Sehnsuchtsort Heimat -  - E-Book

Sehnsuchtsort Heimat E-Book

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Beschreibung

Jeder hat eine. Manche behaupten sogar, sie hätten mehrere: Heimat. Wenn Sie das Wort "Heimat" sagen und die Augen schließen – was fällt Ihnen ein? Ihr Lieblingscafé um die Ecke, der heimische Kirchturm, Ihre Familie, Freunde, Erlebnisse aus Kindertagen und die Straßen der Stadt, durch die Sie mit Ihren Schulkameraden stromerten? Heimat lebt von Erinnerung. Sie hat Bilder, einen Klang, einen Geruch – und einen festen Platz im Herzen. Doch was ist eigentlich Heimat? Kann man mehr als eine Heimat haben? Wie entsteht dieses wohlige Gefühl von Heimat? Wie lange muss man an einem Ort wohnen, damit es sich einstellt? Und wie viel Fremde verträgt Heimat – kann sie mir auch entgleiten, obwohl ich gar nicht weggezogen bin? Kann man vielleicht auch ganz ohne Heimat leben, als globaler Weltenbürger? Heimat verändert sich. Das war schon immer so, heute umso mehr – in Zeiten, in denen die Welt zusammenwächst und Mobilität ein hohes Gut ist. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches erzählen davon, wie und wo sie Heimat gefunden haben und was Heimat ausmacht. Persönlich, vielstimmig, anregend. U.a. mit Beiträgen von: Düzen Tekkal - deutsche Fernsehjournalistin und Bundestagsabgeordnete aus einer kurdisch.jesidischen Familie Simon und Matthias Classen - zwei Brüder aus Wesel, die in Los Angeles ein Restaurant namens "Berlins" betreiben - das beliebteste Dönerrestaurant der Stadt Markus Söder - in Bayern nicht nur Finanzminister, sondern auch für Heimatschutz zuständig Gabriele Kosack - geboren als Missionarstochter in Indonesien, lebt heute als freie Autorin in Deutschland und Marokko Paul Wagner - Geschäftsführer einer Werbeagentur, der darüber nachdenkt, wie Werbung Heimat widerspiegelt bzw. wie man für Heimat Werbung macht Lisa Kaufmann - aus einer deutsch-ägyptischen Familie stammend, aufgewachsen in Leipzig, lebt jetzt als freie Autorin in Essen Manfred Kittel - ehemaliger Direktor der Stiftung Flucht und Vertreibung, der darüber schreibt, wie die Nationasozialisten den Heimatbegriff missbraucht haben Susanne Breit-Keßler - Regionalbischöfin in Bayern, zugewandert und aufgewachsen als unehelich geborene Evangelische im tiefsten Oberbayern

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MARTIN VORLÄNDER (HRSG.)

Sehnsuchtsort Heimat

INHALT

Cover

Titel

Impressum

MARTIN VORLÄNDER

Sehnsuchtsort Heimat

Vorwort

SUSANNE BREIT-KESSLER

Einigkeit und Recht und Freiheit

Heimat ist da, wo ich sein darf und wunderbarerweise genau dadurch Raum auch für andere ist

SIMON CLASSEN/MARTIN VORLÄNDER

Typisch deutsch

Zwei Weseler Jungs bringen „German Döner“ nach Kalifornien

ANDREA KARLSSON

Einwanderin im eigenen Land

Was Heimat für eine Weltenbummlerin bedeutet

DANIELA BOEHM/MARTIN VORLÄNDER

„Die sind wie meine Nachbarn“

Der Heimatfilm erlebt sein Comeback – zum Beispiel in der Fernsehserie „Dahoam is Dahaom“

HANS - JOACHIM BUSCH

Heimathafen

Über die Kunst, in mir selbst zu Hause zu sein

LISA KAUFMANN

Langstreckenläuferin

Eine Suche nach Heimat zwischen DDR-Familiengeschichte und einer Küche in Essen

Was ist Heimat?

