Selbstbetrachtungen - Marc Aurel - E-Book

Selbstbetrachtungen E-Book

Marc Aurel

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Beschreibung

Marc Aurels "Selbstbetrachtungen" sind als wichtiges Werk der Stoa zentral im Philosophiestudium. Gernot Krapingers Neuübersetzung in zeitgemäßer Sprache ist mit reichen Erläuterungen versehen, die Traditionen in der antiken Philosophie sowie Querbezüge aufzeigen. Dazu werden Begriffe und die genannten Personen erklärt, es gibt einen Stammbaum und ein Nachwort zum Autor sowie zu Entstehungskontext und Wirkung seines einflussreichen Werkes. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Marc Aurel

Selbstbetrachtungen

Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger

Reclam

Griechischer Originaltitel: Μάρκου Ἀντωνίνου αὐτοκράτορος τῶν εἰς ἑαυτὸν βιβλíα ΧΙΙ

 

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2016

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961524-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019641-0

www.reclam.de

Inhalt

SelbstbetrachtungenErstes BuchZweites BuchDrittes BuchViertes BuchFünftes BuchSechstes BuchSiebentes BuchAchtes BuchNeuntes BuchZehntes BuchElftes BuchZwölftes BuchAnhangZu dieser AusgabePersonen und Gottheiten in den SelbstbetrachtungenStammbaum Marc AurelsLiteraturhinweiseNachwort: Leben und Werk Marc Aurels

[5]Selbstbetrachtungen1

[7]Erstes Buch

1

Von meinem Großvater Verus die edle Gesinnung und Gelassenheit.2

2

Von den ruhmvollen Berichten über meinen Vater die Bescheidenheit und die männliche Art.

3

(1) Von meiner Mutter die Frömmigkeit, die Freigebigkeit und den Abscheu nicht nur vor bösen Taten, sondern auch bloß vor Gedanken daran; (2) ferner die einfache Lebensweise, weit entfernt von der Lebensart der Reichen.

4

(1) Von meinem Urgroßvater3 den Umstand, dass ich nicht in öffentliche Schulen gehen musste, (2) gute Hauslehrer hatte (3) und die Erfahrung machte, dass man dafür viel Geld aufwenden muss.

5

(1) Von meinem Erzieher, dass ich weder ein Anhänger der Grünen noch der Blauen, aber auch keiner der Rundschilde oder Langschilde wurde;4(2) auch das Ertragen von Mühen und Bedürfnislosigkeit, selbst Hand anzulegen, (3) mich nicht um die Angelegenheiten anderer zu kümmern (4) und auf Verleumdungen nicht zu achten.

6

(1) Von Diognetos5 den Verzicht auf eitles Streben (2) und dem Gerede der Wundertäter und Zauberer über Beschwörungen, [8]Dämonenaustreibungen und dergleichen nicht zu glauben, (3) nicht Wachtelschlagen6 zu spielen und ähnlichen Leidenschaften nachzugehen, (4) ein offenes Wort zu ertragen, (5) und dass ich mit der Philosophie vertraut wurde, (6) zuerst Bakchios, dann Tandasis und Markian zu hören,7(7) schon als Knabe Dialoge zu verfassen (8) und ein Klappbett mit Fell zu verlangen, und was sonst noch der griechischen Lebensweise8 entspricht.

7

(1) Von Rusticus9 die Vorstellung, dass mein Charakter der Verbesserung und Pflege bedürfe und (2) dass ich nicht der Bewunderung der Sophisten10 verfiel und keine leeren Theorien verfasste, keine Mahnreden hielt oder heuchlerisch den Asketen oder Weltbeglücker spielte; (3) durch ihn blieb mir das geistreiche Reden der Rhetoren und Dichter fremd; (4) ich stolzierte nicht im Philosophenkleid durchs Haus und dergleichen mehr; (5) auch dass ich meine Briefe in schlichter Sprache verfasste wie der, den er meiner Mutter aus Sinuessa11 schrieb, (6) und mich denen gegenüber, die mich beleidigt und verletzt haben, nachsichtig und versöhnlich zeigte, sobald sie von sich aus bereit waren, ihr Verhalten zu bereuen; (7) und dass ich meine Lektüre mit Sorgfalt betreibe und mich nicht damit begnüge, das Gelesene nur oberflächlich zu erfassen, und den Schwätzern nicht vorschnell zustimme. (8) Schließlich machte er mich noch mit den Aufzeichnungen über Epiktet12 vertraut, die er mir aus seiner Bibliothek zukommen ließ.

8

(1) Von Apollonios die freie Denkungsart und unbedingte Vorsicht gegenüber dem Zufall, (2) auf nichts anderes Rücksicht zu nehmen, auch nicht für kurze Zeit, als auf die Vernunft (3) und bei heftigen Schmerzen, beim Verlust eines Kindes und bei [9]langer Krankheit stets Gleichmut zu bewahren.13(4) Er war mir auch ein anschauliches und lebendiges Beispiel dafür, dass ein und derselbe Mensch sehr energisch und zugleich gelassen sein kann, (5) und er wurde bei der Textauslegung nie unwillig; (6) und so sah ich in ihm einen Menschen, der offenbar seine Erfahrung und Geschicklichkeit beim Vermitteln von Lerninhalten für die geringsten seiner Vorzüge hielt. (7) Auch lernte ich von ihm, wie man die scheinbaren Wohltaten von Freunden hinnehmen muss, ohne sich deswegen zu demütigen oder sie achtlos zu übergehen.

