sich davor, jemandem zu begegnen, den sie von früher kannte. Aber mit der Zeit hatte sie verstanden, dass die vorbeigehenden Menschen sie gar nicht richtig wahrnahmen. Wenn sie sich überhaupt für jemanden interessierten, dann für Loki.
Heute war es besonders gut gelaufen. Vielleicht lag es an der Jacke, die Lina ihr geklaut hatte. Die war zwar warm, sah aber auch teuer aus. Wer gab schon gerne jemandem Geld, der in einer Daunenjacke von Dior rumlief, auch wenn Betty den Aufnäher am Ärmel abgetrennt hatte.
Wolff, Arnold und Betty stellten sich in die Schlange der Wartenden. Betty sah sich um. Es war voll heute. Mehr los als sonst. Das lag bestimmt am Wetter. Im Winter war eine warme Mahlzeit besonders wichtig und mit ein bisschen Glück konnten die Mitarbeiter von Emmaus dem einen oder anderen für die Nacht noch einen Platz in einer Notunterkunft vermitteln. Betty war froh, dass dieses Thema für sie keine Rolle mehr spielte, denn in den allermeisten dieser Schlafstellen waren Hunde tabu. Sie konnte in Ruhe bei Wolff und seiner Truppe überwintern und im Frühjahr wollte sie entscheiden, wie es mit ihr weiterging.
Ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase. Drei Plätze vor ihr stand ein Stinker. Dieser Mann war ein besonders bemitleidenswertes Exemplar. Er lief bei diesen Temperaturen barfuß, seine Hose war vollgepisst, hing an den Waden in Fetzen und verdeckte die offenen Wunden an den Beinen nur notdürftig. Heute war kein Arzt da, der das versorgen konnte. Aber dem Mann schien das egal zu sein. Er brabbelte irgendwas Unverständliches vor sich hin und wartete darauf, dass er drankam.
Menschen wie ihn hatte Betty schon früher gesehen. An U-Bahn-Stationen, in Straßenbahnen, in Hauseingängen. Sie war immer vorbeigelaufen oder hatte sich wegen der Geruchsbelästigung woanders hingesetzt. Sie war der festen Überzeugung gewesen, dass der Zustand selbst verschuldet und der Betreffende an irgendeinem Zeitpunkt in seinem Leben eine dumme Entscheidung getroffen hatte. Ihr wäre niemals in den Sinn gekommen, dass auch sie mal in eine ähnliche Situation geraten würde. Noch sah man ihr die Obdachlosigkeit nicht direkt an. Aber wie lange konnte sie diesen Status quo aufrechterhalten? Als reiche Anwaltsgattin ging sie jetzt schon nicht mehr durch. Der Rest war sicher nur eine Frage der Zeit.
„Du darfst dich niemals aufgeben“, hatte Wolff ihr erklärt. „Wenn du das machst, endest du in der Leichenhalle.“
„Grüßt euch“, sagte die junge Frau an der Essensausgabe und holte damit Betty aus ihren Gedanken. „Wir haben heute Chili mit Fladenbrot und für deinen Begleiter“, sie zeigte auf Loki, „hätte ich ein bisschen Trockenfutter. Mag er das?“
Betty nickte. „Der ist nicht wählerisch.“
„Brauchst du sonst noch was? Tampons oder Binden?“
Betty überschlug die Vorräte im Camp. „Eine Packung Binden wäre nicht schlecht“, antwortete sie und verstaute die Spende dankbar in ihrem Rucksack. Nie wieder wollte sie darauf angewiesen sein, aus Pappe und Servietten behelfsmäßige Provisorien zu basteln, bei denen sie gefühlt jede Minute nachsehen musste, ob nicht doch was danebengegangen war.
Sie nahm ihr Chili entgegen und zusammen suchten sie sich einen Platz an einem der Biertische. Der Eintopf schmeckte gut. Er war zwar nicht scharf, aber dafür heiß und würde sie alle satt machen.
