Die Uhrmacherin − Schicksalsstunden - Claudia Dahinden - E-Book
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Die Uhrmacherin − Schicksalsstunden E-Book

Claudia Dahinden

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Beschreibung

Die Liebe zum Uhrenhandwerk. Ein Verbrechen, das erschüttert. Und eine Suche, die Mut erfordert.

Grenchen in der Schweiz, 1874. Die junge Luzernerin Sarah hat in Grenchen Fuß gefasst und widmet sich mit großer Leidenschaft ihrer Uhrmacherinnenlehre. Als sie das Angebot erhält, für einen Lehraufenthalt ins jurassische Bonfol zu reisen, ist sie Feuer und Flamme. Nur ihr Freund Paul kann ihre Begeisterung nicht teilen – wird die junge Liebe die Bestandsprobe überstehen? Gleichzeitig wird in Grenchen ein Schüler des Internats Breidenstein vermisst und kurz darauf tot aufgefunden. Sarah und ihre Freundinnen ermitteln auf eigene Faust. Doch gelingt es ihr, ihre Lehre nicht aus den Augen zu verlieren?

Filigrane Uhren, raue Berge und eine junge Frau, die sich allen Widerständen entgegenstellt – Band 1 der Saga stand wochenlang an der Spitze der Schweizer Bestsellerliste

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Seitenzahl: 621

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Claudia Dahinden lebt gemeinsam mit ihrem Mann in der Kleinstadt Grenchen in der Nordwestschweiz, in der sie auch aufgewachsen ist. Daher war für sie früh klar, dass diese auch zum Schauplatz ihrer historischen Saga Die Uhrmacherin werden soll, mit deren erstem Band sie auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste stand. Schicksalsstunden bildet den zweiten Band der Reihe, der von ihren Leser*innen schon sehnsüchtig erwartet wird.

Die Uhrmacherin in der Presse:

»Claudia Dahinden hat der Zeit der Industrialisierung und der Spaltung der Kirchen in der Schweiz ein eindrückliches Denkmal gesetzt.« Lesefieber.ch, über Band 1 Im Sturm der Zeit

Außerdem von Claudia Dahinden lieferbar:

Die Uhrmacherin – Im Sturm der Zeit

Claudia Dahinden

     DieUhrmacherin

Schicksalsstunden

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2022 by Claudia Dahinden Copyright © 2022 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literaturagentur Hille & Schmidt. Redaktion: Susann Harring Covergestaltung: bürosüd Coverabbildungen: www.arcangel.com / Mary Wethey, www.gettyimages.de /HeikoStange / EyeEm, mauritius images / Bildagentur-online / McPhoto / Alamy / Alamy Stock Photos,www.buerosued.de Karte Umschlag: Peter Palm, Berlin Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-641-25434-6V002www.penguin-verlag.de

Für Beat, meinen Mann und besten Freund.

Unsere Story begann vor dreißig Jahren in Fribourg,

und ich freue mich »usinnig« auf alles, was noch kommt!

Im Glossar finden sich Erklärungen zu den verwendeten Schweizer Ausdrücken sowie Begriffen aus der Uhrenindustrie.

Dr guet Fründ

Dr guet Fründ

Tuet dir e guete Fründ erbcho,

Zieh vor em s Chäppli ab,

Gang ihm uff alle Wäge noh,

Gang mit em bis zum Grab;

Du weisch jo, wien es Fründe git:

A faltscher Fründschaft fählt’s der nit!

Und lauft me zue dr chriseldick,

So dick, wie’s dusse schneit,

Chunnt Hans und Bänz und Durs und Vick,

Pass uf, i ha dr’s gseit! –

Du chasch ne glych gäng fründlig sy,

Doch schlo nid gschwing uff d’Fründschaft y.

Los au nit uff es gschliffes Wort

Und wenn’s di no so rüehrt:

Es suufers Härz am rächten Ort

Isch’s, was zur Fründschaft füehrt!

S isch au scho gsi, nimm’s hüt au a:

By zwölfe chönnt’s e Judas ha!

Und wer i Freude mit dr lacht

Und mit dr briegge cha,

Mit dem hesch rächti Fründschaft gmacht;

So Fründe muess me ha!

Vor so me Fründ zieh’s Chäppli ab,

Gang mit em bis zum chüehle Grab!

Franz Josef Schild, Grenchner Arzt und Volksdichter

Der gute Freund

Begegnet dir ein guter Freund,

nimm vor ihm das Käppchen ab,

Geh ihm auf allen Wegen nach,

Geh mit ihm bis aufs Grab;

Du weißt ja, wie es Freunde gibt:

An falscher Freundschaft fehlt’s dir nicht!

Und läuft man zu dir dicht gedrängt,

So dicht, wie’s draußen schneit,

Kommen Hans und Bänz und Durs und Vick,

Pass auf, ich hab dir’s gesagt! –

Du kannst trotzdem freundlich sein,

doch schlag nicht zu schnell in die Freundschaft ein.

Hör auch nicht auf ein geschliffnes Wort,

Und wenn’s s dich noch so rührt:

Ein reines Herz am rechten Ort

Ist’s, was zur Freundschaft führt!

So war es schon immer, nimm’s heut auch an:

Bei zwölfen könnt ein Judas sein!

Und wer in Freude mit dir lacht

Und mit dir weinen kann,

Mit dem hast du rechte Freundschaft gemacht;

Solche Freunde muss man haben!

Vor so einem Freund nimm’s Käppchen ab,

Geh mit ihm bis zum kühlen Grab!

1

Noch eine Umdrehung, dann war es geschafft.

Sarah legte Daumen und Zeigefinger der linken Hand um den Wecker, verstärkte den Druck ihrer rechten Hand auf den Schraubenzieher und drehte das Schräubchen sorgfältig ein. Lehrmeister Flury hatte seinen Lehrlingen klargemacht, dass diese Stücke sorgsam zu behandeln seien, schließlich seien sie keine billigen amerikanischen Produkte, sondern Qualitätsarbeit aus dem französischen Hause Japy, einem Spezialisten »für ganz ordentliches Handwerk hinter glänzender Fassade«, wie er sich ausgedrückt hatte. Und der faustgroße Wecker mit der ziselierten Messingverkleidung und dem geschliffenen Glas, den Sarah gerade bearbeitete, war wirklich eine Schönheit. Ein letztes Mal anziehen …

Ein dröhnendes Scheppern neben ihr. Sarah zuckte zusammen. Der Schraubenzieher glitt ab und hinterließ einen wüsten Kratzer auf dem glänzenden Metall. Verärgert drehte sie sich um.

»Was hast du wieder angestellt?«

Fabrice, ihr schlaksiger Lehrlingskollege, schien sie nicht zu hören. Sein Kopf mit dem dunklen Haar war immer noch über seinen eigenen Wecker gebeugt; er war ganz in seine Arbeit versunken. Dann, als wären ihre Worte über Umwege doch noch bei ihm angekommen, sah er hoch.

»Tut mir leid.« Er hob den Lärmverursacher – die Weckerglocke, die er in Bearbeitung gehabt hatte – vom Boden auf, betrachtete sie abwesend und beugte sich wieder über sein Tischchen.

Sarah schüttelte den Kopf und inspizierte ihren Wecker. Bis auf den Kratzer sah alles perfekt aus. Was würde Lehrmeister Flury zu diesem Malheur sagen? Wahrscheinlich etwas wie: »Präzision und Sorgfalt sind das Alpha und Omega des Uhrmachers!« Und dabei würde er aussehen wie Moses, der mit den Zehn Geboten vom Sinai herunterstieg.

Sie schmunzelte bei diesem Gedanken. Ihr Lehrmeister liebte die Uhren und das Handwerk über alles, und dafür bewunderte sie ihn. Der Kratzer war nur ein winziges Missgeschick; sie würde nicht gleich in Ungnade fallen. Bisher hatte Flury ausschließlich enthusiastische Lobeshymnen auf seine beiden Erstjahrs-Lehrlinge gesungen.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Es war dunkel geworden, und nun erklang auch schon die Fabrikglocke. Rasch packte sie ihre Werkzeuge zusammen, schlüpfte in ihren Mantel und begab sich mit allen anderen in Richtung Ausgang.

Im Freien begrüßte sie als Erstes die Januarbise, die scharf durch die dünne Wolle schnitt. Sarah schob die Hände tiefer in die Taschen, dankbar, dass sie der Pulk der anderen Arbeiter ein wenig vor der Kälte abschirmte. Am Gasthof Bären vorbei bewegte sich die Schlange der Arbeiter in Richtung Löwenkreuzung und weiter gen Südbahnhof. Sarah wandte sich derweil nach rechts und beschleunigte ihre Schritte. Nur heim in die warme Stube!

Wie ein erlösender Hort tauchte Rosas Häuschen am rechten Straßenrand auf, fast verdeckt von einer gewaltigen Föhre, deren Nadeln sich wie winzige weiße Speere spreizten. Sarah öffnete die Haustür, und sofort wehte ihr süßer Duft entgegen – Rosinen, Mürbeteig, ein Hauch Vanille. Neugierig trat sie in die Küche, wo sich ihre Schlummermutter lächelnd zu ihr umdrehte. »Wie ist es gegangen? Neues Jahr, neues Glück?«

»Fast. Neben Fabrice zu arbeiten war wieder einmal nichts für schwache Nerven. Aber sag: Was backst du da? Ich dachte, es gibt deine berühmte Wintersuppe.«

Rosa wies auf einen Topf, dem weißer Dampf und der Geruch von Lauch und Gewürznelken entwich. »Die ist fertig. Gerade bereite ich die Dreikönigskuchen für Schneiders vor, uns habe ich auch einen gemacht. Die kennt ihr in Luzern, oder nicht?«

»Natürlich. Darauf freue ich mich schon!«

Sarah hängte ihren Mantel und den blauen Kittel in die Garderobe. Wie vertraut ihr dieser Anblick geworden war! Erst ein halbes Jahr war es her, seit sie mit der Lehre zur Uhrmacherin begonnen hatte, erst neun Monate, seit sie im April des vergangenen Jahres nach Grenchen gezogen war – ein Jahr, das seit fünf Tagen der Vergangenheit angehörte. Was mochte 1874 für sie bereithalten?

