Seelenschere - Berit Sellmann - E-Book

Seelenschere E-Book

Berit Sellmann

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Beschreibung

Als Rifka und Jarno auf die Färöer Inseln reisen, in die Heimat von Jarnos verstorbenem Großvater, hat das Paar noch keine Ahnung davon, wie negativ das Wort »Abenteuer« konnotiert sein kann. Sie landen im 34-Seelen-Dörfchen Mikladalur, wo die Sage der Robbenfrau kursiert, die aus Rachsucht Männer verschwinden lässt. Sogar eine Statue am Meer erinnert an sie. Das Gerede im Ort tut die depressive Rifka als Unfug ab – bis ihr Freund plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist. Besessen davon, Jarno wiederzufinden, taucht Rifka tief in das Leben und den Glauben der Inselbevölkerung ein. Dabei stößt sie auf das schreckliche Schicksal einer Dorfbewohnerin, das der Legende der Robbenfrau mehr Wahrheit einhaucht, als Rifka je hätte träumen können.

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Berit Sellmann

Seelenschere

Dachbuch Verlag

1. Auflage: November 2022Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

ISBN: 978-3-903263-51-2EPUB ISBN: 978-3-903263-52-9

Copyright © 2022 Dachbuch Verlag GmbH, WienAlle Rechte vorbehalten

Autorin: Berit Sellmann

Lektorat: Nikolai UzelacSatz: Daniel UzelacUmschlaggestaltung: Katharina NetolitzkyDruck und Bindearbeiten: Rotografika, SuboticaPrinted in Serbia

Besuchen Sie uns im Internet:www.dachbuch.at

Dieses Werk enthält Sequenzen zu sexualisierter Gewalt, Kindesmissbrauch sowie psychischen Erkrankungen, welche Teile der Leserschaft beunruhigend finden könnten. Lesen auf eigene Verantwortung.

On the borders of safety, that’s where I find peace

Where the black sand meets the raging seas

I see the forces for what they truly are

Yet I’m reminded of my beating heart

Among the lonely rocks is where I lay my head

I hear the ocean calling »come with me instead«

She sings me songs of ungrateful souls

Who once thought Gods could bring them home

On the borders of safety, that’s where I find peace

Where the black sand meets the raging seas

I see the forces for what they truly are

Yet I’m reminded of my beating heart

I could swear, that the ocean sings and the mountains talk to me

I could swear, that I hear her breath and her heartbeat in the air

I could swear…

I could swear…

On the edge of comfort, that’s where I find love

And the ocean already knows

She can’t love you like you love her

There’s no mercy from Mother Earth

– Borders, KALANDRA

TEIL 1

Die Ankunft

1

Der Wind heulte. Genau wie ihr Inneres. Dieser Ort ist nicht für dich, säuselte er kalt in Rifkas Ohr und schaffte es sogar, ihren Herzschlag zu übertönen, der hier so viel lauter war als in Deutschland. Und schneller. Glaubte er etwa, er könne vor diesem seltsamen Stück Erde fliehen? Wenn sie es nicht mal konnte?

Rifka hatte sie sich etwas seichter vorgestellt, die Stimme des Windes hier oben. Und die des Meeres auch. Die Schläge des Ozeans klangen wie eine kalte Warnung. Sie stieß gegen ihr Bewusstsein, diese Warnung, wie Wellen gegen die Küste, dort, wo das Stück Land einfach im Nichts endete. Mit jedem Schritt, den sie den bunten Häusern in der Ferne entgegenlief, zog Rifka den Reißverschluss ein Stückchen weiter hoch.

Mikladalur, dachte sie, während sich ihr Blick an die Handvoll Häuser krallte, die aussahen, als seien sie Gott bei seinem Streifzug über das unberührte Stück Land versehentlich aus der Hand gerutscht. Mikladalur, dachte sie, und Jarnos Grinsen taute ihre ihm zugewandte Gesichtshälfte auf. Mikladalur, was bist du seltsam.

Der Rucksack bebte auf und ab unter den beschwingten Schritten ihres Freundes, hüpfte, erinnerte Rifka an ein springendes Kind, das seiner Freude Ausdruck verleihen wollte. Sogar ein Stück Stoff schien sich mehr zu freuen als sie. Normalerweise liefen Jarno und sie im Gleichschritt, lachten darüber, wie ihre Beine sich scheinbar automatisch aneinander anpassten und fanden, dass es ein Zeichen war, wie gut sie miteinander verbunden waren. Aber hier war er ihr stets einen halben Schritt voraus. Jarnos Fuß landete auf dem Kies des Schotterwegs, während Rifkas noch in der Luft hing. Es war seine Vorfreude, die das Ungleichgewicht herbeiführte. Rifka aber konnte und konnte diese Freude einfach nicht in sich finden. Sie stellte sich vor, wie ihre Zweifel die Klippe herunterstürzten, wie sie kopfüber in die eisigen Wellen sanken. Und ertranken. Aber immer wieder schob sich das Bild von Jarnos Großvater vor ihr inneres Auge.

Jarnos Großvater kam von den Färöer Inseln. Rifka hatte nicht mehr zählen können, wie oft Jarno den Versuch gestartet hatte, sie zu überreden, ihn einmal gemeinsam zu besuchen, solange er noch lebte. Immer wieder hatte Rifka abgelehnt. Der Gedanke, in ein Flugzeug zu steigen, mit einem derart monströsen Hilfsmittel in die Luft zu gleiten, hatte sie seit ihrer Kindheit mit Angst erfüllt. Bis der plötzliche Tod von Jarnos Großvater sie regelrecht dazu gezwungen hatte. Jetzt war sie hier, auf den seltsamen Eilanden, die auf der Landkarte beinahe zu verschwinden schienen. Als sie sich die Färöer Inseln einmal genauer anschauen wollte, musste sie zoomen, das Rädchen an der Maus unendlich lange drehen, bis das kleine Stückchen Erde auf der virtuellen Weltkarte sich überhaupt erst gezeigt hatte.

Kalter Wind schlug ihr ins Gesicht. Der Wind kam von vorn, er war wie eine Hand, die sie zurückschieben wollte. Das Meer zischte, verdeckte das Knirschen des Kieses auf dem Weg. Ein Rabe am grauen Himmel lachte sie aus. Dann schrie auch er: Dieser Ort ist nicht für dich.

»Glaubst du, es war eine gute Idee, hierherzukommen?«, wollte sie von Jarno wissen.

»Es war die beste Entscheidung deines Lebens, mit hierherzukommen, Rifka!«

Als sie ihren Blick vom grauen Boden hob – er passte so viel besser zu ihrer Innenwelt als die farbenfrohen Häuschen, die sie an Astrid Lindgren und sorglose Kindheiten erinnerten –, hatte Jarno seinen Blick wieder von ihr abgewandt und auf das satte Grün gerichtet, das sich auf das von Bergen durchsetzte Landschaftsbild legte wie eine grelle Decke. Die Dächer der beiden schwarzen Häuser neben Rifka waren völlig bemoost. Sie erweckten den Anschein, sich unter die Erde ducken zu wollen. Sie waren genau wie sie, diese Häuser.

»Aber was, wenn das Gästehaus komisch ist? Oder die Menschen dort?« Sie hatte die Worte lange zurückgehalten, hatte sie vom Wind in den hintersten Teil ihres Kopfes drücken lassen. Jetzt, ganz kurz nur, war es windstill. »Vielleicht mögen die mich nicht.«

»Du hast Ängste!«

Jarnos Lippen trafen ihre Wange. Sein Kuss drückte Wärme auf ihre kühle Haut, Wärme in ihre kühlen Gedanken.

