Selbstverletzendes Verhalten - Pamela Wersin - E-Book

Selbstverletzendes Verhalten E-Book

Pamela Wersin

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Beschreibung

»Ein Buch wie dieses, das gezielt Eltern, Lehrerinnen, psychosoziale Fachkräfte und andere in der Jugendarbeit Tätige anspricht, ihnen einen kurzen theoretischen Überblick und viel praktische Handlungsanleitungen bietet, ist von immenser praktischer Relevanz und wird hoffentlich eine breite Leserschaft finden.« Diplom-Psychologe Dr. Marc Schmid, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Wenn Jugendliche sich selbst verletzen, ist das Befremden und Unverständnis im Umfeld groß. Ratlosigkeit, Scham und Schuldgefühle kulminieren oft in hilflosen Verboten und stärkerer Kontrolle. Für einen hilfreichen Umgang mit diesem Phänomen ist aber gerade die Beachtung der Autonomie der Jugendlichen genauso wichtig wie Gesprächsbereitschaft und Zuhören. Dieses Buch zeigt, wann man eingreifen sollte und darf, wie man helfen kann, aber auch, wie man sich selbst schützt und abgrenzt.

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Seitenzahl: 139

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Im Gespräch bleiben

»Fragen Sie Ihr Kind, was es bewegt, wie es sich anfühlt, sich selbst zu verletzen, was danach besser ist als davor, und fragen Sie auch danach, wie Sie es unterstützen oder ihm helfen können. Tun Sie das in einer Situation, in der Sie beide Zeit und Ruhe haben. Seien Sie nicht gekränkt oder verletzt, wenn Ihr Gesprächsangebot zunächst zurückgewiesen wird. Respektieren Sie, dass auch Ihr Kind in der Lage und bereit sein muss, ein solches Gespräch zu führen.«

Pamela Wersin, Susanne Schoppmann

Selbstverletzendes Verhalten

Wie Sie Jugendlicheunterstützen können

BALANCE ratgeber

Pamela Wersin, Susanne Schoppmann

Selbstverletzendes Verhalten

Wie Sie Jugendliche unterstützen können

1. Auflage 2019, korrigierter Nachdruck 2024ISBN-Print: 978-3-86739-176-4ISBN-PDF: 978-3-86739-950-0ISBN-ePub: 978-3-86739-951-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

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www.balance-verlag.de

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2019

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Katrin Klünter, Köln

Umschlagkonzeption und Umschlaggestaltung: Michael Schmitz, Arnbruck, www.grafikschmitz.de, unter Verwendung eines Fotos von napri / photocase.de

Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Geleitwort

Annäherung an ein heikles Thema

Gefühlschaos bei Eltern

Auswirkungen auf die ganze Familie

Informationsmangel in Schulen und Jugendtreffs

Ängste und Vorurteile

Vereinfachungen und Einstellungen

Wenn Stereotype zu Ausgrenzung führen

Verinnerlichung der zugeschriebenen Merkmale

Stereotype infrage stellen und ersetzen

Was ist Selbstverletzendes Verhalten?

Ist Selbstverletzendes Verhalten eine Krankheit oder ein Symptom?

Diagnose »nichtsuizidales Selbstverletzendes Verhalten«

Suizidgedanken oder -absichten

Wie viele Jugendliche verletzen sich selbst?

Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen

Erleben von Stress

Kohärenzgefühl

Wer braucht welche Hilfe und wann?

Rituale und Körperschmuck – kulturelle Aspekte

Körpermodifikationen

Körperbezogene repetitive Verhaltensstörungen

Welche Art von Hilfe wünschen sich betroffene Jugendliche?

Reden und Zuhören

Verbindung zu anderen Erwachsenen

Formale Organisationen

Stigma reduzieren und Vertraulichkeit wahren

Familiärer Kontext

Meine eigene Rolle

Wann darf, sollte oder muss ich mich »einmischen«?

Was können Eltern und Familien tun?

Zusätzliche Aufgaben von Lehr- und Fachpersonen

Institutionelle Maßnahmen

Was können Sie selbst tun?

Nachahmungseffekte

Diskussion: Bedecken oder nicht?

Sich selbst Unterstützung suchen

Welche Hilfsangebote gibt es?

Welche Behandlungsvarianten gibt es?