Rosa trug eben die Suppenschüssel ins Esszimmer, die schwarzbraunen Haare kreuz und quer aus dem lockeren Dutt herausstehend, mit geröteten Wangen und einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht. Sarah lächelte zurück. Immer noch staunte sie darüber, wie schnell Rosas Häuschen ihr ein Heim geworden war. Bei Schneiders waren sie Arbeitskolleginnen gewesen, doch Rosa hatte sie so hurtig unter ihre Fittiche genommen wie eine Mutterhenne ihr mageres Küken – obschon bei Rosas Kochkünsten kein Küken lange mager blieb!

Rosa schöpfte zwei Teller Suppe, und Sarah griff in das Körbchen, das schon auf dem Tisch bereitstand, und legte sich eine dicke Scheibe von Rosas selbst gebackenem Roggenbrot neben den Teller. Nach einem kurzen Tischgebet machten sie sich über das noch warme Brot und die Lauchsuppe her, die wunderbar schmeckte und Sarahs müde Glieder wärmte. In Windeseile war der Teller leer, und sie seufzte zufrieden.

»Wie war das mit dem schlechten Anfang?«, fragte Rosa nun nach.

»So schlimm ist es nicht. Ein kleines Missgeschick.«

»Bist du denn mit der Arbeit an diesem Ding – wie heißt es schon wieder – fertig geworden?«

»Pendelwecker. Fertig ja, aber Fabrice hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Kurz bevor ich fertig bin, lässt das drollige Genie etwas fallen, ich rutsche vor Schreck ab und hinterlasse einen Kratzer auf der Messingfassung. Abgesehen davon wäre der Wecker perfekt. Ich hoffe, Lehrmeister Flury sieht das auch so.«

Rosa tätschelte ihr die Schulter. »Das wird er! Und jetzt schau in dein Zimmer. Ich habe dir für Sonntag das blaue Kleid abgeändert, das deine Mutter dir zu Weihnachten geschenkt hat.«

»Hast du? Wie herrlich!«

Sarah eilte in ihr Zimmer. Da hing es am bemalten Bauernschrank, aus warmem nachtblauem Mohair und mit feiner cremefarbener Spitze an den Ärmeln, die nun nicht mehr an einen Puttenengel erinnerten. Als sie das Kleid in Luzern anprobiert hatte, hatte sie alle Selbstbeherrschung aufbringen müssen, um es würdig entgegenzunehmen.

Dank der fürsorglichen Rosa verströmte der Ofen in ihrem Zimmer bereits wohlige Wärme, und ein selbst geknüpfter Teppich schirmte ihre Füße von der Bodenkälte ab. Sarah strich über die frisch bezogene Bettdecke und warf einen Blick auf das Regal über dem Pult, das Rosas Schwager Ruedi ihr gezimmert hatte. Viel hatte sie nicht aus Luzern mitgebracht: die Uhr, die Vater Pfyffer ihr nach Hannes’ Tod geschenkt hatte, ihr Reiseschachspiel. Und daneben lag natürlich die Taschenuhr, die sie mit Paul gebaut hatte.

Sorgfältig hängte Sarah ihren blauen Kittel über ihren Stuhl und legte die Kleider für den morgigen Tag heraus, wusch sich und schaute kurz aus dem Fenster. Eisblumen zierten wie hellgraue Stickerei die nachtdunklen Scheiben, und in der Ferne schimmerte das gedämpfte Licht einer Petroleumlampe durch den Nebel. Die hellgrüne Kirchturmspitze schien in der Luft zu schweben. Wie anders war dieser Abend im Vergleich zu ihrem ersten in Grenchen! Der Blick auf Grenchens Gotteshaus war ihr inzwischen so vertraut wie die spitzen Türme der Hofkirche in Luzern, die sie von ihrem Elternhaus aus sehen konnte. Und wie im fernen Luzern tickte auch in diesem Zimmer nun silberhell die Pfyffersche Uhr.

Sie hatte ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und für ihre Lehre alles auf eine Karte gesetzt. Und es hatte sich gelohnt: Schon nächste Woche fand ihr Halbjahresgespräch mit Lehrmeister Flury statt, dem sie zuversichtlich entgegensah. Müde, aber zufrieden kuschelte Sarah sich unter die duftende Bettdecke. Der Morgen durfte kommen!

Die Kirchenglocken läuteten durch den frostigen Morgen, während Sarah neben Rosa die Kirchstraße hocheilte. Sie waren spät dran, aber zum Glück strebten noch andere der hohen Holztür zu. Leise betraten sie das Gotteshaus, bekreuzigten sich, beugten hastig die Knie und ließen sich erleichtert in Rosas bevorzugter Reihe nieder.

Wie immer herrschte eine erwartungsvolle Stille, nur unterbrochen vom Rascheln der gestärkten Unterröcke und dem Scharren der Füße in den klobigen Winterschuhen. Sarah warf einen Blick auf die Tafel mit den Kirchenliedern und suchte sie aus dem roten, in Leder gebundenen Gesangsbuch heraus. Sie legte nach wie vor nicht viel Wert auf den wöchentlichen Messebesuch, aber sie hatte Vater versprochen, ihren christlichen Pflichten nachzukommen. Und heute war es ihr leichtgefallen, aus dem Bett zu kommen: Paul hatte geschrieben, dass er nach Grenchen fahren und sie nach der Messe zu einem Spaziergang samt Kaffee und Kuchen im Restaurant Hallgarten abholen würde. Seit sie zusammen Silvester gefeiert hatten, hatten sie sich nicht mehr gesehen. Die Kammfabrik in Mümliswil, bei der Paul arbeitete, hatte das Jahr mit einem Großauftrag begonnen, und Paul hatte wie alle anderen über die Zeit arbeiten müssen. Umso mehr freute sie sich auf das Wiedersehen.

Pfarrer Walser, der eben mit den Ministranten die Kirche betrat, unterbrach ihren Gedankengang. Er wirkte besorgt. »Die heutige Bibelstelle stammt aus Matthäus 5,11«, verkündete er. »›Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, so sie daran lügen.‹ Liebe Gemeinde, diese Zeit ist da.« Blass und ernst blickte er von der Kanzel auf seine Schäfchen herab. »Unserem Bischof wurden in Solothurn die Fenster eingeworfen. Und das ist noch harmlos, wenn wir an das Schicksal unserer Glaubensgeschwister im Berner Jura denken. In Bonfol wurden dreizehn Personen verhaftet!« Ein sardonisches Lächeln umspielte seine schmalen Lippen. »Aber der Herr ist mit den Seinen, und er sorgt für Gerechtigkeit. Bei der Installation des christkatholischen Pfarrers in Biel wollte keine einzige Musikgesellschaft spielen. Stramme Männer des Glaubens!«

Er redete sich weiter in Rage, und Sarah musterte verstohlen die Gesichter um sich herum. Ihr waren die Streitereien zwischen den Katholiken nach wie vor fremd, und das würde wohl auch so bleiben. Aber das Grenchner Kirchenvolk nahm sie immer noch sehr ernst.

Auch nach der Messe hielt sich die Empörung. Trotz der beißenden Kälte formierten sich die üblichen Grüppchen, die sich unter einer gewaltigen schneebedeckten Linde versammelten. Rosa strebte einigen Kirchgängern zu, unter denen Sarah den Kirchgemeinderatspräsidenten Obrecht ausmachen konnte, außerdem das fromme Gäthchen, das hinter allem und jedem eine Weltverschwörung gegen die Katholiken vermutete. Garantiert würden sie gleich die düsteren Zeiten beweinen. In gebührendem Abstand zu den Gottesstreitern stellte sich Sarah unter die Linde und ließ den Blick über den Kirchhof schweifen. Paul war noch nicht zu sehen. Sie näherte sich Rosas Truppe auf Hörentfernung und stellte erleichtert fest, dass man vom nahenden Weltuntergang zu einem interessanteren Thema übergegangen war. Das entnahm sie zumindest den geweiteten Nasenlöchern des alten Gäthchens. Sarah lächelte. So sah Gäthchen immer aus, wenn eine besonders würzige Neuigkeit ihr unersättliches Ohr erreichte.

»Und das auf Breidenstein!«, rief Gäthchen gerade in einer Mischung aus Missbilligung und Zufriedenheit. Sie schüttelte den Kopf. »So ein Schulgeld, und dann geht ihnen ein Junge verloren.«

»Wie, verloren?«, fragte Sarah.

»Letzten Freitag ist einer der Auswärtigen verschwunden«, erwiderte Rosa.

»Ein Junge, der seit zwei Jahren dort ist«, ergänzte Gäthchen missbilligend. »Kein Neuling, der Heimweh hatte! Und die Landjäger waren noch nicht einmal vor Ort.«

»Dafür hat sich Präfekt Marthaler zum offiziellen Detektiv ernannt. Er stolpert mit seinem Notizbuch durch die Gänge und hat mich schon zweimal in die Mangel genommen – als wäre ich ein Verbrecher!«

Die mürrischen Worte kamen von Ruedi, Rosas Schwager, der verdrossen auf seinen krummen Beinen hin- und herwankte. Rosa tätschelte seinen Arm. »Das meinst du nur. Du bist sicher der untadeligste Mensch, der auf Breidenstein arbeitet. Du gibst mir doch recht, Sarah!«

Sarah nickte lächelnd, obwohl sie Ruedi kaum kannte. Er pflegte das Grab von Rosas früh verstorbenem Gatten Fred – seinem Bruder –, und auf ihren regelmäßigen Friedhofsspaziergängen bewunderte sie stets die liebevolle Bepflanzung.