Rifka tastete die Ferne nach einem roten Haus ab. Dem Haus ihrer zukünftigen Gastgeber. Über ein Onlineportal hatte Jarno mit Familie Einarsson Kontakt aufgenommen und ihren zweiwöchigen Aufenthalt in deren Gästehaus gebucht. Ein Funke Abenteuerlust sprang in Rifkas Herz, als sie plötzlich von beiden Seiten von Mikladalurs farbenfrohen Häuschen eingeschlossen wurden. Und dennoch verfolgten sie die Zweifel auf Schritt und Tritt, allgegenwärtig wie das Brausen des Meeres, das so viel Ähnlichkeit hatte mit dem unablässigen Rauschen ihrer Gedanken.

»Du machst dir echt einen Kopf, oder?«

Jarnos Grinsen wurde breiter. Rifka wusste es, ohne ihn ansehen zu müssen.

»Ich mache mir immer einen Kopf.«

Die Augen der beiden trafen sich, dann rutschte Jarnos Blick in Richtung des 34-Seelen-Dorfes, das zu ihrem Zuhause auf Zeit werden würde. Die raue Natur vor ihm war sicherlich viel leichter zu ertragen als Rifkas von Zweifel getränkter Gesichtsausdruck.

»Aber was du nicht vergessen darfst, Rifka ...« Einzelne Strähnen seiner blonden Locken rutschten ihm übers Auge. Er pustete sie weg, kurz bevor der Wind ihm die Aufgabe abnahm. »Deine Ängste zu überwinden, ist der erste Schritt in Richtung Freiheit. Und ist das hier nicht Freiheit pur?«

Er breitete die Arme aus. Schloss die Augen. Ließ das freudige Grinsen sein Unwesen treiben. Sie wollte etwas sagen. Aber sie fand keine Worte.

»Mach dir keine Sorgen. Wir sind hier sicher. So sicher wie nirgendwo anders auf der großen, weiten Welt.«

Ein Schaf blökte in der Ferne. Es war wie ein Ruf der Zustimmung. Als Rifka nur einen Tag später an diesen Moment zurückdachte, klang er ganz anders, dieser Schrei des Schafs. Wie ein langgezogener, penetranter Warnruf.

2

Das Schildchen »Guest House« vor der Fassade des roten Hauses hing schief; die Ränder vom Rost angefressen, vergewaltigt von Witterung und Zeit. Jarno streckte seine Hand nach der Klingel aus, dann flog sein Arm auf Rifka zu. Seine Berührung auf ihrer Hüfte löste eine Welle aus Vertrautheit aus, die sie sanft umspielte. Seine Fingerkuppen gruben sich in Rifkas Seite, fest, als wären für diese kurzen, angenehmen Minuten die Rollen vertauscht. Als müsste er sich an ihr festhalten. Nicht sie sich an ihm.

Jarno lächelte.

Rifka lächelte.

Die weiß gestrichene Tür vor ihnen ließ durch ein Miniaturfenster in das Innere blicken. Einen Moment lang hatte Rifka das Gefühl, dass selbst ihre Augen zitterten, als sie sich durch die Staubschicht der Scheibe tasteten. Unwillkürlich erinnerte sie dieses Mini-Fenster an sich selbst. »Ich will gerne so viel mehr sehen von dir, aber manchmal habe ich das Gefühl, ich blicke bloß durch einen kleinen Spalt«, hatte Jarno einmal gesagt und ihr dabei so tief in die Augen gesehen, dass sie den Blick hatte abwenden müssen.

Der Teppich, der auf dem dunklen Parkett hinter der Scheibe lag, schien alle Farben der Welt auf seiner Stofffläche versammeln zu wollen. Da sprang Rifka in den Kopf, dass dieser Spalt niemals ihr Innenleben zeigen konnte. Es war zu bunt dort hinter. Viel zu bunt. Aus dem Augenwinkel sah Rifka, wie Jarnos Lippenbögen leicht zuckten.

Während ihr Blick durch die raue, kalte Hügellandschaft wanderte, zählte Rifka die Sekunden, bis sich die Tür endlich öffnete; sie zählte einen umgekehrten Countdown, als würde sie die Insel verlassen dürfen, wenn sie bei einer ihr unbekannten Zahl ankäme.

Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben.

Gerade als sie einem Raben dabei zusah, wie er durch die graue Luft schwebte, zog ein Knarzen an ihrer Aufmerksamkeit. Und Jarno an ihrem Ärmel. Der kleine Spalt vor ihr wurde größer, dehnte sich zu einer rechteckigen Öffnung aus. Eine Frau lehnte in der Tür, älter als Mitte 30 konnte sie nicht sein. »Da seid ihr ja!«, sagte sie auf Englisch.

Die Augen ihrer Gastgeberin – Ida hieß sie, oder? – waren groß. Und so hellgrün, als hätten die sattgrünen Grashalme der Insel ihre Iris eingefärbt. Rifka lachte sie an. Aber ihr Lachen war viel mehr von Unsicherheit durchdrungen als von wahrer Freude. Die hellblonden Haare – sie waren beinahe weiß – hatte Ida zu einem strengen Dutt zusammengebunden. Vielleicht dürfte keine ihrer Strähnen von den vollen rosaroten Wangen ablenken, die den Verdacht zuließen, zu stark geschminkt worden zu sein. Mehr als einen Blick auf ihre Gastgeberin brauchte Rifka nicht, um zu wissen, dass ihr Charakter genauso natürlich war wie ihre Gesichtsfarbe – auch wenn es schwer fiel, das zu glauben. Auch wenn es weh tat, das zu glauben.

»Wir haben uns ein wenig verspätet ...« Jarno sah Rifka an, lächelte und widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder Ida. Er richtete sich auf, sein Rücken wurde gerader, Rifka konnte sehen, wie der Rucksack sich einige Zentimeter weiter in Richtung des Wolken verhangenen Himmels streckte. Augenblicklich wurde ihr ein wenig kälter. Dabei stand der Wind still. Würde er gleich auch aus Idas Mund kommen, dieser eine Satz? Dieser Ort ist nicht für dich.

»Zeit gibt es hier auf den Inseln nicht.« Ida lächelte – wieder und wieder – und während sie Rifka und Jarno betrachtete wie alte Freunde, die sie lange nicht gesehen hatte, schienen ihre Pupillen sich auszuweiten. »Ich sage immer: Wenn die Zeit vor meiner Tür stehen würde, sie wäre wohl die Einzige, der ich nicht öffnen würde.«

Rifkas Lachen wurde breiter. Lag es an Idas Worten? An ihrem niedlichen Akzent, wenn sie Englisch sprach? Oder war es, weil Jarno seinen Blick endlich, endlich von Ida abwandte und ihr schenkte? Der Wind riss an Rifka. Wieder. Die Gedanken sollte er mitnehmen, nicht sie. Denn dann würde Jarno hier ganz allein stehen. Allein mit einer Frau, dachte sie, die viel schöner war als sie.

»Ihr habt eine lange Reise hinter euch, oder?«

»Wir waren ja schon in Tórshavn davor, daher war die Anreise gar nicht so stressig.« Jarno drehte sich zu Rifka um. In seinem Mundwinkel saß die Art von Lächeln, die er lachte, wenn er verlegen war.

Rifka nickte eine Spur zu heftig, als könne sie so Idas Blick von sich schütteln. Zusammen mit der Annahme, etwas Abschätziges läge darin.

»Kommt rein, ihr beiden!«

Ida versteckte sich hinter dem Türrahmen. Ihre blendende Schönheit war für wenige Sekunden nicht mehr zu sehen. Bis sie ihr im Flur wieder gegenüberstanden.