„Wir könnten uns beim Aldi auf dem Rückweg noch ein paar Bier besorgen“, sagte Wolff, „und später ein Feuerchen machen.“
Betty und Arnold stimmten zu. Das hatten sie zwar schon gestern und vorgestern gemacht, aber die Idee war trotzdem gut. Betty mochte es, wenn der Tunnel nach Lagerfeuer roch. Außerdem spendete ein Feuer angenehme Wärme.
„Haben wir noch Grillanzünder?“, fragte Arnold.
„Jede Menge“, sagte Wolff. „Der Vorrat reicht bis zum nächsten Winter.“
„Ich hab immer noch nicht ganz verstanden, wo Sansa das Zeug herhatte“, sagte Betty kauend.
Wolff zuckte mit den Schultern. „Du bist seine Lehrerin.“ Er lachte. „Frag ihn doch einfach?“
„Das habe ich“, entgegnete Betty, „aber er schweigt sich darüber aus.“
„Spielt auch keine Rolle, wo was herkommt“, brummte Wolff. „Hauptsache, ihr lasst euch nicht erwischen. Ich will keine Bullen im Camp.“
Das hätte er nicht extra betonen müssen, denn das gehörte zu seinem Regelwerk. Keine Polizei, keine Beschädigungen am Tunnel, keine Aufmerksamkeit. Die Bahn duldete die Gruppe auf ihrem Gelände und das wollte er nicht aufs Spiel setzen.
Am Nachbartisch wurde es laut.
„Dat Virus kommt aus ’nem Labor und die wollen uns alle vernichten“, schrie ein bärtiger Mann erbost.
„Ich dachte, das kommt von Fledermäusen“, erwiderte ein anderer.
„Alles nur Propaganda“, rief ein dritter.
„Wie, was Propaganda? Nix Propaganda?“, schrie der erste wieder. „Autoritäre Weltherrschaft. Darum geht es. Ihr werdet es noch sehen. Denkt an meine Worte.“
Betty schluckte. Die Nachricht vom ersten offiziellen Coronafall auf deutschem Boden war natürlich auch bis ins Camp vorgedrungen und verursachte bei ihr ein diffuses Gefühl von Unsicherheit, das sie nicht erklären konnte. So als würde etwas Großes und Böses auf sie zukommen. Sie schüttelte das Gefühl ab und atmete einmal tief durch.
Loki, der die ganze Zeit über friedlich zu Bettys Füßen gelegen hatte, sprang plötzlich auf und knurrte.
„Was ist los?“, fragte Arnold besorgt.
„Ganz ruhig.“ Betty legte ihrem Hund die Hand auf die Flanke. Sie schaute in die Richtung, in die Loki starrte, und schnappte hörbar nach Luft. Sie packte den Rüden, der immer noch knurrte, am Halsband und stand auf.
„Ey, was is’n mit dem Köter?“, rief der Schreihals vom Nachbartisch. „Die Töle braucht doch’n Maulkorb.“
„Halt die Klappe“, raunzte Wolff den Mann an, der daraufhin verstummte. Er war ebenfalls aufgestanden und stand jetzt neben Betty.
„Wer ist das?“, fragte er und deutete mit dem Kopf auf einen elegant gekleideten schlanken Mann im Designermantel, der vor seinem Porsche stand und ungläubig erst Loki, dann Betty, dann Wolff anstarrte.
„Niemand“, antwortete Betty.
Aber Niemand kam jetzt auf sie zu. Als er nur noch drei Meter entfernt war, blieb er stehen. „Halt den Hund zurück“, sagte er in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
„Verschwinde“, zischte Betty, „dann passiert auch nichts.“
„Und wie du aussiehst. Hätte dich fast nicht erkannt.“ Ekel triefte aus jedem seiner Wörter. „Du brauchst wirklich Hilfe, Betty. Du kommst alleine nicht klar.“
„Verpiss dich, Tom.“
„Du bist tief gesunken.“ Tom machte eine ausladende Bewegung mit dem Arm. „Wie ich sehe, hast du neue Freunde gefunden.“ Und an Wolff gewandt sagte er: „Diese Frau ist psychisch krank. Wusstest du das? Sie leidet unter Wahnvorstellungen und neigt dazu, sich selbst zu verletzen. Du solltest dich in Acht nehmen.“
„Seit wann duzen wir uns?“, fragte Wolff, der bisher nur abwartend neben Betty gestanden hatte. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt. Betty spürte seine Anspannung. „Ich finde, Sie sollten jetzt gehen.“
Aber Tom zeigte sich gänzlich unbeeindruckt.