9

(1) Von Sextus14 das gütige Wesen (2) und das Vorbild eines guten Familienvaters, (3) die Vorstellung von einem naturgemäßen Leben, (4) ungekünstelte Würde, (5) fürsorgende Rücksichtnahme auf die Freunde, (6) Duldsamkeit gegenüber schlichten Gemütern und solchen, die ohne Überlegung ihre Meinung äußern, (7) die Fähigkeit, mit allen Menschen gut auszukommen, so dass der Umgang mit ihm erquicklicher war als alle Schmeichelei und er doch zugleich bei eben jenen Menschen höchste Achtung genoss; (8) ferner seine Art, die für das Leben notwendigen Leitsätze mit sicherer Methode zu finden und zu ordnen (9) und niemals auch nur den Anschein von Zorn oder irgendeiner anderen Leidenschaft zu erwecken, sondern zugleich ganz leidenschaftslos und ganz liebevoll zu sein; (10) und schließlich zu loben, ohne dabei großes Aufsehen zu machen, (11) und reiches Wissen, ohne damit anzugeben.

10

(1) Von Alexander, dem Grammatiker,15 auf Tadel zu verzichten (2) und denen keine Vorwürfe zu machen, die fremdartige, fehlerhafte oder misstönende Ausdrücke gebraucht hatten; sondern einfach nur im Zuge der Antwort, einer Bestätigung oder [10]einer gemeinsamen Überlegung der Sache selbst, nicht aber des Wortes, den richtigen Ausdruck geschickt ins Gespräch zu bringen oder im Zuge sonst einer passenden beiläufigen Bemerkung.

11

Von Fronto16 die Erkenntnis, was tyrannische Verleumdung, Heimtücke und Heuchelei ist, und (die Erkenntnis), dass die bei uns so genannten Patrizier im Allgemeinen ziemlich lieblos und grausam sind.

12

Von dem Platoniker Alexander17, nicht ständig, auch wenn es gar nicht nötig ist, jemandem zu sagen oder zu schreiben: »Ich habe keine Zeit«, und sich solcherart unter dem Vorwand obwaltender Umstände dauernd den Verpflichtungen zu entziehen, die sich aus unseren Beziehungen zu den Mitmenschen ergeben.

13

(1) Von Catulus18, die Vorwürfe eines Freundes nicht gering zu achten, selbst wenn er sie ohne Grund erheben sollte, sondern zu versuchen, sein Vertrauen zurückzugewinnen, (2) weiters aufrichtigen Herzens nur Gutes über die Lehrer zu sagen, wie in den Erzählungen über Domitius und Athenodotos,19(3) und wahre Liebe zu den Kindern.

14

(1) Von Severus die Liebe zur Familie, zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit.20(2) Durch ihn lernte ich Thrasea, Helvidius, Cato, Dion21 und Brutus kennen und bekam eine Vorstellung von einem Staat mit gleichen bürgerlichen Rechten und Pflichten, der auf der Basis der Gleichheit vor dem Gesetz und der [11]Redefreiheit verwaltet wird, und von einer Monarchie, die vor allem die Freiheit der Untertanen achtet; (3) ferner Schlichtheit und Ausdauer in der Hochachtung der Philosophie, (4) Gutes zu tun und reichlich freigebig zu sein; (5) Zuversicht und Vertrauen darauf, von den Freunden geliebt zu werden, (6) wenn sie aber Anlass zur Missbilligung geben, diese unverhohlen zu zeigen; (7) und dass seine Freunde nicht auf Vermutungen angewiesen waren, was er wollte, sondern dass dies klar zu erkennen war.

15

(1) Von Maximus Selbstbeherrschung und Beharrlichkeit in allem, (2) guten Mutes zu sein in allen Nöten und bei Krankheiten, (3) Gelassenheit, Freundlichkeit und Würde (4) und die gewissenhafte Erledigung obliegender Aufgaben. (5) Bei ihm war jeder davon überzeugt, dass er es so meinte, wie er es sagte, und dass seine Taten ohne böse Hintergedanken waren. (6) Er wunderte sich über nichts, noch war er leicht aus der Fassung zu bringen, war nie in Eile, kannte kein Zögern und Zaudern, wusste immer eine Lösung, war nie niedergeschlagen, nie nur zum Schein fröhlich oder umgekehrt zornig oder argwöhnisch. (7) Er war wohltätig, stets bereit zu verzeihen, und ohne Lug und Trug. (8) Er vermittelte eher den Eindruck eines Mannes, der nicht vom rechten Weg abzubringen ist, als den eines Mannes, der der Verbesserung bedürfte. (9) Niemand hätte je geglaubt, er werde von ihm verachtet, niemand hätte sich je erdreistet anzunehmen, dass er ihm überlegen sei. (10) Auch verfügte er über Witz im guten Sinne.

