Sein Wort auf den Lippen - Claudia Dahinden - E-Book

Sein Wort auf den Lippen E-Book

Claudia Dahinden

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Beschreibung

Nidau, 1897. Durch Zufall entdeckt Charlotte ein lang gehütetes Geheimnis über ihre Herkunft, das sie zutiefst erschüttert. Bei einem Besuch in Bern sucht sie Zuflucht in einer Kirche – und findet Gott, eine Heimat, die sie nie erwartet hätte. Begeistert von der Bibel und inspiriert von der Heilsarmee kann sie nicht schweigen, besonders als sie die Not um sich herum sieht. Doch damit stößt sie auf großen Widerstand, vor allem in ihren eigenen Reihen. Charlotte muss sich entscheiden, wem sie folgen will: Gott und dem, was er ihr aufs Herz gelegt hat, oder den Glaubensgeschwistern, die sie davon abhalten wollen. Ein Roman der Bestsellerautorin Claudia Dahinden (»Die Uhrmacherin«-Reihe) vor dem Hintergrund der Schweizer Erweckungsbewegung über eine Frau, die ihre Stimme findet, um von dem zu erzählen, der ihrem Leben Sinn gab.

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Seitenzahl: 460

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Claudia Dahinden

Sein Wort auf den Lippen

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

ISBN 978-3-7751-7661-3 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6245-6 (lieferbare Buchausgabe)

© 2025 Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

haenssler.de

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Lektorat: Rebecca Schneebeli

Umschlaggestaltung: Oliver Häberlin, oha.swiss

Titelbild: Oliver Häberlin unter Verwendung bildgebender Generatoren

Satz und E-Book-Erstellung: Satz & Medien Wieser, Aachen

Für Christian Ringli,

der sich das mündige Christsein auf die Fahne geschrieben

und mich freigesetzt hat, mein Licht leuchten zu lassen.

Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel,

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Personenverzeichnis

Glossar schweizerischer Begriffe

Anmerkungen zum historischen Kontext

Ein paar Dankesworte

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

CLAUDIA DAHINDEN (Jg. 1971) wohnt in Grenchen in der Schweiz. Sie hat Zeitgeschichte studiert und arbeitet als Autorin, Sängerin und pastorale Mitarbeiterin. Ihre geistliche Heimat ist die Freikirche BewegungPlus Grenchen, deren Gemeindeleitung sie angehört. In ihrer Freizeit schaut Claudia gern nerdige Serien oder macht Spaziergänge mit ihrem Mann Beat.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über das Buch

WENN GOTT RUFT

Nidau, 1897. Durch Zufall entdeckt Charlotte ein lang gehütetes Geheimnis über ihre Herkunft, das sie zutiefst erschüttert. Bei einem Besuch in Bern sucht sie Zuflucht in einer Kirche – und findet Gott, eine Heimat, die sie nie erwartet hätte. Begeistert von der Bibel und inspiriert von der Heilsarmee kann sie nicht schweigen, besonders als sie die Not um sich herum sieht. Doch damit stößt sie auf großen Widerstand, vor allem in ihren eigenen Reihen.

Ein Roman vor dem Hintergrund der Schweizer Erweckungsbewegung über eine Frau, die ihre Stimme findet, um von dem zu erzählen, der ihrem Leben Sinn gibt.

»Ein Muss für Kirchenhistoriker und Liebhaber von Erweckungsgeschichte!«

NICOLA VOLLKOMMER, Buchautorin und Referentin

»Liebe, Herzschmerz, Konflikte, Kämpfe und Leidenschaft, eine Prise (Kirchen-)Geschichte und relevante Theologie. Ein Buch wie eine sanfte Welle, die einen mitträgt. Ermutigend!«

CHRISTOF LENZEN, Theologe und Autor

»Ein wunderbares Buch!«

DR. FRITZ PEYER-MUELLER, ehem. Rektor IGW

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Wer dieses Buch zur Hand nimmt, darf sich auf eine Reise in die historische Schweiz freuen, genauer in das Jahr 1897. Damals war die Schweiz als Demokratie noch ein Fremdkörper im Herzen Europas. Einiges war anders als im Umland, was auch in der Sprache ein wenig durchschlägt: Ich bin selbst Schweizerin und trenne mich nur ungern von manch lieb gewonnenen Helvetismen. Dem Lesepublikum aus Deutschland empfehle ich deshalb das Glossar am Ende des Buches, das die wichtigsten Begriffe kurz erklärt. Auch ein Personenverzeichnis und ein kurzer historischer Überblick finden sich dort.

Doch nun genug der Vorworte: Was auch immer anders sein mag, so ist der Mensch doch derselbe, egal, ob er heute oder vor 150 Jahren, in der Schweiz, in Deutschland oder ganz woanders lebt. Uns alle treiben die gleichen Wünsche, Sehnsüchte und Träume an. Und so hoffe ich, dass auch du dich in diesem Buch wiederfindest.

Herzlich,Claudia Dahinden

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

 Kapitel 1 

Die Perle an Charlottes Hals glänzte milchig im Schein der Frühmärzensonne, die durch das Fenster fiel. Sie strich über die glatte Oberfläche. Ein schönes Stück; so großzügig war Mutter noch nie gewesen.

»So kann man dich unter die Leute lassen.«

Charlotte zuckte zusammen, als ihre Mutter plötzlich hinter sie trat und zufrieden in den hohen Spiegel über ihrem Frisiertisch blickte. Es ihr gleichtuend, sah sie hoch und ließ den Blick über ihr dunkelbraunes, sonst so störrisches Haar gleiten, das sich in kunstvollen Schlingen auf ihrem Kopf türmte, dazwischen Perlen und Geschmeide, die in der Sonne blitzten. Schön war es wohl, aber das war nicht sie.

»Ich sehe so anders aus.«

»Alles, was anders ist, ist gut! Heute Abend wirst du uns Ehre machen.«

Mutters Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Resigniert rückte Charlotte die Spangen an ihrem Kopf zurecht.

»Was machst du für ein Gesicht? Lächle ein wenig. Das ist ein Freudentag!«

»Ich mache kein Gesicht, Mutter. Es ist einfach so.«

»Streng dich an! Ich will mich nicht wieder schämen müssen. Und jetzt mach, dass du in dein Kleid kommst. Ich schicke dir Elsbeth. Die Gäste kommen bald!«

»Ja, Mutter.«

Und jetzt geh. Du machst mich wahnsinnig.

Nun nahte Erlösung in Form von Hufgetrappel und dem Knirschen von Kutschenrädern, das durch das hohe Fenster ihres Schlafzimmers drang.

Mutter sprang auf und spähte hinunter. »Die Blumen für die Tische. Endlich!« Sie eilte aus dem Zimmer und bald war das hektische Stakkato ihrer Absätze auf den Marmorstufen zu hören.

Erleichtert stand Charlotte auf und stellte sich ans Fenster. Eben hastete Mutter auf die Blumenhändlerin zu, die die Gestecke hereintrug. Hören konnte sie nichts, aber an der Art, wie die Frau den Kopf zwischen die Schultern einzog, prasselte eine von Mutters Tiraden auf sie ein. Die arme Frau! Immerhin schenkte ihr das einen Moment Ruhe.

Es klopfte an der halb geöffneten Tür. »Charlotte – Fräulein Henzi? Ich soll dir – Ihnen – beim Ankleiden helfen.«

Verwundert drehte sie sich um zu Bethli, die mit gesenktem Kopf in der Tür stand.

»Was soll das Sie, Bethli?«

Bethlis Wangen färbten sich purpurn. »Deine, ich meine Ihre Mutter – Frau Henzi hat gesagt, das gehöre sich jetzt so.«

»Du liebe Güte! Da müssen wir uns wohl fügen, aber nur in Gesellschaft. Jetzt sind wir unter uns.« Charlotte erhob sich und schloss die Tür hinter der Zofe.

»Wie du meinst.« Bethli blickte sich so ängstlich um, als könne Mutter sie in der Einfahrt hören und stünde gleich im Zimmer, aber Charlotte konnte es ihr nicht verübeln. Das Leben war bedeutend einfacher, wenn man tat, was Mutter wollte.

Sie ließ sich von Bethli in das Kleid helfen, wartete geduldig, bis alle Knöpfe verschlossen waren und die Robe richtig saß, und stellte sich dann vor den Spiegel.

»Ein wunderbares Kleid«, rief Bethli begeistert aus.