„Sonst was?“ Tom verzog angeekelt das Gesicht. „Wenn du auch nur einen Schritt näher kommst, Penner, werte ich das als Angriff auf meine Person und du verbringst die Nacht im Knast. Und du“, er zeigte auf Betty, „steigst jetzt in das Auto. Ich bringe dich in die Klinik zurück. Dein kleiner Ausflug ist vorbei.“
Betty war in Panik. Wie ferngesteuert setzte sie sich in Bewegung. Sie war es gewohnt, ihrem Mann zu gehorchen. Aber Wolff hielt sie fest.
„Sie wird nicht in das Auto einsteigen.“
„Sagt wer?“ Tom bedachte Wolff mit einem abschätzigen Blick. „Bist du hier der Chef?“ Dann sah er Betty an. „Sei vernünftig, Schatz. Es ist nur zu deinem Besten.“
Aber Wolffs kurze Intervention und sein fester Griff hatten Betty aus ihrer Starre geholt. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, ist es nicht. Und jetzt hau ab, sonst lass ich Loki los. Er mag dich nicht besonders.“ Bettys Herz wummerte und sie musste ihre ganze Kraft aufbringen, um ihrem Mann in die Augen zu sehen.
In dem Moment kam Lina um die Ecke, dick eingepackt in Bettys hellblaue Daunenjacke. Sie erfasste die Situation mit einem Blick.
„Was’n das für’n Komiker?“, krähte sie und baute sich zwischen Betty und ihrem Mann auf. „Will der dich ficken? Soll ich ihm eine reinhauen?“
Betty musste schmunzeln. Diese kleine Person, die ihr in den vergangenen Tagen das Leben unnötig schwer gemacht und sie diese Nacht erst beklaut hatte, bot völlig angstfrei dem Mann Paroli, der ihr schlimmster Albtraum war. In der Zwischenzeit waren auch andere Obdachlose neugierig näher gekommen und Tom stand allein einer Mauer aus Menschen gegenüber, die ihn finster anstarrten. Er war kein Dummkopf. Er wusste, wann er verloren hatte.
„Wie du willst, Betty“, sagte er betont gelassen und zuckte die Schultern. „Aber wir beide sind noch nicht fertig. Ich weiß ja jetzt, wo ich dich finden kann.“
Dann drehte er sich um, stieg in seinen Porsche und fuhr davon.
Betty zitterte am ganzen Körper und sie verdankte es Wolff, der sie immer noch festhielt, dass sie nicht zusammensackte.
„Augen auf bei der Partnerwahl.“ Lina feixte. „Wegen dem biste auf Platte?“
Betty brachte keinen Ton raus.
„Komm“, flüsterte Wolff. „Wir essen jetzt erst mal auf und dann bringen wir dich nach Hause.“
Betty nickte kraftlos. Der Appetit war ihr allerdings vergangen.
„Och, wie süß ihr beiden“, krähte Lina. „Betty und Wolffi, Betty und Wolffi.“ Sie umarmte sich selbst und machte einen Kussmund.
„Du hast jetzt mal Sendepause, Lina“, knurrte Wolff.
„Du hast mir gar nichts zu sagen.“
„Lass es gut sein, Linchen“, sagte der alte Arnold. „Komm mit uns nach Hause. Wir holen noch Bier und machen ein Lagerfeuer.“
„Uuuuh.“ Lina verzog das Gesicht. „Endlich mal wieder Lagerfeuer. Wie aufregend. Aber erst muss ich was futtern.“
„Ist das nicht Bettys Jacke?“, fragte Wolff mit strengem Blick.