16

(1) Von meinem Adoptivvater22 Sanftmut und unerschütterliches Festhalten an den nach reiflicher Prüfung gewonnenen Urteilen, (2) ferner Verachtung eitler Ehren, (3) Arbeitseifer [12]und Ausdauer. (4) Er hörte bereitwillig die gemeinnützigen Vorschläge anderer, (5) ließ jedem unbeirrt das zukommen, was ihm gebührte, (6) und wusste, wo Strenge und wo Nachsicht angebracht war. (7) Der Knabenliebe erteilte er eine Absage. (8) Auch konnte er sich in andere gut hineinversetzen, verlangte nicht, dass seine Freunde immer mit ihm speisten und ihn auf Reisen begleiteten, sondern wurde von denen, die aus irgendwelchen dringenden Gründen daheim geblieben waren, nach seiner Rückkehr stets gleich freundlich angetroffen. (9) In den Beratungen legte er Gründlichkeit und Ausdauer bei den Untersuchungen an den Tag, hörte nicht vorzeitig auf nachzuforschen und begnügte sich nicht mit oberflächlichen Vorstellungen. (10) Er verstand es, sich seine Freunde zu erhalten, wurde ihrer nie überdrüssig, war aber auch nicht vernarrt in sie. (11) Er war in allem selbstgenügsam und heiter. (12) Ferner sein außerordentlicher Weitblick und seine Fähigkeit, selbst die kleinsten Dinge ohne viel Aufsehen schon im Vorhinein zu planen. (13) Alle Beifallskundgebungen und Schmeicheleien wies er für sich zurück. (14) Er hatte stets die Bedürfnisse des Staates im Auge, war sparsam mit den öffentlichen Mitteln und ertrug es, wenn man ihm deshalb mitunter Vorwürfe machte. (15) Den Göttern gegenüber war er frei von Aberglauben; was die Menschen betrifft, buhlte er nicht um die Gunst des Volkes und unterließ es, sich beim Volk einzuschmeicheln, vielmehr blieb er in allem nüchtern und standhaft und war nie geschmacklos oder auf Neuerungen aus. (16) Dinge, die zur Annehmlichkeit des Lebens beitragen, wie sie das Glück so reichlich gewährt, gebrauchte er bescheiden, aber ohne Bedenken, so dass er sie, wenn sie vorhanden waren, ungezwungen benutzte, wenn sie aber nicht da waren, auch nicht vermisste. (17) Niemand konnte ihm nachsagen, er sei ein Sophist23, ein Witzbold oder ein weltfremder Gelehrter, vielmehr (musste jeder zugestehen), dass er ein reifer, fertiger Mann ist, erhaben [13]über Schmeichelei, einer, der imstande ist, seine eigenen Angelegenheiten wie auch die der anderen erfolgreich zu vertreten. (18) Dazu kam noch die Wertschätzung wahrer Philosophen, ohne deswegen die anderen24 zu schmähen; er ließ sich aber von ihnen auch nicht täuschen. (19) Ferner seine Umgänglichkeit und Liebenswürdigkeit, die jedoch nie übertrieben war, (20) seine angemessene Fürsorge für den eigenen Körper, nicht wie bei einem, der aus lauter Lust am Leben auf eine schöne Figur aus ist, aber auch ohne Vernachlässigung; es war vielmehr so, dass er bei der ihm eigenen Aufmerksamkeit ganz selten ärztliche Hilfe, Medikamente oder Umschläge brauchte. (21) Besonders hervorzuheben ist, dass er neidlos denen den Vorrang einräumte, die eine besondere Fähigkeit besaßen, wie zum Beispiel (die Fähigkeit) zur Redekunst, Rechtskunde, Ethik oder zu sonst einer Wissenschaft, und dass er sich gemeinsam mit ihnen darum bemühte, dass ein jeder entsprechend seinen eigenen Vorzügen die ihm gebührende Anerkennung fand. In all seinem Tun ließ er sich vom Vorbild der Väter leiten, wollte aber nie den Anschein erwecken[, er tue es nur aus Tradition].25(22) Er war auch nicht wankelmütig oder unbeständig, sondern blieb gerne an denselben Orten und bei denselben Beschäftigungen. (23) Auch dass er sich nach den heftigen Anfällen von Kopfschmerzen gleich wieder frisch und voller Kraft an die gewohnte Arbeit machte (24) und dass er nur ganz wenige und selten Geheimnisse hatte, und zwar ausschließlich im Interesse des Gemeinwohls. (25) Er war besonnen und maßvoll26 bei der Veranstaltung von öffentlichen Spielen, der Errichtung von Bauwerken, der Verteilung von Geldspenden an das Volk und Ähnlichem und richtete sein Augenmerk nur auf das, was getan werden musste, und nicht auf den Ruhm seiner Taten. (26) Er badete nicht zur Unzeit, war nicht darauf aus, ständig neue Bauten zu errichten, hatte keinen Sinn für erlesene Speisen, für Gewebe und Farben von [14]Kleidern oder für die Schönheit seiner Sklaven. (27) Seine Kleidung stammte aus Lorium, seinem Landgut in der Ebene; das meiste sonst aus Lanuvium.27(28) (Man denke nur) an seinen Umgang mit dem Steuerpächter in Tusculum, der ihn um Verzeihung bat, und sein ganzes derartiges Wesen.28(29) Da war nichts Barsches, nichts Unerbittliches, nichts Ungestümes, so dass niemand je hätte sagen können: »Bis zum Schweiß«, sondern alles war bis ins kleinste Detail wohldurchdacht, wie bei einem wissenschaftlichen Vortrag, ohne Leidenschaft, gut geordnet, kraftvoll und ohne inneren Widerspruch. (30) Auf ihn dürfte zutreffen, was man von Sokrates erzählt, dass er entbehren und genießen konnte, wo viele zum Entbehren zu schwach und beim Genuss zu unmäßig sind.29(31) Aber in beidem stark, standhaft und nüchtern zu sein, [zeugt von einem Mann mit einem aufrechten und unbesiegbaren Charakter,]30 wie es sich auch bei der Krankheit des Maximus zeigte.

