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Millionen von Kindern werden auf die Flucht mitgenommen. Es ist nicht ihre Entscheidung, aber sie müssen fliehen. Warum? Was erleben sie? Wie verändert es ihr Leben? Dieser Roman erzählt die Geschichte einer afghanischen Familie inmitten der Flüchtlingsströme 2016 bis 2018. Das Geschehen spielt an authentischen Orten der sogenannten Balkanroute und hat sich zu den angegebenen Zeiten zugetragen. Alle handelnden Personen sind frei erfunden. Sicher gibt es hunderte, ja tausende Flüchtlinge, die Ähnliches erlebt haben, die sich wiederfinden. Es ist die Tragödie unserer Zeit, dass auch jetzt, in diesem Moment, Kinder auf der Flucht sind. Eines sollten Sie wissen, bevor Sie in die Geschichte eintauchen: Es erwartet Sie kein lustiges Kinderbuch.
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Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2022
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„Schläge, sexueller Missbrauch und Ausbeutung: Geflüchtete Kinder auf der Balkanroute sind erschreckend häufig mit Gewalt durch Erwachsene konfrontiert. Auf ihrer Reise durch den Balkan sind sie Polizisten, Menschenschmugglern und anderen fremden Personen schutzlos ausgeliefert. Maßgebliche Ursache für diesen unmenschlichen Umgang ist die von der EU und den Ländern der Region verfolgte Abschreckungs- und Abschottungspolitik gegenüber Geflüchteten.“
Aus dem Bericht der Organisation Save the Children vom 13.09.2022 (www.savethechildren.de)
Für meine Familie
Das Buch:
Millionen von Kindern werden auf die Flucht mitgenommen. Es ist nicht ihre Entscheidung, aber sie müssen fliehen. Warum? Was erleben sie? Wie verändert es ihr Leben?
Dieser Roman erzählt die Geschichte einer afghanischen Familie inmitten der Flüchtlingsströme 2016 bis 2018.
Das Geschehen spielt an authentischen Orten der sogenannten Balkanroute und hat sich zu den angegebenen Zeiten zugetragen. Alle handelnden Personen sind frei erfunden. Sicher gibt es hunderte, ja tausende Flüchtlinge, die Ähnliches erlebt haben, die sich wiederfinden. Es ist die Tragödie unserer Zeit, dass auch jetzt, in diesem Moment, Kinder auf der Flucht sind.
Es erwartet Sie kein lustiges Kinderbuch.
Prolog – 1996 in Afghanistan
Kapitel 1: Die Entscheidung /Iran
Kapitel 2: Vorbereitungen
Kapitel 3: Gruppe Mahmoud
Kapitel 4: Türkei
Kapitel 5: Griechenland
Kapitel 6: Serbien
Kapitel 7: Ungarn
Kapitel 8: Österreich
Letzter Versuch
Epilog
Anhang
Danke
Es gibt Orte, die scheinen das Böse anzuziehen. Ein solcher Ort befindet sich im grünen Flusstal des Panjshir, am Fuße des Hindukusch. Es liegt nicht an der Natur, die alles zum Leben bietet. In die Herzen der Menschen zog das Böse ein, als mächtige Herrscher und ausländische Mächte sie für ihre Interessen zu gewinnen suchten.
Solange Navid zurückdenken konnte, erzählten die Alten von finsteren Kriegern, die des Nachts die Häuser plünderten, Frauen und Mädchen entführten, Männer erschlugen. Märchen, um Kindern Angst zu machen. Er glaubte nicht daran. Sein Land war friedlich und schön.
Dann kamen die Kriege und mit ihnen das Grauen, vor dem er floh, ohne seinen Sohn. In einer Nacht fanden mehr als 400 Menschen den Tod. Er hörte noch das Pfeifen der Artilleriegeschosse, den dumpfen Einschlag, das Wüten des Feuers. Sie waren in den Keller eines winzigen Hauses geflüchtet. Ein Schutz war es nicht, eher Glück. Warum hatte er geschlafen, als Hamid, sein achtjähriger Sohn, am Morgen vor die Tür schlich? Da lagen Menschen und Teile von ihnen, verdreht, zerrissen, blutig. Der Junge erkannte den Freund, den Nachbarn, die Tante.
Er schrie nicht. Er schlich ins Haus und setzte sich zu seinem Vater, wartete still, mit trockenen Augen. Seitdem war Hamid anders. Das Kind lachte nicht mehr.
Vier Jahre waren vergangen. Navid kam zurück.
Der Ort lag vor ihm in seiner natürlichen Unschuld. Grün und üppig die Gärten und Felder. Erntezeit. Nirgendwo gab es so köstliche Maulbeeren wie hier. Die Mutter wusste nicht, dass er kam. Wie groß mochte Hamid sein? Mit zwölf war er kein Kind mehr. Er würde ihn mit nach Deutschland nehmen. Zeit für den Jungen, etwas Vernünftiges zu lernen. Das Geld in seiner Tasche würde der Mutter ein gutes Auskommen sein.
Er kam an der Fabrik vorbei und blieb stehen.
Die Tore standen offen. Unrat, wohin er sah. Der stolze Fuhrpark der LKW-Flotte hatte sich in einen Trümmerhaufen von ausgeweideten Blechgerippen verwandelt. Nichts von Wert war geblieben. Erschüttert umrundete er die Eingangsgebäude und wendete sich seitwärts. Die einstige Kantine schien bewohnt. Vor den Fenstern hingen zerrissene Wolldecken, wie sie früher hier produziert und in alle Welt exportiert wurden. Notdürftig bedeckten sie die finsteren Öffnungen. Navid näherte sich wachsam, lauschte. In den Bäumen summten Wespen, gierig nach faulem Obst. Nichts störte die träge Nachmittagshitze. Die Luft flimmerte.
Aus dem langgestreckten flachen Gebäude waren gedämpfte, scharrende Geräusche zu hören.
Irgendwer schleifte etwas Schweres über den Steinfußboden. Jemand stöhnte vor Anstrengung.
Langsam hob Navid eine Ecke des Fenstervorhangs und erstarrte. Ein Soldat mit ungepflegtem Bart hockte am Boden, schaute ihn belustigt an. Er hatte ein Maschinengewehr herangezogen und richtete es direkt auf ihn.
„Er ist da, Commander.“
Hastig wendete sich der Ertappte um. Lauf weg! - Zu spät. Der Fluchtweg war versperrt.
„Da ist er ja, der verlorene Sohn. Lange nicht gesehen, Navid.“
Der Commander stand zwei Schritte hinter ihm, eine Kalaschnikow gelassen über dem Arm, den Lauf auf seine Brust gerichtet.
„Zaher? Was willst du?“
„Ein paar Antworten, Schwager. Ich vermisse meine kleine Schwester. Shirins Leben und Schicksal habe ich für unseren toten Vater in deine Hände gelegt. Jetzt ist sie tot. Du hast Schuld.“
„Du warst damals in den Bergen. Du weißt nicht, was passiert ist.“
„Oh doch, ein Mudschaheddin hat seine Augen und Ohren überall.“
„Glaub mir, Zaher, Shirin war alles für mich.
Nach der Geburt von Hamid erkrankte sie. Das zweite Kind hat sie nicht überlebt. Ich habe beide verloren.“
Blitzartig fuhr der Lauf an Navids Schläfe, riss eine breite Wunde. Zaher trat ihm in den Unterleib. Er fiel zu Boden.
„Warum hast du nicht den Mullah gerufen?“
„Ihr war nicht zu helfen, hat der Arzt gesagt.“
„Du ungläubiger Bastard! Es war deine Pflicht, den Mullah zu holen.“
Blitzschnell traf Navid der Kolben im Gesicht.
Seine Nase brach, Blut spritzte. Zaher schlug mit rasender Wut.
„Sie ist verblutet.“ Der Geschlagene spuckte zwei Zähne in den Sand.
„Ihre Seele! Der Mullah hätte ihre Seele gerettet!“
Zaher holte erneut aus.
Vor wem hätte der Mullah die Seele seiner Frau retten sollen? In dieser Gegend gab es seit Jahren keine unschuldige Seele. Es hatte keinen Sinn, den Wahnsinnigen noch mehr zu reizen. Der steinige Grund bohrte sich schmerzhaft in die blutende Wange. Zahers Schuh lastete zwischen seinen Schulterblättern.