»Mir hat das moosgrüne besser gefallen als dieser Korallenton, aber Mutter fand, ich sehe damit wie eine verschrobene Waldhexe aus. Als mir herausgerutscht ist, dass es dann zu mir passt, fand sie das nicht lustig, vor allem, weil Großrat Aegerters Frau im Laden stand.«

»Ich finde, das hier steht dir gut.«

»Die Farbe ist zu lieblich. Aber Mutter glaubt wohl, es gleiche aus, dass ich zu wenig damenhaft bin.«

Kritisch musterte Charlotte sich im Spiegel: Die hohe Stirn, die dunklen Brauen und die grauen Augen darunter, die nach Ansicht ihrer Mutter immer zu wenig lebhaft und freundlich blickten; die zu kräftige Nase und die vollen Lippen. Auch der kurze, wenig schwanenhafte Hals, die unauffällige Oberweite und die schmalen Hüften entlockten Mutter nur wenig Begeisterung. »Ein Maultier, dem man einen Pferdesattel aufgelegt hat«, befand sie.

»Sag das nicht«, protestierte Bethli. »Ich wünschte, ich hätte dein Haar. Meins ist so rot und kraus, dass alle mich fragen, ob meine Mutter aus Irland stammt. Und auf die Sommersprossen könnte ich verzichten. Du siehst wunderschön aus und ich freue mich, dass dein Zwanzigster prächtig gefeiert wird.«

Charlotte drehte sich um und drückte Bethlis Hand. »Danke Bethli. Niemand kann sich so mitfreuen wie du. Aber ich weiß nicht, ob ich mich selbst freue. An solchen Veranstaltungen rede ich immer über das Falsche. Mutter meint, ich zeige zu wenig Begeisterung, wenn die jungen Herren über ihre Pferde und Häuser sprechen.«

»Freu dich an den vielen Gästen, die für dich anreisen«, entgegnete Bethli. »Es ist deine Feier.«

»Nicht wirklich. Mutter hat nur zugestimmt, weil sie Agathe unter die Haube bringen will.«

»Heißt das, deine Mutter wollte dir zum Zwanzigsten kein Fest ausrichten?«

Die rechtschaffene Empörung in Bethlis Gesicht entlockte Charlotte ein Lächeln. »Sie beklagte, wir bräuchten eine Aussteuer für Agathe und könnten keine Unsummen für meinen Geburtstag ausgeben.« Sie zuckte die Achseln. »Ich hatte nichts anderes erwartet, aber Vater hielt dagegen, wir würden nicht am Hungertuch nagen. Damit war die Sache geregelt. Mutter hat die Gästeliste dann mit einigen der weniger begüterten Patriziersöhne angereichert. Wenn sie Glück hat, heiratet mich einer und nimmt ihr die Last ab.«

Charlotte hielt inne. Sie hatte scherzhaft klingen wollen, doch auch ihr fiel der bittere Ton in ihrer Stimme auf.

Zögernd legte Bethli ihr eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht ist ein netter junger Mann dabei.«

»Normalerweise interessieren sich junge Männer nicht für mich. Und ich habe noch keinen getroffen, der mich interessiert hätte.« Sie seufzte. »Wenn ich Vater und Mutter zusammen sehe, frage ich mich, ob die Ehe wirklich etwas so Wunderbares ist.«

Bethli wandte sich mit betretenem Gesicht dem Frisiertisch zu und richtete Haarbürste und Kamm so akkurat aus, als wolle sie einen Preis gewinnen. Bei diesem Anblick schoss Charlotte die Hitze in die Wangen. »Entschuldige, das hätte ich nicht sagen sollen. Aber sie kommen mir nicht sehr glücklich vor.«

»Elsbeth, ich brauche dich!« Mutters scharfe Stimme unterbrach Bethli, die sich eilig in Bewegung setzte und das Zimmer verließ.

Charlotte drehte sich um und betrachtete sich noch einmal im Spiegel. Sie hatte keinen Ehrgeiz, heute Abend einen Mann zu finden – sie war schon froh, wenn sie alles gut überstand. Aber sie musste gegen ihren Willen zugeben, dass das korallenrote Kleid Farbe in ihre blassen Wangen zauberte. Nur diese Haare … Unmutig betastete sie ihre Frisur. Am Kunstwerk auf ihrem Kopf konnte sie nichts mehr ändern, ohne ein Chaos anzurichten, aber an den straff gezurrten Schläfenhaaren. Sie griff nach hinten und zog vorsichtig ein wenig Haar aus der Spange. Nun saß es lockerer und sie sah wieder mehr wie sie selbst aus; allerdings immer noch zu streng für ihren Geschmack. Kurz entschlossen zog sie an ihrer linken Schläfe eine Haarsträhne aus dem Dutt und legte sie an ihre Wange, wo sie sich verwegen ringelte. Viel besser! Immerhin war es ihre Geburtstagsfeier. Und wenn sie gleich die Treppe hinunterstieg, konnte Mutter nichts mehr daran ändern.

Zehn Minuten später klopfte es an der Tür. »Charlotte, bist du bereit? Die Gäste warten.« Vaters Stimme klang entspannt und gut gelaunt. Zum Glück ließ er sich selten aus der Ruhe bringen.

Charlotte stand auf und öffnete die Tür.

»Wunderschön siehst du aus! Darf ich mich überhaupt mit dir sehen lassen?« Vater zupfte an seinem unordentlichen Kragen, sein ernstes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

Charlotte spürte, wie sich auch auf ihrem Gesicht ein Lächeln breitmachte. Zum Glück war es Vater, der sie hinunterbegleitete. Obwohl er seine Gefühle nicht oft zeigte, ahnte sie meistens, was in ihm vorging. Sein distanziertes Wesen war ihr viel lieber als Mutters fordernde Art.

»Lass uns gehen; Mutter wartet«, sagte er nun, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

Charlotte nickte und schritt neben ihm auf die Treppe zu, während im Foyer das Plaudern der Gäste zu einem gespannten Flüstern verebbte und schließlich verstummte. Unter dem schmalen Rock begannen Charlottes Beine zu zittern. Warum hatte Mutter auf diesem pompösen Treppenauftritt bestanden? Zaghaft machte sie einen Schritt nach vorne. Jetzt konnte sie die Gesichter sehen: Viel zu viele waren es; blasse Kreise, die alle in ihre Richtung blickten: Die Frauen kritisch und prüfend; die Männer sorglos und uninteressiert.

Ihr Bein verharrte vor dem Treppenabsatz.

Sie schaffte das nicht.

Mutter stand am Fuß der Treppe wie die Leitwölfin eines Rudels, mit angespanntem Kiefer und einer steilen Falte zwischen den Augen, die verriet, wie nervös sie war. Neben ihr stand Agathe und verzog den Mund, als habe sie in eine Zitrone gebissen. In ihren hellen Augen glitzerte ein hoffnungsvolles Funkeln. Wahrscheinlich wartete sie darauf, dass geschah, was Charlotte befürchtete: Dass sie stolperte und einen Narren aus sich machte.

Den Gefallen würde sie ihr nicht tun. Sie hob das Kinn und zwang sich, den Blick von den Gästen weg der Treppe zuzuwenden. Vierzehn Stufen waren es; jedes Mal, wenn sie als Kind hinauf- oder hinuntergerannt war, hatte sie sie im Kopf gezählt. Vier waren geschafft, acht lagen noch vor ihr. Schritt für Schritt kamen die Gesichter näher und das Raunen der Gäste drang an ihr Ohr.

»Sehr elegant.«

»Wunderschön!«

Mutters Kiefer entspannte sich. Jetzt lächelte sie sogar und auch Charlottes Anspannung löste sich. Zwölf, dreizehn, vierzehn. Es war geschafft.

Vater nahm sie am Arm. »Komm, Liebes. Wir stellen uns zum Eingang, dann können dich die Gäste begrüßen.«

Sie drehte sich mit ihm zur endlos wirkenden Schlange der Gäste um; ein Albtraumszenario, wie es im Buche stand. Als Sahnehäubchen standen als erste Gratulanten die von Muralts mit ihren beiden Söhnen vor ihr – Mutters Lieblinge unter Berns unverheirateten Patriziern.

Roland, der ältere und gemäß Mutters Lobpreisungen einer der begehrtesten Junggesellen der Zähringerstadt, begrüßte sie mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck, den sie von früheren Veranstaltungen kannte und der ahnen ließ, dass die Nidauer Gesellschaft seinen Ansprüchen nicht genügte. Artig reichte sie ihm die Hand und wandte sich dann erleichtert Sebastian zu. Der jüngere von Muralt sah mit seinem zerzausten Haar immer etwas abenteuerlich aus, war aber ein gutmütiger und umgänglicher junger Mann.

