Seine Exzellenz Eugene Rougon - Émile Zola - E-Book

Seine Exzellenz Eugene Rougon E-Book

Émile Zola

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Beschreibung

Klassiker der Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. Von allen Romanen der »Rougon-Macquart«-Reihe gehört »Seine Exzellenz Eugène Rougon« zu denen, die am wenigsten gelesen werden. Diese Tatsache vermerkt die Tochter Zolas, Denise Le Blond-Zola, in dem Erinnerungsbuch über ihren Vater, und sie fügt hinzu, man könne sich diese Art von Ungnade, in die der Roman gefallen sei, zu ihrer Zeit gar nicht erklären.

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Seine Exzellenz Eugène Rougon

Emile Zola 

Impressum

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Public Domain

Inhaltsverzeichnis
Impressum
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV

Kapitel I

Noch stand der Präsident, umgeben von der leichten Unruhe, die sein Kommen soeben hervorgerufen hatte. Dann setzte er sich, wobei er halblaut und wie unbeteiligt sagte: »Die Sitzung ist eröffnet.«

Und er ordnete die Gesetzentwürfe, die vor ihm auf dem Präsidiumstisch lagen.

Zu seiner Linken verlas, die Nase dicht am Papier, ein kurzsichtiger Schriftführer mit eiligem Gestammel, dem kein Abgeordneter zuhörte, das Protokoll der letzten Sitzung. In dem Getöse, das im Saal herrschte, drang diese Verlesung nur zu den Ohren der Huissiers1, die im Gegensatz zu der nachlässigen Haltung der Mitglieder des Abgeordnetenhauses sehr würdig, sehr korrekt wirkten.

Es waren keine hundert Abgeordnete anwesend. Die einen lehnten sich mit ausdruckslosen Augen, bereits schläfrig, halb auf den roten Samtbänken zurück. Andere, wie unter dieser ärgerlichen Fron einer öffentlichen Sitzung am Rand ihrer Pulte zusammengesunken, klopften leise mit den Fingerspitzen auf das Mahagoniholz. Durch die Glasscheiben des Oberlichts, das einen grauen Halbmond aus dem Himmel schnitt, drang, senkrecht einfallend und die prunkvolle Strenge des Saals gleichmäßig erhellend, der ganze regnerische Mainachmittag herein. In einer breiten rötlichen Bahn von düsterer Pracht fiel das Licht, hier und da in den Winkeln der leeren Bänke in rosigem Widerschein aufleuchtend, auf die stufenweise ansteigenden Sitze, während auf der Nacktheit der Statuen und sonstigen Skulpturen hinter dem Präsidenten helle weiße Flächen glänzten.

Ein Abgeordneter in der dritten Bank rechts war in dem engen Gang stehengeblieben. Er rieb mit der Hand über seine harte, ergrauende Bartfräse und sah sorgenvoll aus. Und da gerade ein Huissier heraufkam, hielt er ihn an und stellte ihm halblaut eine Frage.

»Nein, Herr Kahn«, erwiderte der Huissier, »der Herr Staatsratspräsident ist noch nicht gekommen.«

Daraufhin setzte sich Herr Kahn. Dann wandte er sich plötzlich an seinen Nachbarn zur Linken und fragte: »Sagen Sie doch, Béjuin, haben Sie heute morgen Rougon gesehen?«

Herr Béjuin, ein kleiner, magerer, schwarzhaariger Mann mit einem stillen Gesicht, war mit seinen Gedanken ganz woanders und hob, unruhig um sich blickend, den Kopf. Er hatte die Schreibfläche seines Pults herausgezogen. Auf blauen Geschäftsbriefbogen mit dem Aufdruck »Béjuin & Ce, Kristallfabrik von SaintFlorent« erledigte er seine Korrespondenz.

»Rougon?« wiederholte er. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Ich hatte keine Zeit, in den Staatsrat zu gehen.«

Und er machte sich bedächtig wieder an seine Arbeit. Bei dem verworrenen Gemurmel des Schriftführers, der gerade die Verlesung des Protokolls beendete, zog er ein Notizbuch zu Rate, schrieb seinen zweiten Brief.

Herr Kahn verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Sein Gesicht mit den kräftigen Zügen, dessen wohlgebildete Nase jüdische Abstammung verriet, blieb mißgestimmt. Er betrachtete die goldenen Rosetten an der Decke, starrte auf den rauschenden Platzregen, der sich gerade auf die Scheiben des Oberlichts ergoß; dann schien er mit versunkenem Blick aufmerksam die vielfältigen Verzierungen der großen Wand zu studieren, die er vor sich hatte. Einen Moment lang wurde er durch die mit vergoldeten Emblemen und Einfassungen überladenen Wandbespannungen aus grünem Samt an ihren beiden Enden gefesselt. Nachdem er dann mit einem Blick die Säulenpaare gemessen hatte, zwischen denen die allegorischen Statuen der Freiheit und der öffentlichen Ordnung ihre Marmorgesichter mit den leeren Augen zeigten, vertiefte er sich schließlich in die Betrachtung des grünseidenen Vorhangs, der das Fresko verhüllte, das LouisPhilippe2 darstellt, wie er den Eid auf die Verfassung leistet.

Unterdessen hatte sich der Schriftführer hingesetzt. Das Getöse im Saal dauerte an. Der Präsident blätterte, ohne sich zu beeilen, noch immer in Schriftstücken. Mechanisch legte er die Hand auf den Drücker der Glocke, deren heftiges Klingeln nicht eine einzige der Privatunterhaltungen störte. Er hatte sich in dem Lärm erhoben und verhielt sich einen Augenblick abwartend.

»Meine Herren«, fing er an, »ich habe einen Brief erhalten ...«

Er unterbrach sich, um abermals die Glocke ertönen zu lassen; wieder wartend, überragte er mit seinem ernsten und gelangweilten Gesicht den riesigen Präsidiumstisch, dessen rote Marmorplatten, die von weißem Marmor eingefaßt waren, sich unter ihm aufbauten. Sein zugeknöpfter Gehrock hob sich von dem hinter dem Tisch angebrachten Basrelief ab, wo er einen schwarzen Streifen durch die Peplons3 der mit antiken Profilen dargestellten symbolischen Gestalten von Ackerbau und Gewerbe zog.

»Meine Herren«, begann der Präsident aufs neue, nachdem er sich etwas Ruhe verschafft hatte, »ich habe einen Brief von Herrn de Lamberthon erhalten, worin er sich entschuldigt, daß er nicht an der heutigen Sitzung teilnehmen kann.«

In einer der Bänke, der sechsten dem Tisch gegenüber, gab es ein leises Gelächter. Ein ganz junger Abgeordneter, höchstens achtundzwanzig Jahre alt, blond und bezaubernd, erstickte mit seinen weißen Händen seine perlende Heiterkeit, die Heiterkeit einer hübschen Frau. Einer seiner Kollegen, ein ungeheuer großer Mann, kam von drei Plätzen weiter zu ihm, um ihm die Frage ins Ohr zu flüstern: »Hat Lamberthon wirklich seine Frau gefunden? Das müssen Sie mir erzählen, La Rouquette.«

Der Präsident hatte eine Handvoll Papiere ergriffen. Er sprach mit monotoner Stimme; Satzfetzen drangen bis hinten in den Saal: »Es liegen Urlaubsgesuche vor ... Herr Blachet, Herr BuquinLecomte, Herr de la Villardière ...«

Und während das befragte Abgeordnetenhaus die Urlaube gewährte, hatte sich Herr Kahn, der es offenbar müde geworden war, die vor das aufrührerische Bild LouisPhilippes gespannte grüne Seide anzusehen, halb umgedreht, um die Tribünen zu betrachten.

Oberhalb des Sockels aus gelbem, mit Lack geädertem Marmor zeigte ein einziger Tribünenrang zwischen Säulen Brüstungen aus amarantfarbenem Samt, während es ganz oben einem Bogenbehang aus gaufriertem4 Leder nicht gelang, die Leere zu verbergen, die durch die Abschaffung des zweiten, vor dem Kaiserreich den Journalisten und dem Publikum vorbehaltenen Ranges entstanden war. Zwischen den dicken, vergilbten Säulen, die rings um das Halbrund ihre etwas schwerfällige Pracht entfalteten, taten sich die tiefen schmalen Logen auf, voll dunkler Schatten, fast leer, nur von drei oder vier hellen Frauenkleidern aufgeheitert.

»Sieh da! Oberst Jobelin ist gekommen«, murmelte Herr Kahn.

Er lächelte dem Oberst zu, der ihn bemerkt hatte. Oberst Jobelin hatte den dunkelblauen Gehrock angelegt, den er seit seiner Pensionierung als Ziviluniform zu tragen pflegte. Ganz allein saß er in der Quästorenloge5, seine Rosette eines Offiziers der Ehrenlegion6 war so groß, daß sie dem Knoten eines seidenen Halstuches glich.

Herrn Kahns Augen hatten sich soeben auf ein junges Paar geheftet, das sich weiter links in einer Ecke der Staatsratsloge zärtlich aneinanderschmiegte. Der junge Mann beugte sich alle Augenblicke vor und sprach, den Mund fast an ihrem Halse, mit der jungen Frau, die sanft lächelte, ihn aber nicht ansah, sondern auf die allegorische Figur der öffentlichen Ordnung starrte.

»Hören Sie mal, Béjuin«, flüsterte der Abgeordnete, seinen Kollegen mit dem Knie anstoßend.

Herr Béjuin war mit seinem fünften Brief beschäftigt. Er hob verstört den Kopf.