„Ich wäre für sie gestorben, wenn es ihr geholfen hätte.“
„Zehn Jahre warte ich darauf. Stirb! Nach dir wird dein Sohn büßen.
„Hamid? Hamid ist dein Neffe! Blut von deinem Blut. Zaher! Du bist sein Onkel!“
„Brut seid ihr. Alle beide.“
Gelassen hob Zaher das Gewehr und schoss fünf Patronen auf den Wehrlosen am Boden.
Die Dunkelheit überfiel sie. Der Himmel färbte sich schwarzgrau. Träge zogen dicke Wolken von Norden über das Elburs-Gebirge. Hier, am Rande von Teheran, war der Verkehr fast zum Erliegen gekommen. Schmutziggraue Wehen türmten sich am Straßenrand. Der Januar gestaltete sich ungewöhnlich kalt. Eisiger Wind blies ihr ins Gesicht. Sie fror in dem dünnen schwarzen Umhang. Der Schnee fiel in dichten Flocken. Sie liebte dieses Bild. Bleib nicht stehen. Beeil dich.
Nesrin packte die schwere Einkaufstasche fester, zog die eiskalte Hand des Kindes unter den langen Mantel an ihren Körper. Der Junge zitterte vor Kälte. Er jammerte nicht. Seine wachen Augen musterten die Straße, die Leute, denen sie begegneten. Hin und wieder streckte er die Zunge raus, um tanzende Flocken zu fangen. Die Mutter beschleunigte den Schritt, damit das Blut zirkulierte. Der Junge hastete neben ihr her.
Sie hob den Blick und sah durch die dichte Flockenwand heftig gestikulierende Menschen am Straßenrand. Was regte sie auf? Aufgebrachte Männer bedrängten eine Frau, schrien auf sie ein.
Sie stießen sie hin und her, bis sie fiel. Ihr Kopftuch verrutschte. Sie war noch ein Mädchen.
Nesrin hob die Faust an den Mund, um nicht zu schreien. Blut tropfte der Gefallenen aus der Nase und färbte den Schnee. Sie hob schützend die Arme über den Kopf. Wie ein gehetztes Tier suchte sie eine Lücke zwischen den Körpern, um zu fliehen.
„Afghani, Afghani.“ Nesrin kannte das Schimpfwort zur Genüge. Alle afghanischen Flüchtlinge im Iran hassten es. Sie blieb stehen.
Wie kann sie der Schwester helfen? Keine Chance. Ihr Sohn starrte auf die schreienden Menschen. Er zog an ihrem Mantel. „Mama, wir müssen weg hier. Komm!“ Er wusste, was zu tun war. Seine Aufgabe war es, Mama zu beschützen.
Das Geschrei verstummte plötzlich. Der Tumult löste sich auf. Uniformierte näherten sich. In ihrem Schlepptau schwarz verhüllte Gestalten – die Religionswächterinnen. Nichts wie weg. Wenn die Bassidschi auftauchten, hieß es: Sei still und lauf!
Eilig stapften sie durch den Schnee und erreichten atemlos, nun nicht mehr frierend, das schlichte Haus.
Nesrin hängte den Tschador auf, legte das nasse Kopftuch ab und räumte die Einkäufe weg. Die langen schwarzen Haare waren feucht vom Schnee, das Kleid am Saum verdreckt. Darum würde sie sich später kümmern. Ihr zuverlässiger Begleiter war selbstständig, kleidete sich um und ging mit wichtiger Miene in die Küche. Hier spielten in einer Ecke seine beiden jüngeren Schwestern.
„Omid, habt ihr uns was mitgebracht?“
„Wartet‘s doch ab. Mama hatte beinah Ärger. Wir mussten schnell weglaufen.“ Die Großmutter unterbrach ihre Arbeit am Herd, schaute dem Jungen in die Augen.
„Was ist passiert? - Nesrin!“ Mit roten Wangen betrat ihre Tochter den Raum. „Alles in Ordnung, Mutter. Die Bassidschi waren unterwegs. Aber ich habe ja einen großen Sohn, der mich beschützt.“
Augenzwinkernd drehte sie sich zu den Kindern um.
„Schaut, ich habe drei Bananen mitgebracht.“ Die Augen der Mädchen leuchteten. Omid konnte seine Gefühle längst verstecken und geduldig warten.
„Sind die Männer von der Arbeit gekommen?“
Nesrins Vater und ihr Ehemann Hamid arbeiteten seit 20 Jahren auf Baustellen einer Schweizer Firma. Die Chef wusste, was sie an ihnen hatte.
Sie machten alles, und alles gut. Illegale waren billig und willig. Nesrin war stolz auf ihr Können, sah aber auch die Erschöpfung nach einem 12-Stunden-Tag und den spärlichen Lohn.
„Vater ist schon da und schläft. Hamid kommt später. Komm hilf mir, Nesrin.“
Flott ging sie der Mutter zur Hand. Die Kinder spielten leise in ihrer Ecke, bekamen ihr Abendbrot. Während ihre Hände das Gemüse putzten, sah sie wieder das junge Mädchen vor sich, spürte die zudringlichen Hände der Männer auf ihrem Körper, blickte in die angstgeweiteten Augen. Was mochte sie getan haben, dass man sie angriff? Wäre der Junge nicht bei ihr gewesen, hätte sie das Ziel sein können. Unbehagen verschloss ihr den Hals, Übelkeit stieg aus dem Magen. Sie atmete tief ein und schluckte heftig.
Wird das immer unser Leben sein? Tränen verschleierten ihren Blick.
„Mama, bist du traurig?“ Hastig wischte sie über die Augen und wandte sich den Kindern zu:
„Nein, nein, es kommt von der Zwiebel.“
„Wir sind fertig, können wir Verstecken spielen?“
„Aber nicht den Opa wecken. Er braucht seinen Schlaf.“ Die Kleinste schlüpfte trotzdem ins Nachbarzimmer. Sie fühlte sich hier am sichersten. Gutmütig brummte er, als ihn die Enkel weckten.
„Verzeih, Vater, ich wollte sie gerade ins Bett bringen.“ In Nesrins Augen saß das Lachen und strafte sie Lügen. Er war nie böse, auch wenn er seine Ruhe brauchte. Wie Küken trieb sie die Knirpse vor sich her in das gemeinsame Schlafzimmer. Sie teilten sich eine Matratze neben den Eltern.
„Rasch, sonst gibt es kein Märchen.“ Die Kinder liebten Mamas Geschichten und ihren Geruch nach Milch und Seife. Die schwarzen Wimpern lagen in dichten Fächern über den bernsteinfarbenen Augen. Verstohlen hielt Omid eine ihrer dicken Haarsträhnen fest. Er brauchte einen Halt. Andächtig lauschten sie und waren mit dem Sieg der Gerechten zufrieden. Gleich würden sie schlafen.
Nesrin hatte sich gerade zur Ruhe gesetzt, da schreckte sie die Klingel an der Haustür auf. Wer kam so spät noch? Hastig warf sie den Tschador über, kontrollierte, ob alles bedeckt war, hob den Schleier über die Nase. Sie öffnete die Tür einen Spalt und schreckte zurück. Zwei Uniformierte lächelten sie an. Stattlich und forsch hatten sie sich vor der Tür platziert, verströmten Kälte und Nässe. Um ihre schmutzigen Stiefel bildeten sich Pfützen. Ihre Augen starrten sie hart und gelangweilt an. Allah, hilf! Die Bassidschi, die Rekrutierungspolizei der iranischen Regierung!
Sie erstarrte vor Angst.
„Schwester, wir haben erfreuliche Nachrichten für deinen Mann. Und auch für dich.“
Knoblauchgeruch nahm ihr den Atem. Sie senkte den Blick, musste zuhören, durfte die Tür nicht zuschlagen, um die Staatsgewalt nicht zu erzürnen. Was sie sagten, war ihr bekannt. Sie wollten Hamid. Er sollte für die persischen Mullahs in Syrien gegen den IS kämpfen. Viele afghanische Flüchtlinge wurden dort verheizt. Die Angst lähmte sie. Sie senkte den Kopf, war gewillt, auf die Knie fallen und um Gnade zu flehen.