»Lass dich herzen, Kind. Blass siehst du aus!« Grazia von Muralt umarmte Charlotte, die aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie Mutter die Stirn runzelte. Das war nicht die Art, wie man sich in der gehobenen Schicht begrüßte, aber gegen Grazias italienisches Erbe war Mutter machtlos. Ein Glück, wie Charlotte fand.

»Am besten eröffnest du gleich das Büfett«, fuhr Grazia eifrig fort. »Du bist viel zu dünn und brauchst Farbe in die Wangen.«

»Lass ihr Zeit, cara mia«, entgegnete ihr Mann. »Sie muss die Gäste begrüßen. Wir sind hier nicht in Italien; hier gilt ein Fest auch als Erfolg, wenn die Gäste am Ende noch vom Divan aufstehen können.« Er drückte Charlotte die Hand, doch bevor er etwas sagen konnte, hatten sich mehrere Männer um ihn geschart und begannen auf ihn einzureden.

»Vater macht wieder Politik«, kommentierte Sebastian, der sich neben sie gestellt hatte. »Oder besser: Die Herren machen Politik mit ihm. Du solltest tun, was Mamma gesagt hat, und ich folge dir, bevor er mich in die Diskussion mit hineinzieht. Er hegt immer noch die Hoffnung, dass ich in seine Fußstapfen trete, nachdem Roland sich geweigert hat.«

»Das wolltest du doch noch nie«, entgegnete Charlotte. »Und ich meine mich zu erinnern, dass du ihm das sagen wolltest.« Sie musterte seine Haarpracht und grinste. »Mit der Sturmfrisur dürfte dich ohnehin niemand ernst nehmen.«

Er warf den Kopf zurück und strich sich mit bedeutsamer Geste durch seine Haare. »Wie kannst du es wagen?« Er lächelte und ließ den Blick über ihre Frisur gleiten. »Aber heute kannst du natürlich prahlen, wo Bethli dich so kunstvoll hergerichtet hat. Ich meinerseits erinnere mich, dass du in unserer Jugendzeit selbst Mühe hattest, dein Vogelnest zu ordnen.«

»Du lenkst ab, mein Lieber. Wie war das mit deinem Entschluss, deinem Vater die Wahrheit zu sagen?«

»Ich habe es versucht, glaub mir. Aber bevor ich zum Punkt kommen konnte, erzählte er mir wieder, wie er um ein Haar in den Ständerat gewählt worden wäre und dass es dieses Mal mit mir klappen könnte. Ich werde es ihm ein anderes Mal beichten.«

»Aber Sebastian, mit deiner Samtstimme bist du der geborene Redner.« Mutter war zu ihnen getreten, Agathe im Schlepptau. »Wir würden dich gern im Rat sehen. Stimmt’s Agathe?«

»Unbedingt«, antwortete Agathe überschwänglich. »Du bist dafür geboren!«

»Nicht wirklich. Ich habe andere Steckenpferde.«

»Was für welche?« Agathe sah Sebastian an, als hinge ihr Leben von seiner Antwort ab.

Sebastian drehte an einem Knopf seiner Weste. »Musik zum Beispiel, und die Menschen selbst. Und ich bin gern in der Natur.«

Beim Anblick von Agathes heftigem Nicken wandte Charlotte sich eiligst ab. Mutter brauchte ihr Grinsen nicht zu sehen. Agathes Begeisterung für die musischen Künste und die Natur war so neu wie ihr Interesse an der Politik. Sie hätte alles getan, um einen tauglichen Junggesellen für sich zu begeistern. Jetzt griff sie nach Sebastians Arm und führte ihn davon, während sie auf ihn einredete. Seinem Blick konnte Charlotte ansehen, dass er gar nicht wusste, wie ihm geschah. Der arme Mann!

»Charlotte, die Gäste warten.« Mutters scharfe Stimme holte sie in die Gegenwart und zu der Gästeschlange vor ihr zurück. Artig reichte Charlotte allen die Hand und nahm Gratulationsbekundungen entgegen, krampfhaft bemüht, nicht jedes Mal den gleichen, formelhaften Satz von sich zu geben. Doch das war bei der Menge unmöglich. Dass sie hungrig war, half auch nicht. Nun rächte sich, dass sie das Frühstück hatte ausfallen lassen.

Als sie die letzten Gäste so würdevoll wie möglich begrüßt hatte, begab Charlotte sich erleichtert ans Büfett. Mutter hatte sich nicht lumpen lassen: Der Weißwein aus Twann, die geräucherten Forellen aus dem Bielersee, das gebratene, in Scheiben geschnittene Poulet und alle anderen Köstlichkeiten waren von erlesener Qualität. Sie bereitete sich einen Teller zu, setzte sich auf das Chintzsofa im Erker, abseits der Gäste, stach mit der Gabel in das Huhn und nahm einen Bissen. Saftig war es und gut gewürzt, aber ihr Magen rebellierte. Mühsam kaute sie auf dem Stück herum.

Was war bloß los mit ihr? Sie hatte solchen Hunger gehabt.

Ihr Blick wanderte über die Gästeschar. Hinten in der Ecke konnte sie Sebastian ausmachen; er sprach gerade mit Luzia, mit der sie als junges Mädchen unterrichtet worden war. Eine Weile hatten sie nach dem Unterricht zusammen gespielt, doch dann war die Freundschaft abgeflacht. Warum, konnte sie nicht mehr genau sagen. Oder vielleicht doch: Agathe hatte sich eingemischt und plötzlich waren sie und Luzia unzertrennlich gewesen …

Ihr Blick blieb an Mutter und Agathe hängen, die sich mit den von Muralts unterhielten. Die beiden waren auch äußerlich wie aus einem Guss: vom hellbraunen, glatten Haar über die schmalen Augen bis zur flachen Oberweite. Auch im Wesen waren sie sich ähnlich: Selbstbewusst, Raum einnehmend, fordernd. Vielleicht war es natürlich, dass Mutter sich Agathe verbundener fühlte als ihr. Zum Glück hatte sie Vater. Ihm stand sie näher. In ihrer zurückhaltenden Natur waren sie sich ähnlich, obwohl sie sich manchmal nach deutlicheren Zeichen seiner Zuwendung sehnte. Aber es lag nicht in seiner Natur, das musste sie akzeptieren.

»Hast du keinen Hunger?« Vater, der sich wie üblich den Teller üppig belegt hatte, setzte sich neben sie.

Charlotte spürte die Wärme in ihren Wangen, als hätte Vater ihre Gedanken gehört. »Keine Sorge, Vater. Ich bin nur erschöpft von den vielen Begrüßungen. Ich wusste nicht mehr, was ich den Leuten sagen soll.«

»Das Gleiche wie allen anderen.« Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu. »Das merkt niemand.«

»Ich merke es. Alle wissen, dass es nicht ernst gemeint ist, und doch muss ich die ewig gleichen Floskeln von mir geben.«

»Jetzt hast du es hinter dir.« Er tätschelte ihren Arm. »Und jetzt iss! Der Abend ist noch lang und du sollst ihn genießen.«

Sie wandte sich ihrem Teller zu und bemühte sich redlich, mit Appetit zu essen. Die auf ihr ruhenden Blicke fühlten sich an wie ein zu enges Kleidungsstück und die hochgezogenen Brauen, mit denen sie vom aufgetürmten Haar bis zu den Spangenschuhen taxiert wurde, sprachen Bände. All die Ausrufe über ihre Eleganz waren der Höflichkeit geschuldet. In Wahrheit fragten sie sich alle, warum die Tochter der geschliffenen Frau Henzi so ein Trampel war.

Ihre Hände begannen zu zittern. Sie lud sich eine Portion Huhn auf die Gabel, führte sie zum Mund, schob das Huhn hinein, kaute, schluckte. Griff nach der Serviette, tupfte sich mechanisch die Lippen ab. Nur tupfen, nicht das halbe Gesicht damit abwischen wie ein Kutscher oder ein Bauer auf dem Feld! Ihre Gouvernante hatte ihr diese Details mit viel Geduld eingetrichtert, aber ihr kam es vor, als müsse sie sich jedes Mal neu daran erinnern.

Nun kam Mutter auf sie zugeeilt, mit geweiteten Nasenflügeln, glitzernden Augen und geröteten Wangen. Sie setzte sich auf das Sofa und legte ihre Hand auf Charlottes Arm. »Nationalrat Vontobel hat mir gesagt, er habe von deinem Talent am Klavier gehört. Ich habe ihm versprochen, dass du ein Stück spielst. Jetzt wäre eine gute Zeit!«

»Bitte nicht, Mutter! Ich bekomme genug Aufmerksamkeit.«

»Zu viel Aufmerksamkeit gibt es nicht.« Sie griff nach Charlottes Handgelenk und zog sie hoch.

