Sehnsucht nach dem ersten Kuss - Barbara Cartland - E-Book

Sehnsucht nach dem ersten Kuss E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Sheila ist auf der Suche nach ihrem Vater, einem Archäologen, der in Ägypten nach den Schätzen der Pharaonen gräbt. Ihr Onkel, bei dem sie während seiner Abwesenheit wohnt, möchte sie mit dem lüsternen Lord Stroud verheiratet. Also entschließt sich Sheila zu fliehen. Gleich zu Beginn ihrer Flucht trifft sie auf den Marquis von Linwood. Er selbst ist auf der Flucht vor einem Skandal. Wie der Marquis und Sheila zusammen über die Weltmeere segeln und schließlich das Geheimnis des Verschwindens von Sheilas Vater lösen, steht im Mittelpunkt dieser Barbara Cartland Geschichte.

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Sehnsucht nach dem ersten Kuß

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2015

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

1 ~ 1853

„Es ist spät, ich muß gehen.“

Der Marquis drehte sich zur Seite und wollte aufstehen.

Inez Shangerry stieß einen kleinen Protestschrei aus.

„Nein, Osborne, bitte nicht. Du darfst noch nicht gehen. Bleib doch noch.“

Der Marquis machte sich aus ihrer Umarmung frei, stand auf und sammelte seine Kleider zusammen.

Lady Shangerry sank auf das Kissen zurück. Ihre dunklen Haare schmiegten sich um die nackten Schultern.

„Du kannst mich nicht allein lassen“, sagte sie. „Es ist noch früh und wir haben doch nur so wenige Abende zusammen.“

In ihren Augen lag ein Glühen, ihr Mund schmollte.

„Du bist sehr verführerisch, Inez“, antwortete der Marquis, ging zur Frisierkommode und nahm seine Krawatte.

„Ich will verführerisch sein, weil ich in deinen Armen liegen will, das weißt du auch“, sagte Lady Shangerry mit ihrer tiefen, einschmeichelnden Stimme. „Wenn es doch nicht immer so kompliziert wäre! Wenn wir allein sind, bist du der attraktivste Mann und der glühendste Liebhaber, den eine Frau sich wünschen kann.“

Der Marquis band sich geschickt die Krawatte um, griff nach seinem Jackett und drehte sich zu dem seidenbezogenen Bett um.

„Ich fahre morgen aufs Land“, erklärte er. „Da ich früher aufbrechen will, brauche auch ich meinen Schlaf, wenn ich nicht übernächtigt aussehen will.“

„Das ist alles andere als ein Kompliment“, schmollte Inez Shangerry vorwurfsvoll. „Bleib doch noch, Osborne. Du kannst mir doch wenigstens noch ein paar Minuten deiner kostbaren Zeit widmen.“

„Bei den paar Minuten bleibt es bestimmt nicht“, meinte der Marquis lächelnd.

Den Verführungskünsten einer Lady Shangerry zu widerstehen, war nicht leicht. Sie stand in dem Ruf, die beste Figur von ganz London zu haben.

Selbst für Männer wie Rakes, Rones und den Marquis, die für ihren anspruchsvollen Geschmack berüchtigt waren, war Lady Shangerry der Inbegriff von Schönheit und Raffinesse.

Der Marquis wußte nur zu gut, daß er als wählerisch galt, er wußte aber ebenfalls, daß ihm jede Frau der Gesellschaft zu Füßen lag.

Den Avancen Lady Shangerrys hatte er lange Zeit zu widerstehen gewußt. Ihre Bemühungen um ihn und das Selbstvertrauen dieser Frau, die bisher noch alles bekommen hatte, woran ihr gelegen war, hatten ihn amüsiert.

Und als er schließlich nachgegeben hatte, dann lediglich aus einer Art Neugier.

Jetzt jedoch, da sie ihn absolut nicht gehen lassen wollte, fragte er sich, ob es nicht an der Zeit war, die Liaison zu beenden, denn auch der Marquis war daran gewöhnt, daß alles nach seinem Kopf ging.

Er war bekannt dafür, in seinen Liebesaffären skrupellos bis zum letzten zu sein.

Er zog es vor, selbst den Verführer zu spielen, aber leider dauerte das Spiel nie lange an, denn die Frauen gaben sich ihm zu schnell hin.