Nach ihren Worten lächelte er Rosa dankbar an, und seine Augen glänzten in seinem faltigen Gesicht wie Stückchen eines zugefrorenen Sees. »Du übertreibst, Schwägerin.«

»Tue ich nicht! Seit du auf Breidenstein die Umgebung instand hältst, sieht es noch schöner aus. Und die Köchin hat mir gesagt, dass du überall hilfst, wo es dich braucht. Dieser Präfekt soll vor der eigenen Türe kehren! Und spätestens wenn die Landjäger kommen, wird er mit seinen Spielchen aufhören.«

»Falls sie kommen! Wahrscheinlich sind sie überlastet mit den Übeltaten der Christkatholiken«, sagte Gäthchen grimmig. »Die Endzeit ist nahe! Meinst du nicht auch, Hans?«

Der greise Hans Bühler hob einen gekrümmten Finger, und Sarah seufzte. Jetzt durften sie sich auf eine weitere Sonntagspredigt zum Thema Katholikenverfolgung und Endzeit gefasst machen.

»Vielleicht ist der Junge einfach ausgerissen«, warf Rosa ein.

»Bei seinem Vater haben sie ihn jedenfalls nicht gefunden!« Gäthchens Gesicht verzog sich in heiliger Entrüstung. »Wahrscheinlich treibt er sich in Wirtschaften herum. Die Jugend heutzutage!«

Sie holte tief Luft, doch ein sandfarbener Schopf, der hinter der Linde sichtbar wurde, befreite Sarah von weiteren Qualen.

»Paul ist da! Ich muss los.« Wie schön, dass sie sich sahen! Trotz ihrer Zuversicht war ihr etwas mulmig beim Gedanken an ihr baldiges Halbjahresgespräch. Ein Austausch mit Paul würde ihr guttun. Außerdem war sie gespannt, was es mit den Neuigkeiten auf sich hatte, die er in seinem letzten Brief angekündigt hatte. Seit Herr Schneider, ihr früherer Vorgesetzter und Pauls Vater, diesem versprochen hatte, ihn bei der Pachtzahlung zu unterstützen, war Paul auf der Suche nach einem geeigneten Bauernhof, und sie hofften beide, dass er einen in der Region finden würde. Im letzten halben Jahr hatten sie jede freie Minute zusammen verbracht. Wenn sie beobachtete, wie er die Pferde seines Vaters pflegte und fütterte, und wenn er ihr auf ihren Spaziergängen erzählte, was er auf seinem Hof anpflanzen und wie viele Kühe er halten wollte, wünschte sie ihm nichts mehr, als dass er seinem Ziel endlich näher kam – so wie sie dem ihren.

Eine Viertelstunde später saß sie mit Paul an einem Tischchen im brechend vollen Hallgarten, und obwohl es ringsum schnatterte, Gabeln auf Teller quietschten und Stühle und Tische herumgerückt wurden, schienen sie allein auf einer Insel zu sein. Verstohlen musterte sie Paul. Er wirkte blass und dünn. Wie viele Stunden hatte er wohl letztens arbeiten müssen? Doch das warme Funkeln in seinen Augen war noch dasselbe. Sie liebte es genauso wie die Art, wie ihm seine flachsfarbenen Haare in die Stirn fielen – ein Bild, das sie sich immer in Erinnerung rief, wenn er ihr am meisten fehlte. Lächelnd griff sie nach seiner Hand. »Wie geht es in Mümliswil? Kommst du auch mal zur Ruhe?«

Er seufzte. »Kaum. Die Fabrik hat schon wieder einen neuen Auftrag bekommen – Kämme für die Königin von Dänemark, stell dir vor! Es ist ein Wunder, dass ich heute freibekommen habe.«

»Und ich bin froh darum. Ich habe dich vermisst! Und mich beschäftigt einiges.«

»Mich auch«, erwiderte Paul. »Im Moment gerade, wie bildhübsch du in deinem Kleid aussiehst. Ich kann kaum glauben, dass du hier mit mir sitzen willst.« Er betrachtete sie liebevoll, und Sarah spürte die Röte in ihre Wangen aufsteigen. »Und mir gefällt, wie du dein Haar aufgesteckt hast«, fuhr Paul fort. »Aber das sind die Dinge, die mich ablenken. Was ist es bei dir?«

»Ich habe am Dienstag mein Halbjahresgespräch mit Lehrmeister Flury. Ich bin zuversichtlich, aber jetzt, da es näher rückt …«

»Er wird zufrieden sein. Gefällt dir die Arbeit denn immer noch? Und wie läuft es mit deinem jungen Kollegen – Fabrice?«

»O ja, und wie es mir gefällt! Und Fabrice ist in Ordnung.« Sie lachte. »So jung er ist: Er erinnert mich an einen zerstreuten Professor, wie er vor sich hin murmelt und nur seine Uhrenteile sieht. Er hat ein intuitives Verständnis dafür, wie Dinge funktionieren, und vergisst nie etwas.« Sie seufzte. »Das ist ziemlich einschüchternd. Außerdem stammt er aus einer Fabrikantenfamilie, die sich zu den Christkatholiken zählt. Wie Lehrmeister Flury! Aber das sollte keine Rolle spielen, wenn es um meine Leistung geht. In Sachen Theorie bin ich zuversichtlich, und bisher war auch die Praxis kein Problem. Nur der Pendelwecker hat mir etwas Mühe bereitet.«

»Pendelwecker sind langweilig, soweit ich mich erinnere.«

»Aber es sind die Grundlagen, auf denen jeder Uhrmacher aufbaut!«

»Das wird schon. Und jetzt lassen wir das Fabrikgeschwätz. Ich habe Neuigkeiten.« Paul strahlte und beugte sich vor.

Seine Aufregung ließ auch in Sarah ein Prickeln hochsteigen. »Geht es um die Pacht? Hast du einen Hof gefunden?«

»Ich bin auf eine Anzeige gestoßen – ein Bauernhof in Bettlach. Der Besitzer verlangt mehr Pacht, als Vater mir zugesagt hat, aber ich glaube, ich kann Vater überzeugen, wenn du mir beistehst. Wirst du?«

»Natürlich!« Bettlach – das war fast so gut wie Grenchen. Sarah umschloss seine Hände mit ihren. Es waren schlanke, kräftige Hände, dazu geschaffen, sich um die Tiere auf dem eigenen Hof zu kümmern. »Ich freue mich für dich.«

»Und ich erst! Ich hoffe, es ist kein Traum, aus dem ich erwache, bevor er in Erfüllung geht.«

»Er wird in Erfüllung gehen! Wann willst du mit deinem Vater sprechen?«

»In drei Tagen habe ich ein Gespräch mit dem Bauern, dann wollte ich am übernächsten Mittwoch nach Grenchen kommen und es ihm am Abend sagen. Kommst du mit?«

»Und ob ich das tue!«

Paul lächelte. »Und ich werde am Dienstag an dich denken. Ich bin mir sicher, dass das Gespräch mit Flury gut geht. Du hast Talent, das habe ich damals gleich gesehen. Mach dir keine Sorgen.«

Die liebevolle Zuversicht in Pauls Stimme tat gut. Sarah lächelte ihm zu, dann stürzten sie sich auf die vernachlässigten Kuchenstücke und bestellten eine zweite Runde Kaffee. Eine viel zu kurze Stunde später war es Zeit für Pauls Zug. Sarah umarmte ihn und sah ihm nach, wie er gen Süden zum Bahnhof lief. Wie glücklich er wirkte! Das war es, was sie sich für ihn gewünscht hatte, und sie würde ihm beim Gespräch mit seinem Vater jede Unterstützung gewähren, die er brauchte.

Ein scharfer Wind fegte durch ihre Kleider. Sie zog den Mantel fester um den Körper und strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Dutt befreit hatten. Doch die Wärme, die sie im Hallgarten verspürt hatte, hielt sich. Wenn Paul an sie glaubte, tat sie das auch. Und so, wie er ihr Kraft gab, würde sie ihm helfen, sein Ziel zu erreichen.

2

Im Kabuff von Lehrmeister Flury roch es nach Tabak, Öl und heiß gelaufenem Metall. Wanduhren, Standuhren und Taschenuhren, Wecker und Pendeluhren in verschiedenen Stadien der Reparatur lagerten auf dunklen, schmutzigen Regalen; dazwischen stapelten sich kreuz und quer Werkzeuge. Was die Ordnung anging, die ein Uhrmacher halten sollte, gehörte Sarahs Lehrmeister zur Wasser predigenden, aber Wein trinkenden Sorte.

»Schauen wir mal, mein schönes Kind.« Flury erhob sich von seinem Stuhl und ging auf und ab. Trotz der inneren Anspannung sah Sarah ihm belustigt zu. Jedem anderen hätte sie diese Formulierung übel genommen – sie war schließlich schon sechsundzwanzig Jahre alt! Doch bei ihm kam darin nur väterliches Wohlwollen zum Ausdruck, und das konnte sie gebrauchen.

Wie immer, wenn ihr klein gewachsener, kugelförmiger Lehrmeister über die hehren Prinzipien der Uhrmacherei sprach, schritt er weit aus, reckte den Zeigefinger und das Kinn in die Höhe und dozierte mit einer Inbrunst, die klarmachte, dass es für ihn nichts Heiligeres gab. Allerdings musste sie sich auch heute gedulden, denn er kam selten direkt auf ein Thema zu sprechen. Jetzt ließ er sich zuerst über den Zustand der Uhrenindustrie im Allgemeinen und dem Ergehen der Gebrüder Schild AG im Besonderen aus; ein von ihm gern beackertes, schier unerschöpfliches Thema, weil – so viel hatte sie schon gelernt – das Uhrenmetier nicht besonders stabil war.