Resigniert stand Charlotte auf. Wenn sie sich weigerte, ruinierte sie Mutter die Feier, dann wären die nächsten Tage unerträglich. Ihr Handgelenk schmerzte.

»Mutter, du tust mir weh!«

Sofort ließ Mutter sie los, doch der Blick, den sie ihr über die Schulter zuwarf, ließ keinen Zweifel daran, dass sie eine Glanzleistung erwartete. Unter den Blicken der Gäste schritt Charlotte auf den Flügel zu, ihr Puls ein dumpfes Rauschen in ihren Ohren. Sie zwang sich, tief ins Zwerchfell zu atmen. Alles würde gut gehen; am Klavier und auf den Schwingen der Musik war sie zu Hause. Sie würde eines der Lieder ohne Worte von Mendelssohn spielen, die sie so mochte. Etwas ruhiger setzte sie sich an den Flügel und legte die Finger auf die Tasten. Die vertraute Glattheit fühlte sich gut an.

Mutter trat näher und beugte sich zu ihr. »Ich habe ihm gesagt, dass du in den letzten Wochen an La Campanella gearbeitet hast«, flüsterte sie. »Er ist ganz begierig darauf.« Ohne eine Antwort abzuwarten, tätschelte sie ihr den Arm und stellte sich neben Vater und Nationalrat Vontobel, der mit einem leutseligen Lächeln in die Runde blickte.

Eisige Panik sickerte in Charlottes Glieder. Sie hatte La Campanella noch nie fehlerfrei gespielt. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Mutters Blick sich bereits verhärtete. Sie zwang sich, auf die Tasten zu schauen; ein Anblick, der sie sonst beruhigte. Doch heute hämmerte ihr Herz weiter, sodass sie es im Hals hören konnte.

Schenk mir Kraft, dachte sie plötzlich und einen kurzen Augenblick war ihr, als säße sie wieder im heutigen Gottesdienst. Ihre Eltern waren keine enthusiastischen Kirchgänger, aber da heute der neue Pfarrer eingeführt worden war, hatten sie es für wichtig befunden, sich in Nidaus Dorfkirche zu zeigen. Der neue Hirte, ein Mann aus dem Berner Oberland, hatte über einen Psalm gepredigt, in dem David seine Augen zu den Bergen erhebt, weil er von dort Hilfe erwartet. Berge hatte es im Seeland keine, aber Hilfe von oben? Sie nahm alles, was sie bekommen konnte.

Fast ohne es zu merken, begann sie zu spielen und sah ihren schlanken Fingern zu, wie sie über die Tasten glitten, schnell und schneller. Sie kamen ihr vor wie Stöcklein, die nicht zu ihr gehörten. Was, wenn sie eine falsche Taste erwischte? Das Stück war kurz, aber erbarmungslos. Doch dann, Note für Note, nahm ihre Nervosität ab. Ihre Finger wurden wieder zu Fleisch, ihrem Fleisch, und mit einem Mal sah sie die Tasten vor sich, als sehe sie aus großer Höhe auf sie herunter, sah jede Note, die sie zu spielen hatte, auf sich zurollen. Sie überließ sich der Musik, die wie zu Klang gewordenes Feuer von ihren Fingern aus in den Raum und in die Ohren der die Köpfe neigenden Gäste strömte.

Der letzte Ton verklang und hing noch im Raum. Einen Moment blieb es still, dann brandete ihr Applaus entgegen. Ihr Herz hämmerte nun vor Stolz und Glück. Wie war ihr das gelungen?

Mutter kam eilig auf sie zu, ein Strahlen auf dem Gesicht. Doch etwas daran stimmte nicht. Es war zu breit, zu starr; das verhieß nichts Gutes. Sie griff nach Charlottes Arm, zog sie hoch und führte sie zu Nationalrat Vontobel. »Nun, Herr Nationalrat? Habe ich zu viel versprochen?«

»Wirklich tadellos, Fräulein Henzi, und – ehm – sehr leidenschaftlich.«

Bei dem Wort verhärtete sich Mutters Gesicht. »Mit unserer Charlotte gehen ab und zu die Pferde durch. Stimmt’s, Mädchen?«

Charlotte zwang sich zu einem Lächeln. Mutter tat, als scherze sie, aber der Ärger hinter ihren Worten war greifbar.

»Stimmt«, sagte sie nur.

»Bei Gelegenheit müssen Sie meine jüngere Tochter auf der Violine hören«, fuhr Mutter eifrig fort. »Sie hat spät begonnen, aber ihr Lehrer findet sie sehr vielversprechend.«

Nationalrat Vontobel lächelte wohlwollend, während in Charlotte Resignation hochstieg. Gott bewahre, dass ihre Schwester zu lange aus dem Scheinwerferlicht verdrängt wurde! Ihr bedeutete es nichts, aber Mutters Gleichgültigkeit schmerzte trotzdem.

»Entschuldigen Sie mich, ich muss an die frische Luft.« Sie drehte sich um und schritt zur Tür, die auf die breite Veranda führte, öffnete sie und trat hinaus. Es war frisch; der Frühling war noch nicht ganz im Seeland angekommen. Die Luft roch schwach nach dem Wasser des Bielersees, der hinter den Buchsbäumen lag. In einer Ecke der Veranda stehend, versuchte sie zur Ruhe zu kommen. Vergeblich. Wenn sie länger hierblieb, würde Mutter sie suchen und sie wieder hineinzitieren. Das ertrug sie nicht.

Sie wandte sich in Richtung der ausladenden Steintreppe, die in den Garten führte, stieg die Stufen hinab, umrundete die Rhododendronbüsche und die zu akkuraten Kegeln geschnittenen Buchsbäume in Richtung Bediensteteneingang. Hier würde niemand beobachten, wenn sie zu ihrem Zimmer hochstieg. Verstohlen öffnete sie die Tür und sah sich um. Alles war leer. Sie stieg die Treppe hoch und hastete durch den Flur in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich ab und stellte sich ans Fenster. Es ging, wie alle Schlafzimmer des Hauses, auf den Garten und auf den Teich mit den Wasserspielen hinaus. Dahinter lag der Bielersee mit seinen Rebenhängen, die sie von hier aus nur erahnen konnte.

Sie öffnete das Fenster und ließ die herbe Märzluft herein. Wie gut tat die Ruhe nach dem hektischen Lärm der Menschen, wie wohltuend war das Fehlen all der Augenpaare. Aber sie konnte nicht ewig hierbleiben. Es war ihr Fest; Mutter erwartete, dass sie zurückging.

Zögernd setzte Charlotte sich vor den Spiegel und begutachtete ihr Gesicht. Es hatte Farbe bekommen; das Spiel hatte sie beflügelt. Nie hatte sie besser gespielt. Aber natürlich war es nicht, was Mutter erwartet hatte. Das war es nie.

Ein heißer Knoten formte sich in ihrem Bauch. Sie hasste den Gedanken, wieder hinunterzugehen. Die Gäste würden sie wieder anstarren wie ein interessantes, aber seltsames Wesen. Und Mutter würde ihr so oder so böse sein; da konnte sie gleich hierbleiben. Langsam löste sie die Spangen aus ihren Haaren, das Geschmeide und die Perlen. Zuletzt nahm sie die Goldkette mit der milchigen Perle von ihrem Hals und legte das Schmuckstück auf den Kirschbaumtisch. Die Perle glomm im Licht der Petroleumlampe, fast, als würde sie sie auslachen, weil sie wieder einmal versucht hatte, Mutter zu gefallen. So gut es ging, öffnete Charlotte die Knöpfe, zog das Kleid aus und legte sich ins Bett, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Haare durchzubürsten. Sie wollte nur noch schlafen und hoffen, dass der morgige Tag besser würde.

Der pechschwarze, glänzende Flügel baute sich turmhoch vor ihr auf, weit in einen dunkelgrauen Himmel hineinreichend. Charlotte streckte die Arme aus, doch sie kam nicht an die Tasten; die Pedale, so groß wie Vaters hölzernes Boot, lagen weit unter ihr, unerreichbar. Dann hörte sie Mutters drängende Stimme, die ihr befahl, endlich anzufangen. Mutters Fuß, gewandet in einen eleganten Schuh, so riesig wie die goldenen Pedale des Flügels, pochte neben ihr auf den Parkettboden, unerbittlich, laut und immer lauter. Es dröhnte in ihrem Kopf.