Der mit Vierecken verzierte Teppich im Flur war noch bunter, als die Staubschicht vor dem Fenster hatte erahnen lassen. Rifka redete sich ein, dass das Unwohlsein in ihrer Herzgegend von den vielen Farben herrührte. Aber auch die schafften es nicht, von dem grell leuchtenden Band abzulenken, das sich vor ihrem inneren Auge von Jarno zu Ida spannte. Und von Ida zu Jarno.

»Und du, Rifka?«

»Sie ist manchmal ein bisschen in ihre Gedanken versunken.«

Gut, dass sie ihre Jacke noch trug. Gut, dass die Ärmel lang genug waren, um ihre Hände darin zu verstecken. Gut, denn weder Jarno noch Ida konnten jetzt sehen, wie sie sich zu Fäusten ballten.

Rifka lachte. »Bitte was?«

Idas Lächeln war so aufrichtig, dass es wehtat. »Die meisten Menschen, die sich hierher verirren, sind Träumer.« Die Falten auf Idas Profil sahen aus wie Wasserspritzer, mit denen sie Menschen mit Zuwendung begoss. Diese Spritzer zeigten auf Jarno. »Oder besser gesagt ...«, sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, »... die meisten Menschen, die auf die Färöer Inseln kommen, sind Träumer. Ich bin keine Träumerin.« Fest war ihre Stimme jetzt.

Jarno ergriff das Wort: »Ida hat gefragt, ob du auch so ein Fan der nordischen Länder bist.«

»Ehrlich gesagt, gar nicht so.«

Ida blickte Rifka so tief in die Augen wie Jarno, als er die Sache mit dem Spalt gesagt hatte. Die Menschen mussten endlich verstehen: Es war nicht möglich, in jemanden hineinzusehen.

»Ich bin einfach nur Jarno gefolgt. Er hat versucht, mich zu überreden. Viele Monate lang. Und als sein Großvater starb, wurde mir die Entscheidung aus der Hand genommen. Wir mussten zu seiner Beerdigung in Tórshavn.«

Ida nickte, lief zur Haustür, die immer noch offen stand, und schloss sie. »Warum ihr dann ausgerechnet in Mikladalur gestrandet seid, müsst ihr mir aber noch erzählen.« Sie sah Jarno an, erst dann Rifka. »Ich zeige euch mal euer Zimmer. Ihr habt Glück, momentan treibt der Polarsommer sein Unwesen. Sonst wäre es dunkel gewesen auf eurem Weg hierher. Kommt mit.«

Ida bedeutete ihnen, ihr zu folgen, dann zeigte sie auf die Treppe, die sich am Ende des langen Flurs in die Höhe schlängelte, und dem in seiner Länge in nichts nachzustehen schien.

Hier, im Haus einer Unbekannten auf einem unbekannten Landstück, das so hilflos im Arktischen Ozean schwamm, waren Rifkas Schritte noch kleiner als draußen an der frischen Luft. Kein Wind konnte ihre schlechten Gedanken mehr wegwehen. Dennoch hörte man ihn dort draußen rauschen, unablässig säuseln: Dieser Ort ist nicht für dich.

Jarnos Ellbogen traf ihre Seite, riss sie aus ihren Gedanken. Seine Miene wurde zum Ozean, aufgewühlt vom Sturm. Wellen der Unruhe zeichneten sich auf seiner Stirn ab. Seine Stimme war nicht leise genug: »Was ist los?«

Idas Kopf setzte zu einer Drehung an, schien sich aber doch dagegen zu entschieden. Rifka konnte es genau sehen.

»Alles gut«, log sie.

Jarnos Blick verfing sich in ihrem Gesicht, während sie Ida die Treppen hinauf in den ersten Stock folgten. Der Rucksack schien schwerer zu werden mit jedem Schritt. Die großen Pupillen der Holzaugen auf den Stufen fixierten Rifka. Oben angekommen, versuchte sie, die hölzernen Blicke von sich zu schütteln, sie die Treppe hinunterzuwerfen. Sie drehte sich zu Jarno um. Und schluckte. Sicher hatte sie sich nur eingebildet, er hätte Idas Hinterteil fixiert. Ihre Kehle war plötzlich ganz trocken und ihr Herz fühlte sich an, als hätte es, wie sie, einen zu schweren Rucksack auf den Schultern.

Jetzt drehte Ida sich doch zu ihnen um und streckte ihre Arme aus. Ein cremeweißer Teppich kontrastierte hier oben mit der mintgrün gestrichenen Wand. Vier Türen gingen vom Flur ab. Dazwischen hingen Fotos, die die färöische Landschaft eingefangen hatten. Einige von ihnen hingen schief, sie erinnerten Rifka an das von Wind und Wetter angenagte Schildchen vor der Eingangstür der Einarssons.

»Euer Zimmer ist gleich das hier.«

Rifka schaffte es kaum, Idas ausgestrecktem Zeigefinger zu folgen. Zu sehr war sie mit der Frage beschäftigt, wie lange dieses Lächeln noch auf ihren roten Lippen liegen bleiben würde. Irgendwann musste es doch mal versiegen. Oder?

Als Jarno sich an Rifka vorbeischob und Ida zur einzigen Tür auf der rechten Seite folgte, blieb sie stehen. Wie angewurzelt. Ihre Augen klebten sich auf die Bilder an der Wand. So würde sie nicht das Band sehen, das sich von Jarno zu Ida sponn. Ihr Blick blieb hängen auf der grünlichen Statue einer nackten Frau, die auf einem Stein vor dem Wellen schlagenden Meer thronte. Auf den Berg, der den Fjord im Hintergrund bildete, hatte Gott Schnee gepudert, als dürften die grün-grauen Hügel im Meer keinesfalls von der stählernen Selkie ablenken. Nebelschleier verdeckten die Spitzen der Berge, umgaben die Figur wie eine nebulöse Aura. Rifka hörte Jarno und Idas Stimmen nicht, sie musste sich auf die Statue konzentrieren; irgendetwas hielt sie doch in der Hand, oder? Wie in Trance näherte sie sich dem Bild. Und da erst sah sie den Robbenkopf, der wie an einem Stück Fell schlaff in der Hand dieser grünen Frau lag. Sie schauderte.

»Kommst du?«, fragte Jarno.

Sein Atem kroch so warm in ihr Ohr, sie war sich plötzlich nicht mehr sicher, was genau der Ursprung der Gänsehaut war: Er? Oder diese seltsame Frau am Foto?

»Ja.« Rifka nickte.

Und doch war es Jarno, der zu ihr kam.

»Die Robbenfrau«, sagte er. Seine Augen wurden größer, er fuhr mit dem Zeigefinger über das Bild, streichelte die hinter der Glasscheibe des Bilderrahmens eingesperrten Brüste der Statue. Dann zog er seinen Finger schnell wieder zurück. Rifka fragte sich, ob er das tat, weil er keine Abdrücke auf der Glasscheibe hinterlassen wollte. Oder keine Abdrücke in ihrem Herzen. »Von der habe ich dir doch erzählt, weißt du noch?«

Aus dem Augenwinkel nahm sie Ida wahr. Sie lächelte, immer noch, und sagte: »Habt eine wundervolle erste Nacht in Mikladalur.«

Als Rifka ihre Hand hob und zum Winken ansetzte, war Ida schon von der Biegung der Treppe verschluckt worden.

»Oder kannst du dich auch daran nicht mehr erinnern?« Eine blonde Locke fiel Jarno ins Gesicht, sprang vor sein Auge wie Rifkas Komplize, der ihre Ahnungslosigkeit vor ihm versteckte.