»1873 ist der Absatz zurückgegangen«, sagte Flury. »Die Amerikaner produzieren billiger als wir, aber sie verstehen weniger von den Feinheiten unserer Metiers. Wir müssen ...« Er stockte mitten im Satz, den Zeigefinger immer noch gen Himmel erhoben, und nestelte an seinem Kneifer. Dann warf er Sarah einen scharfen Blick zu, als hätte er zwischenzeitlich vergessen, dass sie noch da war.

»Was wollte ich sagen? Ach ja: Wir müssen unsere Stärken ausspielen. Aber jetzt zu Ihrem ersten Halbjahr!« Er kehrte zurück an sein Pult, setzte sich und faltete seine Hände. »Wie gefällt es Ihnen bisher?«

»Sehr gut!« Sarah spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Sie hatte nicht so enthusiastisch klingen wollen. »Das Drehen und Schleifen fand ich nicht so interessant«, sagte sie rasch. »Ich konnte es kaum erwarten, mit den Uhren zu arbeiten. Aber jetzt bin ich glücklich mit der Arbeit.«

»Das ist gut.« Er musterte sie. »Und schämen Sie sich niemals für Ihre Leidenschaft! Sie werden sie brauchen. Es wird Momente geben, in denen Ihnen die Arbeit langweilig vorkommt oder in denen Sie denken, dass Sie es nicht schaffen. Dann brauchen Sie jede Unze Begeisterung, die Sie jetzt haben.«

Sarah lächelte. Sein Eifer gefiel ihr, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr die Arbeit einmal nicht mehr gefallen könnte.

Er nickte, als wüsste er genau, was sie gerade gedacht hatte, griff nach einem Heft auf seinem Tisch, schlug es auf und fuhr mit seinem ölfleckigen Finger über die Zeilen.

»Dann wollen wir mal sehen. Sie haben sich gut eingearbeitet, sind zuverlässig, pünktlich und mit ganzem Herzen dabei, schwatzen nicht herum und überdehnen die Pausen nicht. In der Theorie« – er sah kurz zu ihr hoch – »sind Sie weiter als die meisten Lehrlinge, die ich bisher unterrichtet habe, sowohl in der Mechanik als auch im geometrischen Zeichnen. Exzellent! Das habe ich bei einer Frau noch nie gesehen.«

Sarahs Kopf fühlte sich an wie ein Heißluftballon. Sie strahlte ihn an, ohne zu wissen, was sie sagen sollte.

Flury hatte seinen Kopf derweil wieder über sein Heft gesenkt. »Kommen wir zur Praxis. Die Schwarzwälder Uhr, die wir im ersten Vierteljahr hatten, haben Sie ausgezeichnet bearbeitet. Der Umgang damit ist Ihnen leichtgefallen. Der Pendelwecker ...«

Seine Stirn legte sich in Falten, und Sarah spürte plötzlich die harte Rückenlehne ihres Stuhls. »Ich weiß, ich ...«

»Der Kratzer ist nicht weiter schlimm, aber Sie haben die Zeiger nicht ausreichend befestigt. Das würde höchstens einen Monat halten. Sonst sind Sie in der Praxis gut unterwegs, aber nicht so herausragend wie Herr Leibundgut. Sie können sich noch steigern.«

Sarahs Hals wurde trocken wie die Luft in Flurys Kabuff. Aber ihr Lehrmeister war noch nicht fertig. »Außerdem müssen Sie an Ihrem Französisch arbeiten. In unserer Gegend ist das wichtig, der Jura ist nahe. Ihre Aussprache ist mangelhaft, ebenso Ihr Wortschatz. Im Moment mögen Sie beides noch nicht brauchen, aber vielleicht arbeiten Sie einmal in einem Geschäft. Ich werde Sie nicht mit Herrn Leibundgut vergleichen; seine Mutter ist eine Welsche. Aber Sie haben auch sonst aufzuholen; den meisten Grenchnern ist das Französische geläufig.« Er schloss das Heft und stand auf, Sarah tat es ihm nach. Prüfend musterte er sie; seine Augen, auf der Höhe ihrer Nase, blickten scharf durch den Kneifer.

»Was ist mit Ihnen? Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, oder dachten Sie, Sie würden der erste sein?« Er lächelte gutmütig und reichte ihr die Hand. »Adieu, schönes Kind. Sie sind auf gutem Wege.«

Ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen, nickte Sarah ihrem Lehrmeister zu und machte sich auf den Heimweg. Es hatte schon eingedunkelt und war eisig, der Himmel ein dunkler Teppich voller kalt funkelnder Sterne. Nach kurzer Zeit brannten ihre Wangen. Als sie am Bären mit seinen erleuchteten Fenstern vorbeikam, warf sie einen Blick hinein. Mehr als ein blauer Kittel war zu sehen; Fabrikarbeiter beim Feierabendumtrunk. Gemütlich und heimelig sah es aus. Auf sie wartete heute niemand, Rosa war noch bei Schneiders.

Die Kälte auf ihren Wangen breitete sich langsam in ihrem Körper aus, und sie hastete voran. Etwas beklommen war ihr schon zumute. Bisher war alles wie von selbst gegangen. War das der Anfang aller Schwierigkeiten? Irgendwie war sie froh, dass sie Fabrice jetzt nicht begegnen musste; sicher hatte er in allen Fächern brilliert.

Zehn Minuten später erreichte sie Rosas Häuschen. Während sie aufatmend den Mantel auszog, fiel ihr Blick auf einen Brief auf der Kommode im Eingangsbereich. Er war von Vater. Die Ablenkung kam wie gerufen; es brachte nichts, zu sehr zu grübeln. Sie eilte in ihr Zimmer, brach das Siegel und begann zu lesen. Wie es Vaters Art war, geizte er mit Informationen zur Familie. Stattdessen informierte er sie über die Plage der Christkatholiken in Luzern, über die mehrheitlich pessimistischen Berichte seines Freundes Segesser aus dem eidgenössischen Parlament und über sein Lieblingsthema: den bevorstehenden zweiten Urnengang zur Bundesrevision. Sarah seufzte innerlich. Es war nicht so, dass sie sich dafür nicht interessierte, aber warum suchte er sich für diese Tiraden ausgerechnet sie aus? Schließlich hatte er einen Sohn vor Ort, mit dem er sich austauschen konnte – der im Gegensatz zu ihr wählen durfte. Aber sie wusste nur zu gut, dass Daniel in dieser Hinsicht kein guter Gesprächspartner war. Ihn interessierte der nächste Stammtisch seiner Mittelschulverbindung mehr als Politik. Widerwillig las sie weiter, stockte jedoch, als sie den Namen Hannes las. Sein mysteriöser Tod hatte sich gerade erst zum zweiten Mal gejährt, und obwohl sie mit Paul glücklich war: Die Erinnerung an ihre erste Liebe, ihren einstigen Verlobten, schmerzte jedes Mal aufs Neue. Ob die Polizei bei den Untersuchungen vorangekommen war? Sie beugte den Kopf tiefer über den Brief.

Wie ich dir erzählt hatte, hat die Polizei die Ermittlungen zu Hannes’ Todesfall wieder aufgenommen. In den letzten Monaten hat sie regelmäßig Anzeigen in der Zeitung veröffentlicht, um Personen zu finden, die am Tag des Unfalls auf dem Gütsch waren und etwas gesehen haben. Doch leider hat sich bisher niemand gemeldet. Ich halte dich auf dem Laufenden.

Wie geht es dir? Was macht die Uhrmacherei? Ich hoffe, du hast nach wie vor Freude an der Arbeit und machst deinen Lehrmeister zufrieden. Ich bin mir sicher, dass du zu seinen Besten gehörst!

Sarah legte den Brief auf ihren Sekretär. Wie schnell einen Vergangenheit und Gegenwart doch einholen konnten! Es hatte sie geschmerzt, an Hannes’ Todestag nicht an seinem Grab stehen zu können. Stattdessen war sie auf dem hiesigen Friedhof spazieren gegangen, und wie immer hatte ihr ein Besuch dieser Gedenkstätte irdischer Vergänglichkeit wohlgetan. Aber richtig gut würde es ihr erst gehen, wenn sie wusste, wie er an den Rand jenes Felsens gelangt, wie er abgestürzt war. Warum er seine Sonntagkleidung getragen hatte, wo sie doch zusammen hatten wandern wollen …

Sie versuchte, diese Gedanken aus ihrem Gedächtnis zu bannen, aber es fiel ihr schwer. Zwei Jahre; das klang nach einer langen Zeit, in der eine solche Wunde zumindest ansatzweise heilen könnte. Der Schmerz, den sie beim Anblick seines zerschmetterten Körpers im Schnee empfunden hatte, war fast so frisch wie damals. Wann würde die Erinnerung sie nicht mehr so mitnehmen? Und doch hatte sie auch Grund zur Dankbarkeit: Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass sich ihr Herz so rasch für jemand anderen öffnen würde.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Vaters Brief zu, und ihr Blick wanderte zu den letzten Zeilen. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Vater glaubte an sie. Zwar spürte sie einen leichten Druck, weil er erwartete, dass sie Erfolg hatte, dass sie herausragte. Aber das machte nichts – das erwartete sie ebenso.