Charlotte schreckte hoch und öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf die stuckverzierte Decke in ihrem Raum. Das Pochen hielt an, aber es kam von ihrer Zimmertür.

»Fräulein Henzi? Ich komme zum Ankleiden.«

Charlotte setzte sich auf und strich sich über die feuchte Stirn. »Komm herein, Bethli. Und mach die Tür hinter dir zu.«

Bethli trat ein und sah forschend in Charlottes Gesicht. »Du siehst furchtbar aus. Was hast du? Dein Vater hat mir erzählt, dass du gestern wunderbar gespielt hast.«

»Das fand ich erst auch, aber Mutter hat mich eines Besseren belehrt.«

»Wieso? Du hast so oft geklagt, wie viel Mühe dir das Stück macht, und nun hast du es perfekt gespielt, vor all den Menschen. Du solltest stolz auf dich sein.«

»Einen Moment lang war ich das auch. Dabei hatte ich solche Angst, das Stück zu spielen. Ich habe ein Stoßgebet in den Himmel gesandt und einfach angefangen. Und dann …« Sie blickte hoch. »Dann geschah etwas Seltsames. Das Stück floss mir aus den Fingern wie nie zuvor und plötzlich sah ich die Noten vor mir, wie einen Fluss aus hellen Punkten, die ich spielen sollte. Ich konnte mich einfach in diesem Fluss treiben lassen. Es war herrlich!« Sie seufzte. »Dann haben die Leute geklatscht, aber sie haben mich dennoch angesehen wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Und Mutter hat mich deutlich spüren lassen, dass sie nicht zufrieden war.«

»Das tut mir leid«, sagte Bethli leise. »Ich hatte mich für dich gefreut.«

»Danke, du Liebe. Deine Worte tun mir gut.« Sie drückte Bethlis Arm. »Und jetzt erzähl. Wie weit bist du mit deinem eigenen Fest für deinen Zwanzigsten? Du hast mir erzählt, dass ihr auf die Petersinsel wandern und dort ein Picknick feiern wollt.«

Bethlis gutmütiges Gesicht verdüsterte sich. »Das müssen wir leider verschieben. Deine Mutter braucht mich am Sonntag.«

Charlotte runzelte die Stirn. »Ich dachte, Mutter hat dir freigegeben. Du planst das schon so lange.«

»Sie hat mir heute gesagt, dass sie für Agathe einen geselligen Nachmittag plant und Hilfe bei den Vorbereitungen braucht.« Bethli zuckte die Achseln und versuchte zu lächeln. »Es ist nicht so schlimm.«

»Das ist es wohl.« Charlotte stand auf. »Ich werde mit ihr sprechen.«

»Auf keinen Fall!«, rief Bethli bestürzt. »Sie soll nicht denken, ich hätte bei dir geklagt.«

»Ich sage ihr einfach, ich hätte dich ausgefragt. Außerdem ist sie sowieso wütend auf mich und kommt nicht auf die Idee, plötzlich auf dich böse zu sein.«

Nun lächelte Bethli. »Das wäre so schön. Ich habe mich sehr auf das Fest gefreut.« Sie griff in den Schrank, zog ein Kleid heraus und streckte es ihr hin. »Was meinst du zu dem?«

»Das nicht. Die Puffärmel lassen mich aussehen wie eine Puppe.«

»Ich dachte, deine Mutter freut sich vielleicht.«.

»Der gestrige Abend hat gezeigt, dass ich es ihr sowieso nicht recht machen kann. Nimm das grüne mit dem bizarren Muster.« Sie grinste. »Mutter kocht ohnehin. Ich bin gestern auch noch dem Herrn Nationalrat davongerannt und nicht mehr zurückgekommen. Das lässt sich selbst mit Puffärmeln nicht retten.«

Eine Viertelstunde später besah sich Charlotte zufrieden im Spiegel. Sie mochte das Kleid, gerade weil es in jeder Hinsicht das Gegenteil des puffärmeligen Monstrums mit den ausladenden Rüschen war, das auch noch auf der Haut kratzte. Mutter würde die Nase rümpfen. Sollte sie doch! Charlotte war gerade in der Stimmung, ihr die Meinung zu sagen.

Entschlossen schritt sie die Treppe hinunter. Aus dem Speisezimmer drangen Stimmen; Mutter und Vater waren noch beim Frühstück. Sich für die bösen Blicke wappnend, trat sie näher, doch dann hielt sie inne. Die beiden stritten sich wieder einmal; Mutters Stimme war scharf und giftig. Ob sie besser wieder in ihr Zimmer zurückkehrte? Dann hörte sie ihren Namen.

»Wie konnte sie uns so blamieren?«

»Du übertreibst, Regina! Sie hat wunderbar gespielt.« Vater klang müde.

»Die Töne mögen gestimmt haben, aber wie sie sich in Szene gesetzt hat! Wie sie ungebärdig in die Tasten gehauen und sich dazu bewegt hat. Das tut eine Frau nicht. Und dann ist sie davongerannt und hat den winzigen Rest Respekt, den sie sich erspielt hat, kaputt gemacht. Warum hast du sie nicht zurückgeholt?«

»Sie hatte abgeschlossen. Und sie sah nicht gut aus, als sie den Raum verließ. Sie hatte Ruhe verdient.«

»Wofür? Dafür, dass sie sich wieder benommen hat, als sei sie bei Wölfen aufgewachsen?«

Charlotte krampfte die Finger um das Treppengeländer. Sie war es gewohnt, von Mutter kritisiert zu werden, aber es war etwas anderes, die eigene Schande aus dem Nebenzimmer zu hören.

Und so giftig und unversöhnlich hatte Mutter noch nie gesprochen.

»Du bist ungerecht, Regina. Sie hat eben ihre eigene Art.«

»Du bist viel zu weich mit ihr!« Mutters Ton hatte sich noch einmal verschärft. »Ich wusste immer, dass sie uns nur Scherereien einbringen würde. Es wird jeden Tag deutlicher, dass sie nicht unseres ist.«

»Sag das nicht! Jemand könnte dich hören.«

Mutter erwiderte noch etwas, doch Charlotte kam es vor, als spreche sie in einer exotischen Sprache. Erstarrt stand sie im Korridor und blickte auf die Stuckatur an der Wand. Sie bekam keine Luft und ihr war kalt. Sie musste weg hier, bevor die Eltern sie hörten. Doch sosehr sie sich abmühte, sich in Bewegung zu setzen: Ihre Füße blieben störrisch, wo sie waren.

Endlich löste sich der Schock. Sie eilte durch den Gang und die Treppe hoch, ihr Herz dumpf pochend in der Brust. Ihr war so kalt wie damals, als sie im Winter in den Teich hinter dem Haus gefallen war. Doch das Schlimmste an diesem Moment war nicht der Schock über das, was sie hatte hören müssen. Es war das Gefühl, es tief in ihrem Innern schon immer gewusst zu haben.

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 Kapitel 2 

Charlotte starrte auf den Deckel ihres alten Klaviers. Ihr Übungsinstrument aus früheren Zeiten, das sein Dasein in einer Abstellkammer im hintersten Raum des ersten Stocks fristete, war bereits in die Jahre gekommen. Der Steinway, den Mutter ursprünglich für Agathe in Hamburg hatte anfertigen lassen, klang viel besser, aber um darauf zu spielen, hätte sie sich nach unten begeben müssen.

Der Deckel hatte Staub angesetzt und knarrte widerstrebend, als Charlotte ihn hob. Sie legte den rechten Zeigefinger auf eine Taste, drückte sanft, ließ den Ton klingen. In diesem niedrigen Raum verhallte er rasch. Dann wandte sie den Blick zu den Notenheften, die in einem unordentlichen Stapel auf dem Tisch lagen, und ging sie kurz durch. Es waren ältere Stücke; die neuen lagen in ihrem Zimmer. Aber das machte nichts, für Mendelssohns Lieder ohne Worte brauchte sie keine Noten. Sie legte die Finger auf die Tasten, erfühlte die Glätte und Härte von Elfenbein und Ebenholz. Normalerweise waren die Tasten lebendig unter ihren Fingern, bereit, mit ihr in einen Tanz einzustimmen. Heute nicht. Auch nicht gestern und vorgestern. Nicht, seit sie erfahren hatte, dass die Familie, in der sie aufgewachsen war, nicht die ihre war.

Hufgetrappel in der Einfahrt, Mutters Stimme, dann die von Agathe. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die beiden fuhren in die Stadt, Vater war mit einem Freund ausgeritten. Endlich war das Haus fast leer.