Und wenn sie sich ihm hingegeben hatten, dann dauerte es nicht lange, bis sie sich an ihn hängten und Forderungen stellen wollten.

Mit seinen dreiunddreißig Jahren war der Marquis bisher allen Tricks, die zu einer Eheschließung führen sollten, erfolgreich ausgewichen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß es einfacher war, sich mit verheirateten Frauen abzugeben, die die Eintönigkeit ihres Alltags mit Liebhabern belebten.

Daß der Marquis von einer ganzen Reihe von Ehemännern aus tiefster Seele verabscheut und gehaßt wurde, versteht sich von selbst.

„Er braucht bloß auf einer Gesellschaft aufzutauchen“, hatte einmal jemand gesagt, „und der Blutdruck der Hälfte der männlichen Anwesenden steigt um das Doppelte.“

Obwohl man ihm schon die wildesten Drohungen ins Gesicht geschleudert hatte, hatte sich der Marquis jedoch bisher noch nie in flagranti ertappen lassen.

Er war so vorsichtig und so diskret, daß die Gerüchte über seine vielen Affären Gerüchte geblieben waren und niemand einen Beweis in der Hand hatte.

„Darling“, begann jetzt Inez Shangerry, „du bist der bestaussehendste Mann, den ich kenne.“

„Das freut mich, Inez“, entgegnete der Marquis, aber sein Ton war zynisch.

„Ehrlich“, gestand sie, „und deshalb möchte ich dich küssen. Komm - einen letzten Kuß kannst du mir nicht abschlagen.“

Sie hielt ihm die weißen Arme entgegen, aber der Marquis lachte und schüttelte den Kopf.

„Darauf falle ich nicht mehr herein, Inez“, sagte er.

Er wußte nur zu gut, wie es enden würde, wenn er sich über sie beugte und sie küßte. Und daß Inez beabsichtigte, ihn noch einmal schwach zu machen, war offensichtlich und daher für ihn ein Grund mehr, schnell zu gehen.

Sie ist unersättlich, dachte er.

Trotz der stürmischen, leidenschaftlichen Begegnung von eben schien Inez Shangerry nicht die Spur müde zu sein, während der Marquis durchaus eine Reaktion verspürte und das Zimmer, in dem noch der Geruch der Liebe zu spüren war, verlassen wollte.

In diesen Geruch mischte sich der Duft von Blumen und vor allem der Duft von Inez’ schwerem Parfüm, der jeweils noch lange in den Kleidern ihrer Liebhaber hing.

Sie ist ausnehmend hübsch, dachte der Marquis. Aber etwas fehlt.

Er hatte es schon immer empfunden, hatte es aber noch nie in Worte fassen können.

Lady Shangerry war geistreich und konnte den Marquis zum Lachen bringen. Den meisten Frauen ging dieses Talent ab, was Inez Shangerry noch mehr über die anderen erhob - aber der Marquis liebte sie nicht, und das war das Ausschlaggebende.

Wie bei allen Frauen bisher war sein Herz unberührt, und wieder einmal würde es ihm nichts ausmachen, die Affäre von einem Tag zum anderen abzubrechen.

„Ich muß wirklich gehen, Inez“, erklärte er. „Ich danke dir für den bezaubernden Abend. Ich hoffe, wir können bald wieder einmal zusammen dinieren.“

Er nahm ihre Hand und küßte sie.

Inez Shangerry hielt ihn fest.

„Küß mich, Osborne“, flüsterte sie. „Bleib noch einen Moment. Ich sehne mich nach dir - ich brauche dich. Du darfst nicht gehen.“

Ihre Stimme klang so leidenschaftlich und gleichzeitig so gebieterisch, daß der Marquis erstaunt hochsah.

Und genau im selben Augenblick hörte er ein Geräusch in der Halle unten. Nur ganz schwach war es in das Schlafzimmer Lady Shangerrys heraufgedrungen, aber der Marquis wußte, daß Inez es ebenfalls gehört hatte. Sie klammerte sich noch fester an ihn und erhob die Stimme.