17

(1) Von den Göttern31, dass ich gute Großväter32, gute Eltern, eine gute Schwester, gute Lehrer, gute Angehörige, Verwandte und Freunde, ja fast nur gute Menschen um mich hatte (2) und dass ich nicht darauf verfiel, einem von ihnen etwas Böses anzutun, obgleich ich durchaus die Anlage dazu in mir trug, so dass ich, wenn es sich ergeben hätte, etwas Derartiges getan hätte. Nur der Gunst der Götter verdanke ich, dass ich nie die Gelegenheit zu solchen Taten bekam, die mich überführt hätte; (3) auch, dass ich nicht länger bei der Geliebten meines Großvaters33 aufwuchs, (4) dass ich mir meine jugendliche Unschuld bewahrte und nicht vorzeitig zum Mann wurde, sondern mir damit noch etwas Zeit ließ; (5) dass ich einem Herrscher und Vater untertan war, der mich von jedem Dünkel befreien und zur Einsicht führen sollte, dass es möglich ist, selbst bei Hofe ohne Leibwächter zu leben, ohne Prunkgewänder, [15]Kronleuchter, ohne irgendwelche Bildsäulen dieser Art und ähnlichen Prunk, dass es vielmehr möglich ist, sich beinahe wie ein Privatmann einzuschränken, ohne sich deshalb den Pflichten des Herrschers für das Wohl des Staates schlechter oder sorgloser zu widmen. (6) Dass mir ein solcher Bruder beschieden war, der mich durch seinen Charakter ermunterte, Sorge für mich selbst zu tragen und mir zugleich durch seine Achtung und Liebe Freude bereitete, (7) und dass ich keine Kinder bekam, die untalentiert oder körperlich behindert waren; (8) ferner dass ich keine größeren Fortschritte in der Rhetorik und Dichtkunst noch in anderen Studien machte, bei denen ich vielleicht hängen geblieben wäre, wenn ich gemerkt hätte, dass ich darin gut vorankomme; (9) dass ich schon bald meine Erzieher in die Stellungen brachte, die zu wünschen sie mir schienen, und sie nicht damit vertröstete, ich würde dies, weil sie ja noch jung seien, später tun. (10) Dass ich Apollonios, Rusticus und Maximus kennenlernte,34(11) dass ich immer wieder intensiv darüber nachdachte, was es denn heißt, der Natur gemäß zu leben, so dass mich, soweit es auf die Götter, auf die von ihnen kommenden Gaben,35 Hilfen und Eingebungen ankommt, nichts daran hinderte, nunmehr ein Leben im Einklang mit der Natur zu führen, ich aber aus eigener Schuld noch ein gutes Stück davon entfernt bin, weil ich die Mahnungen, ja geradezu Weisungen der Götter nicht beachtete. (12) Ferner dass mein Körper ein solches36 Leben so lange ausgehalten hat; (13) dass ich mich weder mit Benedicta noch mit Theodotos eingelassen habe, sondern auch später, als ich in Liebesleidenschaften verfiel, wieder gesund wurde,37(14) dass ich Rusticus, obwohl ich mich oft über ihn ärgerte, nichts weiter angetan habe, was ich hätte bereuen müssen, (15) dass meine Mutter, die jung sterben sollte, dennoch ihre letzten Jahre bei mir zubringen konnte, (16) dass ich, sooft ich einem Armen oder sonst irgendwie Bedürftigen helfen wollte, [16]niemals zu hören bekam, ich hätte kein Geld dafür, (17) dass ich auch selbst nie in eine ähnliche Notlage geraten bin, so dass ich von einem anderen etwas hätte annehmen müssen; (18) dass meine Frau so war, so hingebungsvoll, so zärtlich, so schlicht und einfach;38(19) dass es mir gelang, für meine Kinder geeignete Erzieher aufzutreiben; (20) dass mir in meinen Träumen Ratschläge zuteilwurden,39 zumal gegen Blutspucken und Schwindelanfälle; (21) und das Wort des Mannes in Caieta, gleichsam eines Wahrsagers.40(22) Und dass ich, als ich Lust zur Philosophie bekam, nicht an irgendeinen Sophisten41 geriet und mich in die Schriftstellerei verirrte oder meine Zeit mit der Auflösung von Syllogismen und mit meteorologischen Studien verbrachte. (23) Zu all dem bedarf es der Hilfe der Götter und des Glücks.

Geschrieben bei den Quaden am Gran.42

[17]Zweites Buch

1

(1) Frühmorgens sage zu dir:43 Ich werde mit einem kleinlichen, undankbaren, unverschämten, falschen, neidischen, egoistischen Kerl zusammentreffen. (2) Alle diese Eigenschaften haben die Menschen, weil sie nicht wissen, was gut und böse ist.44(3) Ich aber, der ich das Wesen des Guten erkannt habe, dass es schön ist, und des Bösen, dass es hässlich ist, und dass die Natur dessen, der sich an mir vergeht, mit mir verwandt ist, nicht weil er dasselbe Blut hat oder aus demselben Samen stammt, sondern weil er an demselben Geist und an denselben göttlichen Gaben teilhat,45 kann weder von einem dieser Menschen einen Schaden erleiden – denn niemand wird mich in Hässliches verstricken – noch kann ich meinem Verwandten zürnen oder Feind sein. (4) Wir sind ja zur Zusammenarbeit geschaffen, wie die Füße, Hände, Augenlider oder die obere und untere Zahnreihe.46(5) Gegen einander zu arbeiten, ist wider die Natur. Unwillig sein und sich abwenden aber ist ein Arbeiten gegeneinander.