Die letzten drei Tage waren an ihr vorbeigezogen wie graue Schlieren. Hatte es geregnet, hatte die Sonne geschienen? Sie konnte es nicht sagen. Sie hatte sich jeden Tag von Bethli ankleiden lassen und war zum Essen hinuntergegangen, und sie hatte bei Mutter durchgesetzt, dass Bethli am kommenden Sonntag freibekam. Das war der einzige Lichtblick dieser Tage gewesen. Mutters Nörgelei über ihren Müßiggang hatte sich mit jedem Tag verschärft, aber es hatte sie nicht berührt. Ihr Herz fühlte sich an wie ihr Arm, als sie als Kind ihre erste Pockenimpfung bekommen hatte: Ein stechender Schmerz, als die Nadel in die Haut drang, so scharf, dass sie vor Schreck geweint hatte; danach hatte die Stelle nur noch dumpf gepocht. Und als sie vorsichtig daraufgedrückt hatte, hatte es sich angefühlt, als wäre es nicht ihr Arm, sondern der einer Puppe.

Doch unter der Dumpfheit nagten die Fragen an ihr, die Mutters Worte ausgelöst hatten. Wer waren ihre Eltern? Warum war sie nicht bei ihnen aufgewachsen? War sie ein uneheliches Kind? Der Gedanke war seltsam tröstlich. So vieles ergab endlich einen Sinn: Warum Mutter sich nie gefreut hatte, wenn sie etwas erreichte; warum es immer wichtiger war, dass Agathe strahlen konnte. Wenigstens Vater hatte oft zu ihr gehalten.

Vater.

Er war ihr Halt gewesen, der Einzige, der sich für sie zu interessieren schien, und er war es, dessen Wohlergehen ihr immer am Herzen gelegen hatte. Dessen stille Traurigkeit, die sie manchmal zu spüren vermeinte, sie geschmerzt hatte. Doch die Worte Vater und Mutter hatten in diesen drei Tagen jede Bedeutung verloren.

Ein schrilles Klingeln drang durch das Haus. Charlotte spähte aus dem Fenster. Es war der Postbote, sicher mit weiteren Glückwunschtelegrammen. Bethli hatte ihr die von Mutter geöffneten Briefe jeweils auf einem Tablett hochgebracht, aber sie hatte sich nicht zum Lesen überwinden können. Es waren nur Höflichkeitsschreiben; formuliert an ihre Eltern, die gar nicht ihre Eltern waren.

Es klingelte erneut. Wahrscheinlich waren die Dienstboten mit den Vorbereitungen für Mutters heutige Soirée de Joie beschäftigt. Widerstrebend stieg sie die Treppe hinunter, öffnete die Tür, nahm den Packen vom strahlenden Briefträger entgegen und legte die Kuverts auf den Esszimmertisch. Ein kurzer Blick bestätigte ihre Vermutung: Alle waren an Mutter und Vater gerichtet. Dann fiel ihr Blick auf ein Kuvert aus dickem, cremefarbenem Papier. Stand da wirklich Charlotte Henzi?

Neugierig griff sie danach. Tatsächlich, es war ihr Name und auf der Briefmarke prangte ein Poststempel aus Bern. Wer konnte das sein? Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, brach das Siegel und suchte nach der Unterschrift. Da war sie, in derselben ausdrucksvollen Schrift wie der kurze Brief: Thomas von Bonstetten. Ihr Götti! Das war eine Überraschung. Soweit sie wusste, lebte er in Großbritannien. Gesehen hatte sie ihn nie und geschrieben hatte er ihr schon lange nicht mehr. Neugierig begann sie zu lesen.

Liebe Charlotte,

sicher wunderst du dich über mein Schreiben, aber ich möchte es nicht verpassen, dir zu deinem zwanzigsten Geburtstag zu gratulieren. Ich bin mir bewusst, dass ich dir kein guter Götti war, aber ich möchte das wiedergutmachen.

Sicher weißt du, dass ich bisher in England gelebt habe. Vor Kurzem bin ich zurückgekehrt und habe mich in Bern niedergelassen. Wie wäre es, wenn du mich besuchst? Ich habe dir Geld für eine Fahrkarte beigelegt. Ich würde mich sehr freuen, dich kennenzulernen.

Mit den herzlichsten Grüßen,

dein Götti Thomas von Bonstetten

Nachdenklich betrachtete Charlotte die Zeilen. Sie wusste wenig über ihren Götti; ungewöhnlich wenig, wie ihr jetzt bewusst wurde. Dass er in England lebte, hatte man ihr als Kind gesagt. Er sei nicht mit ihr verwandt, sondern ein Freund der Familie, hatte es geheißen; doch warum er als Freund der Familie und ihr Götti nie zu Besuch kam, hatte man ihr nicht gesagt. Agathes Gotte und Götti hatten ihr Patenkind an jedem Wiegenfest mit Geschenken und Küssen überhäuft. Zwar war auch an ihrem Geburtstag immer ein Geschenk eingetroffen, aber Götti selbst war nie gekommen. Als Kind hatte sie mehrmals nach ihm gefragt, doch die Antworten ihrer Eltern waren ausweichend gewesen: Götti war gerade unabkömmlich, er hatte keine Zeit, war auf einer Reise. Irgendwann hatte sie aufgegeben. Zu gut hatte man sie spüren lassen, dass ihre Fragerei irritierte. Vielleicht hatten sich ihre vermeintlichen Eltern mit ihm zerstritten. Aber während sie Göttis Zeilen ein zweites Mal las, ergriff sie eine seltsame Erregung. Was, wenn es für die Reaktionen der Eltern eine andere Erklärung gab? Was, wenn Thomas von Bonstetten ihr Vater war? Das klang unwahrscheinlich, aber alles war möglich. Doch selbst wenn nicht, wusste er vielleicht mehr über ihre Herkunft. Sie musste ihn besuchen!

»Dein Götti? Den habe ich nie gesehen.« Bethli, die sich an ihrem Bett zu schaffen machte, klang so überrascht wie Charlotte selbst.

»Ich auch nicht, aber er hat jedes Jahr ein Geschenk geschickt. Erst waren es Bücher; dann habe ich ihm einmal in einem Dankesbrief geschrieben, dass ich Klavier spiele. Von da an hat er meistens Noten geschickt. Die Lieder ohne Worte sind von ihm; das hatte ich vergessen. Sie sind mir so lieb geworden.«

Durch das halb geöffnete Erkerfenster drangen fröhliche Stimmen. Agathe hatte ein paar Freundinnen eingeladen, mit denen sie im Garten Tennis spielte – ein neumodischer Sport, von dem eine ihrer Freundinnen erzählt hatte. Daraufhin hatte Agathe tagelang genörgelt, bis Albert ihr im Garten ein Spielfeld bereitet hatte, komplett mit Netz und Linien und allem. Schläger, Bälle und Sportausstattung hatte sie sich von der britischen Insel schicken lassen und war nun die Erste ihrer Freundinnen, die mit einem eigenen Tennisplatz glänzen konnte.

»Charlotte?«

Charlotte drehte sich um und blickte in Bethlis verwundertes Gesicht. »Verzeih. Das Gegacker von Agathes Freundinnen hat mich abgelenkt. Was hast du gesagt?«

»Ich habe gefragt, warum du so bedrückt bist«, sagte Bethli. »Es ist doch eine schöne Nachricht, dass er dich sehen will.«

Charlotte setzte sich auf das untere Ende ihres Bettes und strich über das festgezurrte Leintuch. »Du hast recht«, sagte sie dann. »Göttis Brief ist nicht der Grund. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«

Bethli setzte sich neben sie und legte ihr sanft die Hand auf den Arm. »Am besten ein Wort nach dem anderen.«

»Na gut. Du weißt sicher noch, wie ich am Morgen nach dem Fest zum Frühstück hinuntergegangen bin. Als ich mich dem Salon näherte, hörte ich die Eltern meinetwegen streiten. Und dann …« Sie stockte. »Dann hörte ich Mutter sagen, dass ich nicht zur Familie gehöre. Dass ich nicht ihr Kind bin.«

»Du meinst, sie war so wütend, dass sie sagte, du seist nicht mehr ihre Tochter?«

»Nein, sie meinte es wirklich, und Vater hat es bestätigt. Ich bin wieder gegangen, bevor sie mich gesehen haben.«

Bethli hob die Hände an den Mund. »Ich kann das nicht glauben. Wessen Kind sollst du denn dann sein?«