„Ich liebe dich, Osborne“, gestand sie. „Küss mich. Bitte, küss mich.“

Der Marquis machte sich aus ihrer Umarmung frei und war mit zwei Schritten in dem Ankleidezimmer, das zwischen dem Schlafzimmer von Lady Shangerry und dem ihres Mannes lag.

Er zog die Vorhänge vom Fenster zurück.

Eine sternenklare Nacht. Nur ein paar Wolkenfetzen flogen über den mondhellen Himmel.

Der Marquis machte das Fenster auf und sah hinaus.

Ungefähr dreieinhalb Meter unter dem Fenster ein vorspringendes Dach. Ohne einen Moment zu zögern, stieg der Marquis aus dem Fenster, hielt sich am Sims fest und ließ den Körper vorsichtig nach unten gleiten, bis er an den gestreckten Armen hing. Er stieß sich mit einem Fuß an der Hausmauer ab und landete mit einem gekonnten Satz auf dem Dach.

Von hier aus kletterte er an der Dachrinne herunter und war einen Augenblick später auf der Straße.

Die Ärmel waren aus seinem Jackett gerissen, aber sein Schneider hatte wohl nicht ahnen können, daß ein Dinnerjacket gleichzeitig sportliche Übungen dieser Art aushalten mußte.

Die Schatten in der schmalen Straße waren dunkel. Der Marquis drückte sich in die Finsternis eines Stalltors und sah zu dem Fenster hinauf, durch das er eben geflohen war.

Er brauchte keine zehn Sekunden zu warten.

Der Kopf eines Mannes tauchte auf. Der Mann beugte sich aus dem Fenster und suchte das Dach ab, dann die Straße darunter.

Der Marquis hielt den Atem an. Er hatte Lord Shangerry sofort erkannt und wußte, daß er eben einer absichtlich gestellten Falle entgangen war.

Sein sechster Sinn hatte ihn wieder einmal vor einer höchst peinlichen Situation bewahrt. Er hatte irgendwie gleich gespürt, daß Inez’ Drängen übertrieben gewesen war.

Seit einiger Zeit hatte er schon den Verdacht gehabt, daß die unersättlichen Sehnsüchte Lady Shangerrys gefährlich für ihn werden konnten.

Wenn Lord Shangerry ihn und Inez in flagranti ertappt haben würde, hätte es nur zwei Möglichkeiten gegeben.

Lord Shangerry hätte sich entweder von Inez scheiden lassen, und diese hätte darauf bestanden, die Marquise von Linwood zu werden, denn die Gesellschaft hätte den Skandal nur dann vergessen, wenn er zu einer Eheschließung geführt hätte.

Oder, und diese Möglichkeit hielt der Marquis für die wahrscheinlichere, Lord Shangerry hätte eine stattliche Summe zur Linderung seiner gekränkten Gefühle und zur Aufrichtung seines verletzten Stolzes verlangt.

Je mehr der Marquis darüber nachdachte, desto überzeugter war er, daß Lady und Lord Shangerry ihn hatten in die Falle locken wollen.

Er erinnerte sich plötzlich daran, daß erst kürzlich jemand im Klub davon gesprochen hatte, wie sehr Lord Shangerry verschuldet war. Außerdem wußte der Marquis aus Bemerkungen, die Inez Shangerry hatte fallen lassen, daß die finanziellen Verhältnisse der Shangerrys im argen waren.

War unter diesen Umständen Erpressung - natürlich mit höchster Diskretion - nicht des Rätsels Lösung?

Die Shangerrys wußten, daß er sich nicht gerne in einen Skandal hineinziehen lassen würde und es sich leisten konnte, für seine Amouren zu bezahlen.

Ich Idiot, dachte der Marquis.

Lord Shangerry, um seine Beute gebracht, schlug wütend das Fenster zu.

„Der Teufel soll sie holen“, fluchte der Marquis mit zusammengebissenen Zähnen. „Alle miteinander. Ich hasse Frauen - ich habe sie schon immer gehaßt.“

Der Marquis war über seinen Ausbruch selbst erstaunt, aber es stimmte. Er haßte das weibliche Geschlecht.

Obwohl es ihm schmeichelte, sich immer wieder beweisen zu können, daß sich ihm die Frauen fast widerstandslos hingaben, hatte er noch nie eine Frau kennengelernt, deren Gesellschaft er der eines Mannes vorgezogen und deren Verlust er bedauert hätte.