»Ich kann mich nicht mehr dran erinnern. Was ist denn mit der Robbenfrau?«

Kalter Nachtatem traf sie, dabei waren alle Fenster geschlossen. Jarno trug den dunkelroten Pullover, den Rifka ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, während sie ihre dicke Winterjacke immer noch nicht ausgezogen hatte. Sicher hatte Ida ihm schon das Zimmer gezeigt und ihr Bett und die Garderobe und erklärt, wie man das Fenster öffnen konnte, wo die Toilette war, wann es Frühstück geben würde und wie viele weitere Gäste gerade hier waren und noch viel mehr. Während Rifka vor der Statue am Foto gestanden hatte und dabei zu Stein geworden war.

»Ach komm, Rifka. Da wirst du dich doch daran erinnern können!« Jarno legte den Kopf schief.

»Ich erinnere mich nicht.«

Sie wollte diese Reise nicht antreten. Das wolltest du, rief sie ihm stumm entgegen.

»Dann haben wir auf jeden Fall schon mal ein Ausflugsziel für die nächsten Tage.«

Rifka nickte müde, schob sich an Jarno vorbei. Sah ihn nicht an. Ihre Mutter betonte immer, dass es Dinge gab, die man nicht sehen, aber dennoch spüren konnte. Sie drehte sich nicht um, während sie auf die Zimmertür zulief. Trotzdem spürte sie Jarnos Blicke sich wie Eiszapfen in ihren Rücken bohren.

Ein Doppelholzbett lehnte an der Wand, eine weiße Bettdecke mit roten Kirschen spannte sich glatt gestrichen über die Länge des Holzrahmens. Und wieder Holzaugen. Viel zu viele Holzaugen. Sie starrten Rifka an wie einen Eindringling, der hier nicht hingehörte.

Die Beine ihrer Gedanken wanderten mit schnellen Schritten zurück in die Vergangenheit, während die ihres Körpers stillstanden, als hätte eine höhere Macht sie zur Statue werden lassen. Rifka schüttelte sich unwillkürlich. Die hölzerne Gemütlichkeit dieses Zuhauses auf Zeit verschwamm hinter der Flüssigkeit in ihren Augen.

»Du versinkst in der Schwärze in dir.« Jarno hatte die Hand auf ihren Kopf gelegt. »Du versinkst immer tiefer. Merkst es nicht mal selbst.«

Du versinkst immer tiefer.

Du versinkst immer.

Du versinkst.

Der Schleier vor ihren Augen verschwand. Die Kirschen waren wieder rot. Rot wie Wut. Wut-Rot. Rifka wollte hier nicht sein. Sie streifte den schweren Rucksack von ihren Schultern und gab sich der Illusion hin, dass es Lasten gab, die man ablegen konnte.

3

Jarnos Atem kroch in ihr Ohr, obwohl er in dem Doppelbett so weit entfernt von ihr lag, wie es die Breite nur zuließ. Er war zittrig, sein Atem. Und zu unregelmäßig, um davon auszugehen, dass er bereits in den Schlaf geglitten war. Die Geräusche des Ozeans mischten sich unter das Heulen des Windes – Soundtracks einer Kulisse, die viel zu hell, beinahe schon überbelichtet war. Der weiße Spitzenvorhang schaffte es nicht, das Licht auszusperren, das selbst die Nacht nicht verscheuchen konnte. Polarsommer. Das Wort klang schön, irgendwie, fand Rifka. Romantisch fast – nicht nach dem stechenden Ziehen, das sich an ihr Herz klammerte wie die Häuser an dieses unberührte Landstück.

Mein Körper, dachte Rifka, hat sich verirrt. Jarno schien hier genau richtig zu sein. In den Farben, die auch jetzt um 23 Uhr noch durch das Fenster leuchteten, schien er sich wohlzufühlen wie nirgendwo sonst auf der Welt. Er hatte es nicht – dieses seltsame Gefühl, die Häuser würden erst eingefärbt, wenn man den Blick auf sie richtete. Vielleicht würde sie ihm erzählen, dass sie sie an Menschen erinnerten, die ihre fröhliche Fassade pflegten, damit niemand auf die Idee käme, ins gefährliche Innere zu blicken. Morgen vielleicht.

»Schläfst du schon?«

Jarno klang erschöpft. Vielleicht holte ihn die Traurigkeit über den Tod seines Großvaters nur in der Stille ein. Ja, dachte Rifka, das würde zu ihm passen.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Kann nicht.«

Rifka sah, wie er die Stirn in Wellen legte, genauso wie vor einer Stunde, als sie sich wortlos den Pyjama übergestreift hatte – obwohl sie doch sonst immer nackt schliefen. Sie sah sein geknicktes Gesicht vor ihrem inneren Auge, ganz deutlich. Dabei war der Polarsommer doch gar nicht nett genug, ihr seine Mimik offenzulegen.

»Warum nicht? Warum kannst du nicht schlafen?«, wollte er wissen.

Die Stille wurde lauter als die Wellenschläge, lauter auch als das Heulen des Windes. Die Welt da draußen hatte den Atem angehalten, um ihrem Gespräch zu lauschen.

»Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, hierherzukommen, Jarno.« Sie schloss die Augen, vielleicht, weil sie Jarnos Reaktion so oder so nicht sehen konnte. Vielleicht, um ihre eigene Ungerechtigkeit nicht sehen zu müssen. Sie hatte dieser Reise selbst zugestimmt. Rifka schluckte Worte herunter, die sich gegen ihre Lippen drängten. Dann zählte sie die Sekunden – eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun –, bis sie endlich ein Geräusch vom anderen Ende des Bettes vernahm.

»Du hast ›okay‹ gesagt, ganz vergessen, Rifka?«

»Ich habe ›okay‹ gesagt und gehofft, dass du verstehst, dass es für mich nicht okay ist, an diesen kalten Ort zu kommen.« Fast hätte sie über ihre eigenen Worte gelacht. Augenblicklich wurde ihr heiß. Sie wusste nicht, warum sie die Bettdecke dennoch weiter hochzog. »Es ist dein Großvater, Jarno. Nicht meiner.«

»Es war.«

Dann wurde es wieder still. Der Wind lauschte nicht mehr; er rauschte. Rifka wünschte sich, Jarno könnte hören, was er da unablässig säuselte, sie wünschte, er hätte ein Gefühl für das Unhörbare und Unsichtbare. Hätte das Fenster offen gestanden, sie hätte es nicht geschlossen – in der Hoffnung, Jarno könne sie so besser wahrnehmen; die Worte, die jetzt von draußen durch die Hauswände krochen.

»Gute Nacht.« Mehr als ein schwaches Flüstern waren Rifkas Worte nicht.

Schweigen.

»Gute Nacht.«

Ein Rascheln der Bettdecke.

Rifka erschrak über die Tatsache, dass sie sich nicht wünschte, Jarno würde gleich mit seiner Hand nach ihrem Körper tasten. Seine Fingerkuppen über ihren Oberarm fahren lassen, während sein Pfefferminzatem immer näher kam. Sie drehte sich um, auf die Seite, die zur Wand zeigte, hinter der vielleicht ein Pärchen schlief, das sich im Arm hielt, Küsse auf der weichen Haut des jeweils anderen verteilte und in die helle Dunkelheit grinste. Sie konnte die runden roten Kreise der Kirschmotive vor sich tanzen sehen, sie verschwammen, verwandelten sich in Gesichter.

Ida und Jarno.

Jarno, der Ida ein geheimes Lächeln zuwirft.

Ida, die zurücklächelt.

Rifka kniff die Augen zusammen, zwängte die Bilder zwischen ihren schweren Lidern ein. Sollten sie dort einen Quetsch-Tod erleiden.

»Hab ich was Falsches gesagt? Etwas Falsches gemacht?« Die Enttäuschung klebte an Jarnos Worten.

