Seelenruhe - Johannes B. Bucej - E-Book

Seelenruhe E-Book

Johannes B. Bucej

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  • Herausgeber: Riemann
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Lebenskunst Made in Germany

Ist Seelenruhe ein erstrebenswerter Zustand? Darüber wurde bereits in der Antike nachgedacht. Heute importieren wir „Gelassenheit“ vor allem aus der östlichen Weisheit. Dabei könnten wir, angefangen bei den alten griechischen Philosophenschulen der Stoa und der Epikureer, viele Quellen für dieses Anliegen zu Rate ziehen. Dieses Buch streift durch das Denken von Jahrhunderten, um verschiedene Ansätze für das immer gleiche oder ähnliche Ringen um innere Ausgeglichenheit und Heiterkeit aufzuspüren und eine überzeitliche Weisheit zu gewinnen – unterhaltsam, mit philosophischem Weit- und Durchblick und mit der Aussicht, dass unser Leben tatsächlich besser wird, wenn wir wissen, wie wir Seelenruhe erlangen.

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Seitenzahl: 263

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Johannes Bucej

Seelenruhe

Philosophisch zur inneren Mitte finden

1. Auflage

Originalausgabe

© 2014 Riemann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Ralf Lay, Mönchengladbach

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-13378-8

www.riemann-verlag.de

Inhalt

Heut mach ich mir kein Abendbrot, heut mach ich mir Gedanken

1 Die gepeinigte Seele

»Nur noch kurz die Welt retten …«

Wer ist der »Experte« in Ihrem Leben?

2 Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie … oder Die »vierfache Medizin« des Epikur zur Seelenruhe

Keinen Schrecken mehr erregt der Gott

Keine Angst erregt der Tod

Das Gute ist leicht zu beschaffen

Das Beschwerliche ist leicht zu ertragen

Lebe im Verborgenen

3 Ein Freund, ein guter Freund

Freundschaften und weshalb sie entstehen

Freundschaft mit sich selbst

4 Das Leben ist ein Spiel

Montaigne oder Zweifel als Prinzip der Seelenruhe

Exzellenz statt Perfektion

Spiel, Schönheit, Freiheit

5 Gelassen in die Ausgelassenheit

Das Leben heiligen

Die neue Innerlichkeit und die veräußerte Seele

Die »Verdoppelung der Vernunft«

Grenzen des Alltäglichen – wie man sie überschreitet und zugleich anerkennt

Die Profanisierung des »schmutzigen Heiligen« und ihre Konsequenzen

Illustre Illusionen und die Ambivalenz der Entzauberung

Kairos – der richtige Zeitpunkt der Erfüllung

Im Abklingbecken

Literatur

Anmerkungen

Heut mach ich mir kein Abendbrot, heut mach ich mir Gedanken1

Seelenruhe – ein altes, unmodisches Wort. Wer braucht so was heute noch? Ruhe ja, gelegentlich, aber Seele? Unrast, Hektik, Ungeduld – sind das nicht die leistungssteigernden Drogen heute? »Der Feind ist der Schlaf« war die Überschrift in einem Feuilletonartikel in der Süddeutschen Zeitung über »Kreativität«. Und nicht nur der Autor dieses Beitrags fragte sich angesichts der ständigen Selbstüberforderung der »kreativen Klasse«, wer eigentlich dann noch die Alltagsarbeiten verrichten soll, wenn alle sich dem Kreativitätszwang unterwerfen.

Problematisch ist ja nicht, dass die sogenannten Kreativen sich selbst Ziele stecken, die es zu erreichen gilt, sondern der Grad der Selbstausbeutung und des unermüdlichen Antriebs – Adornos Albtraum. Die kapitalistisch gewendete »Ressource Kreativität« ist nämlich nichts anderes als die Bemäntelung des ständigen Leistungsdrucks, gespeist von einer andauernden Unzufriedenheit und Unersättlichkeit. Und wer sich nicht zur »kreativen Klasse« zählt oder zu ihr gerechnet wird, optimiert sich zumindest selbst.