Verschont meinen Mann!
Das blieb ihr erspart. Die Männer verabschiedeten sich mit deutlichen Worten, rückten ihre olivgrünen Barette zurecht. Ihr Blick jagte Nesrin eiskalte Schauer über den Rücken. In den nächsten Tagen kämen sie wieder. Hamid täte gut daran, zu Hause zu sein. Er arbeitete doch nicht illegal? In diesem Fall müssten sie ihn mitnehmen. Die Drohung kroch ihr unter die Haut.
„Schwester, frag ihn, ob er das Beste für dich und seine Kinder will. Du kannst ihn überzeugen. Du wirst sehen, er geht gern mit uns.“
Als die Tür ins Schloss fiel, ließ sie sich in den Sessel fallen und starrte lange vor sich hin. Sie mussten eine Lösung finden. Hamid würde sonst sterben. Nein, das durfte nicht passieren. Sicher würde ihr Vater Rat wissen. Aufgewühlt ging sie zu den Eltern und erzählte von dem Besuch, der sie so geängstigt hatte.
Ihr Mann kam spät. Er erschrak, als er sie in der Dunkelheit sitzen sah.
„Was ist passiert? Warum schläfst du nicht?“
„Die Bassidschi haben dich gesucht. Sie kommen wieder und nehmen dich mit.“
„Ich weiß, sie waren auch auf der Baustelle. Zwei sind mitgegangen. Ihre Familien bekommen Geld, die Kinder gehen in die Schule und lernen. Hast du dir das nicht immer gewünscht, Nesrin?“ Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände, sah sie eindringlich an.
„Was redest du da?“ Sie stieß ihn weg. „Du willst in den Krieg ziehen und sterben? Hamid! Wir haben drei Kinder. Das vierte kommt in fünf Monaten.“
„Ja, Nesrin, ich denke, es ist das Beste für euch.
Du weißt doch, ich bin unsterblich. Euch geht es gut. Und wenn wir alle Bösen verjagt haben, komme ich gesund nach Hause.“ Der Scherz kam nicht an. Mit hängenden Armen und schiefem Mund stand er vor ihr. Er war zutiefst verunsichert von ihrer scharfen Reaktion.
„Bevor du andere umbringst, töte ich dich, Hamid.“ Aufgebracht blitzte sie ihn an, drehte sich um und ging ins Schlafzimmer.
Er starrte die geschlossene Tür an, fühlte die tiefe Kluft, die sich plötzlich zwischen ihnen aufgetan hatte. Eisige Finger griffen an sein Herz. War das seine süße sanfte Liebe? So hatte er sie noch nie erlebt. Keine Frage, sie meinte es ernst. Betroffen sank er zu Boden, dachte lange nach.
Stunden später ging er zu ihr, lehnte sich an ihren abweisenden Rücken, umfasste sie sanft.
Die Kinder atmeten kaum vernehmlich. Die Kleine schnaufte. Ein tiefes Schluchzen erschütterte ihn.
Sie drehte sich zu ihm, zog seinen Kopf an die Brust, strich über sein Haar.
„Ich habe mit Vater gesprochen. Er gibt uns das Erbe. Er kennt einen zuverlässigen Mann, der uns bis nach Griechenland bringt. Dann sehen wir weiter.“
Er schaute sie an, küsste sie auf den Mund, die Stirn, die Haare. Ihr Gesicht war tränennass. Die Augen leuchteten in der Dunkelheit.
„Was habe ich für eine starke Frau.“ Er tupfte ihr mit den Lippen Tränen von den Wangen.
„Nesrin, ich habe Angst. Ich weiß nicht, was wird.
Sicher ist nur, dass ich ohne euch nicht leben will.“
„So musst du nicht reden, Hamid. Erinnerst du dich, was dein Vater zu dir gesagt hat, als er starb? Die Zeit ist gekommen, es wahrzumachen.“
„Ja, Nesrin. Ich habe auch an Vaters letzte Worte gedacht. Zusammen schaffen wir es. Lass es uns versuchen, mit den Kindern.“
Nesrin war eingeschlafen. Hamid betrachtete ihr rundes, friedliches Gesicht. Das lange schwarze Haar bedeckte das zierliche Ohr und floss über den Hals bis auf die volle Brust. Die feinen Brauen schwangen wie Flügel über dem dichten Fächer der langen, gebogenen Wimpern. Die kecke Nase reckte zwischen den runden Wangen hervor. Endlich stand ihr Mund still. Die Lippen leicht geöffnet, atmete sie tief und gleichmäßig. Er erkannte die Züge des kleinen vorlauten Mädchens wieder und lächelte. Vor zwanzig Jahren erlebten sie ihre erste gemeinsame Flucht.
Nesrin war eine furchtbare Nervensäge. Im selben Moment kam die Erinnerung an den Tod seines Vaters und traf ihn mit voller Wucht.
Der Tag im September 1996 war heiß und schwül. Er schwitzte. Die Kinder waren in ihr Murmelspiel vertieft. Erst hörte er nicht. Verärgert über die Störung schaute er auf.
„Hamid, lauf nach Hause. Beeil dich. Es ist etwas passiert.“
„Was denn? Ist Oma verletzt?“
Widerwillig ließ er von seinem Spiel mit den Murmeln ab. Onkel Chabib schaute ihn ernst und eindringlich an. Auf einmal zwickte es im Bauch und er lief, so schnell er konnte. Vor der Tür standen Menschen, sprachen flüsternd miteinander und sahen ihn merkwürdig an. Oma saß auf dem Boden, hielt einen Mann in ihren Armen. Sein Kopf war gesenkt. Im Bauch hatte er winzige Löcher, aus denen es blutete. Sie winkte ihm mit der Hand.
„Komm, Habibi, mein Liebling, dein Vater hat dir etwas Wichtiges zu sagen.“
„Papa?“
Zaghaft näherte er sich, schaute in das blutige, geschwollene Gesicht. Sein Vater hob den Kopf, blinzelte, erkannte ihn und öffnete den Mund.
Blut floss heraus. Jemand reichte ihm ein Tuch.
Er fuhr dem Verletzten damit über das Kinn, behutsam, zärtlich. Papa. Langsam bewegte der Vater die Lippen, formulierte mühsam die Botschaft für seinen Sohn.
„Hamid, du bist fast erwachsen. Bitte... nicht lügen, du … keinen töten. Lerne, studiere, ... in Deutschland.“
Er hörte die Worte, sie drangen nicht in sein Inneres. Heiser rief er:
„Papa. Bleib hier. Stirb nicht!“
Ein Schluchzen schnürte ihm den Hals zu. Der Vater hob die Hand, wollte ihm über den Kopf streichen. Der Körper rutschte zur Seite. Er sah die riesigen Löcher im Rücken, aus denen schwarz das Blut pulsierte.
Jemand zog ihn fort. Ein Arzt kam, schüttelte den Kopf. Oma rief und klagte. Nie hatte er sie so gehört. Mit den Fäusten schloss er die Ohren, zitterte gegen die Kälte, starrte blicklos, schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, bis ihn Chabib auf den Boden legte.
Weiche Hände weckten ihn und reichten ihm Tee.
Er trank. Es tat gut.
„Wo ist Papa?“
„Papa ist tot. Komm, Hamid, wir müssen gehen.
Du darfst nicht hierbleiben.“
In der Nacht begruben sie den Vater. Oma packte ein Wäschebündel und brachte ihn in der Dunkelheit zu Chabib. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn zärtlich auf die Wangen. Er schluchzte tief auf und schlang seine Arme um ihren dünnen Körper. Lange standen sie so, bis sie sich mit sanfter Gewalt befreite.
„Pass auf den Jungen auf, Chabib. Er wird dir wie ein Sohn sein. Sein Vater hat es so gewollt. Und wenn er fragt, sag ihm die Wahrheit. Erzähl ihm von Zaher und seiner Mutter. Hier, nimm das Geld, was Navid gebracht hat. Ihr werdet es brauchen.“ Hastig verließ sie das Haus. Hamid blieb wie gelähmt neben der Tür stehen, eine Hand verharrte in der Luft. Der Onkel fasste ihn um die Schultern, drückte ihn sanft auf einen Stuhl und sah ihm in die Augen.