»Nein.«

»In den letzten Stunden, eigentlich seit wir dieses Haus betreten haben, bist du ganz anders als sonst. Davor hatte ich sogar noch das Gefühl, du wärst mir fast dankbar, dich aus deiner schwarzen Höhle gezerrt zu haben. Und jetzt ...« Er stockte. Seine Stimme, zuerst nur ein Flüstern, wurde immer lauter. Nun senkte sie sich wieder: »Und jetzt bist du innerhalb weniger Minuten noch tiefer hineingesunken. In was auch immer.«

Waren ihre Gedanken nicht anstrengend genug, um schnell in den Schlaf zu fallen?

»Rifka, du musst mit mir reden!«

Sie redete nicht mit ihm. Sie bat ihren Körper, sie in den Schlaf zu ziehen, in einen tiefen, aus dem sie niemals mehr erwachen würde.

»Rifka?«

Ich schlafe.

»Rifka?«

Ich schlafe.

»Rifka?«

Ich schlafe.

Das schlechte Gewissen war das letzte Gefühl, das es in ihr Herz schaffte. Wie einen ertrinkenden Körper zog sie der Schlaf von diesen kalten Inseln, die so verdächtig versteckt im Arktischen Ozean schwammen.

Das Erste, das sie sah, als sie die Augen aufschlug, war die Gänsehaut auf ihren Armen. Kalte Luft traf sie. Sie stank, die Luft. Nicht nach Sätzen, die sie von dieser Insel vertreiben wollten, sondern nach Rauch. Erst als ihr Blick auf Jarnos nackten Rücken vor dem Fenster fiel und Rifka das glühende Etwas in seiner Hand sah, kam sie in der kalten Realität an: Sie saß hier fest, auf den Färöer Inseln. Mit ihrem Freund, der ihr versprochen hatte, mit dem Rauchen aufzuhören. Der dreckig-weiße Qualm, der ihn umgab, vermischte sich mit den Nebelschlieren, die sich über die bunten Häuser hinter dem Fenster legten. Jarno drehte sich um. Seine Locken hatten sich in alle möglichen Richtungen verirrt, sie standen ihm vom Kopf ab, sahen aus wie Arme, die sich nach ihr ausstrecken wollten.

»Wach?« Er wandte sich ab, ohne ihre Antwort abzuwarten.

»Ja.« Sie hatte gehofft, dass sie mit ihrem ruckartigen Aufsetzen einfach aus ihrem Kopf rutschen würde, die Frage. Aber das tat sie nicht. Sie schien sich an ihrem Körper ein Beispiel zu nehmen, setzte sich nur noch aufrechter hin ... »Wieso rauchst du?«

Der Geruch von gebrochenem Vertrauen stieg ihr in die Nase. Schon einmal hatte Jarno versprochen, die Zigaretten Zigaretten sein zu lassen. In einem gemeinsamen Ritual hatten sie die letzte Packung verbrannt. Während die Flammen vor ihnen getanzt hatten, hatte er sie zu sich herangezogen, seine Lippen zu einem sanften Grinsen verbogen und ihr dann einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Die Flammen hatten Muster auf sein kantiges Gesicht gezaubert und seine blauen Augen aufleuchten lassen. Das Feuer, das Licht in die Dunkelheit gebracht hatte, hatte Rifka in ihrem Innern gespürt. Nie wieder, Rifka, das verspreche ich dir! Noch jetzt konnte sie die Worte hören. Doch nicht mal zwei Wochen danach hatte sie Jarno beim Rauchen erwischt. Er hatte ihr versichert, dass es bei der einen Zigarette bleiben würde. Er hatte es versprochen.

»Wieso?«, hakte Rifka nach.

»Ich brauche das gerade.«

Der Wind ließ seine Strähnen auf- und abbeben. Sie waren jetzt keine sich ausstreckenden Arme mehr, sondern Fasern eines unangenehm flatternden Herzens. Ein Rabe schickte seinen Schrei durch das offene Fenster. Rifka war diejenige, die schrie. Und brachte doch kein Wort heraus.

»Hast du Hunger?«

»Ja, schon.«

»Dann kannst du frühstücken gehen. Ich habe schon was gegessen. Hab dich ja nicht wach kriegen können.«

Der kleine feine Riss in ihrem Herzen wurde ein wenig größer.

»Du bist alleine gegangen?«

»Ja.«

»Warum?«

Mit jeder weiteren Sekunde, die er an dem Ding in seiner Hand zog, wurde die Luft kälter.

»Ist es nicht das, was du willst? Allein sein?«

Man konnte sie nicht sehen – sein Körper bewegte sich nicht –, aber Rifka konnte sie trotzdem spüren, die Überlegung, sich zu ihr umzudrehen.

»Rifka?«

»Ich wollte nie allein sein, Jarno. Und das weißt du ganz genau.«

»Das wärst du aber gewesen, Rifka, wenn ich ohne dich hierhergekommen wäre.«

Er hatte recht. Sie nickte nur, weil sie genau wusste, dass er es nicht sah. Dann zog sie sich die Decke über die Beine, immer weiter bis zum Hals. Es wurde einige Grade kälter – und das, obwohl Jarno gerade dabei war, das Fenster zu schließen.

Sein Mundwinkel zog sich kurz hoch, als er ihr einen flüchtigen Blick zuschmiss, dann stürzte er wieder in die Tiefe; Jarnos Mundwinkel, die ihr an ihm als erstes aufgefallen waren, weil sie dafür gemacht zu sein schienen, zu lachen. Immer. Wenn er glücklich war. Wenn er verlegen war. Und manchmal auch, wenn er seine Trauer überspielen wollte. Nur jetzt nicht. Jetzt hing an ihnen die Schwere ihres Charakters.

Rifka klebte ihren Blick auf Jarno, in der Hoffnung, er würde sich noch einmal umdrehen, ihr in die Augen blicken. Doch dann verschluckte ihn die helle Holztür und die einzigen Augen, die sie trafen, waren die vorwurfsvollen des Holzes. Rifka war allein. So wie sie es immer gewollt hatte. Wenn man Jarno Glauben schenken wollte. Aber so war es nicht.

Sie kletterte aus dem Bett – ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei – und öffnete wieder das Fenster, um den unangenehmen Geruch zu vertreiben. Lieber sollte der Nebel durch das Fenster steigen, der Nebel, der die Farben farblos machte und die heuchlerische Gemütlichkeit im Landhausstil aus diesem Zimmer verdecken könnte. Fragen schoben sich in ihren vernebelten Kopf: Wo ist Jarno jetzt?, war bloß eine davon.

Rifka hatte einen Anlass, das Zimmer zu verlassen. Sonst hätte sie die Tür sicherlich nicht geöffnet, bis Ida klopfen würde, um zu fragen, ob sie denn nicht hungrig wäre. Ihr Gesicht ließ Rifka nicht los – die großen grünen Augen, die nordische Stupsnase, die vollen roten Wangen, in ihrer Leuchtkraft nur noch von dem natürlichen Rot der Lippen übertroffen, die sich beim Lachen so hoch schwangen, dass ihre Wangen nicht nur voller wurden, sondern auch kleine, kaum sichtbare Grübchen bildeten. Dann ihre Lachfalten, Spritzer der Zuneigung, die kontrastierten mit der Unruhe, die der Gedanke an sie in Rifka auslöste. Rifka entschied, Ida nicht zu mögen. Sie krallte ihre Nägel fest in die Haut des Kulturbeutels. Und erschrak über den Gedanken, der sie verfolgte und ihre Schritte in dem fremden Flur begleitete: Wäre es doch ihre Haut.