Künstler aus Syrien diskutieren, wo sie wirklich hingehören

PAUL WAGNER

„Nicht nur sauber, sondern rein!“

Kann man mit Heimat Werbung machen?

DÜZEN TEKKAL/MARTIN VORLÄNDER

Die bösen Zwillinge

Religiöse Extremisten und Rechtspopulisten bedrohen Deutschland

MANFRED KITTEL

Kein schöner Land?

Auf der Suche nach der vergifteten, verlorenen und heilen Heimat

GABRIELE KOSACK

Eine Heimat, die es nicht gibt

Wenn man als Deutsche auf einer Insel im Indischen Ozean aufwächst, bleibt das Fremde vertraut und die eigene Herkunft fremd

MERON MENDEL

Raus mit der Sprache

hatslokhe u brokhe: Ab wann ich mich im Deutschen zu Hause fühlen kann

MARTIN VORLÄNDER

Spurensuche

Eine Reise nach Schlesien in die frühere Heimat der Eltern und Großeltern

MARKUS SÖDER

Schutz der Heimat

Politik zwischen Bewahren und Weiterentwickeln

ANTJE SCHRUPP

Zu Hause im Netz

Heimat ist für immer mehr Menschen da, wo es WLAN gibt

MARTIN VORLÄNDER

Das letzte Zuhause

Wo ich einmal begraben sein will

Autorinnen und Autoren

Fotonachweise

VORWORTMARTIN VORLÄNDER

Sehnsuchtsort Heimat

Ich seh’ den Kirchturm!“ So ging ein Spiel in Kindertagen. Wenn unsere Familie damals einen Ausflug machte, wurden wir vier Kinder auf die Rückbank im Auto gepackt. In den 1970er-Jahren gab es weder Anschnallpflicht noch Kindersitze, da ging das. Das Dorf, in dem wir wohnten, lag hinter einem Hügel in einer Senke. Auf der Rückfahrt versuchte jeder von uns vieren, möglichst gute Sicht nach vorne zu haben. Denn wer zuerst die Kirchturmspitze gesehen hat, rief: „Ich seh’ den Kirchturm!“ Der oder die hatte gewonnen. Zwar keinen Preis, aber die Ehre, allen verkündet zu haben: Wir sind wieder zu Hause.

Heimat lebt von Erinnerung. Heimat versetzt einen zurück in die Kindheit. Heimat klingt wie die Sprache und der Dialekt des Ortes, an dem ich aufgewachsen bin. Heimat schmeckt für die einen nach Apfelsaft von hessischen Streuobstwiesen, für die anderen nach einem starken türkischen Tee mit viel Zucker. Heimat fühlt sich an wie die Halme der Getreidefelder in Mecklenburg, wenn man mit der Hand darüberstreicht. Oder wie das Rattern der Straßenbahn in München, die vor dem Haus, in dem man groß wurde, vorbeifuhr. Das Geräusch und das Vibrieren des Bodens haben einen als Kind in den Schlaf begleitet.

Heimat hat mit Riechen zu tun. „Ich lebe seit vierzig Jahren in Frankreich“, erzählt eine Frau in der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Paris. „Ich bin mit einem Franzosen verheiratet. Meine Kinder sind hier aufgewachsen, meine Enkel hier geboren. Ich bin in Paris zu Hause. Aber seltsam: Ich weiß natürlich, was Veilchen auf Französisch heißt. Violet. Aber wenn ich das deutsche Wort Veilchen höre, dann duftet es.“ Manchmal spürt man erst in der Fremde, was Heimat ist. Für andere ist sie so selbstverständlich wie die Luft, die sie atmen, weil sie schon immer dort gelebt haben.