Dass unter diesen Bedingungen Ruhe, Seelenruhe zumal, als lästig, ja kontraproduktiv empfunden wird, verwundert kaum. »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin« ist etwa so eine beliebte Formel der Aktionsfetischisten. Wer schläft, sündigt zwar nicht, aber er bringt auch sonst nichts zustande, soll das heißen. Das aber gilt eigentlich als die Sünde schlechthin. Natürlich stellt sich die Gegenfrage, ob etwa derjenige tatsächlich Bleibendes schafft, der ständig »auf Achse« ist, »am Rad dreht«, »auf Hochtouren läuft«. Und – ist Seelenruhe gleichbedeutend mit Schlaf? Oder mit »tätigem Nichtstun«? Oder nicht doch vielmehr Unerschütterlichkeit, eine Haltung, die ja durchaus mit einem aktiven, erfüllten Leben in eins gehen kann. Das Prädikat »demutsvoll«, mit dem Wilhelm Busch Seelenruhe in der »Frommen Helene« ironisch belegt (»O wie lieblich sind die Schuhe / demutsvoller Seelenruhe«),2 vermutet man nach der Tradition des Begriffs nicht unbedingt. Hier ist Seelenruhe vornehmlich mit Bedächtigkeit verknüpft. Wer seelenruhig agiert, handelt überlegt, ja, überlegen, nicht übereilt, kaltblütig, nicht heißblütig. Er ist »ganz bei sich selbst«.

Das führt zu der Frage, ob Seelenruhe als persönliches Ziel nicht egoistisch sei. Ist nicht vielmehr Engagement gefragt? Kampf gegen Ungerechtigkeit und Zumutungen, andauernde Bedrohungen? Ständige Verbesserung der Welt gemäß dem Marx’schen Diktum, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben, es aber darauf ankomme, sie zu verändern?3 – Drehen wir den Spieß um. Und fragen uns, ob dieser ständige »Kreativitätszwang« oder auch die fortdauernde Optimierung nicht einer tiefen Ablehnung der Welt entspringen. Immer alles verbessern wollen, sich nicht einverstanden erklären mit dem, was ist. Es dauernd besser zu wissen, was wirklich gut ist (für mich und für andere), was »angesagt« ist. Man sollte, es müsste doch … Aber tut uns und den anderen das auch gut? Im Grunde schwingt in der modernen Form »Kreativität« und Selbstoptimierung ein permanentes Beleidigtsein mit: Die Welt ist eine einzige Zumutung. Ich hab was Besseres verdient. Es geht ums Ganze. – Ja, aber von dem bin ich nur ein Teil, und was heißt das, wenn’s »ums Ganze« geht? Geht es um alles oder um Ganzheit? Und gilt dann nicht der alte Satz von Aristoteles, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile? Und im Umkehrschluss, dass jeder seinen Anteil an dem Ganzen hat, auch er an dem Mehr beteiligt ist, das sich auch in seiner Zugehörigkeit zum Ganzen ausdrückt? Das Ganze haben oder ganz werden – das scheint die Alternative zu sein. Seelenruhe kommt aus einer grundsätzlichen Bejahung der Welt beziehungsweise einer Zustimmung zu meinem In-dieser-Welt-Sein.

Die Welt bejahen – das hört sich verdächtig nach Schönfärberei und »positivem Denken« an. Aber es besteht ein Unterschied zwischen »bejahen« und »sich etwas zu eigen machen«. Das eine ist eine Frage der Perspektive, das andere eine Frage des Umgangs damit. Wir müssen nicht annehmen – wie Gottfried Wilhelm Leibniz –, dass wir in der »besten aller möglichen Welten« leben. Es genügt, »unseren Garten zu bestellen«, wie Voltaire am Ende seiner Satire Candide über Leibniz’ Optimismus schreibt.