„Du kommst mit uns, Hamid. Tante Hanieh, unsere Tochter Nesrin und ich, wir sind deine neue Familie. Dein Vater war mein bester Freund.
Er wollte, dass du bei uns bleibst. Wir suchen uns ein neues Leben. Schau nach vorn. Vergiss nicht seine letzten Worte.“
Über Sher Khan Khel dämmerte es. Von der Fabrik klang wütendes Maschinengewehrfeuer herüber. Die Taliban schlugen die Mudschaheddin in die Flucht. Ein neues Böses eroberte den Ort. Zu Fuß durchquerten sie das Tal, erklommen die sanften Hänge der Berge, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Er nahm erschöpft die Umgebung wahr. Die Bilder der Nacht verblassten. Tante Hanieh gab ihm Wasser.
Um ihn herum wuselte dieses lebhafte Geschöpf mit den kurzen Beinen, hüpfte und trällerte.
Manchmal sah sie von Papas Schultern auf ihn herab. Dann wieder tanzte sie ihm vor die Füße, pflückte hier, bewunderte dort etwas. Sie blieb stehen, sah ihn mit ihren schwarzen Augen energisch an und bestimmte:
„Hamid, du musst lachen. Sonst geht die Sonne weg.“
„Du nervst, Nesrin. Sei still und lauf!“
Hamid hatte nicht viel geschlafen. Um fünf Uhr musste er aufstehen, um sechs auf der Baustelle sein. Nesrin machte ihm Frühstück, setzte sich und sah schweigend zu, wie er aß.
„Dann willst du mit mir eine lange Reise machen?
Wie machen wir’s? Flugzeug, Schiff? Bist du eigentlich schon mal mit dem Zug gefahren?“
Vergnügt schaute er sie an.
„Ja, ich will alles ausprobieren. Bloß nicht laufen.
Sag mal, Hamid, wie weit ist es bis nach Deutschland?“
„Weiß nicht genau. Früher habe ich mal nachgesehen. Ich meine, um die 5.000 bis 7.000
km. Kommt drauf an, wie wir fahren.“
„Nein, so weit? Und durch welche Länder fahren wir?“
„Ich zeig’s dir auf Maps. Siehst du? Hier ist Teheran. Ganz durch den Iran nach Westen in die Türkei. Und dann quer durch die Türkei bis Izmir, da am Mittelmeer. Hier, siehst du, einen Fingerbreit über das Wasser, ist Athen.“
„Sieht nicht weit aus. Warst du schon dort?“
„Nö, weißt du doch.“
„Und welche Länder noch?“
„Hier, schau, von Athen nach Norden, durch Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich nach Deutschland.“
„Das sind acht Länder. Hamid. Wir sehen die Welt!“
Wie ein Kind klatschte sie in die Hände.
„Aber ich kann nur ein bisschen Englisch. Wie macht man das ohne Sprache?“
„Das wird sich schon finden. Irgendwer hilft immer. Ich muss jetzt los.“
„Pass auf, dass dich die Bassidschi nicht schnappen. Denk daran, sie wollen dich mitnehmen. Sagst du dem Chef Bescheid?“
„Ich spreche mit ihm. Dann krieg ich noch mein Geld für diesen Monat. Aber er wird sauer sein.
Ich bin schon der Dritte, der ausfällt.
„Ich schreibe alles auf, was wir brauchen und noch erledigen müssen. Vater wird mir sicher dabei helfen.“
„Küss die Kinder. Ciao.“
Auch Chabibs Schlaf war unruhig und kurz. Er machte sich Sorgen um die Kinder. Seit der Krieg in Syrien tobte, zeichnete sich ab, dass er sie irgendwann einholen würde. Sie waren selbst nur geduldete Flüchtlinge im Iran, hatten Glück, sich mit Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Mehr als zwei Millionen waren in den letzten zwanzig Jahren aus Afghanistan hierher geflüchtet. Jetzt forderte die Regierung ihren Tribut. Die jungen Afghanen sollten gegen den IS in Syrien kämpfen. Anerkennung durch einen Pass, monatlicher Sold von 500 $ und Schulbildung für die Kinder schufen genug Anreiz, um viele zu überzeugen. War das ein Weg für Hamid und Nesrin? Aktuell kamen in den Nachrichten viele Berichte über Fluchtwege nach Europa. Die deutsche Kanzlerin hatte Flüchtlinge willkommen geheißen und für ihr Volk gesagt:
„Wir schaffen das.“ Nun gut, Politiker sagen heute dies und morgen das. Trotzdem hatte ihr Wort Gewicht. Bis spät in die Nacht hinein sprach er mit seiner Frau über die Zukunft, suchten sie nach Wegen, debattierten Für und Wider, fielen schließlich in einen unruhigen Schlaf.
Beim Frühstück saßen auch die Sorgen mit am Tisch.
„Nesrin ist so klein und zart. Wie wird sie diesen weiten Weg schaffen? Die Schwangerschaft kommt dazu. Was ist, wenn sie unterwegs entbinden muss? Wer wird ihr helfen? Hamid kümmert sich wunderbar um die Kinder. Aber er ist ein Mann. Und wenn sie krank werden? Man hört so viele schlimme Dinge, die sie mit den Flüchtlingen machen. Was wird, wenn sie sich verlieren, getrennt werden?“ Haniehs Stimme war dünn und belegt von unterdrückten Tränen.
„Frau, du kennst doch deine Tochter. Sie ist stark. Und Hamid ist ein guter Mann, er lässt sie und die Kinder nie im Stich.“
„Ja, sie hat deinen Dickschädel geerbt. Immer durch die Wand. Ich habe Angst davor. Diesmal ist das alles zu groß für sie.“ Schweigend tranken sie den Tee. Essen mochten sie nicht.
„Was meinst du, werden sie in Deutschland ein gutes Leben haben?“
„Sicher, Hanieh. Erinnerst du dich an die Deutschen aus der Textilfabrik in Gulbahar?
Feine Menschen, gebildet und korrekt. Hamids Vater hat viel von ihnen gelernt.“
„Die Kinder sind in der Fremde als Flüchtlinge aufgewachsen. Sie wissen, wie so ein Leben ist.
Beide sind jung, wollen lernen und arbeiten. Die Kleinen werden es dort gut haben. Besser als hier. Man erzählt, dass in Deutschland alle Kinder in die Schule gehen, nicht nur die deutschen.“
„Das ist so. Was mir zu schaffen macht, sind die Nachrichten aus der Heimat.“
„Deshalb bist du seit Tagen so schweigsam.“
„Mein Cousin hat aus Kabul angerufen. Er hatte dort zu tun. Zaher ist jetzt hoher Kommandant bei den Mudschaheddin, die rechte Hand des Innenministers. Irgendwer hat ihm erzählt, dass wir hier sind. Er hat jemanden geschickt, Hamid zu finden. Du weißt, was er will. Hamid und die Kinder müssen weg.“
Hanieh sah ihn mit erschrockenen Augen an, eine Hand vor den Mund gepresst.
„Das ist nun zwanzig Jahre her. Er hat Navid erschossen und jetzt will er seinen Sohn?
Vielleicht auch noch den Enkel? Hört das denn nie auf?“
„Mach dir keine Sorgen. Wenn ein Fremder hier herumlungert, bekomme ich Nachricht. Wir passen auf. Ich rede mit Hamid.“
„Ja, mach das. Über das Geld hatten wir ja schon gesprochen. Ich denke, du machst es richtig. Ach, Chabib, die Kinder fehlen mir jetzt schon.“
Nesrin blieb am Tisch sitzen, in Gedanken versunken. Hamid hatte die Unbekümmertheit mitgenommen. Es ist so weit nach Deutschland.
Sanft strichen ihre Hände über den nur schwach gewölbten Bauch. Du wirst wachsen und schwer sein. Alle Last muss dann dein Papa tragen, mein Kleines. Welche Wege werden wir zusammen gehen? Ich muss aufschreiben, was zu tun ist.