Worum geht es in der Psychotherapie?

Was ist bei der Suche nach einem Therapieangebot wichtig?

Therapieformen

Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT)

Kognitive Verhaltenstherapie

Schematherapie

Mentalisierungsbasierte Therapie

Pharmakotherapie (Medikamente)

Einbezug von Bezugspersonen in die Therapie

Selbsthilfe

Notfalltelefon

(Familien-)Beratungsstellen

Kollegiale Beratung und konsiliarische Unterstützung

Beratung und Unterstützung: Adressen und Links

In der Schweiz

Für Erwachsene

Für Jugendliche

In Deutschland

Für Erwachsene

Für Jugendliche

In Österreich

Für Erwachsene

Für Jugendliche

Selbsthilfe

Projekte und Antistigma-Arbeit

Zum Nach- oder Weiterlesen

Verwendete Literatur

Geleitwort

Von Marc Schmid

Selbstverletzendes Verhalten ist ein sehr häufiges Phänomen. Jeder, der regelmäßig mit Gruppen von Jugendlichen arbeitet, kommt früher oder später mit selbstverletzenden Handlungen in Berührung. Statistisch gesehen müsste es im Schnitt in jeder Schulklasse im Jugendalter mindestens eine betroffene Schülerin geben (PLENER u. a. 2013). In der stationären Jugendhilfe leiden noch mehr Jugendliche unter dieser Symptomatik.

Selbstverletzendes Verhalten ist dennoch eines der Symptome, die im sozialen Umfeld der Betroffenen oft heftige emotionale Reaktionen auslösen. Der vermeintlich richtige oder eben falsche Umgang damit führt nicht selten zu Konflikten und Vorwürfen in Familien, in Lehrerkollegien und in Teams: »Wenn du nicht …, dann …« Manchmal braucht es einen Schuldigen, weil es kaum auszuhalten ist, dass der Mensch, für den man sich emotional engagiert, sich selbst so sehr ablehnt oder gar hasst, dass er Hand an sich legt.

Die Symptomatik fordert sowohl Laien als auch Profis heraus. Gerade Fachpersonen, die nicht häufig mit Selbstverletzendem Verhalten konfrontiert sind, verspüren vielfach einen immensen Handlungsdruck bei gleichzeitiger Selbstunwirksamkeit, da sie nicht so recht wissen, wie sie darauf reagieren sollen. Dies führt leider viel zu oft dazu, dass weggesehen und die Verantwortung für die Kontaktaufnahme mit dem Jugendlichen hin- und hergeschoben wird. So bleibt der Betroffene letztlich zu lange allein mit seiner Symptomatik. Weder ein Wegsehen noch ein Überaktionismus und Mitagieren sind hilfreich.

Die Reaktion des sozialen Umfeldes auf das Selbstverletzende Verhalten kann den weiteren Verlauf wesentlich beeinflussen: Selbstverletzendes Verhalten wird sozial sowohl negativ (mein Freund fährt nun doch nicht weg) als auch positiv (durch Aufmerksamkeit) verstärkt. Insgesamt sind die innerpsychische negative Verstärkung durch das Nachlassen von innerer Anspannung, das Wiedererlangen eines Körpergefühls sowie das Abstellen von belastenden Gedanken und Bildern die wesentlichsten Auslöser für Selbstverletzungen (RAUBER u. a. 2012a).

Es ist oft schwierig, die richtige Balance zu finden und die Symptomatik einerseits so zu beachten, dass Betroffene noch eine Verbundenheit, Warmherzigkeit und emotionales Engagement spüren, aber dass das Selbstverletzen dennoch nicht durch zu viel Aufmerksamkeit verstärkt wird. Das Vermeiden der positiven Verstärkung fällt oft schwer, denn die meisten Betroffenen sind nach dem Spannungsabbau durch die Selbstverletzung sehr zugänglich und bedürftig. Das Pendel kann aus Angst vor solchen Verstärkern aber auch zu sehr in die andere Richtung ausschlagen und es kann kalt und desinteressiert wirken, wenn man ganz ohne Erklärung nur Verbandszeug übergibt. Auch der Verweis auf soziale Verstärker kann die Betroffenen sehr kränken, da sie diese selbst nicht wahrnehmen (RAUBER u. a. 2012b).