Wer mag, kann den Praxistest machen: das Wort Heimat sagen und die Augen schließen. Welche Landschaft oder Stadt taucht vor dem inneren Auge auf? Oder kann man sich nicht für ein Bild entscheiden, weil es verschiedene Orte sind, für die man Heimatgefühle empfindet? Angeblich gibt es das Wort Heimat nur im Singular. Stimmt übrigens gar nicht. Der Duden kennt „Heimaten“. Denn man kann durchaus mehr als eine haben.

Der Begriff Heimat war in Deutschland lange verbrannt. Die Nationalsozialisten haben ihn vergiftet. Sie haben im Namen des deutschen Vaterlandes millionenfach gemordet und die anderen Länder Europas mit Krieg überzogen. Das ist eine Warnung. Heimat als „Wir gegen die“ ist brandgefährlich. Man darf Heimat nicht denen überlassen, die sie zum Kampfbegriff gegen andere machen. In einer Zeit, in der so viele Menschen von zu Hause fliehen müssen, steigt der Wert von Heimat. Die Welt rückt zusammen. Das bringt die Ferne näher. Gleichzeitig wächst die Sehnsucht nach Heimat, je schneller die Welt sich dreht.

In diesem Buch erzählen Menschen davon, was Heimat und Heimaten für sie sind. Sie fragen, wie viel Fremde Heimat verträgt. Kann man Heimat grenzenlos mit anderen teilen? Muss man sie schützen? Wenn man von einem Ort an einen anderen zieht – wann und wie wird die neue Stadt oder das andere Land zur Heimat? Wie oft muss ich eine Straße entlanggegangen sein, bis mein Herz aufatmet, wenn ich in sie einbiege? Wie oft muss ich einen Baum zu allen Jahreszeiten gesehen haben, bis sich meine Seele in die Landschaft eingeschrieben hat? Hinterlässt mein Fuß eine Spur auf der Türschwelle, über die ich täglich ein- und ausgehe? Habe ich von Lebensstation zu Lebensstation meine Heimat in mir wie ein Vademekum, ein „Geh-mit-mir“? Und die letzte Frage: Wo will ich einmal begraben sein? Was sagt das darüber aus, wo ich hingehöre?

Der Glaube an Gott ist für manche so etwas wie eine Heimat, die sie in sich tragen, egal wohin das Leben sie führt. Die Bibel geht radikal mit Heimat um. „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will“, sagt Gott zu Abraham im Alten Testament (1. Mose 12,1). Die Worte sind wie eine Axt, die mit drei Schlägen die Wurzeln abhackt: Vaterland, Verwandtschaft – und dann noch einen Hieb tiefer: deines Vaters Haus. Abraham soll jede Verbindung kappen. Gott fordert einen radikalen Aufbruch ohne Rückkehr-Ticket.

Das Neue Testament verhält sich ähnlich schonungslos. Jesus zieht durchs Land wie ein heimatloser Geselle. Er hat „nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Matthäus 8,20). Von seinen Jüngern erwartet er, dass sie mit allen Bindungen brechen. Da will sich ihm jemand anschließen, aber vorher noch seinen Vater begraben. „Folge du mir, und lass die Toten ihre Toten begraben“, sagt Jesus zu ihm.

Für so ein Leben ist nicht jeder geschaffen. Aber die Erfahrung kennen alle: Ich besitze nichts ganz und gar, nichts für immer und ewig. Alles habe ich nur auf Zeit, wie geliehen, selbst wenn ich dafür bezahlt habe. Auch das, was ich für unverrückbar halte, meine Heimat, meine Herkunft, mein Elternhaus, der Ort, zu dem ich gehöre und immer zurückkehren kann – selbst der kann mir verlorengehen. „Maikäfer, flieg. Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist im Pommernland. Pommernland ist abgebrannt. Maikäfer, flieg.“ Ein harmloses Kinderlied, das von gar nicht Harmlosem erzählt, nämlich vom Krieg, der die Heimat zerstört.