Der Welt – und das heißt hier vor allem: den anderen – zugestehen, dass sie das Recht haben, nicht so zu sein, wie wir es erwarten, dass wir selbst uns verändern dürfen, anders sein dürfen – und die anderen auch. »Du darfst dein Ändern leben.« Klingt schon mal anders als »Du musst dein Leben ändern« – leichter, beschwingter, befreiter, beruhigender. Ein Blick, der nicht voreilig urteilt, sondern lediglich fragt: Ist das jetzt angemessen für mich? Und aus einer Verneinung nicht den falschen Schluss zieht, dass das, was mir nicht angemessen scheint, auch nicht existieren, vorkommen, passieren darf. Ein solcher Umgang mit der Welt – und auch mit uns, die wir Teil von ihr sind – wäre tatsächlich »demutsvoll«. Und auch dieses »unmoderne« Wort, in dem nur scheinbar immer etwas Unterwürfiges, Kriecherisches mitschwingt, erführe dadurch eine Rehabilitierung. Demütig kann nämlich nur sein, wer ein gesundes Selbstwertgefühl hat.

Sich dafür zu entscheiden, auf diesem Weg aus dem ständigen »Auf und Ab« von Wunsch und Wirklichkeit, Frust und Lust herauszukommen, ist die Absicht dieses Buchs. Auf dem Weg zu unserer »inneren Mitte« werden wir – hoffentlich – immer befreiter und heiterer werden. Das Gespräch mit aktuellen Denkern und Denkern vergangener Epochen soll uns dabei helfen, diese Welt und uns als ihren Teil attraktiv zu finden. Anziehung statt Abstoßung. Eine Bestandsaufnahme im ersten Kapitel vornehmlich anhand von Seneca, ein paar lebenskluge Weisheiten als »Medizin« aus der Hausapotheke von Dr. Epikur im zweiten Kapitel, die Bedeutung von Freundschaft und Selbstfreundschaft im Anschluss daran bilden den Einstieg. Und schon sind wir »mittendrin, statt nur dabei«. Im vierten Kapitel erlernen wir die spielerische Seite des gesunden Zweifels mit Montaigne und Schiller, um dann im letzten Kapitel »gelassen in die Ausgelassenheit« zu gelangen. Dazwischen gibt es Begegnungen mit anderen Dichtern und Denkern, die Lebenskluges auf den Punkt gebracht haben, von der Antike bis zur Moderne.

Ein paar Worte noch zur Konzentration auf abendländische Denktradition und Geschichte. Zum einen: Das »Abendland« ist nicht deckungsgleich mit dem modernen »Westen« oder dem, was wir politisch heute darunter verstehen. Es ist vielmehr jener Kulturraum des »alten Europa« mit seinen unmittelbaren Nachbarn in Nordafrika und dem Vorderen Orient, das vor einigen Jahren von einem wild gewordenen westlichen (!) Politiker mit diesem abfällig gemeinten Prädikat belegt wurde, der damals am liebsten auch den Rest der Welt zu seinem persönlichen Rumsfeld gemacht hätte. Es ist tatsächlich die Wiege der westlichen Zivilisation, wobei wir die Rolle, die der Islam im frühen Mittelalter für die Bewahrung und Überlieferung des antiken Erbes gespielt hat – zum Beispiel bei der Rezeption der Philosophie von Aristoteles –, nicht hoch genug einschätzen können.

Dass der Schwerpunkt unserer Überlegungen hierauf liegt, hat nichts mit einer Ablehnung der vielfältigen und bereichernden An- und Einsichten anderer Kulturen zu tun. Eher soll hiermit einer Blickverengung begegnet werden, der wir selbst immer gern unterliegen – nämlich dass »der Prophet im eigenen Lande« nichts gilt. Der leichtfertige Umgang, ja, die Ignoranz, mit der dem jahrtausendealten abendländischen geistigen Erbe in heutiger Zeit begegnet wird, die einseitige Verengung des modernen Bildungsbegriffs auf Effizienz und Verwertbarkeit, die dem Ursprung unseres Wortes »Schule« hohnspricht – »Schule« stammt vom griechischen scholḗ ab, was »Muße, das Innehalten (bei der Arbeit)« bedeutet –, macht es erforderlich, diese abendländische Tradition wieder in Erinnerung zu rufen, nicht ein vordergründiges und fruchtloses Gegeneinanderausspielen von Kulturen.