So, wie sich Inez heute Abend benommen hatte, dachte er, so benehmen sie sich alle. Ohne Ausnahme.

Jetzt erst merkte er, wie sie sich ihm aufgedrängt hatte. Sie hatte alles getan, um ihn zu ihrem Geliebten zu machen, und er hatte sich einfangen lassen, weil die Männer in den höchsten Tönen von ihr sprachen und er sie deshalb begehrenswerter gefunden hatte, als sie es in Wirklichkeit war.

Im Grunde war sie auch nicht anders als die anderen Frauen, zu denen er Beziehungen unterhalten hatte. Sie war nichts Besonderes.

Genauso kopflos wie ein unerfahrener Jüngling war er gewesen und hätte sich fast in eine Situation bringen lassen, aus der er sich kaum hätte zurückziehen können, ohne Federn zu lassen - wie es so schön hieß.

„Der Teufel soll sie holen“, fluchte er. „Ihn und sie!“

Nachdem er sicher war, daß Lord Shangerry nicht mehr aus dem Fenster spähte, verließ der Marquis das Stalltor und ging durch die schmale Straße.

Er mußte an das Leben auf dem Lande denken und hatte plötzlich den dringenden Wunsch, London hinter sich zu lassen und weg zu sein von all dem Klatsch und den Intrigen, die ihm besonders auf die Nerven gingen.

Er war bereits ein gutes Stück gegangen, als er plötzlich stehen blieb und sich verfluchte. Er hatte zwar das Haus der Geliebten ungesehen verlassen, hatte aber etwas zurückgelassen - seinen Hut und seinen Umhang.

Erst als er im beißenden Januarwind zu frieren begann, waren ihm die beiden Kleidungsstücke eingefallen.

Lord Shangerry mußte sie in der Halle gefunden haben und besprach wahrscheinlich gerade mit Lady Shangerry, wie sie ihm daraus doch noch einen Strick drehen konnten.

Der Marquis knirschte wütend mit den Zähnen.

Warum, fragte er sich, war er nicht schon mißtrauisch geworden, als Inez Shangerry ihm gesagt hatte, ihr Mann verbringe den Abend außerhalb von London?

„Patrick besucht Freunde in Epsom“, hatte sie behauptet. „Er will sich ihre Pferde anschauen und kommt erst morgen zurück, weil es jetzt ja am Abend so früh dunkel wird.“

Es hatte plausibel geklungen, doch jetzt nicht mehr. Ein Mann, dem seine Frau nicht völlig egal war und der noch dazu wußte, wessen Gesellschaft diese Frau suchte, ließ sie nicht eine ganze Nacht allein.

Ich habe meinen eigenen Ruf unterschätzt, dachte er.

Sich jetzt Vorwürfe zu machen war müßig. Sein schwarzer Umhang mit dem roten Seidenfutter und der Hut lagen auf dem Mahagonistuhl in der Halle und daran war nichts zu ändern.

Als sie aus dem Restaurant gekommen waren, in dem sie in einem Séparée gegessen hatten, um nicht gesehen zu werden, hatte ihn Inez die Treppe hinaufgezogen und nicht wie sonst zu einem Glas Kognac aufgefordert, das natürlich in einem der Salons getrunken wurde.

Jetzt erinnerte er sich wieder genau daran.

„Laß deine Sachen einfach hier liegen“, hatte Inez Shangerry gesagt.

Und er hatte ganz automatisch Hut und Umhang abgenommen und auf den Stuhl gelegt.

Sie hatte ihn die Treppe hinaufgezogen, ihre Röcke hatten an dem Geländer gestreift, die Seide hatte geknistert, die Haut ihrer bloßen Schultern hatte im Schein der Gaslaternen wie Samt ausgesehen.

„Es geschieht mir recht“, sagte der Marquis zu sich selbst. „In meinem Alter und mit meiner Erfahrung müßte ich wissen, daß man niemandem trauen kann, schon gar nicht einer Frau.“

Doch alle Vorwürfe nützten nichts, erst recht nicht gegen die Kälte. Der Marquis ging schneller, bog um eine Ecke und marschierte weiter.