Entschlossen erhob sie sich, setzte sich vor ihren Spiegel und bürstete energisch ihre dunklen Locken. Ab morgen würde sie früher aufstehen und sich in den praktischen Arbeiten üben; schließlich hatte Rosa ihr eine Rumpelkammer dafür frei geräumt, und ihr selbst angefertigtes Werkzeug nahm sie wie alle Uhrmacher mit nach Hause. Heute Abend würde sie sich die Arbeitsschritte und Griffe einprägen. Bald konnte sie auch mit Paul wieder darüber sprechen; er hatte die Lehre ebenfalls gemacht und konnte ihr weiterhelfen. Und wenn sie vorher ein mitfühlendes Ohr brauchte: Morgen traf sie Pauline und Marie zum Jassen, darauf freute sie sich schon. Aber jetzt war erst einmal Lernen angesagt. Sie beugte sich mit neuem Eifer über ihr Lehrbuch. Es gab nichts, was man mit harter Arbeit nicht schaffen konnte!

»Wie war das Wiedersehen der Liebenden letzten Sonntag?«

Sarah folgte der spitzbübisch lächelnden Pauline ins Esszimmer, wo eine dampfende Kanne auf dem Tisch stand. Schwerfällig ließ sich Pauline auf die Bank fallen. »Marie, kannst du Sarah versorgen? Mir ist die Puste ausgegangen.«

Marie, die sich auf der Eckbank fläzte, setzte sich auf und reichte Sarah eine dampfende Tasse Kaffee.

»Du bist ein Schatz!« Sarah gesellte sich zu Marie auf die Bank, griff nach der Tasse und genehmigte sich einen tiefen Schluck. »Das tut gut! Die Januarbise ist übel. Ich komme mir vor, als wäre ich bis auf die Knochen gefroren.«

»Vom letzten Sonntag muss doch noch ein bisschen Wärme übrig sein«, erwiderte Pauline schmunzelnd. »So ging es mir jedenfalls mit Adolf, als er mir den Hof machte.«

»Das glaube ich dir aufs Wort!« Sarah musterte ihre Freundin fürsorglich. »Aber sag, wie geht es dir? Sollte das Kind nicht schon da sein?«

»Wenn’s nach mir geht, schon.« Pauline seufzte. »Wer weiß, vielleicht kommt es während unserem Jass – mir wäre es ganz recht!«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

»Vielleicht helfen ein paar aufregende Neuigkeiten«, erwiderte Sarah. »Stellt euch vor: Paul hat in Bettlach einen Hof gefunden, den er pachten will.«

Pauline griff nach Sarahs Hand und drückte sie. »Das ist ja wundervoll!«

»Nicht wahr? Jetzt muss er nur noch seinen Vater überzeugen. Der Pachtbetrag liegt über der Summe, die ihm Herr Schneider versprochen hat. Aber ich werde ihm helfen und meinen Charme spielen lassen.« Sarah nahm einen weiteren Schluck Kaffee und lehnte sich auf der Bank zurück. Das Esszimmer von Schild-Hugis wirkte mit seinen Holzwänden heimelig, und die Eckbank aus Kirschholz bot genug Platz für ihre Treffen.

»Wie war deine erste Woche auf Breidenstein?«, fragte Sarah Marie.

»Es ist ein wundervolles Institut! Der Direktor, die Lehrer und die Schüler sind sehr nett.« Marie hielt kurz inne. »Aber die anderen Dienstmädchen schauen mich komisch an«, sagte sie schließlich. »Wahrscheinlich wissen sie, was ich vorher gemacht habe. Daran muss ich mich noch gewöhnen.«

Es wurde still am Tisch. Mitfühlend betrachtete Sarah die Freundin mit den rosigen Wangen und den glänzenden hellbraunen Haaren. Von Weitem sah sie immer noch wie kaum zwanzig aus, aber wenn man genauer hinsah, wirkte sie älter. Die dunklen Schatten um die mandelfarbenen Augen hatten sich abgeschwächt, aber verschwunden waren sie noch nicht. Letztes Jahr hatte Marie noch im Fleur, Grenchens einzigem Bordell, gearbeitet. Sarah wurde immer noch mulmig, wenn sie an die Zeit zurückdachte, die sie dort als Dienstmädchen in geheimer Mission verbracht hatte, aber das war natürlich nichts im Vergleich zu den langen Jahren, die Marie als Prostituierte gearbeitet hatte.

Seit jenen dramatischen Tagen, in denen sich die Todesfälle letztes Jahr aufgeklärt hatten, hatten Pauline und Sarah, die enge Vertraute und Freundinnen geworden waren, immer wieder versucht, Marie eine andere Arbeit zu verschaffen. Hartnäckig hatte die Freundin jeden Vorschlag abgelehnt, ohne wirklich begründen zu können, was ihr daran nicht gefiel. Sie hatten nur vermuten können, dass Stolz und Angst vor der Veränderung sie gelähmt hatten. Doch als der Institutsleiter auf Breidenstein ihr auf Zusprache von Paulines Mann Adolf eine Stelle als Dienstmädchen angeboten hatte, hatte sie zur Freude der Freundinnen zugesagt. Dass es nicht leicht werden würde, war klar gewesen; hoffentlich gab Marie nicht auf.

»Wie ist die Arbeit? Kommst du zurecht?«, fragte Sarah.

»Es ist körperlich anstrengend, aber das war es früher auch.«

Sarah schluckte trocken und warf Pauline einen Blick zu. Manchmal beschwor Marie mit einer harmlosen Bemerkung schwer verdauliche Bilder aus der Welt der Freudenmädchen herauf. Es war schwierig, darauf richtig zu reagieren, denn das Letzte, was sie wollten, war, dass Marie sich einmal mehr ausgeschlossen fühlte.

»Ich bin mir sicher, du gewöhnst dich daran. Direktor Breidenstein kann froh sein, dass du für ihn arbeitest! Und die Mädchen werden dich bald wie eine der Ihren behandeln.« Pauline griff nach Maries Hand und lächelte. »Grüß Dorothea von mir; sie hat früher für uns gearbeitet.«

Maries eben noch sorgenvolle Züge hatten sich gelockert. Fröhlich griff sie nach der Kaffeekanne. »Darauf trinke ich noch einen!«

Lächelnd betrachtete Sarah Pauline, das energische Gesicht und das honigblonde Haar, das im Schein der Petroleumlampe glänzte. Ihre Freundin verstand es, Menschen aufzubauen.

»Wo ist Adolf?«, fragte sie dann. »Haben wir ihn vertrieben?«

»Er trifft sich mit Obrechts.« Pauline seufzte. »Sie hatten letztens Streit wegen der Pläne der Christkatholiken, in Grenchen einen Ort für die Messe zu finden. Zum Glück muss ich nicht dabei sein.«

Adolf war eine der Führungsfiguren der neuen christkatholischen Bewegung in Grenchen, die sich wie an vielen anderen Orten der Schweiz, Süddeutschlands und Österreichs nach dem Ersten Vatikanum und dem Unfehlbarkeitsdogma, das von vielen abgelehnt wurde, formiert hatte. Pauline, die im Glauben viel Kraft fand, belasteten die Spannungen zu den früheren Glaubensfreunden in der römisch-katholischen Kirche. Ihr selbst bedeutete das nicht so viel, aber in Anbetracht von Vaters feindlicher Gesinnung gegenüber den Christkatholiken war Sarah dankbar, dass das Thema sie und ihre Freundin bisher nicht auseinandergebracht hatte.

»Die Konflikte wirken sich bis in die Produktion der Schild-Fabrik aus«, erwiderte Sarah nun. »Wenn wir Rohmaterial in den Jura liefern oder bei den Bauern fertige Stücke abholen, werden die Kutschen manchmal von der Polizei aufgehalten. Wahrscheinlich meinen sie, wir bringen Waffen, für welche Seite auch immer.«

»Wechseln wir das Thema«, sagte Pauline entschlossen. »Wie war dein Halbjahresgespräch?«

»Erst gut, dann weniger. Mit meinen praktischen Fähigkeiten ist Flury nicht so zufrieden, wie ich gehofft hatte, und an meinem Französisch hat er einiges auszusetzen.«

Ein Lächeln umspielte Paulines Lippen. »Dann musst du es machen wie ich und ins Welschland gehen.«

»Du meinst, um Manieren zu lernen? Das hat bei dir doch auch nichts gebracht.«

Pauline lachte schallend. »Immerhin musste ich nicht wegen des Französischen hin. Aber genug von der Arbeit. Hat denn keine von euch pikantere Neuigkeiten?«

»Doch, ich.« Marie beugte sich vor. »Ihr habt sicher von dem vermissten Jungen gehört. Heute Morgen wurde in der Post auf Breidenstein ein Brief gefunden. Der Junge wurde entführt!«

»Entführt?«, rief Pauline entsetzt. »Und damit wartest du so lange?! Was stand in dem Brief?«

»Das weiß ich nicht genau«, erwiderte Marie. »Das Kanzleimädchen, das die Post verteilt, hat uns davon berichtet. Der Brief bestand aus ausgeschnittenen Buchstaben einer Zeitung. Das ganze Haus ist in Aufruhr! Der Vater des Jungen ist auf dem Weg nach Grenchen.«

»Wie schrecklich. Waren die Landjäger schon da?«, fragte Pauline.