Das verbietet sich – zweitens – ohnehin, wenn wir die Ursprünge betrachten. Der Philosoph Karl Jaspers hat in seinem Werk Vom Ursprung und Ziel der Geschichte4 für die Epoche vom 8. bis etwa 2. vorchristlichen Jahrhundert den Begriff »Achsenzeit« geprägt. Laut seiner Überzeugung haben in dieser Epoche in vier voneinander unabhängigen Kulturräumen bedeutende geistige und technische Umwälzungen stattgefunden, die bis heute nachwirken: China, Indien, der Orient mit Persien und Israel/Judäa und der Okzident.

In China, wo Konfuzius und Laotse wirkten, entstanden in dieser Epoche alle Richtungen der chinesischen Philosophie (»Zeit der Hundert Schulen«).

In Indien, das in der Zeit zwischen 500 und 300 v. Chr. von den Lehren Buddhas geprägt wurde, waren bereits mit den älteren Upanischaden 800–600 v. Chr. die Anfänge der Naturphilosophie und des Hinduismus entstanden.

In Israel brachten die biblischen Propheten mit ihren Weissagungen ein wesentliches Moment der geistigen Schöpfung der Achsenzeit hervor. Nach einem Diktum des Theologen und Professors für das Alte Testament Theodor Seidl sind sie keine Wahrsager, sondern »Wahrheitssager« und zuständig für die »ungeschminkte Wahrheit«, mit einem Scharfblick für gesellschaftliche Missstände und ihre desaströsen Konsequenzen ausgestattet. In Persien entwarf Zarathustra als Religionsstifter und Priester-Prophet das Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse. Sie werden verkörpert durch den Schöpfergott Ahura Mazda und dessen Gegenspieler Ahriman. Dieser Dualismus und seine mannigfachen Spielarten wirkten bis in die Zeit der spätantiken und mittelalterlichen Gnosis und in der noch heute verbreiteten iranischen Religion des Zoroastrismus nach.

In Griechenland wurden im 8. Jahrhundert v. Chr. mit den homerischen Epen Ilias und Odyssee, den Naturphilosophen Thales, Anaximander und Anaximenes seit der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. sowie im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. durch Sokrates, Platon und Aristoteles die Grundlagen der heutigen europäisch-abendländischen Weltanschauung, Wissenschaft und Philosophie gelegt. Im antiken Griechenland entstand zudem, wenn auch nur weitgehend auf den Stadtstaat, die pólis Athen, beschränkt, eine Idee von Freiheit, die offenbar nirgendwo sonst in der damaligen Welt vorkam. Asiatischem Denken, insbesondere fernöstlichem, war und ist dieses Verständnis individueller und politischer Freiheit bis heute anscheinend fremd geblieben. Die Extreme zeigen sich etwa in der Adaption der westlichen Idee von »Demokratie«, die gerade in Südostasien nicht selten autoritäre Züge trägt, oder der jüngsten Diskussion um die provokanten Erziehungsthesen von Amy Chua5, der tiger mom, die ihre Kinder in den USA mit »asiatischen Methoden«, mit Verboten, Demütigungen und Drill zu schulischen Spitzenleistungen antrieb und sich damit scharf vom westlichen Erziehungsstil abgrenzt. Dem liegt offenbar ein fundamental anderes Menschenbild zugrunde, das den Menschen und auch diese Welt als grundsätzlich minderwertig begreift und daraus den Schluss zieht, dass diese Welt und diese Existenz zu überwinden seien.