Ein paar Meter nach der Ecke schrak er zusammen, als etwas direkt vor seinen Füßen auf das Pflaster fiel. Um ein Haar hätte es ihn auf den Kopf getroffen.

Der Marquis traute seinen Augen nicht. Es war ein Koffer. Ein eleganter, teurer Koffer, wie ihn Damen auf Reisen mit sich zu führen pflegten.

Der Marquis hob den Kopf, um nachzusehen, wo der Koffer hergekommen war, und in dem Moment hörte er die Stimme.

„Hilfe! Hilfe!“

Und nun traute der Marquis seinen Augen erst recht nicht mehr. Genau über seinem Kopf hing eine Frau mit geblähten Röcken an einem Strick.

Es dauerte einen Moment, bis der Marquis begriffen hatte, daß der Strick zu kurz war und die Frau deshalb um Hilfe rief. Ihre Füße waren noch fast zwei Meter über dem Boden.

„Hilfe! Hilfe!“

Ohne zu überlegen, was er tat, griff der Marquis nach oben und packte die Frau an den Fesseln.

„Lassen Sie los“, sagte er. „Sie fallen schon nicht, ich fange Sie auf.“

Die Frau schien vollstes Vertrauen in seine Kräfte zu haben, denn er spürte, wie sie sich sofort nach unten beugte und die Hände auf seine Schultern legte. Langsam und vorsichtig ließ sie der Marquis nach unten gleiten, bis ihre Füße den Boden berührten und er sie an der Taille festhielt.

Erst jetzt merkte der Marquis, daß die Frau teuer gekleidet war. Sie trug ein seidenes Kleid, das nach Blumen duftete.

Der Marquis ließ die Frau los, und diese streifte sich die Röcke glatt und zog die Ärmel eines enganliegenden Jäckchens nach unten.

„Vielen Dank“, sagte sie. „Ich habe mir schon gedacht, daß das Seil zu kurz ist, aber ich mußte es riskieren.“

„Und was ist mit dem Herrn passiert, dem Sie auf so umständliche Weise entfliehen?“ fragte der Marquis und konnte sich ein zynisches Lächeln nicht verkneifen. „Er müßte doch langsam auch eintreffen.“

„Sie irren sich gewaltig!“ antwortete die Frau in recht scharfem Ton.

Jetzt erst, im Schein des Mondes, sah der Marquis, daß er keine Frau, sondern ein junges Mädchen vor sich hatte. Ein junges Mädchen mit einem schmalen Gesichtchen und riesengroßen Augen.

„Also kein Liebesdrama?“ fragte der Marquis.

„Allerdings nicht!“ entgegnete das Mädchen. „Wenn Sie es genau wissen wollen, ich hasse Männer. Jeden einzelnen!“

Der Marquis lachte.

Das Mädchen sah ihn erstaunt an.

„Genau dasselbe habe ich auch eben gedacht“, erklärte der Marquis. „Allerdings auf Frauen bezogen.“

Das Mädchen schien sich für seine Erklärung nicht zu interessieren. Es bückte sich und hob den Koffer auf.

Er war fast zu schwer, aber das Mädchen nahm beide Hände und mühte sich so ab, daß der Marquis schon wieder lächeln mußte.

„Falls Sie vorhaben, mutterseelenallein wegzulaufen“, sagte er, „würde ich es mir an Ihrer Stelle ein zweites Mal überlegen. Ohne jemanden, der sich um Sie kümmert, schaffen Sie es nie. Seien Sie also vernünftig und gehen Sie wieder zurück. Wahrscheinlich ist alles gar nicht so schlimm, wie es Ihnen im Moment vorkommt.“

„Zurückgehen?“ wiederholte das Mädchen. „Ich denke nicht daran!“

„Dann wird es wohl meine Pflicht sein, Sie dazu zu zwingen“, sagte der Marquis.

Das Mädchen stieß einen kleinen erschreckten Schrei aus und ließ den Koffer fallen. Bevor der Marquis wußte, was geschah, lief es die Straße entlang, wobei ihre Röcke hinterher flatterten.

„Bleiben Sie doch stehen!“ rief der Marquis. „Ich tue Ihnen doch nichts! Sie sollen stehen bleiben!“

Er nahm den Koffer und wollte gerade hinter dem Mädchen herlaufen, als am Ende der Straße jemand auftauchte und das Mädchen packte.