2

(1) Was auch immer ich bin, es ist ein wenig Fleisch, ein wenig Atem und die herrschende Vernunft47. (2) Fort mit den Büchern!48 Lass dich durch sie nicht länger ablenken! Das darfst du nicht. Verachte vielmehr das armselige Fleisch, als ob du schon sterben müsstest, es ist ja nur schmutziges Blut, Knochen und ein Gewebe aus Sehnen, Venen und Arterien. (3) Betrachte auch den Atem und was er ist: ein Lufthauch, aber nicht immer derselbe, sondern zu jeder Zeit ausgestoßen und wieder eingezogen. (4) Das Dritte ist also die herrschende Vernunft. Überlege nun Folgendes: Du bist alt;49 lass sie (die Vernunft) nicht länger Sklavin sein, lass sie nicht länger von [18]wilden Trieben wie eine Marionette hin und her gerissen werden,50 nicht länger über das gegenwärtige Verhängnis murren oder vor dem künftigen ängstlich zurückweichen.

3

(1) Was von den Göttern kommt, ist voll von Vorsehung, was vom Zufall kommt, ist nicht frei von Natur oder ohne Verflechtung und Verknüpfung mit dem, was die Vorsehung durchwaltet; alles hat dort seinen Ursprung.51(2) Dazu kommt noch das Notwendige und das für den ganzen Kosmos Nützliche, von dem du ein Teil bist. Für jeden Teil der Natur ist gut, was die Natur des Ganzen mit sich bringt und was diese erhält. Den Kosmos aber erhält die Verwandlung sowohl der Elemente wie auch der aus ihnen zusammengesetzten Körper. (3) Das soll dir genügen, wenn es deine Grundsätze sind. Den Durst nach Büchern aber gib auf, damit du dereinst nicht murrend stirbst, sondern wahrhaft heiter und von Herzen dankbar gegenüber den Göttern.

4

(1) Denk daran, wie lange du das schon aufschiebst und wie oft du schon von den Göttern Termine gesetzt bekamst, die du ungenutzt verstreichen ließest. (2) Du musst doch endlich einmal einsehen, von welchem Kosmos du ein Teil bist und welchem Weltenlenker du als Abkömmling unterstehst und dass deine Zeit kurz bemessen ist; wenn du sie nicht zu deiner Erleuchtung benützt, dann wird sie vorbei sein, und eine zweite Gelegenheit wirst du nicht bekommen.

5

(1) Denke jede Stunde fest daran, als Römer und als Mann, das, was du in Händen hast, mit strenger und ungekünstelter Würde und Hingebung, frei von Leidenschaften und mit [19]gerechtem Sinn zu tun und alle anderen Vorstellungen von dir fernzuhalten. (2) Das wird dir gelingen, wenn du jede Tat so vollbringst, als wäre es die letzte deines Lebens, ohne Überstürzung und leidenschaftliche Abneigung gegenüber dem Urteil der Vernunft und frei von Heuchelei, Eigenliebe und Unzufriedenheit mit dem, was das Schicksal beschieden hat. (3) Du siehst, wie wenig es ist, was man beherrschen muss, um ein erfülltes und gottgefälliges Leben zu führen. Denn auch die Götter werden von dem, der das befolgt, nichts weiter verlangen.

6

(1) Misshandle, ja misshandle dich nur, o Seele! Dich zu ehren, wirst du nicht mehr Zeit haben. (2) Ist nicht unser beider Leben kurz? Deines ist beinahe schon vorbei, ohne dass du Achtung vor dir hast, denn du suchtest ja dein Glück in den Seelen anderer.

7

(1) Was lässt du dich von Äußerlichkeiten und Zufällen ablenken? Nimm dir Zeit, etwas Gutes dazuzulernen, und höre auf, planlos umherzuirren. (2) Jetzt gilt es auch, sich vor dem anderen Irrweg in Acht zu nehmen: Denn auch jene sind Toren, die durch ihr Tun im Leben sich erschöpft und kein Ziel haben, auf das sie all ihren Eifer und überhaupt jede Vorstellung richten könnten.

8

Kaum jemand wird für unglücklich gehalten, weil er sich nicht um das kümmerte, was in der Seele eines anderen vorgeht. Diejenigen aber, die nicht auf die Bewegungen der eigenen Seele achten, sind zwangsläufig unglücklich.

[20]9

Man muss sich immer vor Augen halten, was die Natur des Ganzen und was meine eigene ist und wie sich diese zu jener verhält und welcher Teil von welchem Ganzen sie ist und dass es niemanden gibt, der dich daran hindern könnte, stets das zu tun und zu sagen, was im Einklang mit der Natur steht.

10

(1) In seiner vergleichenden Darstellung sittlicher Verfehlungen, wie man ja gewöhnlich derartige Vergleiche anstellen mag, sagt Theophrast, ganz als Philosoph: Schwerer wiegen die Verfehlungen aus Begierde als die aus Zorn. (2) Denn der Zornige wendet sich offenbar unter einem gewissen Schmerzgefühl und mit verborgener Mutlosigkeit von der Vernunft ab. Wer aber aus Begierde und von Lust überwältigt sündigt, ist offenbar irgendwie ungezügelter und weibischer in seinen Verfehlungen. (3) Richtig und eines Philosophen würdig sagte Theophrast also, dass eine Verfehlung, die mit Lust verbunden ist, schwereren Tadel verdiene als eine, die mit Schmerz verbunden ist. Überhaupt gleicht der eine mehr jemandem, der zuvor Unrecht erlitten hat und der aus Schmerz dazu gezwungen ist, in Zorn auszubrechen. Der andere aber ist von sich aus zum Unrecht gekommen, denn er hat sich dazu hinreißen lassen, etwas aus Begierde zu tun.52