Diese Idee persönlicher und politischer Freiheit, über die Jahrhunderte und Jahrtausende weiterentwickelt, führte im Abendland zur Ansicht, dass Menschen Personen sind, deren Ziel die Entfaltung ihrer eigenen Persönlichkeit ist. Denn da öffnete sich plötzlich ein Horizont, der dem Menschen zeigte, über welche Möglichkeiten er tatsächlich verfügte, etwas, was zum Beispiel in dem kantischen Satz gipfeln sollte: »Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei.«6 Da ist es dann völlig egal, ob moderne Hirnforscher wie Wolf Singer und Gerhard Roth, naturalistische Philosophen wie Michael Pauen oder »Neuroexistenzialisten« wie Paul und Patricia Churchland Freiheit für eine Illusion halten. Wir begreifen uns als frei – und deshalb sind wir es. Menschliche Praxis ist mit der Beschreibung neurobiologischer Prozesse durch noch so exakte naturwissenschaftliche Methoden nicht aufzuheben. Wissenschaftler und Philosophen wie die obengenannten kommen daher grundsätzlich zu spät oder behandeln Fragen aus der Perspektive ihrer Disziplin, die sich auf ihrem Forschungsgebiet und mit ihren Methoden gar nicht stellen können. Und überhaupt stellt sich die Frage, wie sie dazu kamen, sich für ein derart deterministisches Weltbild zu entscheiden. Sollte dem aber keine Entscheidung zugrunde liegen, wäre ihr Statement erst recht für diese Thematik irrelevant. Denn mit ihnen könnten wir ja gar nicht in einen argumentativen Diskurs eintreten. Das Entscheidende ist also schon vorher passiert. Und nur im Westen konnte wohl jemand wie Friedrich Schiller in seinem Gedicht »Die Worte des Glaubens« schreiben: »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und wär’ er in Ketten geboren.«7

Die Kehrseite der Medaille: Mit der Ruhe war es vorbei – denn wer vorgegebene Antworten nicht mehr akzeptieren muss, hat die Wahl –, er muss Entscheidungen treffen und hat damit Verantwortung für seine Wahl. Punkt.

Komplementär zu den politischen und philosophischen Einsichten entstand in Griechenland das Konzept der paideía, der ethischen und intellektuellen Bildung des Individuums, die hier nicht – wie etwa noch in Babylon oder dem alten Ägypten – wenigen Eingeweihten in esoterischen Zirkeln und Tempelschulen vorbehalten war, sondern allgemeines politisches Ziel wurde, nicht zuletzt, weil man erkannte, dass Freiheit und Persönlichkeit etwas sind, was geformt, gestaltet werden muss, nicht mehr »eliminiert« werden kann. Paideía ist eine »Erziehung zur Freiheit« im Unterschied zur Willkür.

Diese Entwicklung wurde in Rom durch Cicero und Seneca fortgesetzt. Cicero verband mit dem griechischen Konzept der paideía seinen Begriff der humanitas, mit dem er die geistige, insbesondere die literarische und ethische Bildung des Menschen charakterisiert. Dies sollte in der frühneuzeitlichen Epoche des »Humanismus« wiederaufleben. Sehr zugespitzt formuliert kann man den Unterschied zwischen okzidentalem und orientalischem und fernöstlichem Menschenbild an zwei Begriffen festmachen: Wertschätzung versus Geringschätzung. Paideía gegen Dressur beziehungsweise Unterwerfung. Weltbejahung versus Auslöschung der Existenz.

Das klingt allerdings so pauschalisierend, dass es einer Erläuterung bedarf. Doch geht es hier nicht um eine Bewertung, sondern eine Typenbeschreibung. Und diese Typisierung sollte auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch im Westen entsprechende Tendenzen gab und gibt, die sich – bezeichnenderweise – sowohl auf autoritärer als auch auf libertärer Seite finden und Ausdruck von Geringschätzung sind. Im ersten Fall ist es, wie bei der tiger mom beziehungsweise dem von ihr verkörperten und selbst so bezeichneten Typus der »chinesischen Mutter«, das Beleidigtsein über die Zumutung, mit unzureichendem Menschenmaterial behelligt zu werden, das durch rigorose Methoden geformt werden muss. Im zweiten Fall entspricht die Geringschätzung einfach einer Gleichgültigkeit – »Mach, was du willst; mir doch egal, was du tust oder was aus dir wird« – und einer daraus für das Individuum folgenreichen Versuchung zur Fehleinschätzung beziehungsweise Unter- oder Überschätzung seiner Möglichkeiten und Freiheiten. Seltsam und bezeichnend zugleich übrigens, dass Amy Chua ihren Töchtern mit asiatischen Methoden ausgerechnet westliche Bildungsgüter nahebringen will: Die Töchter müssen zum Beispiel Klavier und Geige üben, um sich die gesellschaftliche Anerkennung im Westen (!) zu sichern.