Das Mädchen stieß einen Angstschrei aus und wehrte sich verzweifelt gegen den Griff des alten, abgerissenen Mannes, der es jedoch nicht losließ.

Der Marquis kannte diese Typen. Sie trieben sich Tag und Nacht in den Straßen Londons herum und versuchten, sich hier und dort einen Penny zu verdienen.

„Ich hab sie, Mister!“ krächzte der Alte. „Ich hab sie!“

„Lassen Sie mich los!“ rief das Mädchen. „Wie können Sie es wagen, mich festzuhalten!“

„Loslassen!“ befahl der Marquis, als er keuchend neben den beiden stand.

Er zog eine Münze aus der Tasche und drückte sie dem Alten in die Hand.

„Und jetzt machen Sie, daß Sie weiterkommen!“ sagte er streng. „Aber schleunigst.“

Der Alte ließ es sich nicht zweimal sagen und schlich um die Ecke.

Das Mädchen rieb sich die Handgelenke, äußerte sich aber nicht zu dem Zwischenfall.

„Vor mir brauchen Sie nicht wegzulaufen“, sagte der Marquis. „Was Sie tun, geht mich nichts an, aber das eben dürfte Ihnen vielleicht Beweis genug sein, daß Sie nachts nicht allein durch die Straßen laufen können.“

„Ich hatte gehofft, daß ich gleich eine Mietdroschke finde.“

„Am Grosvenor Square stehen vielleicht welche“, erklärte der Marquis. „Das ist auch meine Richtung. Wenn Sie wollen, trage ich Ihnen den Koffer.“

„Vielen Dank“, sagte das Mädchen. „Vielleicht sind auch schon am Berkeley Square Droschken.“ Sie überlegte. „Ich bin noch nie in einer Droschke gefahren. Allein das schon wird spannend.“

„Falls Sie irgendwelche Abenteuer suchen“, meinte der Marquis, „dann hätten Sie sich vielleicht etwas anderes einfallen lassen sollen, als nachts in London herumzulaufen.“

„Ich tue es schließlich nicht zum Vergnügen“, wies das Mädchen in scharfem Ton zurück. „Ich muß fliehen, es bleibt mir nichts anderes übrig. Wenn ich bleibe ...“

Sie brach ab. Offensichtlich wollte sie dem Fremden gegenüber nicht zu vertrauensselig sein.

Schweigend gingen sie weiter.

Als sie am Carlos Place um die Ecke bogen, empfand der Marquis den Nachtwind als noch unangenehmer, zog den Kopf in die Schultern und merkte erst jetzt, daß das Mädchen auch keinen Umhang trug.

„Sie hätten etwas überziehen sollen“, bemerkte er.

„Ich habe einen Wollschal in meinem Koffer“, entgegnete das Mädchen. „Ein Umhang hätte mich bloß gestört.“

„Bei der Art, das Haus zu verlassen, allerdings“, sagte der Marquis.

„Wenn doch Tag und Nacht ein Diener in der Halle sitzt“, fuhr das Mädchen fort, als sei der Marquis besonders schwer von Begriff. „Und der Dienstboteneingang war mir auch zu gefährlich. Da hätte mich bestimmt jemand gehört.“

„Verständlich, daß Sie unter den Umständen aus dem Fenster gestiegen sind“, sagte der Marquis.

„Sie finden das vielleicht komisch“, ärgerte sich das Mädchen, „aber ich mußte mir das alles ganz genau überlegen, und als ich dachte, daß Sie meine ganzen Pläne über den Haufen werfen, da mußte ich vor Ihnen weglaufen - das werden Sie doch wenigstens einsehen.“

„Natürlich“, erwiderte der Marquis.

„Und jetzt brauche ich bloß noch eine Droschke.“

„Wo wollen Sie eigentlich hin?“ fragte der Marquis. „Nachts fährt niemand gern weit.“

„Nach Ägypten!“

„Nach Ägypten?“ fragte der Marquis, der glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

„Ich muß meinen Vater suchen.“

„Und Sie wollen allein nach Ägypten reisen?“

„Ich habe ja niemanden, der mich begleiten könnte“, erklärte das Mädchen. „Ich muß unbedingt den nächsten Zug nach Southampton erwischen. Wenn mein Onkel merkt, daß ich weg bin, muß ich schon unterwegs sein.“

Der Marquis sah das Mädchen kopfschüttelnd an, und während er das noch tat, fiel ihm seine eigene Situation wieder ein und in Verbindung damit eine eventuelle Lösung.