11

(1) Man soll alles so tun, sagen und denken, als bestünde die Möglichkeit, jetzt gleich aus dem Leben zu scheiden. (2) Von den Menschen zu scheiden ist, wenn es Götter gibt, nichts Schlimmes; denn sie werden dich wohl nicht ins Unglück stürzen. Wenn es aber keine Götter gibt oder sie sich nicht um die menschlichen Angelegenheiten kümmern,53 was soll mir dann ein Leben in einer Welt ohne Götter oder ohne Vorsehung? [21](3) Es gibt aber Götter, und sie kümmern sich um die menschlichen Angelegenheiten, und sie haben es ganz dem Menschen anheimgestellt, nicht in wahrhaft Böses zu verfallen. Wenn aber unter den anderen Dingen etwas Böses wäre, dann hätten sie auch dafür Vorsorge getroffen, dass es in jedermanns Macht stünde, ihm nicht zu verfallen. (4) Was aber den Menschen nicht schlechter macht, wie könnte das wohl das Leben eines Menschen schlechter machen? (5) Die Natur des Ganzen hätte das weder aus Unwissenheit übersehen noch wäre sie, wenn sie es wüsste, nicht imstande gewesen, dem vorzubeugen oder es zu korrigieren, noch hätte sie aus Unvermögen oder Ungeschicklichkeit einen so schweren Fehler begangen, dass das Gute und das Böse in gleicher Weise den guten wie den schlechten Menschen ohne Unterschied zuteilwird. (6) Tod und Leben jedoch, Ruhm und Verachtung, Mühe und Freude, Reichtum und Armut, all das widerfährt gleichermaßen den guten wie den schlechten Menschen; denn es ist weder schön noch hässlich; es ist also auch weder gut noch böse.

12

(1) Wie schnell doch alles verschwindet, in der Welt die Menschen selbst, in der Ewigkeit die Erinnerung an sie. So ist es mit allem Sichtbaren und vor allem mit dem, was uns durch Lust ködert oder durch Mühsal abschreckt oder aus Eitelkeit berühmt geworden ist. Wie wertlos und verächtlich, wie schmutzig, hinfällig und tot das ist, das zu begreifen ist Sache unseres Denkvermögens. (2) Was sind denn die Leute, deren Ansichten und Reden einem Ruhm oder Ruhmlosigkeit verschaffen? (3) Was ist denn das Sterben?54 Wenn man es für sich allein betrachtet und durch begriffliche Zergliederung das davon trennt, was in der Vorstellung damit verbunden ist, dann wird man zu der Annahme gelangen, es sei nichts anderes als ein Werk der Natur. Das Wirken der Natur zu fürchten, ist aber [22]kindisch.55 Das Sterben ist freilich nicht nur ein Werk der Natur, sondern auch nützlich für sie. (4) Wie kommt ein Mensch in Berührung mit Gott und mit welchem Teil von sich, und wie verhält sich dann dieser Teil des Menschen?56

13

(1) Nichts ist erbärmlicher als ein Mensch, der ständig im Kreis läuft und der, wie es heißt,57 den Dingen unter der Erde nachspürt und die Vorgänge in der Seele seiner Mitmenschen durch Vermutungen zu erkunden sucht, der aber nicht bemerkt, dass es genügt, nur bei dem göttlichen Geist in seinem Inneren58 zu verbleiben und ihm aufrichtig zu dienen. (2) Ihm zu dienen bedeutet aber, dass man ihn rein hält von Leidenschaft, Unbesonnenheit und Unzufriedenheit gegenüber allem, was von den Göttern und Menschen kommt.59(3) Was von den Göttern kommt, ist wegen seiner Vortrefflichkeit verehrungswürdig, was von den Menschen kommt, ist uns lieb, weil wir ja miteinander verwandt sind, mitunter aber verdient es auch irgendwie Mitleid, weil es auf der Unkenntnis von Gut und Böse beruht. Dieses Gebrechen ist nicht geringer als jenes, das uns die Fähigkeit raubt, weiß und schwarz zu unterscheiden.

14

(1) Selbst wenn du dreitausend Jahre leben solltest oder gar zehnmal so lange, denke dennoch daran, dass niemand ein anderes Leben verliert als das, welches er lebt, und dass er kein anderes Leben lebt, als das, welches er verliert. (2) Es läuft also das längste Leben auf dasselbe hinaus wie das kürzeste. (3) Denn die Gegenwart60 ist für alle gleich und die Vergangenheit ebenso, und was wir verlieren, erscheint so nur ganz wenig. (4) Niemand kann wohl Vergangenes oder Zukünftiges verlieren. Was einer nämlich nicht hat, wie könnte ihm das jemand wegnehmen? (5) Man muss also stets an diese beiden [23]Dinge denken: Erstens, dass sich alles seit ewigen Zeiten in einem unveränderlichen Kreislauf61 befindet und dass es keinen Unterschied macht, ob jemand dasselbe in hundert oder zweihundert Jahren oder in unendlicher Zeit sehen wird; zweitens, dass, wer am längsten lebt, dasselbe verliert wie, wer sehr jung stirbt. (6) Denn nur das Gegenwärtige wird ihm geraubt, weil er nur das besitzt und weil er, was er nicht besitzt, auch nicht verlieren kann.

15

Alles beruht nur auf Annahme. Denn es ist klar, was man gegen den Kyniker Monimos sagte. Klar ist aber auch die Nützlichkeit seines Ausspruchs,62 wenn man ihn auf das, was daran wahr ist, einschränkt.