»Gucken Sie mal, sehen Sie nicht da oben den kleinen d'Escorailles und die hübsche Frau Bouchard? Ich wette, er kneift sie in die Hüften. Sie macht Schmachtaugen ... Alle Freunde Rougons haben sich also ein Stelldichein gegeben. Dort auf der Publikumstribüne sind auch noch Frau Correur und die beiden Charbonnels.«

Jetzt ertönte ein längeres Glockenzeichen. Ein Huissier rief mit schöner Baßstimme: »Ruhe, meine Herren!« Man merkte auf. Und der Präsident sprach folgenden Satz, von dem kein Wort verlorenging: »Herr Kahn bittet um Druckgenehmigung für die Rede, die er bei der Debatte über den Gesetzentwurf bezüglich der Einführung einer städtischen Steuer auf die in Paris laufenden Fahrzeuge und Pferde gehalten hat.«

Durch die Bänke lief ein zustimmendes Gemurmel, und dann wurden die Unterhaltungen wieder aufgenommen. Herr La Rouquette hatte sich neben Herrn Kahn gesetzt.

»Sie arbeiten also für die Bevölkerung?« fragte er scherzend. Dann fügte er, ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: »Haben Sie Rougon nicht gesehen? Haben Sie nichts gehört? – Alle Welt spricht davon. Es scheint noch nichts gewiß zu sein.«

Er wandte sich um und blickte auf die Uhr.

»Schon zwanzig Minuten nach zwei! Ich würde mich jetzt davonmachen, wenn nicht die Verlesung dieses verflixten Berichts bevorstünde! – Findet die wirklich heute statt?«

»Man hat uns alle davon benachrichtigt«, antwortete Herr Kahn. »Ich habe nichts davon gehört, daß etwas anderes angeordnet worden wäre ... Sie werden gut daran tun, hierzubleiben. Man wird gleich über die vierhunderttausend Francs für die Taufe abstimmen.«

»Zweifellos«, entgegnete Herr La Rouquette. »Der alte General Legrain, der zur Zeit auf beiden Beinen lahmt, hat sich von seinem Diener hertragen lassen; er wartet im Konferenzsaal auf die Abstimmung ... Der Kaiser7 verläßt sich mit Recht auf die Ergebenheit des gesamten Corps législatif8. Bei diesem feierlichen Anlaß soll ihm keine einzige unserer Stimmen fehlen.«

Der junge Abgeordnete hatte sich sehr angestrengt, sich das ernsthafte Aussehen eines Politikers zu geben. Er plusterte sich auf und wiegte sein Zierpuppengesicht, das ein paar blonde Barthaare schmückten, leicht über seiner Krawatte. Einen Augenblick lang schien er die beiden letzten rhetorischen Phrasen, die er zustande gebracht hatte, auszukosten. Dann brach er plötzlich in Lachen aus.

»Mein Gott«, sagte er, »wie grotesk diese Charbonnels doch aussehen!«

Daraufhin witzelten Herr Kahn und er auf Kosten der Charbonnels. Die Frau hatte einen ausgefallenen gelben Schal um; ihr Gatte trug einen jener Provinzgehröcke, die mit der Axt zugehauen zu sein scheinen; und beide, wohlbeleibt, rotbäckig und zusammengesunken, lagen fast mit dem Kinn auf dem Samt der Brüstung, um besser der Sitzung folgen zu können, aus der sie, sosehr sie auch die Augen aufsperrten, nicht klug zu werden schienen.

»Wenn Rougon auffliegt«, murmelte Herr La Rouquette, »gebe ich keine zwei Sou für den Prozeß der Charbonnels ... Ebenso ist's mit Frau Correur ...«

Er beugte sich zu Herrn Kahns Ohr und fuhr sehr leise fort: »Kurz gesagt, Sie kennen doch Rougon, erzählen Sie mir also mal ganz genau, was es eigentlich mit Frau Correur auf sich hat. Sie hat ein Hôtel geführt, nicht wahr? Damals hat Rougon bei ihr gewohnt. Es heißt sogar, sie habe ihm Geld geliehen ... Und was für ein Gewerbe betreibt sie jetzt?«

Herr Kahn war sehr ernst geworden. Mit zögernder Hand rieb er seine Bartfräse.

»Frau Correur ist eine hochachtbare Dame«, sagte er nachdrücklich.

Dieses Wort setzte Herrn La Rouquettes Neugier ein Ende. Er verzog die Lippen wie ein Schüler, dem soeben ein Verweis erteilt worden ist. Ein Weilchen betrachteten beide schweigend Frau Correur, die in der Nähe der Charbonnels saß. Sie hatte ein sehr auffallendes Kleid aus malvenfarbener Seide an, mit vielen Spitzen und viel Schmuck; ihr Gesicht war allzu rosig, die Stirn von blonden Puppenlöckchen bedeckt, und ihr fülliger, trotz ihrer achtundvierzig Jahre noch sehr schöner Hals war unverhüllt.

Auf einmal aber hörte man im Hintergrund des Saales eine Tür klappen und Kleider rauschen; alle Köpfe wandten sich danach um. Ein großes junges Mädchen, eine wunderbare Schönheit, recht seltsam angezogen mit einem schlechtsitzenden Kleid aus seegrünem Atlas, hatte soeben in Begleitung einer bejahrten Dame in Schwarz die Loge des diplomatischen Korps betreten.

»Sieh da, die schöne Clorinde«, murmelte Herr La Rouquette und stand auf, um sich auf gut Glück zu verbeugen.

Auch Herr Kahn hatte sich erhoben. Er neigte sich zu Herrn Béjuin hinüber, der damit beschäftigt war, seine Briefe in die Umschläge zu stecken.

»Sehen Sie doch, Béjuin«, flüsterte er, »die Gräfin Balbi und ihre Tochter sind da ... Ich werde hinaufgehen und fragen, ob sie nicht Rougon gesehen haben.«

Am Präsidiumstisch hatte der Präsident eine neue Handvoll Papiere ergriffen. Ohne sich im Lesen zu unterbrechen, warf er der schönen Clorinde Balbi, deren Erscheinen ein allgemeines Geflüster im Saal hervorgerufen hatte, einen Blick zu. Und während er gleichzeitig die Blätter eins nach dem anderen an einen Schriftführer weiterreichte, sagte er punkt und kommalos und so, als würde es nie ein Ende nehmen: »Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Weitererhebung eines Aufschlags auf die städtische Steuer der Stadt Lille ... Vorlage eines Gesetzentwurfes bezüglich der Vereinigung der Gemeinden Doulevant lePetit und VilleenBlaisais im Departement Haute Marne zu einer einzigen Gemeinde ...«

Als Herr Kahn wieder herunterkam, war er tiefbetrübt.

»Es hat ihn wahrhaftig niemand gesehen«, sagte er zu seinen Kollegen Béjuin und La Rouquette, die er am unteren Ende des halbkreisförmigen Saales traf. »Man hat mir versichert, der Kaiser habe ihn gestern abend rufen lassen, aber ich weiß nicht, wie die Unterredung ausgegangen ist ... Nichts ist so ärgerlich wie nicht zu wissen, woran man ist.«

Herr La Rouquette drehte sich um und flüsterte dabei Herrn Béjuin ins Ohr: »Dieser arme Kahn hat eine schöne Angst, daß sich Rougon mit den Tuilerien9 überwirft. Dann könnte er seiner Bahnstrecke nachlaufen.«

Da gab Herr Béjuin, der sich selten zu äußern pflegte, gewichtig den Satz von sich: »An dem Tag, an dem Rougon aus dem Staatsrat ausschiede, würden alle einen Verlust erleiden.«

Und er winkte einen Huissier herbei, um ihn zu bitten, die Briefe, die er soeben geschrieben hatte, in den Kasten zu werfen.

Die drei Abgeordneten blieben links am Sockel des Präsidiumstisches stehen. Sie unterhielten sich vorsichtig über die Ungnade, die Rougon drohte. Es war eine verwickelte Geschichte. Ein entfernter Verwandter der Kaiserin10, ein gewisser Rodriguez, forderte seit 1808 einen Betrag von zwei Millionen von der französischen Regierung. Während des Spanischen Krieges war ein mit Zucker und Kaffee beladenes Schiff dieses Rodriguez, der Reeder war, im Golf von Biscaya durch eine unserer Fregatten, die »Vigilante«, gekapert und nach Brest gebracht worden. Auf Grund der Untersuchung, die die örtliche Kommission vornahm, erkannte der Intendanturoffizier auf Rechtsgültigkeit der Aufbringung, ohne dem Prisengericht darüber Bericht zu erstatten. Herr Rodriguez jedoch hatte sich beeilt, beim Staatsrat Verwahrung einzulegen. Später war er gestorben, und sein Sohn hatte unter allen Regierungen vergebens versucht, die Angelegenheit vor einen anderen Gerichtshof zu ziehen, bis zu dem Tage, da ein Wort der inzwischen allmächtig gewordenen Tochter seiner Großkusine bewirkte, daß der Fall endlich zur Verhandlung kam.

Über ihren Köpfen hörten die drei Abgeordneten die monotone Stimme des Präsidenten, der fortfuhr: »Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Ermächtigung des Departements Calvados, eine Anleihe von dreihunderttausend Francs aufzulegen ... Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Ermächtigung der Stadt Amiens, eine Anleihe von zweihunderttausend Francs zur Schaffung neuer Promenaden aufzulegen ... Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Ermächtigung des Departements CôtesduNord, eine Anleihe von dreihundertfünfundvierzigtausend Francs aufzulegen, dazu bestimmt, die Defizite der letzten fünf Jahre zu decken ...«

»Wahr ist«, sagte Herr Kahn, seine Stimme noch mehr dämpfend, »daß besagter Rodriguez einen sehr schlauen Einfall gehabt hat. Er besaß gemeinsam mit einem seiner Schwiegersöhne, der in New York ansässig war, Zwillingsschiffe, die beliebig unter amerikanischer oder spanischer Flagge reisten, je nach den Gefahren der Überfahrt ... Rougon hat mir versichert, daß das aufgebrachte Schiff tatsächlich dem Rodriguez gehörte und daß keineswegs ein Anlaß bestand, seinen Forderungen stattzugeben.«

»Um so weniger«, fügte Herr Béjuin hinzu, »als das Vorgehen unangreifbar ist. Der Intendanturoffizier von Brest war nach dem Gewohnheitsrecht des Hafens durchaus befugt, auf Rechtsgültigkeit zu erkennen, ohne dem Prisengericht darüber Bericht zu erstatten.«

Ein kurzes Schweigen trat ein. Herr La Rouquette, der mit dem Rücken gegen den Marmorsockel lehnte, hob den Kopf und versuchte, die Aufmerksamkeit der schönen Clorinde auf sich zu ziehen.