Es braucht nicht erst einen Krieg, um zu lernen: Heimat ist nichts Festes, kein Besitz auf alle Zeit. Heimat verändert sich. Sie kann mir verlorengehen oder ich kann eine neue Heimat finden. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ So beschreibt in der Bibel der Verfasser des Hebräerbriefs, wie wir unterwegs sind auf dieser Erde und in unserem Leben (Hebräer 13,14). Keine bleibende Stadt, das klingt nach einer stressigen Unruhe und einer Schutzlosigkeit, die Angst machen kann. „Die zukünftige suchen wir“ – immerhin. Es scheint einen Ort zu geben, an dem ich ankommen darf.

Was also ist Heimat?

Einigkeit und Recht und Freiheit

Heimat ist da, wo ich sein darf und wunderbarerweise genau dadurch Raum auch für andere ist

SUSANNE BREIT-KESSLER

Susanne Breit-Keßler als Kind (mit Mama) in ihrer neuen oberbayerischen Heimat.

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Was für ein Satz aus der Bibel. Mitten ins Herz von Menschen wie Susanne Breit-Keßler, die Heimat nicht einfach nur lieben, sondern brauchen, um stabil zu bleiben. Die Regionalbischöfin von München und Oberbayern erkundet Heimat biblisch und biografisch. „Heimat bedeutet Aufrichtigkeit, Anstand, ja – und Selbstkritik“, so hat sie es erlebt und findet: Wir dürfen Heimat nicht den neuen Nationalisten überlassen.

Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebräer 13,14) Dieser Satz aus dem Zentrum des Hebräerbriefs im Neuen Testament lässt keinen Platz für Illusionen. Es gibt kein stetes Zuhause, weil wir unterwegs sind in die Ewigkeit. Und trotzdem geht es nicht anders, als sich mit Herz und Verstand, mit allen Sinnen einzunisten in dieser Welt, bevor man ins seelische Nichts stürzt. Die kleine, vermeintlich russische aphoristische Ironie „Wer sich überall zu Hause fühlt, ist nirgends daheim“ ist geradezu harmlos gegen die Erfahrung, keinen heimatlichen Halt zu haben. Umgekehrt ist es wundervoll zu spüren, dass man da, wo man ist, auch wirklich hingehört.

Als kleines Kind bekam ich von Spielgefährten zu hören: „Du hast keinen Vater, und deine Mutter ist eine Hexe.“ Sie plapperten emsig nach, was sie wohl so ähnlich am Tisch der Eltern gehört hatten. Ein Versuch, mir mein Daseins- und Heimatrecht abzusprechen. Aber meine Mutter, mitnichten eine Hexe, sondern eine starke, tapfere Frau, erläuterte mir verständlich, warum mein Vater zu diesem Zeitpunkt nicht bei uns leben konnte. Heimat ist keine volkstümelnde Idylle, voll mit schunkelnden, bier- oder weinseligen Grinsetrachtlern, die selber braun keinem Schwarzen grün sind, sondern gleich rotsehen. Kein Gebiet, in dem ausschließlich die eigene Meinung Richtlinienkompetenz hat. Heimat ist da, wo ich sein, mich entfalten darf und wunderbarerweise genau dadurch Raum auch für andere ist.

Solche Heimat habe ich dann mit meinen Eltern im Oberbayerischen gefunden, wo man die Liberalitas Bavarica zu leben verstand. Eine voralpenländische Willkommenskultur, die thüringisch-oberfränkisch-schwäbischen Migranten offen stand. Mein Vater wurde geduzt und als Platzwart im Tennisclub sogleich am Stammtisch aufgenommen, meine Mutter galt richtigerweise als gärtnernde Superhausfrau und Löwenmutter. Ich selbst wurde zwar als einziges evangelisches Mädchen in der Klasse kräftig bestaunt, aber wegen meiner Kombination aus offensivem Fleiß und geheimer Frechheit schnell akzeptiert. Niemand von uns musste sich ändern, aber alle drei haben wir uns dort eingefügt, wo es uns sinnvoll und stimmig erschien.