16

(1) Die Seele des Menschen misshandelt sich selbst vor allem dann, wenn sie ein Geschwür und so etwas wie ein Auswuchs des Kosmos63 wird, soweit es auf sie ankommt; (2) denn sich über etwas ärgern, was geschieht, ist ein Abfall von der Natur, welche in ihren jeweiligen Teilen die Natur aller anderen Wesen umfasst; (3) ferner aber auch dann, wenn sie sich von einem Menschen abwendet oder gar ihm feindlich entgegentritt, um ihm zu schaden, wie es die Seelen der Zornigen tun. (4) Drittens misshandelt sie sich selbst, wenn sie sich von Lust oder Leid überwältigen lässt. (5) Viertens, wenn sie sich verstellt und mit ihren Taten und Worten heuchelt und lügt. (6) Fünftens, wenn sie mit ihren Handlungen und Bestrebungen kein Ziel verfolgt, sondern alles Mögliche planlos und inkonsequent begeht, während doch selbst das Unbedeutendste im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel geschehen sollte. Das Ziel der vernünftigen Lebewesen aber ist, der Vernunft und dem Gesetz des ältesten Staates zu folgen.64

[24]17

(1) Die Dauer des Menschenlebens ist nur ein Punkt,65 das Sein aber in dauerndem Fluss, die Wahrnehmung trüb, das Gefüge des ganzen Leibes schnell verwesend, die Seele unstet, das Schicksal unergründlich, der gute Ruf ein eitles Geschwätz. (2) Kurz, alles Körperliche ein Fluss,66 alles Seelische Schall und Rauch,67 das Leben aber ein Kampf und ein Aufenthalt eines Fremden, der Nachruhm Vergessenheit. (3) Was kann da noch helfen? Einzig und allein die Philosophie. (4) Eben dadurch, dass man den göttlichen Geist in seinem Innern vor Misshandlungen und Schaden bewahrt, Lust und Leid besiegt und weder planlos handelt noch mit Lug und Heuchelei, unabhängig davon, ob ein anderer etwas tut oder nicht tut; dass man ferner das, was einem widerfährt und zuteilwird, hinnimmt, als käme es irgendwie von dort, woher er selbst68 gekommen ist; zuletzt, dass man den Tod mit heiterem Gemüt erwartet, als wäre er nichts anderes als eine Auflösung der Elemente, aus denen jedes Lebewesen besteht. (5) Wenn es aber für die Elemente selbst nichts Schlimmes ist, dass sich jedes einzelne von ihnen unablässig in ein anderes verwandelt, warum sollte man dann die Umwandlung aller scheel ansehen? Das entspricht ja der Natur, und nichts, was der Natur entspricht, ist schlecht.

[25]Drittes Buch

Geschrieben in Carnuntum69

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(1) Nicht nur das muss man bedenken, dass das Leben mit jedem Tag aufgebraucht wird und ein ständig kleinerer Teil von ihm zurückbleibt, sondern man sollte sich auch bewusst machen, dass es, selbst wenn jemand länger leben sollte, doch ungewiss ist, ob seine Denkkraft künftig die gleiche bleiben und für das Begreifen der Dinge und ihre Betrachtung ausreichen wird, die auf die Erkenntnis des Göttlichen und Menschlichen70 abzielt. (2) Denn wenn jemand anfängt, dummes Zeug daherzureden, so wird doch seine Fähigkeit zu atmen und sich zu ernähren, sich etwas vorzustellen und zu erstreben, und was es sonst dergleichen noch gibt, nicht nachlassen. Die Fähigkeit aber, über sich selbst zu verfügen, die Zahl der Verpflichtungen genau zu kennen, die Erscheinungen genau einzuordnen und sich gerade darüber im Klaren zu sein, ob man seinem Leben schon ein Ende setzen soll,71 und was sonst noch eines geschulten Verstandes bedarf, erlischt vor der Zeit. (3) Man muss sich also beeilen, nicht nur weil man tagtäglich dem Tod näher kommt, sondern auch weil die Fähigkeit, die Dinge zu verstehen und zu begreifen, schon vor der Zeit aufhört.

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(1) Ferner muss man noch beachten, dass selbst das, was die Naturvorgänge begleitet, etwas Reizvolles und Anziehendes hat. (2) So bekommen zum Beispiel einige Teile des Brotes beim Backen Risse, und diese Zwischenräume, die gewissermaßen im Widerspruch zum Vorhaben des Brotbackens stehen, fallen irgendwie ins Auge und erhöhen eigenartigerweise [26]die Lust auf den Verzehr. (3) Auch die Feigen platzen, wenn sie ganz reif sind, auf. (4) Und bei den voll ausgereiften Oliven verleiht der Zustand unmittelbar vor der Fäulnis der Frucht eine eigentümliche Schönheit. (5) Auch die sich zu Boden neigenden Ähren, die Stirnfalten des Löwen, der Schaum aus dem Maul des Ebers und viele anderen Dinge, die, für sich allein betrachtet, alles andere als schön sind, tragen doch zu deren Zierde bei und haben einen gewissen Reiz, weil sie Begleiterscheinungen des Naturgeschehens sind; wenn also jemand ein Gefühl und ein tieferes Verständnis für das Geschehen des Weltganzen hat, dann gibt es kaum etwas von solchen Begleiterscheinungen, das ihm nicht irgendwie in einer angenehmen Beziehung erscheinen wird. (6) Ein solcher Mensch wird sogar den offenen Rachen wilder Tiere im wirklichen Leben nicht weniger gern anschauen als den von Malern und Bildhauern in Nachahmung verfertigten. Er wird auch in der Lage sein, die Reife und Blüte einer alten Frau und eines alten Mannes und den Liebreiz von Kindern mit keuschen Augen zu sehen. Vieles dieser Art leuchtet nicht jedem ein, sondern einzig und allein dem, der mit der Natur und ihren Werken wirklich vertraut ist.