»Weshalb aber«, fragte er naiv, »will Rougon nicht, daß man diesem Rodriguez die zwei Millionen gibt? Was macht ihm das schon aus?«

»Das ist eine Gewissenssache«, sagte Herr Kahn ernst.

Herr La Rouquette blickte seine beiden Kollegen nacheinander an; als er aber ihre feierlichen Mienen sah, lächelte er nicht einmal.

»Außerdem«, fuhr Herr Kahn fort, als wolle er etwas verteidigen, das er nicht offen aussprach, »hat Rougon Ärger, seit Marsy Innenminister ist. Sie haben einander nie leiden können ... Rougon hat mir gesagt, daß er sich ohne seine Anhänglichkeit an den Kaiser, dem er bereits so viele Dienste erwiesen, längst ins Privatleben zurückgezogen hätte ... Kurz, er fühlt sich nicht mehr wohl in den Tuilerien und hält es für notwendig, ein neues Leben anzufangen.«

»Er handelt als Ehrenmann«, wiederholte Herr Béjuin mehrmals.

»Ja«, sagte Herr La Rouquette mit schlauer Miene, »wenn er sich zurückziehen will, ist die Gelegenheit günstig ... Aber immerhin, seine Freunde werden untröstlich sein. Sehen Sie doch den Oberst da oben, wie beunruhigt er aussieht; er hat so fest damit gerechnet, sich am nächsten 15. August11 das rote Band um den Hals binden zu können! ... Und die hübsche Frau Bouchard, die darauf geschworen hatte, daß der biedere Herr Bouchard vor Ablauf von sechs Monaten Abteilungschef im Innenministerium sein werde! Der kleine d'Escorailles, Rougons Goldkind, sollte am Namenstag der Frau Bouchard die Ernennungsurkunde ihres Gatten unter dessen Serviette legen ... Nanu, wo sind denn der kleine d'Escorailles und die hübsche Frau Bouchard geblieben?«

Die Herren suchten sie. Schließlich entdeckten sie die beiden im Hintergrund der Loge, auf deren erster Bank sie bei Eröffnung der Sitzung gesessen hatten. Sie hatten sich dorthin ins Dunkle zurückgezogen, hinter einen alten kahlköpfigen Herrn; und beide verhielten sich sehr ruhig, waren sehr rot.

In diesem Augenblick beendete der Präsident die Lesung. Mit etwas matter gewordener Stimme, die sich in der barbarischen Holprigkeit des Satzes verhedderte, sprach er die letzten Worte: »Vorlage eines Gesetzentwurfes, dessen Gegenstand die Genehmigung der Erhöhung des Zinsfußes einer mit Gesetz vom 9. Juni 1853 genehmigten Anleihe und eine außerordentliche Steuerauflage durch das Departement Manche bilden.«

Herr Kahn war gerade einem Abgeordneten entgegengeeilt, der soeben den Saal betreten hatte. Er führte ihn zu den anderen und sagte: »Da ist Herr de Combelot ... Er hat wohl Neuigkeiten für uns.«

Herr de Combelot, ein Kammerherr, den das Departement Landes auf einen ausdrücklich vom Kaiser geäußerten Wunsch hin zum Abgeordneten ernannt hatte, verbeugte sich zurückhaltend und wartete darauf, daß man Fragen an ihn richte. Er war ein hochgewachsener, schöner Mann, sehr hellhäutig, mit einem tiefschwarzen Bart, der ihm große Erfolge bei Frauen verschaffte.

»Nun also«, fing Herr Kahn an, »was sagt man im Schloß? Wie hat sich der Kaiser entschieden?«

»Mein Gott«, erwiderte Herr de Combelot mit schnarrender Stimme, »man sagt allerlei ... Der Kaiser ist dem Herrn Staatsratspräsidenten äußerst zugetan. Die Zusammenkunft ist bestimmt sehr freundschaftlich verlaufen ... Ja, sie ist sehr freundschaftlich verlaufen.«

Und nach diesem mit Bedacht gesprochenen Wort hielt er inne, um festzustellen, ob er sich nicht zu weit vorgewagt habe.

»Die Demission ist also zurückgezogen?« fragte Herr Kahn mit leuchtenden Augen.

»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete der Kammerherr sehr beunruhigt, »ich weiß nichts. Sie werden verstehen, ich bin in einer besonderen Lage ...«

Er beendete den Satz nicht, sondern begnügte sich mit einem Lächeln und beeilte sich, zu seiner Bank hinaufzugehen. Herr Kahn zuckte mit den Achseln und wandte sich an Herrn La Rouquette. »Aber da fällt mir ein, Sie müßten ja auf dem laufenden sein! Erzählt Ihnen Ihre Schwester, Frau de Llorentz, denn nichts?«

»Oh, meine Schwester ist noch verschwiegener als Herr de Combelot«, sagte der junge Abgeordnete lachend. »Seit sie Palastdame ist, ist sie ernst wie ein Minister ... Allerdings hat sie mir gestern versichert, das Rücktrittsgesuch werde angenommen ... Dazu gibt es eine nette Geschichte. Man hat, scheint's, eine Dame zu Rougon geschickt, um ihn zu erweichen. Und wissen Sie, was Rougon getan hat? Er hat der Dame die Tür gewiesen, und dabei war es eine sehr reizvolle Dame.«

»Rougon ist keusch und züchtig«, erklärte Herr Béjuin feierlich.

Herr La Rouquette wurde von einem tollen Lachen gepackt. Er erhob Einspruch; er könne Tatsachen anführen, wenn er wolle.

»Frau Correur nämlich ...«, murmelte er.

»Niemals!« sagte Herr Kahn. »Sie kennen diese Sache nicht.«

»Nun gut, dann die schöne Clorinde!«

»Hören Sie doch auf! Rougon ist viel zu gescheit, um sich mit diesem Satan von einem Mädchen zu vergessen.«

Und die Herren traten nahe zueinander und vertieften sich mit recht derben Worten in eine gewagte Unterhaltung. Sie erzählten sich die Anekdoten, die über die beiden Italienerinnen, Mutter und Tochter, halb Abenteuerinnen und halb vornehme Damen, in Umlauf waren; man traf sie überall an, wo es lebhaft zuging: bei den Ministern, in den Proszeniumslogen der kleinen Theater, in den gerade modernen Seebädern, in entlegenen Gasthöfen. Die Mutter, behauptete man, entstamme einem königlichen Bett; die Tochter, deren völlige Unkenntnis unserer französischen Konventionen einen originellen und sehr schlecht erzogenen »Satan von einem jungen Mädchen« aus ihr gemacht hatte, ritt beim Rennen Pferde zuschanden, zeigte sich an Regentagen mit schmutzigen Strümpfen und schiefgetretenen Stiefelchen auf der Straße, suchte mit dem dreisten Lächeln einer reifen Frau zu einem Ehemann zu kommen. Herr La Rouquette berichtete, sie sei zu einem Ball beim italienischen Botschafter, dem Cavaliere Rusconi, als Jagdgöttin Diana so entblößt erschienen, daß ihr tags darauf der alte Herr de Nougarède, ein sehr lüsterner Senator, beinahe einen Heiratsantrag gemacht hätte. Und bei dieser Geschichte blickten die drei Abgeordneten immer wieder zu der schönen Clorinde hinauf, die, ungeachtet der Hausordnung, die Mitglieder der Kammer der Reihe nach durch ein großes Opernglas betrachtete.

»Nein, nein«, wiederholte Herr Kahn, »so verrückt würde Rougon niemals sein ... Er sagt, sie sei sehr klug, und er nennt sie lachend ›Fräulein Machiavelli‹. Sie amüsiert ihn, das ist alles.«

»Wie auch immer«, schloß Herr Béjuin, »Rougon tut nicht recht daran, sie nicht zu heiraten ... Das verleiht einem Mann Ansehen.«

Dann einigten sich alle drei über die Frau, die Rougon brauche: eine nicht mehr ganz junge Frau, mindestens fünfunddreißig Jahre alt, die reich sein müsse und imstande, sein Haus nach den Prinzipien vornehmer Ehrbarkeit zu führen.

Unterdessen wurde es ringsum immer lauter. Die Herren hatten bei ihren schlüpfrigen Anekdoten so sehr alles andere vergessen, daß sie gar nicht merkten, was um sie her geschah. Von weitem, aus der Tiefe der Wandelgänge, hörte man die fernen Stimmen der Huissiers rufen: »Zur Sitzung, die Herren, zur Sitzung!« Und durch die Türen aus massivem Mahagoni, deren Flügel weit offenstanden und die goldenen Sterne ihrer Füllungen zeigten, kamen von allen Seiten Abgeordnete herbei. Der bis dahin halbleere Saal füllte sich nach und nach. Die kleinen Gruppen, die sich gelangweilt von Bank zu Bank unterhielten, die Schläfrigen, die ihr Gähnen unterdrückten, wurden geradezu überschwemmt von der steigenden Flut und der Menge der Händedrücke. Während die Mitglieder zur Rechten wie zur Linken ihre Plätze einnahmen, lächelten sie einander zu, sie hatten eine gewisse Familienähnlichkeit: Gesichter, die alle in gleicher Weise von der Pflicht durchdrungen waren, zu deren Erfüllung sie hierherkamen. Ein dicker Mann auf der letzten Bank links, der zu fest eingenickt war, wurde von seinem Nachbarn geweckt, und nachdem dieser ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte, rieb er sich schleunigst die Augen und nahm eine angemessene Haltung an. Die Sitzung, die sich bisher mit für diese Herren sehr langweiligen Fragen hingeschleppt hatte, gewann jetzt das größte Interesse.