Ich tanzte weiß gekleidet dezent durch die Fronleichnamsprozession, schnupperte in der römisch-katholischen Dorfkirche den Weihrauch, bis mir schwindlig wurde, entdeckte dort für immer meine Krippenleidenschaft. Schaute in der Aussegnungshalle neugierig-schaudernd auf die offen aufgebahrten Toten. Meine Mutter brillierte mit ihren gigantischen selbst angebauten Zucchini, überzeugte mit pflegerischem Können und alternativem, eher traditionellem medizinischen Wissen. Meine Klassenkameradinnen beneideten mich um sie, weil sie sofort losstürmte, wenn ich Ungerechtigkeiten ausgesetzt war. Hatte ich etwas selbst vermasselt, war es mit Rettungsaktionen à la Jeanne d’Arc nichts. Heimat bedeutet Aufrichtigkeit, Anstand, ja – und Selbstkritik.

Mein Vater, der seinen thüringischen Akzent nie wirklich ablegen konnte und wollte, kam bestens mit den Urbayern zurecht. Sie verstanden ihn und er sie – ohne die albernen Untertitel, die heute im Fernsehen schon verwendet werden, wenn jemand bloß Altbayerisch oder Schweizerdeutsch spricht. Man gibt sich keine Mühe mehr, das Heimatidiom des anderen zu verstehen – oder auch einmal staunend stehen zu lassen, was der andere sagt. Heimat bedeutet nicht Simultandolmetschen, sondern den Versuch zu begreifen, was der andere meinen könnte. Das kostet Mühe, braucht Zeit. Aber man ist ja schließlich nicht auf der Durchreise, sondern zu Hause. Als er starb, mein Vater, wurde er auch offen aufgebahrt wie alle anderen. Etwas anderes war gar nicht denkbar.

Und als ich hoffte, ein Lebenszeichen an ihm zu entdecken, und das dunkle Kerzenwachs auf seinem Leichentuch als Blutfleck zu identifizieren glaubte, war es der Friedhofswärter, der die weinende junge Frau behutsam zum Vater führte, damit sie sehen konnte, dass er wirklich tot war. Auch das ist Heimat: Trauer teilen, sich nichts vormachen, miteinander den Kummer tragen. Bei der Beerdigung meines Vaters war das ganze Dorf auf den Beinen, sechs Jahre später bei meiner Mutter auch. Irgendwann kam dann ein neuer Bürgermeister und bat mich, längst in die Großstadt verzogen, im Kurpark eine Eiche zu pflanzen, schließlich noch einen Apfelbaum an der Landstraße. Heimat heißt, nicht zu vergessen, wer zu einem gehört, Menschen zurückzuholen, und sei es auf einen Besuch, der fruchtbar ist.

Ich bin aus Oberaudorf am Inn, sage ich, wenn man mich fragt, wo ich herkomme. Obwohl ich da gar nicht geboren wurde und auch die ersten neun Jahre meines Lebens woanders verbracht habe. Aber ich komme da her, bin dort daheim, weil ich die Landschaft liebe, den Duft der gemähten Wiesen, den kleinen See, die Trollblumen oben am Berg, die direkte Nachbarschaft Österreichs mit seinen herrlichen Käseläden und Wirtshäusern, die Sprache, den Dialekt. Fragt mich jemand in Europa, wo ich zu Hause bin, sage ich Deutschland, Bayern, München. Das klingt überall gut, auch in Asien. Dort bleibt allerdings Bayern München hängen und ich in einer fröhlichen Fußballspielercharakterisierung. Macht nichts: Heimat bedeutet auch, ich kenne mich aus in dem, was daheim los ist. Kann davon erzählen.