Das fremde Haus atmete Stille. Zwei Türen von ihr entfernt sah sie es dann, das Schild mit der Aufschrift »Bathroom«, das an einer Kordel hing und gleich einer Provokation freudig hin- und herwippte. Die leicht ungelenken Buchstaben waren unterschiedlich groß und schienen zum Wortende immer größer zu werden. Die Pinselstriche sahen aus, als wären sie mehrmals nachgezogen worden und dabei immer ein wenig abgerutscht. Wie von einer Kinderhand geschrieben.

Rifka schloss ihre Hand um die Türklinke zum Badezimmer, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Vielleicht würde Jarno gleich vor dem Waschbecken stehen und seinen Mundwinkel grinsend hochziehen, während die Zahncreme wie eine sich verirrte weiße Lachträne aus seinem Mund rann. Diese Vorstellung zog an ihren Mundwinkeln. Die Hoffnung, er würde hinter der Tür stehen und nur darauf warten, sie zu umarmen, gab ihr Kraft, die Türklinke hinunterzudrücken. Sie trat über die Türschwelle. Natürlich war er nicht da. Das Badezimmer war leer. Toilette, Waschbecken und Dusche umzingelten Rifka und wurden Zeugen ihrer Enttäuschung: Kein Jarno. Sie drehte Dusche und Toilette den Rücken zu und sah dem Nebel vor dem Fenster dabei zu, wie er eine feine, löchrige Decke webte in der Landschaft, und Farben verschwanden.

Als die Borsten ihre Zähne kitzelten, stellte sie sich vor, dass es Abend wäre. Die Helligkeit vor dem Fenster stellte ihr kein Beinchen. Polarsommer. Sich zu denken, dass sie den Tag schon überlebt hatte – mit seiner Angst, seiner Kälte, seinem Wind und dem Meeresrauschen, das ihrem Gedankenrauschen so ähnelte –, tat ungeahnt gut. Ihre Knöchel traten um die Zahnbürste weiß hervor. Sie putzte, putzte, putzte, putzte, doch der Belag aus Angst und fehlendem Vertrauen auf ihrer Seele konnte nicht mit Zahncreme vertrieben werden.

4

Stufe eins:Er sitzt schon im Frühstücksraum.

Stufe zwei: Ich sehe ihn gleich.

Stufe drei: Er sitzt schon im Frühstücksraum.

Stufe vier: Ich sehe ihn gleich.

Wie ein Mantra wechselten sich diese beiden Sätze ab.

Sie musste das Lächeln üben, das sie Ida zuwerfen würde, sobald sie sie am Ende der Treppe empfangen würde. Doch da war niemand. Keine Ida. Auch kein Jarno. Stattdessen lehnte am Ende des Geländers ganz lässig die Frage, warum sie sich nicht gegen diese Reise entschieden hatte.

Im Frühstücksraum würde Ida sie fragen, wo sie Jarno gelassen habe – und ihre Antwort würde nicht mehr sein als ein müdes Schulterzucken. Rifka ließ ihren Blick durch den leeren Flur huschen. Hier sah und hörte man keine Seele. Ob sie wohl die einzigen Gäste waren? In einem 34-Seelen-Dörfchen wäre das nicht weiter verwunderlich. Rifka schluckte. Doch die Anspannung blieb ihr im Hals hängen, vergrößerte den Kloß, der sich zu bilden angefangen hatte, als Jarno ihr vom Tod seines Großvaters erzählt hatte.

»Er hat sich umgebracht.«

Seine Miene ist dunkler als der Himmel, an dem sich düstere Gewitterwolken abzeichnen.

»Wer hat sich umgebracht?«

Meine Stimme klingt zu harsch für die Verzweiflung, so greifbar in seinem Gesicht. Ich will sie von ihm reißen wie die durchnässten Klamotten, die auf das Pflaster vor der Haustür weinen. Das ist nicht Jarno. Jarno lacht jedes Mal ganz breit, wenn er mich sieht. Ich kann nicht erkennen, ob sie aus Regen oder Tränen bestehen, die nassen Schlieren auf seinem Gesicht.

»Komm rein.«

Er reagiert verzögert. Ich drücke Jarno, trotz Nässe, so fest an mich, dass sich eine Pfütze auf dem Parkett bildet.

»Mein Großvater ...« Er sieht mich an, dann zur Seite. Jetzt sehe ich sie – die Träne, die aus seinem Auge rennt, flüchtet vor seiner Traurigkeit. »Mein Großvater ist tot. Wir können ihn jetzt nicht mehr besuchen, Rifka.«

Ich verkneife mir die Worte, die sich in meinem Kopf bilden: dass ich so oder so niemals mit ihm auf diese seltsame Inselgruppe gekommen wäre. Seine Augen sehen mich an; fest. Selbst das helle Blau scheint sich dem Gewitterhimmel angepasst zu haben. Es gleicht jetzt mehr einem trüben Grau – Nebelschlieren, hinter denen man blaues Wasser ausmachen kann, irgendwo weit in der Ferne.

»Er wohnte ja allein. Er hat sich mit einer Medikamentenüberdosis das Leben genommen.«

Jarno so zu sehen, ist, als hätte sich ein klarer Sommerhimmel in einem einzigen Augenblick in ein Meer aus dunklen Wolken verwandelt.

»Scheiße!« Er schlägt die Hände vor sein Gesicht.

Ich spüre die Nässe nicht, die meinen Pullover schwerer macht, als ich ihn an mich drücke. Seine lockigen Strähnen sind zu schlapp, um meinen Hals so liebevoll zu kitzeln, wie sie es sonst immer tun.

»Er hat sich das Leben genommen. Was für eine Scheiße!«

Ich schließe die Augen, vor dem, was passiert ist.

Sie schloss die Augen vor dem, was dort in ihrer Erinnerung passierte. Als sie sie wieder öffnete, war der Flur immer noch leer. Leises Geschirrklappern drang an Rifkas Ohr. Schritte ertönten – Jarnos? Sie konnte nicht ausmachen hinter welcher Tür. Unwillkürlich stellte sie sich ein wenig aufrechter hin. Genauso wie Jarno es gestern getan hatte, als die Bewunderung in seinem Gesicht aufgesprungen war. Die Bewunderung für Ida.

Es war die erste Tür links von der Treppe, die sich öffnete. Idas Augen wurden so groß wie gestern bei ihrer Ankunft. Das Lächeln auf Rifkas Gesicht fühlte sich nicht richtig an und sie fragte sich, ob es sich auf Idas Gesicht immer richtig anfühlte.

»Weißt du, ob Jarno schon gefrühstückt hat?«

Ida, die dabei war, ein Spültuch in eine Tasse zu stopfen, hielt inne.

»Ja, vor etwa drei Stunden. Ich hatte mich schon gewundert, dass er allein kam. Aber dann dachte ich mir, dass er dich wahrscheinlich ausschlafen lassen will. Und später einfach noch einmal mit dir runterkommt.«

»Danke.«

Langsam versuchte sich ihr Körper zurück auf die Stufe nach oben zu schleichen.

»Komm her.« Idas Augen wurden enger, dann wieder groß. »Ich wollte zwar gerade abräumen ...«

Das Geländer schloss sich warm um Rifkas Handfläche.

»Ich mache dir noch was. Magst du Rührei?«

»Nein, wirklich sehr nett, aber ich habe gar keinen Hunger.«

Die Art, wie Ida den Kopf schief legte, erinnerte sie an den Blick, den Jarnos Mutter ihr gab, wenn sie bei seiner Familie Zuhause war. So als könnte sie auf diese Art und Weise besser erkennen, was es war, das Rifka hatte werden lassen, wie sie war. Das Grün in Idas Augen wurde vom Schwarz der Pupillen verdrängt, das sich ausbreitete wie Pech. Pupillen werden größer, wenn man jemanden anschaut, den man mag. Eine Ungereimtheit, sprang es Rifka in den Kopf, wie die Farben, die sie hier überall umhüllten, obwohl doch alles dunkel und schwarz sein müsste.