»Friedli ist heute aufgetaucht«, erwiderte Marie düster. »Er hat mich misstrauisch angeschaut; wahrscheinlich hat er sich aus dem Fleur an mich erinnert. Gesagt hat er nichts; sicher hatte er Angst, ich könnte ihn auch erkennen. Er hat mit dem Heimleiter und der Kanzleifrau gesprochen; die hat mir erzählt, er habe sie ziemlich wirr befragt.«

»Dass er nicht viel taugt, wissen wir vom letzten Jahr«, bemerkte Sarah trocken. »Hoffentlich holen sie Verstärkung aus Solothurn.«

»Ich halte euch auf dem Laufenden«, erwiderte Marie eifrig. »Und ihr könntet mich einmal über Mittag oder am Abend besuchen. Dann könnt ihr euch selbst einen Eindruck verschaffen.«

»Eine sehr gute Idee«, erwiderte Pauline nachdenklich. Sie runzelte die Stirn. »Ich wollte morgen Abend in die Theateraufführung auf Breidenstein, obwohl Adolf in Sorge ist wegen meines ›Zustands‹, wie er es so liebevoll nennt. Jetzt frage ich mich, ob die überhaupt stattfindet. Hast du etwas gehört?«

Marie nickte. »Die Aufführung findet statt. Der verantwortliche Lehrer hat sich dafür eingesetzt; man will die Jungen, die sich vorbereitet haben, nicht enttäuschen.«

Pauline lächelte. »Wunderbar! Dann gehe ich hin; ich brauche Luftveränderung. Kommst du mit, Sarah?«

»Ich habe es vor. Rosas Schwager Ruedi hat die Kulissen gezimmert und uns eingeladen. Außerdem bin ich gespannt auf den Grenchner Hamlet. Wenn das mal gut kommt!«

»Jetzt hörst du dich wie die patrizische Stadtluzernerin an, die du mal warst.«

»Die war ich nie!« Sarah hob das Kinn. »Im Herzen bin ich seit meiner Geburt eine Grenchnerin.«

»Dann solltest du auch zu Bezirkslehrer Feremutschs Vortragsabend kommen«, erwiderte Pauline. »Es werden verschiedene Lehrer aus Breidenstein referieren. Unter anderem wird Lehrer Eberwein über die Grenchner Geschichte sprechen. Er ist ein Freund von Adolf und mir und der netteste Mensch, den man sich vorstellen kann.«

»Kann ich Paul mitbringen, falls er da ist?«

»Natürlich. Wie wäre es jetzt mit unserer Jass-Partie?«

»Unbedingt«, erwiderte Sarah eifrig. »Und da Adolf fehlt, könnten wir es mit dem Bieter versuchen, den ich euch letztens gezeigt habe.«

»Na gut«, meinte Pauline. »Aber da du den besser kennst als wir, bestehe ich auf dem französischen Kartendeck. Du musst dich sowieso daran gewöhnen.«

Sarah grinste. »In Ordnung.« Sie mischte geschickt und verteilte die Karten. Wenn es einen Glaubenskrieg gab, der in der Schweiz noch härter ausgefochten wurde als der katholische, dann war es die Frage, mit welchen Karten man einen Jass klopfte. Als Luzernerin war sie mit dem deutschen Kartendeck aufgewachsen, aber sie hatte sich wohl oder übel überzeugen lassen, auf das französische zu wechseln, das im Bernischen und Solothurnischen verwendet wurde – eine Bekehrung, die ihr Vater ihr hoffentlich nicht übel nahm.

Sie begannen mit dem Jass, und zu ihrer Freude stellte Sarah fest, dass die Freundinnen den Bieter schon sehr gekonnt spielten. Die Fehde wogte hin und her, doch am Ende siegte die Erfahrung mit dem Spiel über die Vertrautheit mit dem Kartendeck, sodass Sarah die Mehrheit der Partien für sich entscheiden konnte.

Um zehn Uhr verabschiedete sich Marie in Richtung Breidenstein, und Sarah eilte die Kirchstraße hinunter zu Rosas Häuschen. Der Abend mit den Freundinnen hatte ihr gutgetan, und sie war gespannt auf das Theaterstück. Allerdings gab die Entführung dem Abend eine beklemmende Note. Der arme Junge! Wer wohl dahintersteckte? Es konnte nicht schaden, morgen die Augen offen zu halten … Bei dem Gedanken schüttelte sie innerlich den Kopf. Hatte sie vom letzten Jahr nicht mehr als genug von Polizeiarbeit?

Die feingewandeten Besucher, die sich vor der imposanten Fassade des Instituts Breidenstein versammelt hatten, verteilten sich auf der schneebedeckten Einfahrt wie dunkle Tuschetupfer. Links und rechts des Weges erhoben sich hohe Schneewälle, die Pferdehufe und die Kutschenräder an den Fahrzeugen der Eltern, die sich die Theatervorstellung ansehen wollten, klangen gedämpft. In der Nacht war eine gewaltige Menge Schnee gefallen, und der Breidensteinpark mit seinen in den Himmel ragenden Mammutbäumen wirkte unter der glitzernden Decke wie ein verwunschenes Niemandsland.

Sarah sah zu den Baumriesen hoch. Letztes Jahr hatte sie erfahren, dass Josef Girard der Ältere, neben Anton Schild der zweite Begründer der Grenchner Uhrenindustrie, das Haus als Heilbad hatte bauen lassen. Sein Sohn Josef, ein Arzt, hatte sich damals um die Gäste seines Vaters gekümmert, der in dem Gebäude in den Dreißigerjahren auch Umstürzler aus Italien und Deutschland versteckt hatte. Unter Führung der Girards war das »Bachtelenbad« für seine Heilbäder weit über die Region hinaus berühmt gewesen, aber die Konkurrenz hatte in den letzten Jahrzehnten nicht geschlafen. So war es ein Glücksfall für Grenchen und die Girards gewesen, als der Pädagoge Wilhelm Breidenstein ihnen das Haus 1864 abgekauft hatte. Nun beherbergten die Gebäude seit bald zehn Jahren das renommierte Knabeninstitut, und beim Anblick des eindrucksvollen Gebäudes in seiner malerischen Umgebung schien eine ruchlose Entführung noch unbegreiflicher, ja geradezu surreal.

»Wunderbar sieht es aus, nicht?« Rosa strahlte. »Du hättest es als Heilbad erleben sollen, als all die feinen Herrschaften in ihren Kutschen anreisten! Und im Sommer ist es unvergleichlich schön.« Sie deutete zu den hohen Bäumen. »Dort liegen die Badeteiche. Der Weg, auf dem wir gehen, ist dann gesäumt von den schönsten Blumen. Und dann das Haus in der Ferne, mit der großen Veranda – fast wie Schloss Waldegg ob Solothurn!«

»Nur gehört es zum Glück keiner Patrizierfamilie, sondern einem ausgezeichneten Pädagogen«, erwiderte Herr Schneider, der eben neben Rosa getreten war.

Sarah lächelte. »Wie schön, Sie wieder einmal zu sehen, Herr Schneider! Und Sie haben die Kinder mitgebracht.« Sie drückte ihm und Euseb die Hand und umarmte Sophie, die neben ihrem Vater herging. Die Wangen des Mädchens leuchteten rot wie Bratäpfelchen, und ein erwartungsvolles Lächeln lag auf dem aufgeweckten Gesicht.

»Gut siehst du aus, Sophie! Was macht die Schule?«

»Sophie macht sich bestens, Fräulein Siegwart.« Herr Schneider nickte zufrieden. »Die neue Lehrerin hat sich in diesem halben Jahr gut eingearbeitet.«

»Aber mit dir war’s schöner!«, flüsterte Sophie deutlich vernehmbar, und ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

Sarah lachte und strich dem Mädchen über den Kopf. »Kaum zu glauben, dass es ein halbes Jahr her ist seit unserem Unterricht. Nun bist du bald neun, nicht wahr? Es war eine Freude, mit dir zu arbeiten, Sophie!«

Euseb daneben reckte sich erwartungsvoll. »Ich werde bald zwölf!«

Sarah lächelte verlegen, aber auch erleichtert, weil er offenbar kein ähnliches Lob von ihr erwartete. Sie hätte es schwerlich zustande gebracht: Euseb war eine der härtesten Nüsse gewesen, die sie als Lehrerin zu knacken versucht hatte. Aber am meisten eingebrannt hatte sich in ihrer Erinnerung natürlich das Trauma, das Herrn Schneider die geliebte Frau und seinen Kinder die Mutter entrissen hatte. Auch sie selbst war in den Monaten danach regelmäßig aus Albträumen aufgeschreckt. Doch die verstreichende Zeit hatte die Wunden ansatzweise geheilt, vor allem die Besuche mit Paul bei dessen Vater und Geschwistern, bei denen sie miterleben durfte, dass sich die Kinder langsam erholten. Auch Herr Schneider sah besser aus; er hatte mehr Fleisch auf den Knochen und eine frische Gesichtsfarbe.

»Sind Sie auch ein Shakespeare-Liebhaber, Herr Schneider?«, wandte sie sich an ihren ehemaligen Dienstherrn.

Er schüttelte den Kopf. »Ich hab’s nicht so mit dem Theater, aber ich möchte mich mit Breidenstein unterhalten. Ich würde Euseb nächstes Jahr gern herschicken. Der Junge hat sich in der letzten Zeit angestrengt; ich glaube, Ihre Arbeit mit ihm hat sich positiv ausgewirkt.«

»Das freut mich sehr!« Sarah lächelte. Herr Schneider war es wichtig, dass seine Kinder alle Möglichkeiten hatten, und sie hoffte, sein Wunsch würde in Erfüllung gehen. Er hatte etwas Glück verdient.

Sie näherten sich den Grüppchen vor dem Haus, die sich Richtung Außentreppe bewegten. Sarah schloss sich mit Herrn Schneider und den Kindern der Kolonne an, die sich wie ein in Taft und Seide gewandeter Tausendfüßler durch den schmalen Gang schlängelte und in einen Saal von herrschaftlichen Ausmaßen ergoss. Das Parkett trug ein Sternenmuster, an der Decke prunkten riesige Kronleuchter, und durch die hohen Fenster blickte man auf die Auffahrt zum Institut. Unter Murmeln und Rascheln setzten sich die Gäste auf die reichlich gepolsterten Stühle. Nach einigen Minuten gespannten Wartens öffnete sich die Seitentür, und Wilhelm Breidenstein trat vor sein Publikum. Der schlanke Mittvierziger mit dem braunen, gewellten Haar und dem gepflegten Bart begrüßte seine Gäste mit launigen Worten, dann öffnete sich der samtene Vorhang.