»Das frage ich mich seitdem jeden Tag. Und dann kam der Brief von Götti Thomas. Vielleicht weiß er mehr über meine Herkunft, oder …, aber das ist wahrscheinlich albern.«

»Du denkst, er könnte dein Vater sein?«

»Unmöglich ist es nicht. Aber am wichtigsten ist, dass ich erfahre, wer meine Eltern sind.« Sie schluckte. »Wohin ich wirklich gehöre.«

»Warum fragst du nicht deine Eltern – ich meine die Henzis?«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Du hättest das Gift in Mutters Stimme hören sollen! Es klang, als hasse sie mich.«

»Das tut sie nicht«, entgegnete Bethli liebevoll. »Wenn eine schwierige Geschichte dahintersteckt, hat ihr Unmut sicher damit zu tun und nicht mit dir.«

»Ich bin mir da nicht so sicher. Sie gab mir immer das Gefühl, dass ich an allem schuld bin. Egal, ob die Blumen in der Vase verwelkten oder die Milch sauer wurde: Irgendwie war immer ich dafür verantwortlich.«

Bethli drückte ihre Hand. »Dein Vater ist auch noch da. Er wird dich nicht im Stich lassen.«

»Ich weiß nicht. Ich habe manchmal das Gefühl, dass mich niemand versteht und ich das Falsche sage, wie auch immer ich es anfange.«

»Was meinst du damit?«

Charlotte seufzte. »Oft weiß ich nicht, was ich sagen darf oder soll. Einmal mussten wir Kinder für Weihnachten ein Krippenspiel einstudieren. Ich war erst nicht mit von der Partie, doch dann hat sich Agathe zurückgezogen, weil ihr das Auswendiglernen so schwerfiel, und Mutter hat mich gezwungen, mitzumachen. Die erste Probe war furchtbar: Alle kannten ihren Text schon und ich musste ständig ins Skript sehen. Ich habe Blut geschwitzt.« Ihr Blick wanderte zum Bücherregal. Sie stand auf, trat näher und strich über die einzelnen Buchrücken. »Erst da ist mir aufgefallen, dass ich mich in den meisten Gesprächen so fühle: Als hätten alle schon lange ihr Skript und wüssten genau, was sie sagen müssten, während ich noch verzweifelt nach Worten suche. Und wenn ich nicht darüber nachdenke und einfach ausspreche, was ich denke, sehen mich alle an, als hätte ich zwei Köpfe. Selbst Vater hat mich schon zurechtgewiesen, dass man dies und jenes nicht sagt, selbst wenn es die Wahrheit ist.«

»Das hier ist anders. Es geht um dich. Am besten machst du es gleich heute Abend.« Bethli erhob sich, stellte sich neben Charlotte, griff nach ihren Händen und drückte sie. »Du schaffst das«, sagte sie fest. »Ich weiß es.«

Sie drehte sich um und war schon aus dem Zimmer verschwunden. Charlotte sah ihr mit klopfendem Herzen nach. Würde sie das wirklich? Sie wusste es nicht. Aber sie wusste, was sie jetzt tun würde: Sie würde sich in der Abstellkammer an ihr altes Klavier setzen und eins von Mendelssohns Liedern ohne Worte spielen. Wenn ihr das nicht half, zur Ruhe zu kommen, half gar nichts.

Das Schweigen am Tisch war so laut wie Kanonendonnern, und auf einmal vermisste Charlotte Agathes Geschwätz über Kleider, Freundinnen und Männer. Trotzdem war es gut, dass ihre Schwester ausgegangen war. Es würde schwierig genug werden, das Thema anzusprechen. Ihr Versuch, sich mit Mendelssohn zu beruhigen, hatte nicht gewirkt: Sie hatte es nicht fertiggebracht, auch nur einen Ton zu spielen, und fühlte sich ohne ihre Musik verlorener denn je.

»Warum isst du nicht? Das Filet mignon wird kalt.«

Mutters Stimme schnitt durch ihre Gedanken. Widerwillig spießte Charlotte ein Stück Fleisch mit der Gabel auf und spülte es mit einem Schluck Twanner Weißwein hinunter. Ihr Herz klopfte unregelmäßig, aber es brachte nichts, noch länger zu warten. Sie musste diese Hürde jetzt nehmen.

»Guten Abend, ihr Lieben. Seht, wen ich in Ipsach getroffen habe!« Agathe stand in der Tür, am Arm Sebastian von Muralt. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck des Triumphs, als hätte sie einen Hirsch erlegt.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Sebastian hastig. »Ich habe Agathe gesagt, dass ich Sie keinesfalls ohne Einladung überfallen möchte.«

»Papperlapapp, wir freuen uns sehr. Ich lasse Mathilde noch zwei Gedecke auflegen.« Mutter sprang auf und eilte in Richtung Küche.

Agathe setzte sich auf den leeren Stuhl neben Charlotte und bedeutete ihr mit einem Kinnrucken, hinunterzurutschen, um Platz für Sebastian zu machen. Mit einem Gefühl wütender Ohnmacht folgte Charlotte dem Befehl. Was nun? Sie konnte das Thema unmöglich vorbringen, wenn ein Fremder mit am Tisch saß.

»Wie geht es Ihren Eltern, Sebastian?«, fragte Mutter eifrig, als sie aus der Küche zurück war. »Ihre Mutter trug ein entzückendes Kleid bei Charlottes Feier.«

»Es geht ihnen gut«, antwortete Sebastian. »Sie sind wieder in Bern, weil der Stadtrat tagt.«

»Große Namen, große Verantwortung«, bekräftigte Mutter. Strahlend sah sie sich um, dann verdunkelte sich ihr Gesicht. »Lass die Kerze in Ruhe, Charlotte!«

Charlotte zuckte zusammen und nahm die Hand von der Kerze, um deren Ständer sich rosafarbene Wachskrümel verteilten. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert.

»Tut mir leid, Mutter«, flüsterte sie. Sie wandte sich wieder ihrem Filet mignon zu, aber der Appetit verging ihr mit jeder verstreichenden Minute. Agathes Plappern, die quietschenden Geräusche von Messer und Gabel auf den Tellern – alles zerrte an ihren Nerven. Sie wollte nur in ihr Zimmer, sich aufs Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und die Welt vergessen.

»Mir geht es nicht gut. Bitte entschuldigt mich.« Charlotte stand auf, nickte Sebastian zu und eilte aus dem Zimmer, bevor jemand etwas erwidern konnte. Erst, als sie in ihrem Zimmer auf dem Bett lag, löste sich der Knoten in ihrem Magen. Sie schloss die Augen und atmete auf. Morgen war auch noch ein Tag.

»Was ist gestern wieder in dich gefahren?« Mutter schnitt ihre Schinkenscheibe auseinander, als ob sie das Schwein ein zweites Mal schlachten wollte. »Du hast uns vor dem jungen von Muralt blamiert.«

»Mir war nicht wohl. Ihr habt euch sicher trotzdem gut unterhalten.« Charlotte umklammerte ihr Silberbesteck. Als sie gestern vom Tisch geflohen war, hatte sie gehofft, heute gleich zur Sache zu kommen. Aber natürlich musste Mutter ihr erst die Leviten lesen.

»Es geht um Anstand.« Mutter warf Vater einen Blick zu. »Sag doch auch einmal etwas! Und wieso musst du am Tisch lesen? Was kann so wichtig sein?«

Vater runzelte die Stirn und legte den Brief auf den Tisch. »Es ist Cousin Norbert in Neuenstadt. Offenbar hatte er wieder Ärger mit den Salutisten.«

Mutter verdrehte die Augen. »Was geht uns Cousin Norbert an? Das hier ist wichtiger.«

»Du machst viel Wind um nichts, Regina. Wir waren doch unter uns.«

Mutter kniff die Lippen zusammen und spießte ein Stück Schinken auf. Charlotte richtete sich auf. Das war ihre Chance, den Stier bei den Hörnern zu packen.

»Ich habe Sebastian gefragt, ob er am Sonntag mit zum Gottesdienst kommen und dann mit uns essen will«, warf nun Agathe ein. »Er war einverstanden und hat mich nach Bern eingeladen.«

Nun strahlte Mutter wohlwollend und öffnete den Mund; sicher, um eine lange Lobrede abzuhalten.

Charlotte legte ihr Besteck nieder und richtete sich auf. »Ich muss euch etwas fragen.«

Agatha verzog den Mund. »Du bist eifersüchtig und willst das Thema wechseln.«

»Worum geht es, Charlotte?«, fragte Vater.

»Ich habe euch am Montagmorgen gehört.« So, es war raus. Endlich.