Vielleicht schrieb diese Inselgruppe ihre eigenen Regeln.

Vielleicht stand hier alles auf dem Kopf.

Vielleicht würde das erklären, warum er sich verhielt, wie er sich verhielt – ihr Freund, den erst der Tod eines geliebten Menschen aus der Ruhe bringen konnte.

»Hat er was gesagt?«

Ida hob die Schultern. Der Stoff ihres gelben Stoffpullovers küsste dabei den weißen Walflossen-Anhänger an ihrem Ohr.

»Wir haben uns ein wenig über das Wetter unterhalten. Ihr seid momentan die einzigen Gäste, daher wollte ich ihm beim Frühstücken ein bisschen Gesellschaft leisten. Ich entscheide immer spontan, ob ich mit den Gästen esse; wenn es zu viele sind, esse ich in der Küche, wenn jemand dort mutterseelenallein sitzt, geselle ich mich dazu. Vorausgesetzt natürlich, es ist so ein netter Mensch wie dein Freund.«

Ein netter Mensch wie dein Freund. Unwillkürlich fasste Rifka sich an die Stirn – da war die senkrechte Falte, die sich unter ihren Fingerkuppen direkt wieder glättete. Der Riss, der sich in ihrem Gesicht abzeichnete. Sie schluckte.

»Komm her. Ich zeige dir eben den Frühstücksraum. Für morgen.«

Rifka nickte und setzte sich in Bewegung. Obwohl sie am liebsten einfach stehengeblieben wäre wie eine Skulptur, an die niemand Erwartungen stellte.

Während ihre Beine Ida Richtung Tür folgten, rannten ihre Gedanken die Treppen hoch zum Bild der Robbenfrau. Rifka trat über die Türschwelle und schluckte, bis ihr Mund trocken war. Ihr Blick wanderte durch den kleinen Raum, der ihrem Zimmer in seinem Stil ähnelte. Weiß und Rot schienen Idas Lieblingsfarben zu sein. Über den runden Tisch spannte sich ein weiß-rot-kariertes Tischtuch, auf dem ein Kaffeefleck glänzte. Ein Lappen lag auf dem Tisch, zusammengesunken.

»Dein Freund hat ein ganz schönes Chaos hinterlassen.«

In dir?, wollte Rifka fragen, presste ihre Lippen aber vorsichtshalber fest zusammen. Sie hörte Idas Ja, ohne ihr diese Frage gestellt zu haben. Sie musste den Impuls unterdrücken, das Fenster neben dem Tisch aufzureißen, hinauszusteigen und Jarnos Namen in den dichter und dichter werdenden Nebel zu schreien.

»Setz dich, Rifka.«

»Nein, danke, danke.«

Idas Dutt wackelte, während sie nickte, kräftig, als hätte sie jetzt endlich verstanden. Dass sie nicht hungrig war. Dass sie allein sein wollte. Dass sie Jarno suchen musste ... Nein, das würde sie nicht tun. Rifka war ihm schon einmal zu viel gefolgt, hierher auf diesen kalten Fleck Erde. Ich war, dachte sie, als ihr Blick auf das von einer Kinderhand gezeichnete Bild an der Wand fiel, genau wie diese Robbe. Der Rahmen aus Holz schloss das Bild eines Jägers in dicker Fellkleidung ein, der eine erlegte Robbe an einem Band hinter sich her zog.

»Die Bilder hat meine Tochter gemalt.«

Stolz glänzte in Idas Augen. Rifka nickte.

Nein, sie würde Jarno nicht suchen.

»Ich esse doch was.«

Idas Hände klatschten ineinander, füllten das von Stille durchtränkte Haus. Hatte der Wind endlich aufgegeben? Verstanden, dass sie bleiben müsste – egal, was er sagte?

»Super!« Idas Augen funkelten, wurden groß und grün und schön. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Rifka zu Jarno, zu einem Mann, der ihre weiblichen Reize aufsog. Ihr Blick fiel in die Aussparung, die ihr Pullover auf Brusthöhe schnitt. Ida lächelte jetzt nicht Rifka an, sondern Jarno. Doch ihr wurde nicht warm, sondern kalt. Ihre Arme verschränkten sich vor ihrer Brust.

»Ist Rührei mit Toast in Ordnung? Oder gibt es Extrawünsche?«

»Das ist in Ordnung.«

Alles war in Ordnung, was sie davon abhielt, nach Jarno zu sehen.

Die Stuhlbeine beschwerten sich, knarzten, als Rifka sie über das dunkle Parkett schob. Sie ließ sich auf das Stuhlkissen fallen, starrte die Tür an, hinter der Ida soeben verschwunden war. Der Raum war gar nicht leer. Zwar war Jarno nicht hier und auch Ida nicht, aber ihre Gedanken saßen neben ihr. Sie füllten die übrigen Plätze an dem Tisch und verlangten, dass sie sie fütterte.

Rifka wandte den Blick ab. Draußen schoben sich die grauen Schlieren vor wie Handflächen, sich hilfesuchend gegen die Scheibe pressend. Verdeckte der Nebel nun alle Spuren von Jarno, die Rifka hätte sehen können?

»Ich wette, er kommt gleich wieder.«

Sie zuckte zusammen. Idas Worte und ihre plötzliche Nähe zu ihr durchschnitten Rifkas Gedanken. Sie hatte nicht mitbekommen, wie sie durch die Tür getreten war, nicht gesehen, wie sie mit dem Teller in der Hand die Schwelle zum Frühstücksraum überschritten hatte.

»Danke.«

Zwei Toasts und ein Berg Rührei lagen auf dem Teller, den Ida vor ihr abstellte. Rifka setzte sich aufrecht hin und lächelte ein falsches Lächeln. Sie versuchte, Ida in die Augen zu sehen und nicht den Gedanken und Fragen, die so gierig um ihre Aufmerksamkeit buhlten.

»Trinkst du Kaffee oder Tee?«

»Kaffee«, antwortete Rifka. »Am liebsten ganz stark«, rutschte es über ihre Lippen.

Die Grube in Idas linker Wange bildete sich wieder, sie war unschwer zu übersehen. Alles an ihr war unschwer zu übersehen.

Rifka schluckte die Gedanken gemeinsam mit dem Toast-Ei-Gemisch herunter. Als Ida mit der Tasse Kaffee wiederkam, hatte sie zum ersten Mal in ihrer Gegenwart das Gefühl, wirklich ein echtes Lachen über ihre Lippen schicken zu können.

»Vielen Dank. Das ist nett.«

»Lass es dir schmecken.«

Idas Wangen glühten. Rifka wünschte, sie hätte ihre unsichtbaren Mitreisenden angesehen. Und nicht ihre Gastgeberin. Dann hätte sie nicht bemerkt, wie Idas Hand auf der Stuhllehne ihr gegenüber kurz gezögert hatte. Da lag ein Bleiben oder gehen? in Idas Bewegungen. Irgendjemand – wer war es nochmal? – hatte Rifka einmal gesagt, das Schöne an ihr war, dass man bei ihr nicht lügen konnte. Weil sie jedes Detail, jede Regung in der Mimik bemerkte. Und das, was sie verriet. Dieser Jemand hatte sich getäuscht.

Dann drehte Ida sich um. Rifka war kein netter Mensch wie Jarno. Kein Mensch, dem man, egal wie mutterseelenallein er war, Beistand leistete. Ida hatte nicht vor, bei ihr zu bleiben, so wie sie bei Jarno geblieben war. Rifkas Knöchel traten weiß hervor, als sie das Rührei mit der Gabel auf den Toast schob.

Ein netter Mensch wie dein Freund.