Die Geburt ist in fünf Monaten. Bis dahin müssen wir in Deutschland sein. Vater hat viele Verbindungen, kennt auch einen zuverlässigen Schleuser. Hamid hat in den letzten Jahren gut verdient und einiges beiseitegelegt. Wir müssen es schaffen. Wenn die Kinder wach sind, werde ich mit ihnen sprechen und sie vorbereiten. Sie sind so begeisterungsfähig und nicht verwöhnt.
Trotzdem wird es schwer für sie. Es ist noch so vieles zu beachten.
Nach der Arbeit ging Hamid zu Mahmoud. Chabib hatte ihm die Adresse gegeben. Das Haus befand sich am Rande eines Parkes, war von Bäumen umgeben. Der Schnee war geschmolzen und bildete große Pfützen. Auf sein Klingeln wurde er in einen Innenhof gelassen, in dessen Mitte ein Springbrunnen mit wundersamen Bronzefiguren stand. Im Winter wurde das Wasser abgestellt.
Leicht fuhr er beim Vorübergehen über das glatte, kühle Metall. Er mochte Stoffe jeglicher Art berühren. Es gab ihm Halt und Kraft. Auf dem marmornen Treppenabsatz erwartete ihn der Hausherr, gekleidet in einen warmen Kaftan. Mit seinem vollen weißen Haupthaar und dem gepflegten Schnurrbart war Mahmoud eine respektvolle Erscheinung.
„Komm herein, mein Sohn.“
„Salam Aleikum, Mahmoud.“ Der Besucher streifte sich die Schuhe von den Füßen.
„Aleikum Salam.“
„Ich soll Grüße von Chabib bestellen.“
„Das freut mich. Wie geht es ihm und seiner Frau?“
„Es geht ihnen gut. Sie sind gesund.“
„Das höre ich gern. Dann bist du Hamid, der ihre Tochter bekommen hat? Du bist ein Glückspilz.
Komm herein, nimm Platz.“ Mahmoud führte ihn in ein Arbeitszimmer mit einem großen Schreibtisch und einer Sitzecke. Um ein niedriges Tischchen mit edlen Intarsien waren vier Sessel gruppiert. Hamid versank mit den Füßen in dicken Teppichen, die den Boden bedeckten. Er hätte sie gern mit den Händen gestreichelt, um ihre Kraft zu spüren, die historischen Motive betrachtet. Sie setzten sich. Die Sessel waren bequem, der Raum strahlte Behaglichkeit und Wärme aus.
„Sag, was führt dich zu mir? Ich hoffe, nichts Schlimmes?“
„Wie man’s nimmt. Wir müssen so schnell wie möglich nach Europa.“
„Bist du sicher, dass die Entscheidung richtig ist?“
„Ja, es geht nicht anders, Mahmoud.“
„Wollen sehen, was sich machen lässt. Ich muss dir ein paar Fragen stellen, die dir vielleicht ungewöhnlich erscheinen. Du musst nicht antworten. Wenn du es aber tust, dann sag die Wahrheit.“
„Frage.“
„Wer bedroht dich?“
„Die Bassidschi und mein Onkel Zaher in Afghanistan.“
„Ich habe davon gehört.“
„Du bist gut informiert, Mahmoud.“
„Das gehört zu meinem Beruf. Wer will verreisen?“
„Meine Frau, die Kinder und ich.“
„Was sagt deine Frau dazu?“
„Sie wollte es so.“
„Nicht gut, zu viel Risiko.“
Mahmoud schüttelte den Kopf und versank in Nachdenken, ohne Hamid zu beachten, der sich verstohlen die feuchten Hände an der Hose abwischte und seinen Atem beruhigte. Schließlich hob er den Blick und sah sein Gegenüber durchdringend an.
„Bist du sicher, dass du das auf dich nehmen willst?“
„Ich habe es mir gut überlegt.“
„Wie alt sind die Kinder?“
„Der Junge ist sieben, die Mädchen fünf und drei Jahre alt.“
Mahmoud seufzte und legte die Stirn in Falten.
Schwerfällig erhob er sich und ging zum benachbarten Schreibtisch. Hamid sah ihn Papiere hin- und herschieben, einen Taschenrechner hervorkramen. Umständlich setzte er sich wieder und begann in schneller Folge Zahlen einzugeben.
„Bis Griechenland kann ich euch bringen, dann müsst ihr weitersehen. Transport und Unterkunft sind meine Sache, Verpflegung eure. Pro Person 2.500 $, die Kleine geht so mit. 10.000 $, die Hälfte übermorgen bar bei mir.“
Hamid schluckte. Das war sehr viel mehr, als er gedacht hatte.
„Okay. Und die andere Hälfte?“
„Morgen zahlst du bei dieser Adresse 5.000 $ in bar ein. Du bekommst einen Code. Wenn ihr das Schiff besteigt, gibst du den Code per Handy an diese Nummer. Dann weiß ich, dass alles in Ordnung ist und bekomme meine Auslagen.“
Mahmoud notierte alles und reichte das Papier über den Tisch.
„Noch etwas, Hamid. Ihr seid persönlich für euch verantwortlich. Meine Mitarbeiter holen keinen Arzt und halten nicht an, wenn Töchterchen Pipi muss.“
Mahmouds Stimme war jetzt unbeteiligt, die Augen hart.
„Höre genau zu, Hamid. Ich trage das Risiko.
Meine Leute haben Anweisung, die Aktion sofort abzubrechen, wenn einer von euch sie in Gefahr bringt. Sie verschwinden dann und es kann sein, dass euch die Polizei erwischt. Du kennst mich nicht und ich weiß nicht, wer du bist. Klar?“
„Verstanden, Mahmoud. Wir werden alles so machen, wie du willst.“
„Am Abend vor der Abfahrt bekommst du einen Anruf über Ort und Zeit. Es kann jeden Tag passieren. Seid vorbereitet.“
„Danke, Mahmoud.“
„Grüß Chabib und Hanieh. Allah sei mit euch.“
„Komm, Nesrin, setz dich zu mir, lass uns reden.“
Die Mutter schaute sie an, mit Augen, in denen Güte und Liebe leuchteten. Gerade hatte sie die Kinder zum Mittagsschlaf hingelegt und wollte sich um die Wäsche kümmern. Das schaffte sie auch später. Eine kleine Pause tat ihr gut.
„Ich mach uns Tee, Mama. Es ist auch Gebäck da.“
„Danke, Tochter. Ich werde euch sehr vermissen.“
„Ich weiß, es geht mir genauso. Sobald ich daran denke, muss ich weinen.“ Verstohlen wischte sie eine Träne ab.
„Kind, ich denke, ihr habt richtig entschieden. Ich hoffe so sehr, dass alles gut wird. Achte auf dich, Nesrin, halte dich gesund. Hamid ist zwar stark und tut alles für euch. Du aber musst den Überblick behalten, fünf Schritte vorausschauen.
Sieh den Menschen nicht nur in die Augen, sieh ihnen ins Herz. Halte alle zusammen. Wenn deine Zeit gekommen ist, müssen Hamid und die Kinder sicher sein. Such dir Hilfe für dich und das Baby.
Ich habe dir noch ein paar Kräuter, Salbe und Tee zusammengepackt. Sie werden dir nützlich sein.
Wenn sie Husten bekommen, dann gib ihnen diesen Saft. Die Salbe ist für wunde Füße und der Tee beruhigt und heilt von innen.“
„Danke, Mama. Es wird uns nützlich sein. Ich werde immer an dich und Papa denken. Wir melden uns. Bis Griechenland dürfen wir die Handys nicht benutzen. Es ist sicherer. Du wirst sehen, wir schaffen das. Sei ganz beruhigt.“
„Wenn du den Kindern abends gute Nacht sagst, gibst du ihnen immer auch einen Kuss von uns?
Sie sollen uns nicht vergessen.“
„Das werden sie nicht, Mama.“
Im Nebenzimmer stand Omid an der Tür und lauschte dem Gespräch von Mutter und Oma.
Warum weinten sie denn? Es ist doch schön, wegzufahren. Mama hat gesagt, dass sie viele Länder sehen und später in dem besten Land der Welt leben werden. Oma und Opa können ja auch dorthin kommen.
„Omid, du sollst doch nicht lauschen.“ Maryam stellte die Beine auf den Boden und schlich sich neben ihn. Jasmin, die Kleinste, schlief.