Sarah beugte sich gespannt vor. Shakespeares Hamlet – ein wahrlich gewagtes Unternehmen! Doch schon nach kurzer Zeit wurde deutlich, dass sich unter den Breidenstein-Schülern vielversprechende Schauspieltalente befanden. Dass nicht alle der wenigen Lehrer, die mitspielten, eine Neigung zum Theater hatten, übersah das Publikum gnädig. Eine erfreuliche Ausnahme bildete der Darsteller des Hamlet, der die zerrissene Seele des Dänenfürsten überzeugend herausstellte. Auch Ruedis Kulissen kamen bestens zur Geltung, und obwohl sie das Stück kannte, fieberte Sarah so enthusiastisch mit, dass sie nach dem Ende der Vorstellung, die frenetischen Applaus erntete, ganz ausgehungert und froh über den gereichten Imbiss war. Sie griff nach einem belegten Brötchen und sah sich um. Herr Schneider hatte sich zum Institutsleiter begeben. Auch Rosa war nirgends zu sehen; wahrscheinlich suchte sie ihren Schwager, um ihm zu seinen Kulissen zu gratulieren.

Mit viel Genuss verzehrte Sarah zwei weitere Brötchen und ließ eine Weile den prächtigen Saal auf sich wirken. Doch nach zehn Minuten wurde sie unruhig. Solche Massenaufläufe waren ihre Sache nicht. Unter den Gästen konnte sie zwei Landjäger ausmachen. Einer war Friedli, der andere wurde von einer Pflanze verdeckt. Ob sie Korporal Ringgenberg geschickt hatten? Neugierig versuchte sie einen Blick auf den zweiten Uniformierten zu erhaschen. Dann sah sie ihn – untersetzt, helles Haar. Sicher nicht Ringgenberg. Schade; sie hätte ihn gern wieder einmal gesehen.

»Hier steckst du! Ich habe mich schon gewundert.«

Sarah drehte sich um und atmete auf. Pauline. Endlich ein bekanntes Gesicht. Sie griff nach dem Arm der Freundin. »Bin ich froh, dich zu sehen. Wo hast du Adolf gelassen?«

»Er steht da drüben. Kommst du mit?«

Adolf Schild unterhielt sich ein paar Meter weiter mit einigen Männern. Zögernd schloss sich Sarah mit Pauline der Herrenrunde an. Adolf lächelte ihr zu. »Sarah, darf ich vorstellen? Vier der besten Lehrer auf Breidenstein. Meine Herren, das ist Sarah Siegwart. Sie war früher selbst eine exzellente Lehrerin!«

Vier Köpfe drehten sich interessiert zu Sarah, und es kam ihr vor, als hätte sie alle schon einmal gesehen – wahrscheinlich im letzten Jahr bei einem der Picknicks mit den Kölliker-Töchtern, dem sich hin und wieder Lehrer des Instituts Breidenstein angeschlossen hatten. Allerdings hatte damals keiner Reste von Puder auf dem Gesicht getragen.

Der schlaksige, hochgeschossene Mann zu ihrer Linken, der den Polonius gegeben hatte, streckte ihr ungelenk die Hand entgegen. Er schien sich in der Menge noch unwohler zu fühlen als sie, strahlte sie aber äußert freundlich an. Sein strohblondes Haar war so hell, dass es fast weiß wirkte. Er hatte freundliche graue Augen und stellte sich als »Georg Schmidt, Chemielehrer aus Baden« vor. Lächelnd griff Sarah nach seiner Hand. Sie hatte kaum losgelassen, als jemand anderes ihre Hand ergriff und kräftig schüttelte. Der Schüttler war ein mittelgroßer Mann mit zerzaustem rötlichem Haar und grün-braunen Augen – Hamlet höchstselbst, die Wangen von der Aufregung und Anstrengung des Spiels noch immer gerötet.

»Lukas Triebold. Es freut mich sehr.« Er lächelte liebenswürdig und sah eher wie ein Schulbub aus als wie der düstere Dänenfürst von vorhin.

»Mich auch. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Vorstellung. Sie haben den Hamlet genau getroffen!«

»Ist das ein Kompliment, oder denken Sie, ich sei selbst verrückt? Ich kann Sie beruhigen. Ich unterrichte Mathematik, etwas ausgesprochen Normales und Langweiliges.«

»Mathematik ist alles andere als langweilig«, widersprach Sarah. »Sie ist fast das einzige Schulfach, das ich in meinem neuen Beruf noch brauche.«

»Was machen Sie denn?«

»Ich habe vor einem halben Jahr eine Uhrmacherlehre angefangen.«

Er hob sein Glas in ihre Richtung. »Respekt! Ein anspruchsvolles Metier. Wie weit sind Sie? Schon an den Pendelweckern?« Er konstatierte ihre Überraschung mit einem Lächeln. »Mein Vater ist Uhrmacher und hat zeit seines Lebens Lehrlinge ausgebildet – ich bin damit aufgewachsen.«

»Da beneide ich Sie!«

»Nett von Ihnen. Aber da, wo ich herkomme, ist das kein angesehener Beruf. Was ich mir anhören musste …« Er schüttelte den Kopf. »Immerhin kann ich deswegen Reparaturen vornehmen. Ich bin der hiesige Helfer in der Not.« Er grinste unbekümmert, und Sarah musste einfach zurücklächeln. Triebold erinnerte sie an Daniel. Ihr Bruder hatte helleres Haar und war mit seinen dreiundzwanzig um die zehn Jahre jünger als der Lehrer, aber die beiden teilten die Unbekümmertheit und den Hang zum Spitzbübischen.

Jetzt drängte sich Pauline lächelnd dazwischen. »Herr Triebold, wie immer bezirzen Sie gekonnt die schönsten jungen Damen! Aber jetzt müssen Sie weichen; ich möchte Sarah noch einen anderen Herrn vorstellen.«

Triebold verbeugte sich elegant und ließ den »anderen Herrn« vortreten: einen bärbeißig aussehenden Mann mit flächigem Gesicht, dunklen Augen und einem Seemannsschnäuzer, der etwa gleich alt schien wie Triebold und den Claudius gegeben hatte.

»Das ist Joseph Eberwein«, sagte Pauline eifrig. »Er ist ein guter Freund von uns und unterrichtet Griechisch und Latein, Italienisch und Französisch, Geschichte, Geografie und Algebra. Außerdem beherrscht er die spanische und die hebräische Sprache.«

Eberwein lächelte grimmig. »Ich kann alles ein wenig und nichts richtig.«

»Hör nicht auf ihn«, erwiderte Pauline. »Er hat schon mehrere Berufungen abgelehnt, um hierbleiben zu können. Er hält auf schneidige Zucht und gibt sich gern schroff, aber er hat das beste Herz.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, und Eberwein lächelte ihr zu.

»Die überschwänglichen Worte habe ich kaum verdient, aber herzlichen Dank dafür!«

»Was unterrichten Sie am liebsten?«, fragte Sarah.

»Meine Liebe gehört der Geschichte«, antwortete Eberwein.

»Sicher nicht der Grenchner Geschichte!« Lukas Triebold, der noch neben ihnen stand und dem Gespräch folgte, leerte sein Glas in einem Zug. »Die wäre in fünf Minuten erzählt.«

Eberwein richtete sich auf, als wäre auf ihn geschossen worden. »Grenchen hat eine faszinierende Geschichte, die bis in die Zeit der Kelten und der alten Römer zurückgeht! Sie ...«

»Verschonen Sie uns, lieber Freund. Sie dürfen schöne junge Damen nicht langweilen.«

Triebold schenkte ihr ein warmes Lächeln, in dem ein Hauch Bewunderung lag, und Sarah spürte verärgert, dass ihr Röte in die Wangen stieg. Welcher Teil von ihr reagierte auf solche Sprüche? Als wären »schöne junge Damen« nicht an Geschichte und Wissen interessiert! Offenbar war sie trotz ihres Glücks mit Paul nicht immun gegen Aufmerksamkeiten des anderen Geschlechts.

Umso entschlossener wandte sie sich an Eberwein. »Mein Vater hätte seine Freude an Ihnen. Er ist Kantonsarchivar in Luzern und liebt seine alten Schinken über alles. Wenn er mich einmal besucht, müssen Sie zum Kaffee kommen.«

»Das werde ich gern tun!«

»Lieber Sie als ich, Eberwein«, warf Triebold ein. »Ich muss mich jetzt verabschieden. Ich muss mit den Schülern sprechen, und ich glaube, es warten noch ein paar Damen auf mich.«

»Immer in Verfolgung oder verfolgt vom schönen Geschlecht!« Ein weiterer Mann verbeugte sich vor Sarah und griff nach ihrer Hand. »Nauck mein Name. Es freut mich!« Wie Schmidt war Nauck offenkundig ein Deutscher.

»Herr Nauck hat eine viel gerühmte Abhandlung über Kristallografie geschrieben«, erklärte Adolf ihr. »Er lehrt Mathematik und Naturwissenschaften.«

»Wie lange arbeiten Sie schon in der Schweiz, Herr Nauck?«, fragte Sarah.