Ich muss mich nicht mit allem identifizieren, was in meiner Heimat geschieht. Aber ich kann Stellung dazu beziehen, ich kann mich dazu verhalten. Wer aus Bayern kommt, wird im Rest der Republik gelegentlich belächelt. Überall sonst auf der Welt sind die Bayern die Deutschen, denen am meisten Anerkennung entgegengebracht wird. Mit beidem muss man umgehen können. Heimat – das ist Solidarität mit und Loyalität zu dem Ort, dem Land, aus dem man kommt, zu der Familie, der man entstammt. Heimat zu haben bedeutet aber auch, eine kritisch-konstruktive Distanz einzunehmen, wo dies nötig ist. Blut- und-Boden-Ideologie ist zerstörerisch, weil sie das Eigene absolut setzt, obwohl es doch immer einen Schritt zurück braucht, um klarsehen zu können.

Globalisierung heute ist die Chance, diesen Schritt zu tun – und zu sehen, wie andere leben. Sich davon begeistern und manchmal auch erschrecken zu lassen, davon zu lernen im annehmenden und durchaus auch im abweisenden Sinn. Die Ambivalenz ist notwendig, die Chance, angetan, aber auch mal abgestoßen zu sein. Man kann alles verstehen, muss es aber nicht gutheißen, wenn man vernünftige Gründe dafür hat. Es ist ganz falsch, Menschen das Gefühl aufnötigen zu wollen, selbst ein Global Player zu sein, und ihnen das als höchsten Wert zu verkaufen. Was dann passiert, sieht man allenthalben: Die Abwehr wächst, weil wirklich niemand, der von Geborgenheit auch nur eine dumpfe Ahnung hat, sich überall gleich daheim fühlt. Diese Abwehr, weil einem nicht näher vergönnt wird, anderes als fremd und nicht unbedingt nachahmenswert zu empfinden, produziert dumme Nationalismen.

Heimat – höchste Zeit, Kinder, Jugendliche und Erwachsene diese Beziehung wieder in vollen Zügen genießen, ausleben zu lassen. Statt sie aus vermeintlicher politischer Korrektheit zu zwingen, die ganze Welt als ihr Spielfeld zu betrachten. Noch dazu, weil diejenigen, die an vielen Stellen des Globus ein Fähnchen stecken könnten, weil sie dort schon einmal gelebt haben, dort gar nicht wirklich zu Hause sind. Sie bringen ihre Herkunft mit sich, leben in der Ferne, was sie daheim auch tun, und nehmen nur an, was ihnen brauchbar erscheint. Mit Missvergnügen denke ich an Geschäftsleute, die aus Hongkong nichts anderes zu erzählen haben, als dass dort die Geschäfte 24 Stunden lang offen haben, und die das als zivilisatorischen Gewinn für die Menschheit betrachten.

Diese vermeintlichen Weltbürger sind oft nichts anderes als neuzeitliche Imperialisten, die in eine fremde Heimat wie in ein Wachsbett das eindrücken, was sie – meist wirtschaftlich – für unverzichtbar halten und umgekehrt: Sie nehmen irgendwann nach Hause mit, was Geld bringt. Wer ihnen in Deutschland den Sonntagsschutz entgegenhält, der dem unbegrenzten Gewinnstreben, vor allem aber der Ökonomisierung des Menschen Grenzen setzt, der wird nicht selten als provinziell abqualifiziert, obwohl er doch „nur“ die mühsam errungenen Qualitäten der Heimat propagiert. Urlaubsländer erwecken Begeisterung ob ihrer Strände – dass dort gleichgeschlechtlich lebende Menschen vom Mob durch die Straßen gejagt werden, spielt keine Rolle.