„Psst, sei leise.“
„Ich werde Oma und Opa auch vermissen. Sie kriegen jeden Abend einen Kuss von mir.“
„Wir werden in die Schule gehen, Mariam.“
„Au ja, dann kann ich richtige Bücher lesen.
Weißt du, was ich noch machen will?“
„Bestimmt wieder Blödsinn.“
„Nein, Omid, ich will Ballett machen. Schau mal, Spagat kann ich bereits.“
Schon saß sie aufrecht, ein Bein nach vorn, eins nach hinten gestreckt, die Arme graziös erhoben.
„Gleich fliegst du los. Tut das nicht weh?“
„Nö. - Omid?“
„Ja?“
„Mama hat doch gesagt, dass wir kein Spielzeug mitnehmen dürfen.“
„Hm, hat sie gesagt. Wir müssen ja so viel anderes tragen.“
„Ich nehme meine Puppe trotzdem mit. Aber nicht verraten.“
„Mach ich nicht, find ich aber nicht gut.“
„Omid? – Wollen wir beide immer auf Jasmin aufpassen? Sie kann ja noch nicht viel laufen und weint immer so schnell.“
„Machen wir, versprochen. Aber du darfst mich nicht mehr ärgern.“
„Ich ärgere doch niemanden. Ich mache nur Spaß.“ Mariam grinste und schlüpfte wieder unter die Decke.
Fünf Tage waren vergangen, seit sie sich entschieden hatten. Sie waren ausgefüllt mit Besorgungen, Absprachen, Abschiednehmen.
Hamid hatte in der Firma gekündigt und sein Geld für Januar bekommen. Der Chef war nicht glücklich, ihn auch noch zu verlieren. Aber es standen genug Flüchtlinge bereit, seine Stelle einzunehmen. Die Hälfte der geforderten Summe hatte er an Mahmoud übergeben, die andere auf die illegale Bank eingezahlt. Inzwischen war er um einiges klüger, wusste Dinge, die er nicht für möglich gehalten hatte. Es schien, als existierte neben der offiziellen Welt noch eine, die niemand sah, tief verborgen, voller Geheimnisse und Gefahren. Wenn er an die Männer dachte, denen er sein Geld anvertraut hatte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Aber es hatte den Anschein, als würde es mit dem Code seine Richtigkeit haben.
Bald würde es losgehen. Heute war Sonntag. Sie wollten sich noch mit den Schwiegereltern zusammensetzen, wenn die Kinder schliefen.
Der Abschied von Chabib würde ihm besonders schwer werden. Sie hatten sich nie viel Zeit füreinander genommen, beide schweigsam und arbeitsam. Hamid wuchs an seiner Seite auf, lernte alles von ihm, was er zum Leben brauchte.
Es gab keine Schule für einen 12-jährigen Flüchtlingsjungen im Iran. Er musste sein Essen selbst verdienen. Chabib nahm ihn mit auf die Baustellen. Er stellte sich geschickt an, lernte allein durch genaues Hinsehen, hatte eine besondere Gabe im Bearbeiten von Materialien.
Bald war er unentbehrlich und eine wertvolle Hilfe. Hamid fühlte, dass er für Hanieh und Chabib der Sohn war, der ihnen versagt blieb.
Am späten Abend des 31. Januar 2016 kam der Anruf:
„Morgen früh um 6.00 Uhr vor eurem Haus.“
1. bis 16. Februar 2016 Aufbruch in Firuzabad/Teheran (Auto), über die Grenze (zu Fuß) ca. 850 km
Es war kalt an diesem ersten Februarmorgen, aber kein Frost. Um sechs Uhr standen sie vor dem Haus, einen großen Rucksack neben sich.
Die Kinder waren warm eingepackt, konnten sich kaum bewegen. All ihre Kleidung hatten sie am Körper übereinander gezogen. Hanieh wischte sich immer wieder über die Augen. Chabib fütterte seine Enkel mit Süßigkeiten, schwatzte ununterbrochen.
Die Straße lag still, die Menschen in den Häusern schliefen. Zwei Frauen und zwei Jungen kamen auf sie zu.
„Hallo.“
„Guten Morgen.“
„Wartet ihr auch auf Mahmoud?“
„Hm.“
„Unsere Söhne fahren mit euch. Ihr seid aber viele. Die Kinder nehmt ihr auch mit?“
„Natürlich.“
Nesrin wandte sich an die größere der Frauen:
„Wie alt sind denn eure Söhne?“
„Meiner ist gerade zwölf geworden. Er heißt Farshad. Komm her, Farshad. Sag guten Tag.“
Der Junge schaute verschüchtert aus seiner großen Jacke auf die fremden Menschen. Er trug einen Rucksack, der viel zu schwer für ihn war.
„Herzlich willkommen, Farshad. Setz den Rucksack ab. Noch ist das Auto nicht da.“ Hamid half dem Jungen, das schwere Gepäck abzusetzen.
„Da willst du ganz allein auf die weite Reise gehen?“ Der Junge brummte nur.
„Es geht nicht anders. Mein Mann ist in Syrien geblieben. Ich habe noch sechs zu Hause, die alle essen wollen. Farshad ist der älteste, ein guter Junge. Vielleicht könnt ihr ein Auge auf ihn haben. Manchmal vergisst er zu essen.“
Betroffen schaute Nesrin die Frau an. Im Dunkel war ihr Gesicht schlecht zu erkennen. Die Stimme war jung, die Bewegungen flink.
Nesrin ging zu dem Jungen, schaute ihm ins Gesicht und sagte: „Wenn du willst, bleib nah bei uns. In Gesellschaft schmeckt es auch besser.“
Zur Mutter gewandt:
„Er kann mit uns gehen. Aber ich kann für nichts garantieren.“
„Du bist eine gute Frau. Hab vielen, vielen Dank.
Ich werde für euch alle beten.“
Die andere Frau hielt sich mit ihrem Jungen abseits, schaute verstohlen herüber, dann wieder auf ihr Handy. Sein Gepäck war weniger umfangreich. Neben dem Rucksack hatte er eine Umhängetasche, die er mit beiden Händen vor dem Bauch festhielt. Sein Gesicht versteckte er in der riesigen Kapuze einer viel zu großen Jacke.
Die Mutter schaut zu ihm auf und sagte:
„Bleib bei diesen Menschen. Sie machen einen guten Eindruck.“
„Es wird sich schon finden, Mama. Ich bin kein kleines Kind mehr.“ Der Stimmbruch hatte gerade erst begonnen.
„Nadim ist schon fast 14. Er ist sehr selbstständig und wird niemandem zur Last fallen.“
„Mama, das interessiert doch keinen.“
„Seine älteren Geschwister leben in Europa. Er bekommt hier keine Ausbildung, will aber unbedingt studieren. Wir können ihn nicht aufhalten. Er ist schon zweimal weggelaufen.
Vielleicht kommt er mit euch zusammen durch?“
Die zweite Frau war nah an Nesrin herangetreten und sah ihr flehentlich ins Gesicht.
„Was soll ich dazu sagen? Ich kann nicht auf ihn aufpassen. Wir haben selbst drei kleine Kinder.“
„Nein, nein, er muss nur wissen, zu welcher Gruppe er gehört.“
„Dann muss er auf sich aufpassen und die Augen offenhalten.“
Hamid schaute beunruhigt auf die Uhr:
„Es ist nach sechs. Wisst ihr, ob etwas dazwischen gekommen ist?“
„Er wird schon kommen.“ Chabib hatte keine Eile, sich von den Kindern zu verabschieden. Zärtlich drückte er seinen kleinen Liebling an sich, nahm Jasmins Nase zwischen die Finger und zog daran:
„Schau, die Nase bleibt bei mir. Und wenn sie Schnupfen bekommt, dann weiß ich, dass du an mich denkst.“
„Dann musst du sie auch immer putzen, Opa.“
Mariam und Omid vertrieben sich die Zeit mit Hüpfen und Fangen. Plötzlich fiel etwas auf den Boden. Hastig bückte sich Mariam danach und versteckte es in der Jacke.