»Ich bin schon fast ein Einheimischer«, erwiderte er freundlich. »Es ist eine Freude, unter einem Direktor wie Wilhelm Breidenstein zu arbeiten. Er gibt seinen Lehrern viel Freiheit und Zeit für die Forschung!« Er sah auf Sarahs leeres Glas. »Sie verdursten uns ja! Ich hole Ihnen noch etwas.«

Er eilte davon, und Sarah atmete heimlich auf. Es war anstrengend, so vielen neuen Menschen zu begegnen; manchmal wusste sie gar nicht, was sie sagen sollte. Plötzlich spürte sie eine Hand an ihrem Ellbogen. Pauline wies auf den Mann, der sich soeben zu ihnen gesellt hatte. »Das ist Turnlehrer Jenny – einer der wenigen echten Grenchner auf Breidenstein und sehr beliebt bei den Schülern.«

»Übertreiben Sie nicht! Sie klagen genug, was für ein Schinder ich bin.« Ein drahtiger Mann um die dreißig, etwas kleiner als sie selbst, schüttelte ihr die Hand. Seine Stimme war kräftig und tiefer, als sie es bei seinem Wuchs erwartet hätte. Er hatte mandelbraune Augen, eine schiefe Nase und schütteres Haar. Wenn sie sich recht besann, hatte er den Laertes gegeben, mit überraschender Intensität und großem Talent. Es ging eine zupackende Energie von ihm aus, die sich auch auf sie übertrug, und ein Teil der Müdigkeit, die sie eben noch gespürt hatte, war wie weggeblasen. Sie lächelte ihm zu.

»Das mag sein«, erwiderte Pauline derweil. »Aber sie respektieren keinen so sehr wie Sie.«

Erfreut verwickelte Jenny Pauline in ein Gespräch, während Sarah über die vielen Köpfe hinweg spähte. Herr Schneider redete immer noch auf den Institutsleiter ein; wahrscheinlich pries er ihm die verborgenen Talente von Euseb an. Breidenstein lächelte höflich, sah aber öfter verstohlen nach links und rechts, als hielte er nach einem Fluchtweg Ausschau. Am besten erlöste sie den Mann; dann konnte sie sich wieder einmal mit Herrn Schneider unterhalten. Sie empfahl sich bei den Herren und bahnte sich entschlossen einen Weg durch die Menge, im Ohr das Gläserklirren und die angeregten Gespräche. Schließlich drang sie zu den beiden vor und wollte Herrn Schneider gerade eine Hand auf den Arm legen, als aufgeregte Stimmen die anderen Geräusche übertönten.

Alle Köpfe drehten sich zum Eingang des Saals, wo Rosas Schwager Ruedi im Türrahmen stand. Man hatte ihn, den Kulissenbauer, nach dem Stück auf die Bühne gerufen, wo er mit rotem, stolzem Gesicht in seinem zu engen Anzug die Lobbekundungen empfangen hatte. Jetzt allerdings war er leichenblass. Langsam verebbten die Gespräche, bis es still war und sich alle Blicke auf Ruedi richteten. Seine Hand lag auf seiner Brust, die sich rasch hob und senkte.

»Im Requisitenraum – der Junge. Er ist tot.«

Einen Moment blieb es still. Dann wurden aufgeregte Stimmen laut, die grollenden, dunklen der Väter und die hohen der Mütter, wie zornige Wespen in einem Glas.

»Hat er gesagt, wie der Junge hieß?«

»Wo ist Robert? Du musst ihn suchen gehen!«

»Wo sind die Landjäger?«

Fieberhaft suchte Sarah die Menge nach Rosa ab, aber sie war nirgends zu sehen. Stattdessen trat nun Herr Schneider in ihr Blickfeld.

»Fräulein Siegwart? Würden Sie mit uns kommen? Sophie geht es nicht gut.«

Bittend sah er sie an. Sophie war tatsächlich sehr blass; dass die Kinder nach allem, was sie letztes Jahr erlebt hatten, so etwas mitbekommen mussten, war furchtbar. Sarah kniete sich neben Sophie und griff nach deren kalter Hand. »Hab keine Angst. Dir passiert nichts.«

Sophies Augen waren starr, dunkel und riesig. Behutsam griff Sarah nach den Schultern des Mädchens. »Ich bin hier, dein Vater und Euseb auch. Allen geht es gut.« Sie lächelte und versuchte erneut, Sophies Blick auf sich zu lenken. Endlich kam etwas Leben in das Mädchen, und es brachte ein zittriges Lächeln zustande. Sarah atmete auf und griff wieder nach Sophies Hand. »Ich begleite Sie nach Hause, Herr Schneider.«

Er nickte dankbar, und sie ließen die aufgescheuchte Menschenmenge eilig hinter sich.

Als sie bei Rosas Häuschen ankam, war es spät geworden. Sie hatte einige Zeit gebraucht, um Sophie zu beruhigen. Am liebsten wäre sie einfach im Bett verschwunden, doch das Küchenfenster war erleuchtet, und Rosa saß am Tisch. Das hieß, dass es ihr nicht gut ging – sie liebte ihr Wohnzimmer, die Küche war für sie nur ein Arbeitsraum. Besorgt trat Sarah ein. Rosa war nicht allein; ihr gegenüber saß Ruedi, mit müdem, zerknittertem Gesicht. Eine Flasche Zwetschgenschnaps stand auf dem Tisch, vor ihm und Rosa je ein leeres Glas.

Rosa sah hoch und seufzte erleichtert. »Da bist du ja endlich!« Sie strich über den zerkratzten, blitzsauberen Küchentisch. »Ich musste mich um Ruedi kümmern.«

»Der Landjäger hat mich kaum gehen lassen.« Ruedis knorrige Hand verkrampfte sich. »Wie der sich aufgespielt hat!«

»Was hat Friedli von dir gewollt?«, fragte Sarah.

Rosa füllte die Gläser nach und nickte Ruedi zu. »Nimm noch einen.«

Ohne Umschweife kippte er den Kurzen. »Wollte wissen, was ich in dem Raum zu suchen hatte, und wollte mir nicht glauben, was ich ihm sagte. Ich hab nur den Schädel wegräumen wollen, den wir für den Geist verwendet haben, bevor einer der Jungen ihn in die Finger kriegt. Es wäre nicht das erste Mal, und Lehrer Triebold hat gesagt, er muss nach der Vorstellung gleich weg. Und da lag der arme Kerl.« Schaudernd schüttelte er den Kopf. »David hieß er – David Blösch. Tat mir leid, auch wenn ich ihn nicht mochte. Hat gern Sachen aus dem Küchengarten stibitzt. Wusste alles besser! Einmal hat er sich über meine Kulissen lustig gemacht; was Historisches sei nicht in Ordnung. Humbug! Da hab ich ihm den Kopf gewaschen. Er hat nur gelacht und dem Tischbein einen Tritt verpasst. Das ist gebrochen, und da wurde ich halt wütend und habe ihn vor der ganzen Theatertruppe und vielen anderen Leuten angeschrien.« Er seufzte. »Das hat Friedli mir nun vorgehalten. Dabei war der Junge nicht nur bei mir aufsässig. Er hat auch den Lehrern das Leben schwer gemacht.«

»Wenn der Junge so oft angeeckt ist, wird es noch andere geben, die mit ihm Streit hatten, meinst du nicht?«, fragte Rosa mitfühlend.

»Und überhaupt: Wo war der arme Junge in den letzten sieben Tagen?«, warf Sarah ein. »Seit wann ist er tot, und warum solltest du ihn in dem Raum verstecken? Er kann kaum dort gestorben sein, sonst hättet ihr ihn vorher gefunden.«

»Ich hab heute am frühen Nachmittag den Schädel und die anderen Requisiten rausgeholt«, sagte Ruedi. »Danach hab ich abgeschlossen, damit die Kinder sich keine Späße mit den Requisiten erlauben. Und dann geh ich nach der Vorstellung rein, und da liegt er. Friedli behauptet, ich hätte den Jungen während der Vorstellung dort reingelegt.«

»Warst du nicht im Zuschauerraum?«, fragte Rosa.

»Nicht immer. Für den zweiten Akt musste ich die Bühne umstellen.«

»Hattest du den Schlüssel bei dir?«

»Hatte ich.«

»Vielleicht bist du nicht der Einzige, der einen hat«, erwiderte Sarah nachdenklich.

»Kann sein. Oder jemand hat das Schloss aufgebracht«, brummte Ruedi. »Ist ja ein ganz einfaches.«

Rosa runzelte die Stirn. »Jedenfalls muss jemand im Raum gewesen sein, nachdem du am Nachmittag die Requisiten aufgestellt hast. Eine riskante Sache. Und er oder sie muss den Jungen in der Nähe gehabt haben.«

»Es hat genug Räume in der Nähe«, erwiderte Ruedi bedrückt. »Lehrerzimmer, die Bibliothek, ein Wäscheraum …«

»Das heißt doch, dass du nicht der Einzige bist, der infrage kommt. Mach dir keine Sorgen.« Rosa klopfte Ruedi auf die Schulter. »Wir sind auch noch da. Und Solothurn wird hoffentlich einen fähigen Beamten schicken.«

»Vielleicht kommt Korporal Ringgenberg«, warf Sarah ein.

Die Zuversicht der Frauen schien Ruedi aufzubauen. Er lächelte, stand auf und umarmte Rosa. »Danke, du Liebe. Jetzt geht es mir besser. Aber nun lasse ich euch zu Bett gehen.«

Er trat aus der Küche und verließ das Haus, und kurz darauf sahen sie ihn wie einen Seemann im Sturm auf der Straße in Richtung Osten wanken.

»Zum Glück hat er’s nicht weit!« Rosa seufzte. »Dann lass uns ins Bett gehen. Schlaf gut!«

»Du auch.« Sarah ging in ihr Zimmer und legte sich nach einer Katzenwäsche hin, aber obwohl die Aufregung des Abends sie erschöpft hatte, fiel ihr das Einschlafen schwer. Wer war so grausam, einen kleinen Jungen zu töten? Sie wollte gar nicht wissen, wie dunkel eine Menschenseele sein konnte. Es war wirklich zu hoffen, dass Solothurn Ringgenberg schickte. Wenn jemand der Sache auf die Spur kommen würde, war er es.

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