Ein netter Mensch wie dein Freund.

Ein netter Mensch wie dein Freund.

Durch den Nebel sickerten jetzt langsam, ganz langsam Farben. Doch nirgendwo dort draußen konnte Rifka zwischen den bunten Bauten mit ihren riesigen Glas-Scheiben-Augen einen blonden Lockenkopf erkennen. Etwas zupfte an ihren Mundwinkeln – eine unsichtbare Hand, die ihr heimlich nähergekommen war.

»Schön, dich lächeln zu sehen.«

Rifkas Blick löste sich vom Nebel. Wie lange saß Ida schon vor ihr, ihre roten Hände eine Tasse mit färöischen Worten umarmend? Wann hatte sie für sich entschieden, dass Rifka doch ein netter Mensch war? Ida hob die Tasse an und setzte sie an die Lippen. Ihre Augen waren der einzige Teil ihres Gesichts, der nicht zensiert wurde. Sie kniffen sich zusammen, kaum merklich.

»Ich frage mich nur, wo Jarno ist.«

»Deswegen lachst du?«

»Vielleicht freue ich mich einfach nur, dass ich ihm diesmal nicht hinterhergelaufen bin.«

Idas Fingernägel stießen gegen das Porzellan.

»Du willst nicht hier sein. Kann das sein?«

Idas Augen wurden zu einer Hand, die in Rifkas Gesicht tastete, wühlte, als würde sie dort, irgendwo in den Falten ihrer Mimik, einen versteckten Eingang zu ihrer Seele finden.

»Nein.«

»Hat er dich gezwungen?«

»Nein.«

»Warum bist du dann hier?«

»Ich konnte ihn nicht allein reisen lassen. Der Tod seines Großvaters hat ihm das Herz aus dem Körper gerissen. Er überspielt viel.«

Einen Moment lang glaubte Rifka, einen wässrigen Schimmer im Grün ihrer Augen schwimmen zu sehen. Als sie zwinkerte, war er plötzlich weg.

»Du bist einer der Menschen, die sich selbst vergessen, richtig?«

Als Ida die Tasse anhob, legte sich ihr Blick nicht auf Rifka, sondern fiel ins Kaffeeschwarz.

»Ich glaube nicht.«

Lange schwieg Ida. »Ich glaube schon.« Sie hob eine Augenbraue an. Und als sie fiel, breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus, das aus dem Augenwinkel betrachtet gar nicht so breit aussah, als es eigentlich war. Mit jeder Sekunde, die ihr Lächeln in Rifka überlebte, schien es ihr weniger abwegig, dass Rifka sich Jarnos bewundernden Blick gestern nur eingebildet hatte. Sie musste sich nur vorstellen, dass Jarno dort im Türrahmen stand und schon sah sie es wieder – das leuchtende Band, das sich von Ida zu ihm spannte, so grell, dass es in den Augen schmerzte.

»Jarno hat mir von seinem Großvater erzählt. Seinem plötzlichen Tod. Und von euch beiden. Er sagt, du kannst dich schwer auf Neues einlassen.«

»Was hat er dir noch erzählt?«

Das Lächeln rutschte von Idas Lippen. »Nicht viel. Hauptsächlich haben wir eben über seinen Großvater gesprochen. Dein Freund hat sich ja wohl schon immer für seine Wurzeln interessiert, wollte mehr wissen über sich und daher hat es ihn jetzt hierher verschlagen. Finde ich interessant!«

Rifka setzte den Kaffee ab. Das Wellen schlagende Kaffeemeer schwappte beinahe über den Tassenrand.

»Mir hat er etwas anderes erzählt.« Seltsam klang ihre Stimme jetzt, wie von weit, weit weg. »Er hat mir erzählt, er wollte hierher, weil ihm dieses Dörfchen so gut gefällt. Und weil er möchte, dass ich das authentische färöische Leben kennenlerne.«

Wann würde sie endlich aufwachen, Jarnos Hände auf ihrem Körper spüren? Sein verschlafenes, glückliches Grinsen vor sich sehen und sich beim Gedanken an ihre wirren Träume davon anstecken lassen?

»Dann hat er dir vielleicht etwas verschwiegen.«

Lange wartete Rifka auf Idas Lachen. Aber es kam nicht.

5

Ein kleiner Teil von ihr hatte gedacht, Jarno würde auf dem Bett sitzen, aufstehen und die Arme ausbreiten, sobald sie durch die Tür in die heuchlerische Gemütlichkeit im Landhausstil treten würde. Dieser Teil hatte gedacht, er würde sie umschlingen mit den Armen der Realität, während die Traumlasten zwischen ihren Körpern zerquetscht wurden. Aber diesem Teil fiel auch auf, dass Rifka dafür erst mal hätte aufwachen müssen. Doch das tat sie nicht. Seit den beklemmenden Minuten im Frühstücksraum mit Ida hatte sich nichts verändert.

Sie war wach.

Der größte Teil in ihr hatte jedoch damit gerechnet, dass ihr Zimmer leer sein würde. Und der größte Teil in ihr hatte recht. »Jarno?«, rief sie in die Leere des Raumes. Stille war die Antwort. Beinahe war sie dankbar für die Schritte, die jetzt von unten an ihr Ohr drangen; das unruhige Klappern von Porzellan an Porzellan, das sich unter das Geräusch von laufendem Wasser mischte. »Jarno?«, fragte sie erneut. Wut durchfloss sie, doch die schaffte es nicht bis in ihre Stimme, die zu einem schwachen, kaum hörbaren Flüstern geworden war. Sie duckte sich vor den Machenschaften der Realität. Erst als Rifka sich wieder umdrehen wollte, sah sie es – sein Handy, das seelenruhig und allein auf dem Nachttisch lag.

Ihre Hand zitterte, als sie sich danach streckte. Das Gerät lag schwer in ihrer Hand, als sie die vier ihr so bekannten Ziffern von Jarnos Handycode eintippte, um es zu entsperren. 13:11 informierten sie die großen weißen Ziffern, die dem Hintergrundbild beinahe die Aufmerksamkeit stahlen: Jarno, der breit in die Kamera lächelte, eine Bierflasche in der Hand. Daneben Rifka, die Augen leicht zusammengekniffen, einen Kranz aus Gänseblümchen im offenen Haar. Das Orange-Braun ihrer Augen ließ an Rost denken, der sich hartnäckig auf ihre Iris gelegt hatte. Der Wunsch, durch das Display zu greifen und sich die Blumenschlange vom Kopf zu reißen, hielt sich nicht lang. Zu schnell wurden Rifkas Augen abgelenkt – da war eine leuchtende Eins unter dem SMS-Icon. Nicht nur ihre Finger zitterten, auch ihr Herz begann zu vibrieren. Rifkas Fingerkuppe näherte sich der aufdringlichen Eins, drückte sie, noch bevor sie ihr den Befehl dazu erteilt hatte. Sie erschrak. Sie hatte einfach gedrückt. Ein Textfenster öffnete sich, nahm die gesamte Fläche des Displays jetzt ein wie die Gewissensstiche ihr Herz. Es ist nur ein Traum, sagte sie sich.

Wer war Gunille?

Rifka schloss die Augen. Eine Kopie des Textfensters sprang vor ihrem inneren Auge auf und ab, eine quirlige Aufforderung, die Lider wieder zu öffnen. Zu lesen, was dort auf Englisch stand:

Guten Morgen, Gunille! Ist es okay für dich, wenn ich in ein paar Minuten bei dir vorbeikomme? Ich freue mich, dich nach all den Anrufen endlich kennenzulernen.

Rifka zwinkerte. Las noch einmal.

Wer war Gunille?

Die Nachricht von Jarno an Gunille stammte von heute – 9:32 Uhr.