Lina sah Betty an und für den Bruchteil einer Sekunde herrschte angespanntes Schweigen. Betty entschied, Lina wegen des Diebstahls der Jacke zu vergeben und sie nicht bei Wolff anzuschwärzen. Das hätte ihren endgültigen Rausschmiss aus dem Camp bedeutet und das wollte Betty ihr nicht antun. Sie wusste, wie wichtig der Schutz einer Gemeinschaft für eine obdachlose Frau war.
„Die hab ich ihr geschenkt“, sagte sie daher und das Aufblitzen in Linas Augen entging ihr nicht. Das war jetzt vielleicht nicht der Anfang einer wunderbaren Freundschaft, aber es war ein Anfang.
Er sitzt am Küchentisch, vor sich eine Flasche Wodka, die er bereits zu einem Drittel ausgetrunken hat. Alle Fackeln brennen und die Höhle ist hell erleuchtet. Ein fantastischer Anblick. Sie wird es lieben. Wenn sie doch schon hier wäre. Hier bei ihm.
Denn er hat sie gefunden. Endlich. Tagelang ist er auf der Suche nach ihr durch die Stadt gelaufen. Systematisch hat er alle Orte aufgesucht, an denen er sie vermutet hat. Erfolglos. Und dann heute, ganz plötzlich, steht sie einfach vor ihm. Er wäre fast in sie hineingelaufen. Sie sieht anders aus als früher, viel dünner und abgerissener. Wahrscheinlich Drogen. Aber das kümmert ihn nicht weiter. Wenn sie erst mal bei ihm ist, wird sie schnell wieder zu Kräften kommen.
Er kann es kaum erwarten, sie endlich in die Arme zu schließen und ihr ihr neues Zuhause zu zeigen.
Er hätte sie am liebsten sofort mitgenommen. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie mit ein paar Scheinen zu locken. Aber nicht am helllichten Tag und auf keinen Fall in der Öffentlichkeit. Viel zu riskant. Heutzutage filmen die Menschen einfach alles und jeden. Daher ist er ihr gefolgt und weiß jetzt, wo er sie findet.
Er steht auf, holt das rote Negligé aus der Tüte und lässt den weichen Stoff durch seine Finger gleiten. Schon als Kind hat er es geliebt, die Unterwäsche seiner Mutter zu berühren. Die teure, die sie nur anzog, wenn die Männer sie besuchten. Ein paar Mal hatte sie ihn dabei erwischt und zur Strafe in den Keller gesperrt. Aber das hielt ihn nicht davon ab, es immer wieder zu tun.
Du dachtest wohl, ich bin schwul. Wenn du wüsstest, Mutter.
Er atmet tief durch.
Dann schnappt er sich die Karte und wirft einen letzten Blick darauf. Er muss die Dunkelheit abwarten und dann über einen Seitenkanal reingehen. Das Nachtsichtgerät liegt schon bereit.
Er schüttet sich neuen Wodka ein und erhebt sein Glas.
„Auf dich, Mitzi. Ich freu mich auf unser Wiedersehen.“
Franziska war nicht die Erste am Tatort, obwohl der Anruf der Zentrale sie noch zu Hause erwischt hatte, das nur achthundert Meter Luftlinie vom Spielplatz entfernt lag.
Die SUVs der Spurensicherung parkten bereits am Rande des Geländes. Franziska stellte ihren Wagen daneben, holte ihren Regenschirm aus dem Kofferraum und wies sich vor dem rot-weißen Flatterband bei einem uniformierten Kollegen aus, der mürrisch die Absperrung bewachte. Der Regen tropfte von seiner Mütze und er tat Franziska leid. Es war sicher nicht lustig, stundenlang im strömenden Regen rumzustehen. Eine junge Polizistin war noch dabei, das Areal abzusperren, denn das war weitläufig und alle Zugänge mussten gesichert werden.
Franziska blieb stehen und ließ die Umgebung auf sich wirken. Der Spielplatz lag in einer Mulde. Oben verlief der Fußweg, der den Mediapark mit dem Stadtgarten verband, und eine Brücke führte über die Gleise der Deutschen Bahn hinüber zum sogenannten Herkulesberg, einem Trümmerberg aus dem Zweiten Weltkrieg.