„Was hast du da, Mariam?“ Streng schaute Nesrin ihre Tochter an. Mit Tränen in den Augen rechtfertigte sich das Mädchen:
„Mama, sie hat so sehr geweint. Sie wollte nicht allein zu Hause bleiben. Bitte, darf meine Luna mitkommen?“
Ein Auto hielt am Straßenrand. Die Diskussion war entschieden. Zufrieden drückte Mariam ihre Puppe an sich. Die Jungen ließen sich widerstrebend ein letztes Mal von ihren Müttern umarmen. Hamid nahm seine jüngste Tochter auf den Arm. Nesrin schluchzte laut auf, als sie sich von ihren Eltern verabschiedete. Der Fahrer stieg aus, wies mit den Armen an, wohin das Gepäck und die sieben Personen zu platzieren waren. Es war kein Zögern und keine Rücksicht in der Stimme und den Gesten des jungen Mannes.
„Vater und Kind nach vorn, alle anderen hinten.“
Die fremden Jungen und Nesrin mit Mariam auf dem Schoß quetschten sich auf die Rückbank, Omid saß im Fußraum zwischen den Beinen.
Keine Zeit für ein Winken, nicht ein Blick zurück.
Schnell entfernte sich der Wagen. Die Insassen schwiegen. Mit ihren Gefühlen des Abschieds beschäftigt, ruckelten sie sich in der Enge zurecht, um ein gewisses Maß an Bequemlichkeit zu erlangen. Niemand wusste, wann sie halten würden.
„Du bist spät gekommen. Ist alles in Ordnung?“
Hamid betrachtete den jungen Fahrer. Abweisend, mit zusammengepressten Lippen und gerunzelten Brauen konzentrierte der sich auf das dunkle Band der Straße. Erst viel später, Hamid erwartete schon keine Antwort mehr:
„Mahmoud musste umdisponieren. Da kam noch jemand dazu. Aber so ist alles in Ordnung, keine Angst. Nächster Halt ist in Karadsch.“
Nesrin atmete auf. Karadsch war knapp 90 km entfernt. Die Straße war noch leer. Sie setzte Mariam zurecht und flüsterte Omid zu:
„Ist nicht weit. Nachher tauschen wir. Jetzt könnt ihr etwas schlafen.“
Bei der Ankunft in Karadsch wurde es bereits hell. Das Auto hielt in der Auffahrt zu einem unscheinbaren Haus neben einem weiteren PKW.
Der Fahrer wies sie an, ihr Gepäck zu schultern und ins Haus zu gehen.
Sie betraten eine ungeheizte Eingangshalle.
Sieben Personen saßen auf harten Stühlen. Am Boden stapelten sich zahlreiche Gepäckstücke.
Eine Frau hielt einen Säugling im Arm. Ein Mann und zwei kleine Kinder gehörten wohl zu ihnen.
Ein junger Mann von vielleicht 17 Jahren hatte einen Rucksack umklammert und stützte sein Kinn darauf. Seine Hände waren mit einem Handy beschäftigt. Ein junges Paar in auffallend teurer Kleidung blickte die Neuen freundlich an.
„Salam Aleikum.“ Höflich grüßten die Ankommenden und nahmen Platz.
„Aleikum Salam. Seid willkommen.“
Die Kinder musterten sich ungeniert, schließlich sollten sie die nächste Zeit miteinander verbringen. In ihren Augen waren schon Fragen zu lesen: Werdet ihr Freunde sein? Kann man mit euch spielen? Seid ihr lustig?
Die drei Jugendlichen und Erwachsenen gaben sich distanzierter, schwiegen freundlich, rückten näher zusammen. Es war kalt.
Eine Frau brachte ein Tablett mit Gläsern, Tee und Wasser. Dankbar griffen alle zu.
„Nun, dann sind wir also vollzählig.“ Sich die Hände reibend, betrat Mahmoud den ungemütlichen Raum, setzte sich auf den einzig freien Stuhl und musterte die Anwesenden. Dann zog er ein Stück Papier aus der Tasche, schob umständlich eine große Brille auf die Nase und las:
„Familie Sharifi und Ahmadi, zwei Erwachsene, drei Kinder?“
„Ja, das sind wir“, Hamid hob die Hand.
„Familie Wahidi und Azimi, zwei Erwachsene, drei Kinder?“ Jetzt wusste man auch den Namen der anderen Familie.
Alle wurden mit Namen aufgerufen, was sich aber niemand merken konnte. Später war gewiss Zeit, sich kennen zu lernen.
„Das ist jetzt die Gruppe Mahmoud. Merkt euch den Namen. Überall werdet ihr so aufgerufen. Ihr seid 15 Personen, davon 9 Kinder. Damit ist klar:
höchstes Risiko. Meine Mitarbeiter werden euch über die Grenze in die Türkei und später bis ans Meer bringen. Wenn ihr das Boot zur Überfahrt nach Griechenland besteigt, wird der Code durchgegeben. Dann müsst ihr allein weiter kommen. Bis dahin sind es etwa 2.800 km. Die Grenze überquert ihr zu Fuß, ansonsten seid ihr mit dem Auto, in der Türkei per Bus unterwegs.
Noch Fragen?“
„Wo werden wir schlafen? Wann werden wir ankommen?“
„Ob es wie geplant läuft, hängt vom Wetter, von der Polizei und von euch selbst ab. Bis zur Grenze werdet ihr im Auto schlafen, keine Pause. In der Türkei haben wir Bungalows gebucht. Vielleicht dauert es zwei Wochen, vielleicht drei. Es sollte kein Problem geben, wenn ihr die Anweisungen meiner Mitarbeiter befolgt.“
„Danke, Mahmoud.“ Leises Gemurmel begleitete ihn hinaus. Bis zur Grenze waren es mehr als 800 km. Nesrin nahm das Proviantpäckchen aus dem Rucksack. Sicher würden die Kinder Hunger und Durst bekommen. Sie hatte ihnen Windeln angelegt, weil sie unterwegs nicht anhalten durften. Natürlich genierten sich die beiden Großen. Besonders Omid schämte sich. Aber sie fügten sich. Es war besser so, als mit nassen Hosen stundenlang im Auto zu sitzen. Nesrin konnte sehr überzeugend sein.
Stunde um Stunde rollten die Autos in Richtung türkischer Grenze. Bald schliefen Nesrins Gliedmaßen ein und kribbelten. Schulter und Nacken schmerzten. Auf der Rückbank versuchten sich die fünf Personen einzurichten, ab und zu die Plätze zu tauschen, sich notdürftig zu bewegen. Nesrin rieb die eingeschlafenen Arme und Beine der Kinder. Mahmoud hatte sie gewarnt. Sie wagte nicht, den Fahrer um einen kurzen Halt zu bitten. Nach acht Stunden rasteten sie an einer abgelegenen Tankstelle.
Schwerfällig und breitbeinig machten sie die ersten Gehübungen, ließen das Blut wieder durch die Adern fließen. Eine Stunde der Erholung war angesagt.
„Da hinten ist ein Eichhörnchen. Schnell, sonst läuft es weg.“ Hamid animierte die Kinder, hinter ihm herzulaufen. Dabei schwenkten sie die Arme, beugten die Beine und hüpften um die Wette.
Auch die zwei Kinder der anderen Familie und Farshad schlossen sich dem fröhlichen Treiben an.
Dann ging die Höllenfahrt weiter. Bevor sie erneut einschliefen, fragte Mariam:
„Mama, dauert es noch lange?“
„Nicht mehr so lange. Bald sind wir an der Grenze.“
„Mama, was ist die Grenze?“
„Wir sind jetzt im Iran, dann kommt ein Strich und dann sind wir in der Türkei.“
„Sieht man den Strich?“
„Nein, den sieht man nicht. Manchmal ist er auf einem Berg, manchmal in einem Fluss, manchmal auch auf dem freien Land.“
„Müssen wir jetzt auf einen Berg? Oder in einen Fluss?“
„Das Wasser ist bestimmt kalt und tief.“ Angstvoll mischte sich Jasmin ein.
„Mal sehen, wie wir das machen. Jemand führt uns über die Grenze. Der weiß auch, wo wir am besten lang gehen müssen.“
„Ist da Polizei?“ Omids Interesse war geweckt.