Man wird wieder hinfahren, weil man sich heimisch fühlt. Der eine braucht dazu vertraute Küche, die an fernen Gestaden angeboten wird, der andere delektiert sich an unbekannten Genüssen, um davon dann fachmännisch zu berichten. Sand, Meer, kühle Drinks und bezahlbare Hotels reichen meistens schon dafür aus, eine Wahlheimat für sich zu entdecken. In Wahrheit tun sie das nicht, denn eine wirkliche Heimat zu haben, eine räumliche und geistige, das bedeutet intensive, anstrengende und schmerzliche Auseinandersetzung. Man kann keine ehrliche Beziehung haben, auch nicht zum Vater- oder Mutterland, wenn man nicht um Harmonien und um Gegensätze weiß. Da gibt es wonnige Momente und solche, in denen es einen fast zerreißt vor Zorn, weil man nichts mehr gut findet.

Heimat, das ist wie in einer Partnerschaft Faszination und Erschrecken, Zustimmung und Empörung, immer aber der dezidierte Wille, verantwortlich mit eigenen Ideen im Diskurs mitzugestalten. Es geht einem um das Ganze. Wenn einem gleich ist, was geschieht, ist die Beziehung zum Partner, zur Heimat perdu, also verloren. Genauso, wenn einem nur das gefällig erscheint, was man sich wohlig herauspicken kann – das andere lässt man dann indolent links liegen. Heimat aber fordert eine persönliche Stellungnahme heraus, eine, die verlangt, genau hinzuschauen. Will ich das, was da bei mir, bei uns geschieht? Gebe ich dem meine Stimme? Oder widerspreche ich, wieder aus guten Gründen? Wie soll meine Heimat, der Ort, an dem ich mich zu Hause fühle, ausgestaltet sein?

Aus all diesen Überlegungen wird schnell klar, dass Heimat keine schlichte Idylle ist. Wer sich die Bewahrung eines Zuhauses für unterschiedliche Menschen auf die Fahnen schreibt, der muss mit dafür sorgen, dass sie alle teilhaben können an dem, was das gesellschaftliche Zuhause bietet. Anteilnahme ist ein Wort, das Empathie und Sympathie mit einschließt. Heimat braucht Teilhabe und Anteilnahme – die Chance, das demokratische Mitreden verwirklichen zu können, zu spüren, dass es Sicherheit, Geborgenheit und Lebensperspektive gibt. Das setzt im Übrigen voraus, dass Politik und Wirtschaft, Kirche und Kultur, dass alle gesellschaftlichen Institutionen dafür sorgen, dass Bürger und Bürgerinnen, Gäste und Fremde nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden, sondern sich auf sie verlassen können.

Heimat – das symbolisiert die Idee, wie Leben miteinander sein kann und sein soll: solidarisch und zugleich individuell, persönlich. Gemütlich, genussvoll und zugleich widerständig, aufmüpfig, rebellisch, wenn es um das Wohl des Ganzen geht. Traditionen müssen bewahrt bleiben, wo sie lebensdienlich sind, und immer wieder daraufhin überprüft werden, ob sie den Menschen guttun, sie mit einschließen oder etwa ausgrenzen. Heimat ist wandelbar, beweglich, mobil – auf keinen Fall starr und stur. Jesus selbst sagt von sich, dass er nichts hat, wo er sein Haupt betten kann. Aber er scheint sich wohlgefühlt zu haben, wo immer er mit anderen Menschen zu tun hatte, mit Kleinen und Großen, die zusammen mit ihm eine Gemeinschaft gebildet haben – durchaus auch auf Zeit. Heimat verbindet, wo auch immer auf der Welt.

Wer sich zu Hause fühlt, schlägt Wurzeln – geistige und ganz irdisch-materielle. Das hilft, einer weithin unübersichtlich gewordenen Welt mutig gegenüberzutreten, weil man sein eigenes Fundament gefunden hat, auf dem man sicher steht. Für einen Christen, eine Christin ist das der Glaube an den Mensch gewordenen Gott, denn „einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ (1. Korinther 3,11). Aber der existiert nicht im luftleeren Raum, als bloße Vision. Der Gottessohn hat die Erde für sich entdeckt und vom himmlischen Zuhause gesprochen – alles ein Hinweis darauf, dass es Heimat braucht, und zwar nicht nur im übertragenen Sinn. Sie ist nicht museal oder tümelnd, hängt nicht einfach an landestypischen Produkten, zu denen übrigens auch die jeweiligen Industrien gehören.