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(1) Hippokrates, der viele Krankheiten geheilt hatte, wurde selbst krank und starb. (2) Die Chaldäer72 sagten vielen Menschen den Tod voraus, dann ereilte auch sie das Schicksal. (3) Alexander, Pompeius und Gaius Caesar, die so oft ganze Städte von Grund auf zerstört hatten und in der Schlacht viele Tausende Reiter und Fußsoldaten niedermetzeln ließen, mussten auch selbst einmal aus dem Leben scheiden.73(4) Heraklit, der so viele Betrachtungen über die Vernichtung der Welt durch Feuer angestellt hatte,74 starb, mit Kuhmist beschmiert,75 an Wassersucht. (5) Demokrit töteten die Läuse,76[27]den Sokrates andere Läuse77. (6) Was will ich damit sagen? Du hast ein Schiff bestiegen, fuhrst zur See und landetest. Jetzt steige aus! Geht’s in ein anderes Leben, so ist auch dort alles voll von Göttern. Wenn du aber in den Zustand der Empfindungslosigkeit kommst, dann werden deine Schmerzen und Freuden ein Ende haben,78 und du wirst aufhören, eingeengt einem Gefäß zu dienen, das um so viel schlechter ist als sein Besitzer.79 Denn das eine ist Geist und göttliches Wesen80, das andere aber Erde und Schmutz.

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(1) Vergeude nicht den Rest deines Lebens mit Gedanken über andere, wenn du dich dabei nicht auf ein Gemeinwohl beziehst;81 [denn sonst wirst du von einer anderen Tätigkeit abgehalten,]82 – das heißt, wenn du darüber nachdenkst, was dieser oder jener tut, warum er es tut, was er sagt, was er denkt, was er ausheckt, und über all solche Dinge, die bewirken, dass du von der Beobachtung der eigenen herrschenden Vernunft abgelenkt wirst. (2) Man muss also das Planlose in der Reihe seiner Vorstellungen meiden, ganz besonders aber das Unnütze und Bösartige. (3) Man muss sich auch daran gewöhnen, nur solche Vorstellungen zu haben, bei denen man, wenn man unverhofft gefragt würde: »Woran denkst du gerade?«, ganz offen sofort antworten könnte: »An dies oder das«, so dass sich sogleich von selbst klar zeigt, dass all dies einfach und wohlwollend ist und dass es Gedanken eines Wesens mit Gemeinsinn83 sind, das keine lust- oder genussvollen Vorstellungen kennt, auch keinen Ehrgeiz, Neid oder Argwohn und dergleichen mehr, worüber man erröten müsste, wenn man erklärte, dass man gerade daran denkt. (4) Denn fürwahr, ein solcher Mensch, der es nicht mehr aufschiebt, schon jetzt zu den Besten zu gehören, ist eine Art Priester und Diener der Götter, weil er mit dem ihm innewohnenden (göttlichen Geist) [28]Umgang pflegt, der den Menschen unbefleckt von Lüsten, unverwundbar von allem Mühsal, unberührt von jeder Überheblichkeit und unempfindlich gegenüber jeder Schlechtigkeit macht; er macht ihn zum Kämpfer im größten Wettkampf, (er macht,) dass er keiner Leidenschaft unterliegt, von Gerechtigkeit tief durchdrungen ist, mit ganzer Seele freudig alles hinnimmt, was geschieht und ihm zuteilwird, und dass er sich nicht ständig und nur, wenn ihn das Gemeinwohl ausdrücklich dazu nötigt, im Geist damit beschäftigt, was ein anderer sagt, tut oder denkt. (5) Denn er achtet nur darauf, wie er seine eigenen Dinge erledigen könnte, und denkt unablässig an das, was ihm vom Ganzen84 her vorbestimmt ist; und jenes verrichtet er gut, von diesem aber ist er überzeugt, dass es gut ist. (6) Denn das jedem Einzelnen zugeteilte Schicksal ist (in das Ganze) eingebunden und bindet (ihn seinerseits) mit ein. (7) Er denkt auch daran, dass alles Vernünftige miteinander verwandt ist und dass es der Natur des Menschen entspricht, sich um alle Menschen zu kümmern, dass man sich aber nicht an die Meinung aller Menschen halten darf, sondern nur an die Meinung derjenigen, die im Einklang mit der Natur85 leben. (8) Wie aber diejenigen, die nicht so leben, sich zu Hause und außer Haus, des Nachts und bei Tag verhalten und mit wem sie sich abgeben, daran denkt er unablässig. (9) Daher legt er auch auf das Lob solcher Menschen, die ja nicht einmal mit sich selbst zufrieden sind, keinerlei Wert.

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(1) Tue nichts gegen deinen Willen, nichts ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl, nichts ohne vorherige Prüfung, nichts, wogegen du noch innere Bedenken hast. Deine Gedanken sollen sich nicht mit gezierten Worten schmücken. Rede nicht viel86 und misch dich nicht in alles ein. (2) Weiters soll der Gott in dir Herr eines männlichen, reifen, staatsmännischen Wesens [29]sein, eines Römers und Herrschers, der sich selbst seinen Posten zugewiesen hat wie jemand, der gelassen auf das Signal zum Rückzug aus dem Leben wartet, ohne eines Eides oder irgendeines Menschen als Zeugen zu bedürfen. (3) In ihm ist Heiterkeit, er bedarf keiner Hilfe von außen noch der Ruhe, die andere gewähren. (4) Aufrecht muss er sein, nicht erst aufgerichtet.

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(1) Wenn du etwas Besseres im menschlichen Leben findest als Gerechtigkeit, Wahrheit,87