Von der Menge geschoben, gelangten Herr Kahn und seine beiden Kollegen zu ihren Bänken, ohne zu wissen wie. Sie plauderten noch immer, bemüht, ihr Lachen zu unterdrücken. Herr La Rouquette erzählte eine neue Geschichte von der schönen Clorinde. Sie hatte eines Tages den erstaunlichen Einfall gehabt, ihr Zimmer mit schwarzen, von silbernen Tränen übersäten Behängen ausschlagen zu lassen und dort, auf dem Bett liegend, ganz vergraben unter ebenfalls schwarzen Decken, aus denen nur ihre Nasenspitze hervorschaute, ihre nächsten Freunde zu empfangen.

Als Herr Kahn sich setzte, kam er plötzlich zur Besinnung.

»Dieser La Rouquette mit seinem Altweibergeschwätz ist blödsinnig«, murmelte er. »Jetzt habe ich Rougon verpaßt!«

Und sich mit wütender Miene zu seinem Nachbarn umwendend, sagte er: »Hören Sie, Béjuin, Sie hätten mich wirklich aufmerksam machen können!«

Rougon, den man soeben mit dem üblichen Zeremoniell eingeführt hatte, saß bereits zwischen zwei Staatsräten auf der Bank der Regierungsvertreter, einer Art riesiger Mahagonilade, die unten vor dem Präsidiumstisch aufgestellt war, genau dort, wo früher die nun abgeschaffte Rednertribüne gestanden hatte. Seine breiten Schultern sprengten fast seine Amtstracht aus grünem Tuch, die am Kragen und an den Ärmeln überreich mit Gold bestickt war. Das Gesicht dem Saal zugewandt, das dichte ergrauende Haar über der viereckigen Stirn gescheitelt, versteckte er seine Augen hinter schweren, stets halbgesenkten Lidern; und seine große Nase, seine sehr fleischigen Lippen, die langen Backen, auf denen seine sechsundvierzig Jahre keine einzige Falte eingezeichnet hatten, waren von abstoßender Gewöhnlichkeit, die nur hin und wieder blitzartig von der Schönheit der Kraft verklärt wurde. Angelehnt, das Kinn im Frackkragen, saß er ruhig da, mit gleichgültigem, ein wenig müdem Ausdruck, und schien niemanden zu sehen.

»Er sieht aus wie immer«, murmelte Herr Béjuin.

Die Abgeordneten auf den Bänken beugten sich vor, um festzustellen, was für ein Gesicht er mache. Vorsichtige Bemerkungen liefen im Flüsterton von Ohr zu Ohr. Vor allem aber rief Rougons Erscheinen starkes Aufsehen auf den Tribünen hervor. Um zu zeigen, daß sie anwesend seien, streckten die Charbonnels ihre entzückten Gesichter so weit vor, daß die beiden fast in den Saal hinabgestürzt wären. Frau Correur hatte gehüstelt und dabei ein Taschentuch gezogen, das sie unter dem Vorwand, es an die Lippen zu führen, leicht schwenkte. Oberst Jobelin hatte sich wieder gestrafft, und die hübsche Frau Bouchard, die rasch zur ersten Bank hinuntergestiegen war, schnaufte ein wenig, als sie ihr Hutband neu knüpfte, indes sich Herr d'Escorailles schweigend und sehr verstimmt hinter ihr hielt.

Was die schöne Clorinde betraf, so tat sie sich keinerlei Zwang an. Da sie sah, daß Rougon den Blick nicht hob, klopfte sie in deutlich vernehmbaren kleinen Schlägen mit ihrem Opernglas auf den Marmor der Säule, an die sie sich lehnte; und als er sie auch weiterhin nicht beachtete, sagte sie mit so heller Stimme, daß man es im ganzen Saal hörte, zu ihrer Mutter: »Er schmollt also, der plumpe Duckmäuser!«

Ein paar Abgeordnete drehten sich lächelnd um. Rougon entschloß sich, der schönen Clorinde einen Blick zu schenken. Darauf klatschte sie, während er ihr ein unmerkliches Zeichen mit dem Kopf gab, triumphierend in die Hände, bog sich lachend hintenüber und sprach dabei laut zu ihrer Mutter, ohne sich auch nur im allergeringsten durch die vielen Menschen da unten, die sie musterten, stören zu lassen.

Rougon hatte, bevor er die Lider wieder sinken ließ, langsam an den Tribünen entlanggesehen, wo sein Blick gleichzeitig Frau Bouchard, Oberst Jobelin, Frau Correur und die Charbonnels umfaßte. Sein Gesicht blieb unbewegt. Er versenkte wieder das Kinn in den Frackkragen, schloß halb die Augen und unterdrückte ein leichtes Gähnen.

»Ich werde doch ein Wort mit ihm reden«, hauchte Herr Kahn Herrn Béjuin ins Ohr.

Doch als er aufstand, gab der Präsident, der sich seit einem Weilchen vergewisserte, daß alle Abgeordneten zur Stelle waren, ein energisches Glockenzeichen. Und plötzlich herrschte tiefe Stille.

In der ersten Sitzreihe, deren gelbe Marmorpulte Auflagen aus weißem Marmor hatten, stand ein blonder Herr. In der Hand hielt er ein großes Blatt Papier, von dem er beim Sprechen kein Auge ließ.

»Ich habe die Ehre«, sagte er mit singender Stimme, »einen Bericht über den Gesetzentwurf vorzulegen, welcher dem Staatsministerium für das Finanzjahr 1856 die Bereitstellung eines Betrages von vierhunderttausend Francs vorschlägt, um die Kosten der Taufe des Kaiserlichen Prinzen12 und der aus diesem Anlaß zu feiernden Feste zu bestreiten.«

Und gerade schickte er sich mit verhaltenem Schritt an, den Bericht zu übergeben, als alle Abgeordneten in völliger Einmütigkeit riefen: »Verlesen! Verlesen!«

Der Referent wartete, bis der Präsident entschieden hatte, daß die Verlesung stattfinden sollte. Und dann begann er in beinahe ergriffenem Ton: »Meine Herren, der Gesetzentwurf, der uns hier vorgelegt wird, ist einer von denen, welche die üblichen Formen einer Abstimmung als zu langsam erscheinen lassen, weil sie den spontanen Begeisterungsschwung des Corps législatif hemmen.«

»Sehr richtig!« riefen mehrere der Mitglieder.

»In den bescheidensten Familien«, fuhr der Referent fort, wobei er jedes Wort sorgfältig modulierte, »ist die Geburt eines Sohnes, eines Erben, mit allen Vorstellungen des Fortbestehens, die mit diesem Namen verknüpft sind, eine Veranlassung zu so süßer Freude, daß die Prüfungen der Vergangenheit vergessen werden und einzig die Hoffnung über der Wiege des Neugeborenen schwebt. Aber was soll man von diesem Familienfest sagen, wenn es zugleich das Fest einer großen Nation ist und zudem ein europäisches Ereignis!«

Da brach ein allgemeines Entzücken aus. Dieses rednerische Glanz stück riß die Kammer hin. Rougon, der zu schlafen schien, sah auf den vor ihm ansteigenden Bänken nur freudestrahlende Gesichter. Einige Abgeordnete lauschten, die Hände an den Ohren, mit übertriebener Aufmerksamkeit, um sich nichts von dieser gepflegten Prosa entgehen zu lassen.

Nach einer kurzen Pause fuhr der Referent mit erhobener Stimme fort: »Hier, meine Herren, ist es in der Tat die große französische Familie, die alle ihre Mitglieder auffordert, ihrer Freude Ausdruck zu verleihen; und welcher Pracht bedürfte es nicht, wäre es überhaupt möglich, daß die äußeren Kundgebungen der Größe ihrer gerechtfertigten Hoffnungen zu entsprechen vermöchten.« Und abermals legte er eine Pause ein.

»Sehr richtig! Sehr richtig!« riefen die gleichen Stimmen.

»Das ist sehr fein gesagt«, bemerkte Herr Kahn, »nicht wahr, Béjuin?«

Herr Béjuin wiegte leicht den Kopf, den Blick auf den Kronleuchter geheftet, der vor dem Präsidiumstisch vom Oberlicht herabhing. Er genoß.

Auf der Tribüne ließ sich die schöne Clorinde, das Opernglas fest auf den Referenten gerichtet, keinen Wechsel seines Mienenspiels entgehen; die Charbonnels hatten feuchte Augen; Frau Correur saß in der aufmerksamen Haltung einer wohlerzogenen Frau da, während der Oberst zustimmend nickte und die hübsche Frau Bouchard sich ganz hingegeben auf die Knie des Herrn d'Escorailles lehnte. Am Präsidiumstisch aber hörten der Präsident, die Schriftführer und auch die Huissiers regungslos und feierlich zu.

»Hinfort«, sprach der Referent weiter, »verbürgt die Wiege des Kaiserlichen Prinzen die Sicherheit der Zukunft; denn indem sie der Dynastie, der wir alle zugejauchzt haben, Dauer verleiht, garantiert sie die Wohlfahrt des Landes, seine Ruhe in der Stabilität und eben dadurch die Ruhe des übrigen Europas.«

Bei diesem rührenden Bild von der Wiege mußten einige »Pst!« Begeisterungsausbrüche verhindern.