Natürlich hat Heimat viel mit den Sinnen zu tun, mit Riechen, Schmecken, mit Fühlen, Hören und Sehen. Riechen und schmecken, das ist in unserem Land wie in anderen auch der Duft der Natur, des Essens, der Gewürze und der Getränke. Heimat fühlen und hören, das hängt mit Musik zusammen, mit vertrauten Gesten und Ritualen. Advent, Weihnachten, Fastenzeit, Ostern, Erntedank, Reformationsfest, Allerheiligen und Allerseelen, Buß- und Bettag, Ewigkeitssonntag – die kirchlichen Jahreszeiten und Feste haben nach wie vor Aussage- und Orientierungskraft. Sehen, das sind die liebgewordenen Anblicke der Landschaften und Menschen, mit denen man groß geworden ist oder an die man sich ganz neu gewöhnt hat. Heimat anschauen, das ist optische und mentale Präzision.

Akkommodationsschwierigkeiten beim Auge hat man dann, wenn die Naheinstellung nicht akkurat, anhaltend und ausreichend ist – oder wenn sie sich als mangelhaft flexibel erweist. Heimat verlangt nach einer gepflegten Balance von Nähe und Distanz, damit man nicht emotional verblödet und verödet oder sich zu verliert in einem oberflächlichen, bindungs- und verantwortungslosen Kosmopolitentum. Bei konsularischen Empfängen pflege ich mit meinen Referentinnen Aufsehen schon dadurch zu erwecken, dass wir die deutsche Nationalhymne und die Bayernhymne text- und tonsicher mitschmettern können. Wir sind damit in der absoluten Minderheit. Heimat – für mich bedeutet das Verbundenheit mit dem Glauben und den Werten, die mein Land bislang geprägt haben.

Es bedeutet Dankbarkeit gegenüber denen, die meine Heimat nach der Nazibarbarei und dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut haben. Ja: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. Danach lasst uns alle streben, denn das sind biblische Begriffe, humane Prinzipien, die Gläubige verschiedener Religionen und Atheisten verbinden können. Ja, auch: Gott mit dir, du Land der Bayern … Über deinen weiten Gauen ruhe seine Segenshand. Er behüte deine Fluren, schirme deiner Städte Bau … In Zeiten von Klimakatastrophen und Terrorattacken ist es gut und richtig, sich wieder an den zu erinnern, von dem das Leben kommt und zu dem es zurückkehrt. Ist es notwendig, sich neu ins Bewusstsein zu rufen, dass eine Heimat nichts Selbstverständliches ist, sondern sorgsam bewahrt werden muss.

Heimat ist da, wo ich meine Identität entdecke, sie ins Gespräch mit anderen bringe und daran angstfrei wachsen darf. Zu Hause zu sein in einer Beziehung, einer Familie, einem Land, das braucht keine Enge, sondern Offenheit, Vielfalt, Lust am Neuen – und zugleich Sinn für Tradition, Freude am Bewahren von Bewährtem und die Achtung vor lebensdienlichen Werten. Deswegen ist es so widerwärtig, dass in vielen Ländern Europas, auch in unserem, Parteien und Bewegungen die parlamentarische Demokratie verunglimpfen, die genau das möglich macht. Sie wenden sich gegen verfassungsmäßige Grundwerte für alle. Sie missachten Liberalität und Vielfalt. Sie bedienen Ressentiments gegen Minderheiten. Sie sortieren aus: Menschen anderer Herkunft, anderen Glaubens, solche, die das eigene Geschlecht lieben.