„Ja, Grenzpolizisten.“
„Lassen die uns durch?“
„Wir dürfen ihnen nicht begegnen, sonst schicken sie uns wieder zurück. Das wäre richtig schlecht.“
„Und wenn wir ihnen begegnen? Können wir mit ihnen reden?“
„Bloß nicht. Wir müssen sehr aufpassen und ganz leise sein. Wenn sie da sind, müssen wir uns verstecken.“
„Mich finden sie nicht.“ Mariam klang überzeugt, da sie zu Hause beim Versteckspiel stets gewann.
„Ich weiß. Suchst du uns das beste Versteck?“
Omid vertraute ihrem Gespür. Sie hatte ihren Bruder oft genug an der Nase herumgeführt.
Die beiden Jungen lauschten interessiert.
„Wo wollt ihr euch denn verstecken? Da gibt es Bären und Schlangen. Die fressen euch.“ Farshad wusste Bescheid und grinste.
„Mama, gibt es da auch Bären und Schlangen?“
Mariam traute ihm nicht.
„Ich glaube nicht. Und wenn, dann haben sie Angst vor Menschen.“
„Siehst du, es gibt keine Bären und Schlangen.“
Nesrin verteilte Kekse und reichte die Wasserflasche herum. Auch Farshad und Nadim bedienten sich. Durch die Monotonie der Fahrgeräusche wurden die Kinder müde und erwachten erst, als das Ziel der Fahrt erreicht war.
Es war stockfinster. Die Fahrer setzten die Menschen ab, warteten, bis alle ihr Gepäck entladen hatten und fuhren ohne ein Wort davon.
Die Luft war kalt, frisch und klar. Ein halber Mond beleuchtete den Weg, der an einem Wald entlang führte. Nach einigen hundert Metern wurden sie von den Lichtern eines kleinen Hauses empfangen, das einsam zwischen den Bäumen stand. Ein alter Mann bat sie herein.
„Gruppe Mahmoud?“
„Ja. Wo sind wir? Wie geht es weiter? Warum sind die Autos weggefahren? Wo werden wir schlafen?
Wo ist die Toilette?“ Tausend Fragen stürmten auf den Mann ein. Er hob die Hände und schüttelte den Kopf.
„Toilette ist nicht. Ihr könnt hinter dem Haus in den Wald gehen. Gepäck stellt ihr hier ab. Ich rufe an, dann kommt jemand und führt euch über die Grenze. Bis dahin bleibt ihr hier im Raum. Ihr müsst warten.“ Nesrin nahm die Kinder und ging mit ihnen hinter das Haus. Dort lag überall Unrat, den zahlreiche Flüchtlinge vor ihnen hinterlassen hatten. Der Gestank verursachte ihr Übelkeit. Im Licht einer Taschenlampe half sie den Kindern. Es war eisig, Wolken waren aufgezogen und entluden dicke Tropfen, gemischt mit Schnee.
Der Aufenthaltsraum war nicht geheizt. Voll bekleidet platzierten sie sich auf dem Boden, aßen und tranken von ihren Vorräten. Stunden des Wartens vergingen. Die Kinder quengelten, bis sie einschliefen. Die Männer blieben unruhig und wachsam. Nesrin horchte vor dem Einschlafen auf ihr Baby im Bauch. Der Rücken schmerzte, in der Leiste spürte sie ein Ziehen. Sorgenvoll ruhte ihr Blick auf den Kindern. Sie hatte sich die Reise lustiger vorgestellt. Sie konnte viel ertragen, aber die erniedrigende Behandlung durch die Gehilfen Mahmouds empfand sie zutiefst demütigend.
Damit hatte sie nicht gerechnet. Das war erst der Anfang. Was mochte sie noch erwarten? Wenn bloß die Kinder gesund blieben.
Gegen Mitternacht wurde die Tür aufgestoßen.
Zwei dick vermummte Männer stellten sich breitbeinig auf und kommandierten:
„Aufstehen! Die Grenze ist für ein paar Stunden frei. Beeilt euch. Und Ruhe!“
Schlaftrunken erhoben sich alle, blinzelten und suchten ihr Gepäck zusammen. Das Baby weinte.
Die kleinen Kinder suchten Schutz bei ihren Müttern. Die Schleuser trugen lange Bärte und schmutzige Stiefel, rochen nach Tabak und verfaultem Laub. Der Größere hielt zwei Fläschchen mit einer Flüssigkeit in der Hand.
„Hier. Für die Kinder. Fünf Tropfen in Wasser.
Wenn sie das trinken, sind sie ruhig.“ Hamid nahm die Flasche, er wollte nicht unhöflich sein.
Allerdings hatte er nicht vor, seine Kinder durch Schlaftropfen ruhig zu stellen. Sie würden still sein.
„Er geht vorn“, der Riese zeigte auf seinen Kumpan, „ich hinten. Fasst euch an. Niemand spricht, Handys aus, SIM-Karten raus. Kein Licht.
Wenn’s Probleme gibt ...“ Er öffnete seine Jacke.
Mit großen Augen starrten die Flüchtlinge auf die Waffe in seinem Hosenbund. Er grinste und spie einen schwarzen Klumpen Kautabak auf den Boden. Nesrin wandte sich vor Ekel ab, konnte ihren Brechreiz kaum unterdrücken. Die Kinder drückten sich an sie. Behutsam strich sie ihnen über die Köpfe und zupfte ihre Kleidung zurecht.
Nach einem Moment entsetzten Schweigens kam Bewegung in die Gruppe. Sie schulterten die Rucksäcke. Der Revolvermann kaute auf einem neuen Priem und stellte sich vor die Tür. Streng musterte er die Kolonne. Noch bevor sich der Letzte eingereiht hatte, ging es los. Dunkelheit erschwerte die Orientierung.
Jasmin klammerte sich fest an Papas Schultern.
Nesrin hatte seinen Rucksack gefasst, an der anderen Hand Mariam, die wiederum von Omid festgehalten wurde.
„Mama, das ist wie in dem Märchen vom Rübchen. Jetzt müssen alle ziehen und fallen um.“ Mariams helles Lachen steckte die anderen Kinder an. Plötzlich waren die schwarzen Gespenster verflogen, die Schritte wurden leichter. Omid schaukelte fröhlich Mariams Hand hin und her.
„Psst, alle Mäuschen ab ins Häuschen, sonst kommt Kätzchen und macht Mätzchen, fängt die Mäuschen vor dem Häuschen.“ Nesrin stimmte in den munteren Ton ein, senkte dabei die Stimme.
Der Weg war weit, die Schritte wurden langsamer.
Die Füße schmerzten. Mitternacht war vorbei.
Nesrin ließ Hamids Rucksack los und nahm Mariam auf den Arm. Omid fasste Mamas Jacke.
Nach weiteren zwei Stunden hielten sie einen Moment inne, setzten Gepäck und Kinder ab, verschnauften. Die Schleuser orientierten sich.
Neben den Waldgeräuschen hörten sie jetzt auch Rauschen von Wasser.
„Mama, ich kann nicht mehr.“ Omids flehende Stimme berührte sie zutiefst.
„Liebling, bald, bald kannst du ausruhen.“
Mir ist so kalt, Mama. Siehst du nicht, wie meine Lippen zittern? Der Schnee liegt auf meiner Kapuze, auf den Haaren ist Eis. An den Handschuhen ist der Rotz aus meiner Nase gefroren. Ich spreize die Finger, mache die Faust, aber es wird nicht warm. Die Füße gehen, Schritt vor Schritt. Ich fühle sie nicht. Da sind nur Klumpen in den dreckigen Stiefeln, die immer schwerer werden. Ich sehe nicht, wo ich laufe, aber ich höre Blätter rascheln. Hier ist es glitschig und rutschig. „Mama, nicht so schnell!“ Ich halte deine Jacke, aber du ziehst so. Ich rutsche. Alles ist nass. Jetzt regnet es. Die Stiefel sinken in den Boden. Ich kann sie fast gar nicht rausziehen.
Mein Kinn zittert, die Finger sind ganz steif. Mein Bauch kneift. Die Beine wollen gar nicht mehr laufen. Ich muss noch ein bisschen durchhalten.
Du hast gesagt, bald kann ich ausruhen, Mama.