»Auch in einer anderen Epoche schien ein Sprößling dieses erlauchten Blutes zu einer großen Zukunft bestimmt zu sein, aber die Zeiten haben keinerlei Ähnlichkeit miteinander. Der Frieden ist das Ergebnis der weisen und weitblickenden Herrschaft, deren Früchte wir ernten, ebenso wie das Genie des Kriegers jenes Heldengedicht schrieb, welches das Erste Kaiserreich begründete.

Bei seiner Geburt begrüßt von den Kanonen, die vom Norden bis zum Süden den Erfolg unserer Waffen verkündeten, wurde dem König von Rom13 nicht einmal das Glück zuteil, seinem Vaterlande zu dienen: so wollte es damals die Vorsehung.«

»Was sagt er denn da? Er verliert sich«, murmelte der skeptische Herr La Rouquette. »Diese ganze Passage ist ungeschickt. Er wird sich sein Kunstwerk verderben.«

Tatsächlich wurden die Abgeordneten unruhig. Wozu diese geschichtliche Rückerinnerung, die ihrem Eifer abträglich war? Einige putzten sich die Nase. Der Referent aber lächelte, als er spürte, welche Kälte sein letzter Satz verbreitet hatte. Er erhob die Stimme; sorgfältig die Worte wägend, fuhr er, seiner Wirkung gewiß, in seiner Gegenüberstellung fort.

»Doch zur Welt gekommen an einem dieser feierlichen Tage, da die Geburt eines einzelnen als das Heil aller betrachtet werden muß, scheint das Kind Frankreichs uns, und ebenso den künftigen Generationen, heute das Recht zu schenken, am heimatlichen Herd zu leben und zu sterben. Das ist hinfort das Unterpfand der göttlichen Gnade.«

Das war ein rauschender Fall erlesener Sätze. Alle Abgeordneten verstanden, was er sagen wollte, und ein freudiges Gemurmel durchlief den Saal. Die Gewißheit ewigen Friedens war wahrhaft süß. Beruhigt nahmen die Herren wieder die Haltung von Politikern an, die entzückt in Literatur schwelgen. Sie hatten Muße vor sich. Europa gehörte ihrem Herrn.

»Der Kaiser, zum unumschränkten Gebieter über Europa geworden«, fuhr der Referent mit erneuter Weitschweifigkeit fort, »war gerade im Begriff, jenen großmütigen Friedensvertrag14 zu unterzeichnen, der, indem er die produktiven Kräfte der Nationen wieder vereint, sowohl das Bündnis der Völker wie auch das der Könige bedeutet, als es Gott gefiel, sein Glück zugleich mit seinem Ruhm auf den Gipfel zu führen. Ist es nicht erlaubt, zu denken, daß er von diesem Augenblick an zahlreiche glückliche Jahre vorausahnt, wenn er die Wiege betrachtet, darin, so klein noch, jener ruht, der seine großartige Politik fortsetzen wird?«

Auch dies war ein sehr hübsches Bild. Und das war gewiß erlaubt; etliche Abgeordnete bestätigten es, indem sie langsam nickten. Aber der Bericht schien allmählich etwas zu lang. Viele Mitglieder wurden wieder ernst, einige sahen sogar verstohlen zu den Tribünen hinauf, als erfahrene Leute, die es ein wenig verdroß, sich so zu zeigen, nämlich in der wahren Gestalt ihrer Politik. Andere waren zerstreut, dachten mit erdfahlem Gesicht an ihre eigenen Angelegenheiten, klopften erneut mit den Fingerspitzen auf das Mahagoni ihrer Pulte; und verschwommen zogen in ihrer Erinnerung frühere Sitzungen vorüber, frühere Ergebenheitserklärungen, die einem in der Wiege liegenden Kind Vollmachten übertrugen. Herr La Rouquette wandte oft den Kopf, um auf die Uhr zu sehen; als der Zeiger Viertel vor drei zeigte, machte er eine verzweifelte Gebärde; er verpaßte eine Zusammenkunft. Seite an Seite saßen mit verschränkten Armen regungslos Herr Kahn und Herr Béjuin und ließen mit blinzelnden Lidern den Blick von den großen grünsamtenen Wandbespannungen zu dem Basrelief aus weißem Marmor wandern, auf das der Gehrock des Präsidenten einen schwarzen Fleck zeichnete. Und in der Diplomatenloge hatte sich die schöne Clorinde, das Opernglas noch immer gezückt, wieder darangemacht, lange und aufmerksam Rougon zu betrachten, der in der prächtigen Haltung eines schlummernden Stiers auf seiner Bank saß.

Der Referent jedoch beeilte sich nicht, las zu seinem eigenen Vergnügen, mit einem rhythmischen und zufriedenen Wiegen der Schultern: »Haben wir also volles und ganzes Vertrauen, und möge sich der Corps législatif bei diesem wichtigen und ernsten Anlaß daran erinnern, daß er gemeinsam mit dem Kaiser zur Macht gelangte, was ihm fast ein größeres Familienrecht als den anderen Körperschaften des Staates gibt, an den Freuden des Herrschers teilzunehmen.

Wie er hervorgegangen aus dem freien Wunsch des Volkes, wird daher der Corps législatif in dieser Stunde zur Stimme der Nation, um dem erlauchten Kinde die Huldigung einer unwandelbaren Ehrerbietung, einer allen Prüfungen gewachsenen Ergebenheit und jener grenzenlosen Liebe darzubringen, die aus der politischen Überzeugung eine Religion macht, deren Pflichten man preist.«

Da nun von Huldigung, Religion und Pflichten die Rede war, mußte es wohl bald zu Ende sein. Die Charbonnels wagten jetzt, im Flüsterton ihre Eindrücke auszutauschen, während Frau Correur ein Hüsteln in ihrem Taschentuch erstickte. Frau Bouchard begab sich verstohlen wieder in den Hintergrund der Staatsratsloge zu Herrn Jules d'Escorailles.

Tatsächlich änderte der Referent plötzlich die Stimme, ging von dem feierlichen Ton zum familiären über und stammelte rasch: »Wir schlagen Ihnen vor, meine Herren, den Gesetzentwurf so, wie er vom Staatsrat vorgelegt worden ist, ohne Einschränkung und Veränderung anzunehmen.«

Und inmitten eines großen verworrenen Getöses setzte er sich hin.

»Sehr richtig! Sehr richtig!« rief der ganze Saal.

Laute Bravorufe ertönten. Herr de Combelot, dessen lächelnde Aufmerksamkeit keine Minute lang nachgelassen hatte, schrie sogar: »Es lebe der Kaiser!«, was in dem Lärm unterging. Und beinahe hätte man Oberst Jobelin, der ganz allein am Rande der Tribüne stand und, ungeachtet der Hausordnung, selbstvergessen mit seinen vertrockneten Händen Beifall klatschte, eine Ovation bereitet. Das ganze Entzücken, das die ersten Sätze hervorgerufen hatten, kam jetzt mit einer neuen Flut von Beglückwünschungen wieder zum Vorschein. Das war das Ende der Fron. Von einer Bank zur anderen wechselte man liebenswürdige Worte, während ein Strom von Freunden auf den Referenten zustürzte, um ihm kräftig beide Hände zu drücken.

Dann herrschte in dem Tumult bald ein Wort vor: »Beratung! Beratung!«

Der Präsident, der hochaufgerichtet am Tisch stand, schien auf diesen Ruf gewartet zu haben. Es gab ein Glockenzeichen, und in dem jäh von Ehrerbietung erfüllten Saal sprach er: »Meine Herren, eine große Anzahl Mitglieder fordert, daß unverzüglich zur Beratung geschritten wird.«

»Ja, ja!« bestätigte die gesamte Kammer mit einem einzigen Geschrei.

Und es fand keine Beratung statt. Man stimmte sofort ab. Die beiden Artikel des Gesetzentwurfes, über die man nacheinander abstimmen ließ, wurden durch Sitzenbleiben und Aufstehen angenommen. Kaum hatte der Präsident die Lesung des Artikels beendet, als sich von oben bis unten auf allen Bänken sämtliche Abgeordneten, wie vom Schwung der Begeisterung emporgerissen, mit lautem Füßescharren wie ein Mann erhoben. Dann machten die Urnen die Runde, Huissiers gingen zwischen den Bänken hindurch und sammelten in den Zinkkästen die Stimmen ein. Die Summe von vierhunderttausend Francs war einstimmig von zweihundertneununddreißig Abgeordneten gebilligt worden.

»Das nenne ich ganze Arbeit«, sagte Herr Béjuin naiv und fing dann an zu lachen, weil er glaubte, etwas Witziges von sich gegeben zu haben.

»Es ist drei Uhr durch, ich verdrücke mich«, murmelte Herr La Rouquette, als er an Herrn Kahn vorbeiging.

Der Saal leerte sich. In aller Stille gelangten Abgeordnete zu den Türen, schienen in den Wänden zu verschwinden. Auf der Tagesordnung standen Gesetze von örtlichem Interesse. Bald saßen auf den Bänken nur noch die gutwilligen Mitglieder, solche, die zweifellos an diesem Tage nichts anderes vorhatten; sie setzten ihren unterbrochenen Schlummer fort, sie nahmen ihr Geplauder genau dort wieder auf, wo sie es abgebrochen hatten, und die Sitzung ging, so wie sie begonnen, in ruhiger Gleichgültigkeit zu Ende. Sogar der Stimmenlärm verebbte nach und nach, als sei der Corps législatif in einem Winkel des schweigenden Paris vollständig eingeschlafen.