Stille. Vater drehte sich zu Mutter, deren Gesicht sich gerötet hatte, während Agathe irritiert in die Runde blickte.

»Was meinst du?« Mutters Stimme klang höher als sonst.

»Das weißt du.« Charlottes Herz hämmerte in ihrer Brust und die Haut in ihrem Gesicht fühlte sich trocken und heiß an.

Mutter warf das Kinn hoch. »Das weiß ich keineswegs. Am besten gehst du auf dein Zimmer und kommst zurück, wenn du wieder zu Verstand gekommen bist.«

Charlotte musterte Mutters Gesicht: die geblähten Nasenflügel, die purpurnen Flecken auf den blassen Wangen. »Das werde ich nicht, Mutter. Oder soll ich dich ab heute Regina nennen? Meine Mutter bist du ja nicht.« Sie drehte sich um. »Und du nicht mein Vater – Vater.«

»Du hörst sofort mit dem Unsinn auf!« Mutter zerknüllte mit ihren dünnen Fingern die Leinenserviette, die neben ihrem Teller lag.

»Hör du auf, Regina. Es ist genug.« Vater, der so entschlossen klang wie noch nie, wandte sich an Agathe. »Es ist vielleicht besser, wenn du uns mit Charlotte allein lässt.«

Doch die schüttelte den Kopf, beugte sich vor und musterte alle mit funkelnden Augen, in denen eine Mischung aus Neugier und Trotz stand. »Das geht mich auch etwas an.«

»Bleib oder geh, mir ist es gleich«, entgegnete Charlotte. »Und jetzt will ich wissen, wer meine Eltern sind und warum ich hier bin.«

»Du solltest dankbar sein, dass wir dir ein Heim geboten haben«, entgegnete Mutter kurz angebunden.

»Habe ich nicht das Recht zu wissen, wer meine Eltern sind?«

Vaters strich sich über die blassen Wangen. »Ich glaube nicht, dass es dir nützt, wenn du mehr erfährst. Wir haben dich zu uns genommen, weil es das Beste für dich war, und wir lieben dich wie eine eigene Tochter.«

»Das glaube ich leider nicht.« Ein dumpfer Druck lag auf Charlottes Brust. Auch Vater wirkte bekümmert, während Mutter sie ansah wie immer, wenn sie sich in ihren Augen danebenbenommen hatte. Agathes Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, aber ihr kam es fast so vor, als ob sie sich freute. Warum auch nicht? Die Neuigkeiten bedeuteten, dass sie die einzige Tochter des Hauses war und nun erst recht die erste Geige spielen würde, obwohl sie jünger war als Charlotte.

Charlotte warf Messer und Gabel auf den Teller und stand auf. »Wie ihr meint. Wenn ihr mir nichts sagen wollt, werde ich Götti Thomas besuchen. Der weiß sicher mehr.«

Die purpurnen Flecken auf Mutters Wangen vertieften sich. »Was fantasierst du da? Dein Götti lebt in England oder treibt sich Gott weiß wo herum.«

»Er hat mir geschrieben. Er lebt jetzt in Bern und hat mich zu sich eingeladen. Und ich werde gleich morgen zu ihm reisen.«

Mutter sprang auf und funkelte sie böse an. »Das wirst du nicht! Er war eine schlechte Wahl als dein Götti und er ist auch heute kein guter Umgang für dich.«

»Er ist mein Götti, und ich habe das Recht, ihn zu sehen.« Charlotte hob das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und ich bin zwanzig Jahre alt. Ihr könnt es mir nicht verbieten.«

»Du lebst unter unserem Dach und tust, was dir gesagt wird«, entgegnete Mutter. »Ich habe Besuche für dich geplant. Jetzt, wo du zwanzig bist, wäre es gut, wenn wir dich unter die Haube bringen.«

»Und aus dem Haus, nicht wahr? Das kannst du haben. Ich besuche Götti Thomas, und wer weiß? Vielleicht bleibe ich ja bei ihm.«

Sobald die Worte heraus waren, wurde ihr der Hals eng. Hatte sie das wirklich gesagt? Doch die Wut, die in ihr hochstieg, gab ihr Kraft. Herausfordernd sah sie Mutter an. Würde ihre wohlerzogene Fassade aufbrechen?

Einen Moment lang war es still. In Mutters Gesicht arbeitete es, als bemühe sie sich mit aller Kraft um Selbstbeherrschung.

Dann griff Vater über den Tisch nach Charlottes Hand. »Du sollst deinen Besuch machen, Charlotte. Sag nichts, Regina«, fuhr er fort, während er dieser einen warnenden Blick zuwarf. »Lerne deinen Götti kennen. Und dann komm zurück. Das ist dein Heim und du bist unser Kind.«

Er lächelte ihr zu und einen Augenblick lang spürte Charlotte die Wärme und Geborgenheit all der Momente, in denen er sich Zeit für sie genommen und mit ihr gespielt hatte, wenn der Schleier seiner Traurigkeit und Distanziertheit aufgebrochen, er lebhaft und fröhlich gewesen war. Doch meistens hatte Mutter diese Momente mit einem herrischen Wunsch unterbrochen. Konnte sie ihn verlassen? Er war der Einzige in ihrer Familie, dem sie sich je nahe gefühlt hatte, auch und gerade in den Momenten, wenn sein stiller Schmerz auch auf ihrem Herzen gelastet hatte.

Sie trat neben seinen Stuhl und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Danke, Vater«, sagte sie rau. »Dann werde ich ein Telegramm nach Bern schicken und mich ans Packen machen.«

Sie erhob sich und schritt gemessen aus dem Esszimmer und in Richtung Treppe. Sie würde reisen und egal, was dabei herauskam, sie würde mehr über sich selbst erfahren und vielleicht bald ihren Vater und ihre Mutter kennenlernen. Alles war möglich.

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 Kapitel 3 

Charlotte knüllte das rote Taschentuch in ihrer Hand zusammen und ließ den Blick über den Bahnhofsplatz schweifen. Wo mochte Götti Thomas stehen? Und würde er das rote Nichts überhaupt sehen? Sie hatten dieses Zeichen per Brief vereinbart, aber jetzt kam es ihr viel zu klein vor.

Neben ihr erhob sich eine der gewaltigen Kalksteinsäulen des Berner Bahnhofsgebäudes, davor erstreckte sich der Bahnhofsplatz. Elegant gewandete Frauen und Männer überquerten ihn, mal bummelnd, mal zielstrebig ausschreitend. Ihr kamen sie alle selbstbewusst und gelassen vor, als wüssten sie genau, wer sie waren und was sie wollten. Aber das lag wahrscheinlich nur daran, dass sie selbst so nervös war.

Vater hatte ihr erzählt, sie sei als kleiner Knopf einmal in Bern gewesen, aber sie konnte sich nicht daran erinnern. Ihr kam alles neu vor, schon die Fahrt war ein Abenteuer gewesen. Vater hatte darauf bestanden, sie mit der Kutsche zum Bahnhof in Nidau zu fahren. Mutter und Agathe hatten sie in den letzten Tagen mit Schweigen gestraft und Charlotte war ganz froh darum gewesen. Vater hatte sie ins Abteil gebracht und sie auf die Stirn geküsst, für ihn eine ungewohnte Geste. Einen Moment lang lag ein Schleier auf seinen Augen, als er sie noch einmal umarmte.

»Ich liebe dich«, hatte er gesagt. »Das weißt du, nicht wahr?«

Sie hatte stumm genickt und ihm nachgesehen, als er aus dem Zug gestiegen war; eine Leere im Herzen, die mit ihrer Aufregung und Vorfreude im Wettstreit lag. Dann hatte sich der Zug aus dem Bahnhof entfernt, hatte das Seeland durchfahren, hin zu neuen Ufern.

Jemand rempelte sie von hinten an, sodass sie stolperte und beinahe gestürzt wäre. Ein korpulenter älterer Herr musterte sie missbilligend von Kopf bis Fuß, schüttelte den Kopf und hastete über den Bahnhofplatz, etwas vor sich hin murmelnd, das wie Landei klang. Kutschen näherten sich dem Eingang und bahnten sich rasant einen Weg durch die Menge. Mehrmals schrak Charlotte zusammen, als es aussah, als würde jemand unter die Räder eines der Gefährte kommen. Dann drang ein schrilles Quietschen an ihr Ohr und ein Gefährt näherte sich dem Bahnhof; eine Art rechteckiger Wagen, der aussah wie ein einzelner Eisenbahnwaggon, vollgestopft mit Menschen. Er blieb stehen, das aussteigende Volk strömte davon, die meisten in Richtung Bahnhof.