Seine Yacht lag in Southampton, und falls er London verlassen hatte, bevor Lord Shangerry ihn wegen des Hutes und des Umhangs zur Rede stellen konnte, war er vorerst gerettet.

Er verfolgte diesen Gedankengang und kam schnell zu dem Schluß, daß sich die Shangerrys ein neues Opfer für ihre Zahlungen suchen mußten, wenn er England erst einmal verlassen hatte.

Seine Rückkehr würden sie unter Garantie nicht abwarten können, denn die Gläubiger drängten, soviel man sich erzählte.

Genau das, dachte er triumphierend, werde ich tun.

Er würde mit seiner Yacht ins Mittelmeer segeln, und zwar gleich und nicht erst, wie beabsichtigt, in ein oder zwei Monaten.

Und niemand würde sich wundern. Die Jagdsaison war vorbei, und die Frage, warum er London verlassen hatte, würde gar nicht erst aufkommen.

Den Schlag hatte Inez Shangerry verdient. Mit allem rechnete sie wahrscheinlich, aber damit nicht.

„Jawohl“, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen, „das mache ich.“

„Sagten Sie etwas?“ fragte das Mädchen.

„Ja“, antwortete der Marquis. „Aber zu mir.“

Sie waren mittlerweile am Grosvenor Square angekommen, aber die Stelle, wo normalerweise die Droschken standen, war leer.

„Es scheint tatsächlich schon zu spät zu sein“, stellte das Mädchen neben ihm nervös fest.

„Offensichtlich“, bestätigte der Marquis, „aber ich kann Ihnen einen Vorschlag machen, der Ihnen vielleicht etwas nützt.“

„Nämlich?“ fragte das Mädchen.

„Ich beabsichtige ebenfalls, morgen zu früher Stunde London zu verlassen und muß auch nach Southampton. Ich muß mich bloß noch vergewissern, wann die Züge gehen.“

Vor seinem Haus angekommen, blieb der Marquis stehen.

„Die direkte Verbindung“, fuhr er fort, „geht von Nine Elms ab, das ist eine Station vor Champton Junction, aber das wissen Sie wahrscheinlich. Wenn Sie warten wollen, bis ich nachgesehen habe, wird Ihnen einer meiner Diener eine Droschke besorgen, die Sie dann zum Bahnhof bringt.“

„Warum kann ich denn nicht mit Ihnen fahren?“ fragte das Mädchen.

Der Marquis kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Das Mädchen merkte es und versuchte, den Fehler schnell wieder gutzumachen.

„Verzeihen Sie“, bat es bescheiden. „Das hätte ich nicht fragen sollen. Ich will mich Ihnen nicht aufdrängen.“

„Aber ich bitte Sie!“ sagte der Marquis und lachte. „Sie haben völlig recht. Ich muß Sie um Verzeihung bitten, ich hätte selbst daran denken müssen, aber man trifft so selten junge Damen, die nach Ägypten reisen wollen.“

„Ich bin es gewöhnt zu reisen“, trotzte das Mädchen. „Sie brauchen sich meinetwegen keine Gedanken zu machen.“

„Das tue ich auch nicht“, sagte der Marquis, „aber wenn Ihnen damit gedient ist, begleite ich Sie natürlich gern zur Bahn.“

Er ging zur Tür.

Der Blick des Mädchens glitt an dem großen, herrschaftlichen Haus hoch.

„Ich glaube“, sagte es, „ich sollte nicht mit Ihnen hineingehen.“

„Falls Sie Angst haben, daß es sich nicht schickt“, meinte der Marquis, „muß ich Ihnen gestehen, daß ich darin wenig Unterschied zu einer Flucht per Seil durch ein Fenster sehe. Und falls Sie Zweifel über meine Absichten hegen, darf ich nochmals betonen, daß ich Frauen hasse.“

„Und ich hasse Männer“, bestätigte das Mädchen und lächelte.