»Hören Sie mal, Béjuin«, bat Herr Kahn, »versuchen Sie doch, beim Hinausgehen Delestang zum Reden zu bringen. Er ist zusammen mit Rougon gekommen, er muß etwas wissen.«

»Ah ja, Sie haben recht, das ist Delestang«, murmelte Herr Béjuin, während er den Staatsrat betrachtete, der links von Rougon saß. »Ich erkenne ihn nie, das kommt von diesen verteufelten Amtstrachten.«

»Ich gehe nicht fort, denn ich will unseren großen Mann zu fassen bekommen«, fügte Herr Kahn hinzu. »Wir müssen unbedingt Bescheid wissen.«

Der Präsident ließ über eine nicht endende Reihe von Gesetzentwürfen abstimmen, über die durch Sitzenbleiben und Aufstehen entschieden wurde. Die Abgeordneten standen mechanisch auf, setzten sich wieder, ohne mit Plaudern, ja sogar ohne mit Schlafen aufzuhören. Es wurde so langweilig, daß die wenigen Neugierigen auf den Tribünen weggingen. Nur Rougons Freunde blieben da. Sie hofften noch immer, daß er sprechen würde.

Plötzlich erhob sich ein Abgeordneter mit dem korrekten Backenbart eines Provinzadvokaten. Das brachte den eintönigen Gang der Abstimmungsmaschine mit einmal zum Stillstand. In lebhafter Überraschtheit wandten sich die Köpfe.

»Meine Herren«, sagte der Abgeordnete, in seiner Bank stehend, »ich bitte, mich über die Gründe auslassen zu dürfen, die mich gezwungen haben, der Mehrheit der Kommission sehr wider meinen Willen nicht zuzustimmen.«

Seine Stimme war so grell, so komisch, daß die schöne Clorinde ein Lachen hinter der vorgehaltenen Hand erstickte. Aber unten bei den Herren nahm das Erstaunen zu. Was war denn da los? Weshalb redete er? Durch Fragen erfuhr man schließlich, daß der Präsident soeben den Entwurf eines Gesetzes zur Debatte gestellt hatte, durch welches das Departement PyrénéesOrientales ermächtigt werden sollte; eine Anleihe von zweihundertfünfzigtausend Francs für den Bau eines Justizpalastes in Perpignan aufzunehmen. Der Redner, der dem Generalrat15 dieses Departements angehörte, sprach gegen den Gesetzentwurf. Das schien interessant zu werden. Man hörte zu.

Der Abgeordnete mit dem korrekten Backenbart ging unterdessen mit außerordentlicher Vorsicht vor. Seine Sätze, in deren Verlauf er vor allen nur denkbaren Autoritäten den Hut zog, waren voller Vorbehalte. Aber die Lasten des Departements seien schwer; und er entwarf ein vollständiges Bild der finanziellen Lage der PyrénéesOrientales. Außerdem scheine ihm die Notwendigkeit eines neuen Justizpalastes nicht besonders erwiesen. Auf diese Weise sprach er fast eine Viertelstunde lang.

Als er sich setzte, war er sehr erregt. Rougon, der die Augenlider gehoben hatte, ließ sie langsam wieder sinken.

Dann kam der Referent an die Reihe, ein kleiner, sehr lebhafter Greis, der als ein seiner Sache sicherer Mann mit klarer Stimme sprach. Zunächst richtete er ein höfliches Wort an seinen ehrenwerten Kollegen, mit dem er zu seinem Bedauern nicht übereinstimme. Allein, das Departement PyrénéesOrientales sei weit davon entfernt, so verschuldet zu sein, wie man behaupten wolle; und mit anderen Zahlen entwarf er ein neues vollständiges Bild der finanziellen Lage des Departements. Zudem könne die Notwendigkeit eines Justizpalastes nicht geleugnet werden. Er teilte Einzelheiten mit. Der alte Palast liege in einem so dicht bevölkerten Viertel, daß der Straßenlärm die Richter daran hindere, die Anwälte zu verstehen. Außerdem sei er zu klein; deshalb müßten sich die Zeugen, wenn bei Schwurgerichtsprozessen sehr viele geladen seien, auf einem Treppenabsatz aufhalten, was sie gefährlichen Zudringlichkeiten aussetze. Der Referent schloß damit, daß er als unwiderstehliches Argument verkündete, der Justizminister selber habe die Vorlage des Gesetzentwurfes bewirkt.

Rougon, die Hände auf den Schenkeln gefaltet, den Nacken gegen die Mahagonibank gelehnt, rührte sich nicht. Seit Beginn der Auseinandersetzung schien seine breitschultrige Gestalt noch schwerfälliger geworden. Und als der erste Redner Miene machte, erwidern zu wollen, erhob Rougon langsam seinen massigen Körper, ohne sich ganz bis zum Stehen aufzurichten, und sprach mit belegter Stimme den einzigen Satz: »Der Herr Referent vergaß hinzuzufügen, daß der Innenminister und der Finanzminister dem Gesetzentwurf zugestimmt haben.« Er sank auf seinen Sitz zurück, verfiel von neuem in die Haltung eines schlummernden Stiers. Manche der Abgeordneten hatte ein leichter Schauer überrieselt. Der Redner setzte sich wieder, wobei er grüßend den Oberkörper neigte. Und das Gesetz wurde angenommen. Die wenigen Mitglieder, die der Debatte neugierig gefolgt waren, machten gleichgültige Gesichter.

Rougon hatte gesprochen! Von einer Loge zur anderen zwinkerten Oberst Jobelin und die beiden Charbonnels einander zu, während sich Frau Correur anschickte, die Tribüne zu verlassen, wie man eine Theaterloge vor dem Fallen des Vorhangs verläßt, sobald der Held des Stückes seine letzte Tirade von sich gegeben hat. Herr d'Escorailles und Frau Bouchard waren schon gegangen. Clorinde, die an der Samtbrüstung stand und den Saal mit ihrer prachtvollen Erscheinung beherrschte, hüllte sich langsam und majestätisch in einen Spitzenschal, wobei sie den Blick rings um das Halbrund schweifen ließ. Der Regen trommelte nicht mehr auf die Scheiben des Oberlichts, aber der Himmel war noch düster von großen Wolken. Bei dem trüben Licht wirkte das Mahagoniholz der Pulte schwarz; wie ein Brodem stieg Dunkelheit längs der Bänke auf, wo nur noch die kahlen Schädel der Abgeordneten weiße Flecken bildeten; und auf dem Marmor der Sockel unterhalb der verschwommenen Blässe der allegorischen Gestalten zeichneten sich der Präsident, die Schriftführer und die in einer Reihe stehenden Huissiers als starre Schattenspielfiguren ab. In diesem so plötzlich abnehmenden Tageslicht versank die Sitzung.

»Lieber Gott, es ist zum Umkommen hier drin«, sagte Clorinde und drängte ihre Mutter zum Verlassen der Tribüne.

Und sie verwirrte die auf dem Treppenabsatz eingenickten Huissiers durch die seltsame Art, in der sie sich ihren Schal um die Hüften gewickelt hatte.

Unten im Vestibül trafen die beiden Damen den Oberst und Frau Correur.

»Wir warten auf ihn«, sagte der Oberst, »vielleicht kommt er hier heraus ... Auf jeden Fall habe ich Kahn und Béjuin einen Wink gegeben, damit sie mir hierher Nachricht bringen.«

Frau Correur hatte sich der Gräfin Balbi genähert. Nun sagte sie mit trostloser Stimme: »Ach, das wäre ein großes Unglück«, ohne sich weiter auszulassen.

Der Oberst hob den Blick gen Himmel.

»Männer wie Rougon braucht das Land unbedingt«, meinte er nach einem kurzen Schweigen. »Der Kaiser würde einen Fehler machen.«

Und wieder schwiegen alle. Clorinde wollte in die große Wandelhalle hineinschauen, aber ein Huissier schloß jählings die Tür. Sie kehrte also zu ihrer Mutter zurück, die stumm unter ihrem kleinen schwarzen Schleier dastand. Sie murmelte: »Warten ist schrecklich langweilig.«

Soldaten kamen. Der Oberst teilte mit, daß die Sitzung beendet sei. Tatsächlich erschienen oben auf der Treppe die Charbonnels. Hintereinander stiegen sie vorsichtig am Geländer entlang herunter. Als Herr Charbonnel den Oberst gewahrte, rief er: »Er hat nicht viel gesagt, aber er hat ihnen schön das Maul gestopft!«

»Es fehlt ihm an Gelegenheiten«, flüsterte der Oberst dem Biedermann ins Ohr, als dieser dicht bei ihm war, »sonst sollten Sie ihn hören! Er muß erst in Hitze geraten.«

Unterdessen hatten die Soldaten vom Sitzungssaal bis zu der Galerie des Präsidiums, die auf das Vestibül hinausführt, Spalier gebildet. Und während die Tamboure einen Marsch schlugen, näherte sich ein feierlicher Zug. An der Spitze schritten zwei schwarzgekleidete Huissiers, den Chapeau claque unter dem Arm, die Kette um den Hals, den Degen mit dem stählernen Knopf an der Seite. Dann kam der Präsident, den zwei Offiziere geleiteten. Die Schriftführer des Präsidiums und der Generalsekretär seiner Kanzlei folgten. Als der Präsident an der schönen Clorinde vorbeiging, lächelte er ihr als Mann von Welt trotz des feierlichen Aufzuges zu.

»Ach, hier sind Sie«, rief Herr Kahn, der ganz bestürzt angelaufen kam.

Und obwohl die große Wandelhalle damals für das Publikum gesperrt war, führte er sie in die Nische einer der hohen Glastüren, die auf den Garten hinausgehen. Er schien rasend zu sein.

»Ich habe ihn wieder verfehlt«, sagte er. »Er ist nach der Rue de Bourgogne davon, während ich ihm im Saal des General Foy16 auflauerte ... Aber das tut nichts, wir werden trotzdem etwas erfahren. Ich habe Béjuin hinter Delestang hergejagt.«

Und nun wartete man wieder, gute zehn Minuten lang.