Demgegenüber wird hier – sozusagen als basso continuo, der die folgenden Kapitel durchzieht, aber thematisch nicht weiter in Erscheinung tritt – von der Wertschätzung des Menschen als Basis abendländischer Tradition ausgegangen, wozu auch die Einsicht gehört, dass Menschen Personen sind. Die personale Sicht auf den Menschen konnte nur in einem Umfeld erwachsen, in dem diese Wertschätzung grundlegend, wenngleich vielleicht nicht immer bewusst und präsent ist.

Grund genug also, sich wieder mit diesem Erbe vertraut zu machen. Zumal es auch Überschneidungen und Berührungen mit anderen östlichen Gedanken gibt, die oft übersehen oder unterschätzt werden: So begegnete Pyrrhon von Elis, der Alexander von Makedonien, den »Großen«8, auf seinen Asien-Feldzügen begleitete, in Indien wohl Gurus und Asketen, die in ihm den Keim für seine skeptische Philosophie legten. Mehr als 2000 Jahre später wurden der Hinduismus und der Buddhismus für Arthur Schopenhauers Philosophie prägend. Nach seiner eigenen Aussage übten die Upanischaden neben Platon und Kant den stärksten Einfluss auf sein Denken aus. Das vedische tat twam asi (»Das bist du«) kann man indes zwar als komplementär zu der Inschrift gnōthi seautón (»Erkenne dich selbst«) des Apollotempels in Delphi verstehen, aber nicht zu der Aufforderung »Werde, der du bist« – warum auch, wenn das Ziel der Existenz Selbstauslöschung, Ausbruch aus dem Kreislauf der Wiedergeburten ist? Schopenhauer sah dies jedoch als die Basis jenes Prozesses an, der den individuellen Willen zum Willen des Ganzen transformiert. Konsequenterweise steht in Schopenhauers Ethik das Mitgefühl im Zentrum, das ihn allerdings auch nicht zu einer Wertschätzung des Daseins, der Welt und des Menschen überhaupt führt, eher zu einem Bedauern des Schicksals, dem der Mensch nach seiner Ansicht ausgesetzt ist. – Und heute ist es zum Beispiel Peter Sloterdijk, in dessen Philosophie buddhistische Elemente zu entdecken sind. Selbstüberwindung ist auch das Thema seines Buchs Du mußt dein Leben ändern.9

Also: Verhungern müssen wir geistig nicht, wenn wir uns auf die abendländischen Denker fokussieren und –Wolfgang Neuss folgend – uns zwar kein Abendbrot, aber Gedanken machen, und zwar eigene. Die Tageszeit ist den Philosophen angemessen: der Abend. Denn nach G. W. F. Hegel beginnt die Eule der Minerva ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung.10 Zwar sind mittlerweile auch Medien darauf gekommen, vor allem die öffentlich-rechtlichen, dass es doch ganz gut wäre, uns gelegentlich »precht-ig« zu unterhalten. Aber das geschieht ja zu nachtschlafender Zeit, wenn eigentlich die Verdauung schon in vollem Gange ist. Und zu einer zivilen Tages- oder Abendzeit sucht man geistige Anregung im Fernsehen meist vergebens oder findet sie besser versteckt als die Ostereier des Osterhasen bestenfalls in den Spartenkanälen.

Wie auch immer: Machen wir uns unsere Gedanken also und suchen wir uns auch die passenden Gesprächspartner dazu selbst aus. Vergessen wir dabei auch nicht Karl Marx’ Forderung, dass die Philosophen die Welt verändern sollten. Doch mit dieser Veränderung beginnen wir – dem Rat Mahatma Gandhis folgend – am besten bei uns selbst.11 Am nächsten Morgen und bitte erst nach einem ordentlichen Frühstück.

Jetzt aber erst mal Abendbrot – mit abendländischen Gedanken.

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