Zwischen den beiden großen Windfangwänden aus grünem Tuch, welche die Türen verbargen, kamen lässig die Abgeordneten heraus. Einige verweilten, um sich eine Zigarre anzustecken. Andere blieben lachend, Händedrücke tauschend, in kleinen Gruppen stehen. Frau Correur war unterdessen an die Laokoongruppe herangetreten, um sie zu betrachten. Und während die Charbonnels weit den Hals zurückbogen, um eine Möwe zu sehen, die die spießbürgerliche Phantasie des Malers so, als sei sie aus dem Bild herausgeflogen, auf den Rahmen eines Wandgemäldes gemalt hatte, interessierte sich die schöne Clorinde, die vor der großen bronzenen Minerva stand, für die Arme und den Busen dieser riesigen Göttin. In der Nische der Glastür unterhielten sich Oberst Jobelin und Herr Kahn lebhaft im Flüsterton.

»Ah, da ist Béjuin!« rief letzterer.

Alle traten mit gespannten Gesichtern näher. Herr Béjuin atmete schwer.

»Nun?« fragte man ihn.

»Nun – die Demission ist angenommen worden, Rougon tritt zurück.«

Das wirkte wie ein Keulenschlag. Es herrschte tiefe Stille. Clorinde, die, um ihre unruhigen Finger zu beschäftigen, die Enden ihres Schals zusammenknüllte, erblickte gerade hinten im Garten die hübsche Frau Bouchard, die langsam am Arm des Herrn d'Escorailles dahinwandelte, den Kopf ein wenig auf seine Schulter geneigt. Die beiden waren vor den anderen hinuntergegangen, hatten sich eine offene Tür zunutze gemacht und führten nun in diesen zu ernsthaftem Nachsinnen bestimmten Alleen ihre Verliebtheit unter dem Spitzengewebe des jungen Laubes spazieren. Clorinde winkte sie mit der Hand herbei.

»Der große Mann zieht sich zurück«, sagte sie zu der lächelnden jungen Frau.

Frau Bouchard ließ jäh den Arm ihres Kavaliers fahren, wurde ganz bleich und ernst, indes Herr Kahn inmitten der bestürzten Gruppe der Freunde Rougons dadurch Einspruch erhob, daß er verzweifelt die Arme zum Himmel emporreckte, ohne ein Wort herauszubringen.

 

Kapitel II

Am Morgen hatte im »Moniteur«17 der Rücktritt Rougons gestanden, der »aus Gesundheitsgründen« demissioniert habe. Er war nach dem Frühstück in den Staatsrat gekommen mit der Absicht, seinem Nachfolger schon diesen Abend den Platz aufgeräumt zu hinterlassen. Und in dem großen rot und goldenen Arbeitszimmer, das dem Präsidenten vorbehalten war, leerte er, vor dem riesigen Schreibtisch aus Palisanderholz sitzend, die Schubfächer und ordnete Papiere, die er mit rosafarbenen Bindfäden bündelte.

Er klingelte. Ein Türhüter trat ein, ein prachtvoll gewachsener Mann, der bei der Kavallerie gedient hatte.

»Bringen Sie mir eine brennende Kerze«, bat Rougon.

Und als der Türhüter, nachdem er einen kleinen Leuchter vom Kamin auf den Schreibtisch gestellt hatte, gehen wollte, rief Rougon ihn zurück.

»Merle, hören Sie! – Lassen Sie niemanden herein. Verstehen Sie, niemanden.«

»Jawohl, Herr Präsident«, antwortete der Türhüter und schloß geräuschlos die Tür.

Rougon lächelte leicht.

Er wandte sich zu Delestang um, der am anderen Ende des Raumes vor einem Schrank mit Pappschubfächern stand, die er sorgfältig durchsah.

»Der brave Merle hat heute morgen den ›Moniteur‹ nicht gelesen«, murmelte er.

Delestang schüttelte, da er nichts zu sagen wußte, nur den Kopf. Er hatte einen wundervollen Kopf, sehr kahl, aber mit einer dieser frühzeitigen Glatzen, die den Frauen gefallen. Sein nackter Schädel, der die Stirn übermäßig hoch erscheinen ließ, gab ihm den Anschein umfassender Intelligenz. Sein rosiges, ein wenig viereckiges Gesicht ohne ein einziges Barthaar erinnerte an jene korrekten und gedankenvollen Gesichter, wie phantasiebegabte Maler sie gern den großen Politikern verleihen.

»Merle ist Ihnen sehr ergeben«, sagte er schließlich.

Und er versenkte wieder den Kopf in das Pappfach, das er gerade durchstöberte. Rougon, der eine Handvoll Papiere zusammengedreht hatte, zündete sie an der Kerze an und warf sie dann in eine große Bronzeschale, die auf einer Ecke des Schreibtisches stand. Er sah zu, wie sie verbrannten.

»Delestang, die unteren Fächer rühren Sie mir bitte nicht an«, sagte er. »Darin sind Akten, in denen nur ich mich auskenne.«

Dann setzten beide eine reichliche Viertelstunde lang schweigend ihre Tätigkeit fort. Es war sehr schönes Wetter, die Sonne schien durch die drei großen Fenster, die auf die Uferstraße hinausgingen. Eines der Fenster, das einen Spalt breit offenstand, ließ den leichten kühlen Luftzug von der Seine herein, der mitunter ein wenig die seidenen Fransen der Vorhänge hob. Zerknitterte, auf den Teppich geworfene Papiere flatterten mit leisem Rascheln weiter.

»Hier, sehen Sie doch mal dies«, sagte Delestang und reichte Rougon einen Brief, den er soeben gefunden hatte.

Rougon las den Brief und zündete ihn gelassen an der Kerze an. Es war ein delikater Brief. Und sie plauderten in abgerissenen Sätzen, sich jeden Augenblick unterbrechend, die Nase in allerlei Papierkram. Rougon dankte Delestang dafür, daß er gekommen sei, ihm zu helfen. Dieser »liebe Freund« war der einzige, mit dem er unbekümmert die schmutzige Wäsche seiner fünf Präsidentschaftsjahre waschen konnte. Er hatte ihn in der Gesetzgebenden Versammlung kennengelernt, wo sie nebeneinander auf derselben Bank gesessen hatten. Dort hatte er eine echte Zuneigung zu diesem schönen Mann empfunden, wobei er ihn gleichzeitig köstlich dumm, hohl und stolz fand. Für gewöhnlich pflegte er mit überzeugter Miene zu sagen, daß »dieser verteufelte Delestang es weit bringen« werde. Und er förderte ihn, band ihn durch Dankbarkeit an sich, benutzte ihn wie ein Möbel, in das er alles verschloß, was er nicht mit sich herumtragen konnte.

»Wie dumm ist man doch, daß man Papiere aufhebt!« meinte Rougon, während er ein anderes überquellendes Schubfach öffnete.

»Da ist ein Brief von einer Frau«, sagte Delestang mit einem Augenzwinkern.

Rougon lachte herzlich. Seine ganze breite Brust schütterte. Protestierend nahm er den Brief. Sobald er die ersten Zeilen überflogen hatte, rief er: »Den hat der kleine d'Escorailles versehentlich hiergelassen! – Hübsche Zettelchen übrigens, solche Briefchen! Man bringt es weit mit drei Zeilen von einer Frau.«

Und während er den Brief verbrannte, fügte er hinzu: »Sie wissen, Delestang, man soll sich vor den Frauen hüten!«

Delestang senkte den Kopf. Immer steckte er in irgendeiner heiklen Liebesaffäre. 1851 hätte er sogar fast seine politische Zukunft gefährdet; damals war er leidenschaftlich in die Frau eines sozialistischen Abgeordneten verliebt, und um sich ihrem Gatten angenehm zu machen, stimmte er meist für die Opposition, gegen das Elysée18. Daher traf ihn der 2. Dezember19 wie ein wahrer Keulenschlag. Zwei Tage lang schloß er sich ein, hilflos, am Ende, zerschmettert, zitternd vor Angst, daß jeden Augenblick jemand kommen und ihn verhaften würde. Rougon hatte ihn aus dieser bösen Klemme retten müssen; er hatte ihn veranlaßt, nicht mehr bei den Wahlen in Erscheinung zu treten, und ihn ins Elysée gebracht, wo er eine Stellung als Staatsrat für ihn ergatterte. Delestang, Sohn eines Weinhändlers aus Bercy, ehemals Anwalt, Eigentümer eines Musterguts in der Nähe von Sainte Menehould, war mehrere Millionen schwer und bewohnte in der Rue du Colisée ein äußerst elegantes Stadthaus.

»Ja, hüten Sie sich vor den Frauen«, wiederholte Rougon, der nach jedem Wort eine Pause machte, um einen Blick in die Aktenstücke zu werfen. »Wenn die Frauen einem keine Krone aufs Haupt setzen, legen sie einem einen Strick um den Hals ... In unserem Alter muß man nämlich mit seinem Herzen ebenso pfleglich umgehen wie mit seinem Magen.«

In diesem Augenblick erhob sich im Vorzimmer großer Lärm. Man hörte die Stimme Merles, der jemandem den Eintritt verwehrte. Und plötzlich kam mit den Worten: »Zum Teufel, ich muß ihm die Hand drücken, diesem teuren Freund«, ein kleiner Mann herein.

»Sieh da, Du Poizat!« rief Rougon, ohne aufzustehen.

Und als Merle heftige Gebärden machte, um sich zu entschuldigen, befahl er ihm, die Tür zu schließen.

Dann sagte er ruhig:

»Ich glaubte Sie in Bressuire ... Man läßt also seine Unterpräfektur im Stich wie eine alte Geliebte.«

Du Poizat, ein schmächtiger Mann mit einem kleinen, verschlagenen Gesicht und sehr weißen, unregelmäßig stehenden Zähnen, zuckte leicht mit den Achseln.

»Ich bin seit heute morgen geschäftlich in Paris und wollte Ihnen erst abends in der Rue Marbeuf die Hand drücken. Ich hätte Sie zum Essen eingeladen ... Aber nachdem ich den ›Moniteur‹ gelesen hatte ...«

Er zog einen Sessel an den Schreibtisch heran, ließ sich ungeniert Rougon gegenüber nieder.

»Hören Sie mal, was geht denn eigentlich vor? Da komme ich von weit hinten aus dem Departement DeuxSèvres ... Ich hatte zwar da unten schon von irgendwas Wind bekommen. Aber ich war weit davon entfernt, zu ahnen ... Warum haben Sie mir nicht geschrieben?«

Jetzt zuckte Rougon seinerseits mit den Achseln. Es war klar, Du Poizat hatte dort unten erfahren, daß Rougon in Ungnade gefallen war, und kam nun angerannt, um zu sehen, ob es hier keinen Strohhalm gäbe, an den er sich klammern könnte. Rougon blickte ihm bis in die Seele, als er sagte: »Ich hätte Ihnen heute abend geschrieben ... Reichen Sie Ihren Rücktritt ein, mein Bester ...«

»Das ist alles, was ich wissen wollte, ich werde meinen Rücktritt einreichen«, erwiderte Du Poizat nur.

Und vor sich hin pfeifend, stand er auf.

Als er mit kleinen Schritten auf und ab ging, bemerkte er Delestang, der inmitten eines wüsten Haufens von Pappschachteln auf dem Teppich kniete. Schweigend gab er ihm die Hand. Dann zog er eine Zigarre aus der Tasche und steckte sie an der Kerze an.

»Da man umzieht, darf man auch rauchen«, sagte er, während er sich abermals in den Sessel niederließ. »Umziehen ist lustig!«

Rougon war in einen Stoß Papiere vertieft, die er mit größter Aufmerksamkeit las. Er sortierte sie sorgfältig, verbrannte die einen, bewahrte andere auf. Du Poizat blies mit zurückgelehntem Kopf dünne Rauchfäden aus dem Mundwinkel und sah Rougon bei seinem Tun zu. Sie hatten sich ein paar Monate vor der Februarrevolution kennengelernt. Damals wohnten beide bei Frau Mélanie Correur, im Hôtel Vanneau in der Rue Vanneau. Du Poizat lebte als ihr Landsmann dort; er war ebenso wie Frau Correur in Coulonges, einer kleinen Stadt im Arrondissement Niort, geboren. Sein Vater, ein Gerichtsvollzieher, hatte ihn zum Rechtsstudium nach Paris geschickt, wohin er ihm monatlich hundert Francs für den Lebensunterhalt zahlte, obgleich er schöne runde Summen verdiente, indem er Geld auf kurze Zeit zu hohen Zinsen auslieh; das Vermögen dieses Biedermannes blieb selbst in seiner Heimatgegend so unerklärlich, daß man ihn verdächtigte, in irgendeinem alten Schrank, dessen gerichtliche Beschlagnahme er durchgeführt hatte, einen Schatz gefunden zu haben. Seit den ersten Anfängen der bonapartistischen Propaganda machte sich Rougon diesen mageren Burschen zunutze, der wütend und mit beunruhigendem Lächeln seine monatlichen hundert Francs aufbrauchte; und sie beteiligten sich gemeinsam an den verfänglichsten Unternehmungen. Als später Rougon in die Gesetzgebende Versammlung einzutreten wünschte, war es Du Poizat, der mit aller Gewalt seine Wahl im Departement DeuxSèvres durchsetzte. Nach dem Staatsstreich arbeitete dann Rougon seinerseits für Du Poizat, indem er ihn zum Unterpräfekten in Bressuire ernennen ließ. Der junge Mann, kaum dreißig Jahre alt, hatte in seiner Heimat seinen Erfolg auskosten wollen, ein paar Meilen von seinem Vater entfernt, dessen Geiz ihn seit seinem Abgang vom Gymnasium marterte.

»Und wie geht's dem Papa Du Poizat?« fragte Rougon, ohne aufzusehen.

»Zu gut«, antwortete der andere geradeheraus. »Er hat sein letztes Dienstmädchen weggejagt, weil sie drei Pfund Brot gegessen hat. Jetzt hat er zwei geladene Gewehre hinter der Tür stehen, und wenn ich zu ihm gehe, muß ich mich über die Hofmauer hinweg in Unterhandlungen einlassen.«

Während der Unterhaltung hatte sich Du Poizat vorgebeugt und wühlte mit den Fingerspitzen in der Bronzeschale, in der noch halbverbrannte Papierstücke lagen. Rougon, der dieses Spiel bemerkt hatte, hob mit einem Ruck den Kopf. Er hatte vor seinem ehemaligen Kampfgefährten, dessen unregelmäßig stehende weiße Zähne denen eines jungen Wolfs glichen, immer eine leise Angst empfunden. Einst, als sie noch zusammen arbeiteten, war er stets sehr darum besorgt gewesen, ihm auch nicht das geringste kompromittierende Aktenstück in den Händen zu lassen. Deshalb warf er jetzt, als er sah, daß jener die unversehrt gebliebenen Wörter zu lesen versuchte, eine Handvoll brennender Briefe in die Schale. Du Poizat verstand vollkommen. Aber er lächelte, scherzte.

»Das ist das Großreinemachen«, meinte er. Und er ergriff eine lange Schere und bediente sich ihrer als Pinzette. Er steckte die Briefe, die am Erlöschen waren, aufs neue an der Kerze an, ließ die allzu fest zusammengedrückten Papierknäuel in der Luft verbrennen und rührte in den glimmenden Überresten wie in dem flammenden Alkohol einer Punschbowle. In der Schale flogen leuchtende Funken umher, indes bläulicher Rauch aufstieg und langsam zu dem offenen Fenster zog. Die Kerze begann zuweilen zu flackern und brannte dann wieder mit einer ganz geraden, sehr hohen Flamme.

»Ihre Kerze sieht aus wie ein Kirchenlicht«, sagte Du Poizat grinsend. »Oh, was für ein Begräbnis, mein armer Freund! Wie viele Tote muß man in die Asche betten!«

Rougon war im Begriff zu antworten, als abermals Lärm aus dem Vorzimmer drang. Zum zweitenmal verwehrte Merle jemandem den Eintritt. Und als die Stimmen lauter wurden, sagte Rougon: »Delestang, seien Sie doch so liebenswürdig und sehen Sie nach, was da vor sich geht. Wenn ich mich blicken lasse, fällt man über uns her.«

Delestang öffnete behutsam die Tür, die er hinter sich wieder schloß. Aber fast im selben Augenblick steckte er den Kopf herein und flüsterte: »Kahn ist hier.«

»Nun gut, soll er hereinkommen«, entschied Rougon. »Aber nur er, hören Sie!«

Und er rief Merle herbei, um diesem seine Anordnungen zu wiederholen.

»Ich bitte um Entschuldigung, mein lieber Freund«, sagte er, sich Kahn zuwendend, als der Türhüter hinausgegangen war. »Aber ich bin so beschäftigt ... Setzen Sie sich neben Du Poizat und rühren Sie sich nicht, sonst werfe ich Sie alle beide hinaus.«

Den Abgeordneten schien dieser ungehobelte Empfang nicht im geringsten zu berühren. Er war an Rougons Eigentümlichkeiten gewöhnt. Er nahm einen Sessel, setzte sich neben Du Poizat, der sich eine zweite Zigarre ansteckte. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, begann er: »Es ist schon heiß ... Ich komme aus der Rue Marbeuf, ich glaubte, Sie noch zu Hause anzutreffen.«

Rougon antwortete nicht, es entstand eine Pause. Er zerknüllte Papiere und warf sie in einen Korb, den er zu sich herangezogen hatte.

»Ich muß mit Ihnen reden«, fing Herr Kahn an.

»Reden Sie, reden Sie«, sagte Rougon. »Ich höre Ihnen zu.«

Aber der Abgeordnete schien ganz plötzlich die Unordnung zu bemerken, die im Zimmer herrschte.

»Was machen Sie denn?« fragte er mit vollendet gespieltem Erstaunen. »Wechseln Sie das Arbeitszimmer?«

Er hatte den Ton so gut getroffen, daß Delestang die Freundlichkeit besaß, aufzustehen, um Herrn Kahn einen »Moniteur« hinzureichen.

»O mein Gott!« rief Herr Kahn, sobald er einen Blick auf die Zeitung geworfen hatte. »Ich dachte, die Sache sei seit gestern abend beigelegt. Das ist ein wahrer Blitzschlag ... Mein lieber Freund ...«

Er war aufgesprungen und drückte Rougon die Hände. Der sah ihn schweigend an; auf seinem vollen Gesicht zogen sich zwei große spöttische Falten scharf an den Mundwinkeln vorbei. Und da Du Poizat den Gleichgültigen spielte, vermutete er, daß sich die beiden am Vormittag getroffen hätten, um so mehr, als Herr Kahn versäumt hatte, erstaunt zu scheinen, als er den Unterpräfekten erblickte. Der eine mußte in den Staatsrat gegangen sein, während der andere in die Rue Marbeuf lief. Auf diese Weise waren sie sicher, ihn nicht zu verfehlen.

»Nun, Sie hatten mir etwas zu sagen?« fragte Rougon in seiner gelassenen Art.

»Sprechen wir nicht mehr davon, mein lieber Freund«, rief der Abgeordnete. »Sie haben Verdrießlichkeiten genug. Ich werde Sie an einem solchen Tage ganz gewiß nicht mit meinen kleinen Kümmernissen quälen.«

»Nein, lassen Sie sich dadurch nicht stören. Reden Sie nur.«

»Je nun, es ist wegen meiner Angelegenheit. Sie wissen ja, wegen dieser verwünschten Konzession ... Ich bin sogar froh, daß Du Poizat hier ist. Er wird uns einige Aufschlüsse geben können.«