Neben Erfahrung und der Sicherheit des Handelnden ist einfach einiges Fachwissen von entscheidender Bedeutung. Ein Buch wie dieses, das gezielt Eltern, Lehrerinnen, psychosoziale Fachkräfte und andere in der Jugendarbeit Tätige anspricht, ihnen einen kurzen theoretischen Überblick und viel praktische Handlungsanleitungen bietet, ist daher von immenser praktischer Relevanz und wird hoffentlich eine breite Leserschaft finden.

Den Autorinnen ist es gut gelungen, ein breites Feld anzusprechen, eine Sprache und einen Stil zu finden, der sowohl die Personen in der Praxis zum Lesen animiert als auch akademischen Ansprüchen vollumfänglich genügt. Sie schaffen es, umfangreiches Wissen und konkrete Take-Home-Messages für die Praxis zu vermitteln.

Dieses Buch wird indirekt vielen Betroffenen helfen, ihre Symptome zu überwinden, weil es Menschen, die ihnen nahestehen oder auf andere Weise mit ihnen zu tun haben, dabei unterstützt, mehr Selbstwirksamkeit im Umgang mit Selbstverletzendem Verhalten zu entwickeln. Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen, gratuliere den Autorinnen zu diesem Werk und bedanke mich dafür, dieses einleiten zu dürfen.

Dr. biol.-hum. Marc Schmid ist leitender Psychologe und Bereichsleiter der kinder- und jugendpsychiatrischen Forschungsabteilung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.

Annäherung an ein heikles Thema

LAURA ist auf dem Heimweg von der Schule. Heute hat wieder einmal gar nichts geklappt! Erst hat sie eine Fünf in der Mathearbeit zurückbekommen, dann hat ihre beste Freundin für den Nachmittag abgesagt. Außerdem hat sie ihr Pausenbrot vergessen und Tim, in den sie heimlich verliebt ist, hat sie heute nicht einmal angeschaut. Das mit dem Rockkonzert am Wochenende kann sie jetzt auch vergessen, wenn ihre Mutter von der Fünf in Mathe erfährt. Wenn sie daran denkt, was zu Hause los sein wird, wenn ihr Bruder am Samstag aus dem Internat zurückkehrt, wird ihr ganz schlecht. Nicht nur, dass ihr Vater ihren Bruder lieber mag, ihr Bruder ist auch noch ein absoluter Überflieger in der Schule und bringt nur Bestnoten nach Hause. Wenn doch nur niemand von der Fünf erfahren würde! Soll sie die Unterschrift ihrer Mutter fälschen? Oder lieber gar nicht erst nach Hause gehen? Während Laura sich in ihrer Gedankenspirale verliert, zieht sie wie in Trance eine Rasierklinge aus ihrem Rucksack. Sie setzt sie kurz unterhalb der Armbeuge an und zieht die Klinge fest durch die Haut. Ein Rinnsal Blut läuft ihr den Arm hinunter.

Laura schaut fasziniert auf die Blutspur und fühlt sich direkt besser. Sie atmet mehrmals tief durch. Doch schon schießt ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf: Sie hat es schon wieder getan! Musste das wirklich sein? Was, wenn ihre Mutter die Narben an ihrem Arm bemerkt? Wie soll sie ihr das erklären? Laura schämt sich fürchterlich – vor ihrer Mutter, aber noch viel mehr vor sich selbst.

ANDREA erinnert sich noch sehr gut daran, wie sie bemerkt hat, dass sich ihre Tochter Mia ritzt. Die Tochter ist inzwischen eine junge selbstständige Frau, sie verletzt sich nicht mehr selbst, und Mutter und Tochter haben eine gute Beziehung zueinander. Auch mit ihrem Bruder versteht sich Mia gut. An dem besagten Tag aber hatten die beiden sich heftig gestritten. Mia zog sich in das Bad zurück, um der schwierigen Situation zu entgehen. Etwas später kam sie mit blutenden Armen wieder – für Andrea ein fürchterlicher Anblick.

Andrea hat das Selbstverletzende Verhalten ihrer Tochter also schnell bemerkt und sich erschreckt. Sie habe sich ratlos und hilflos gefühlt. Ihre drängendste Frage sei gewesen: Warum tut Mia das? Immer wieder habe sie sich gefragt, was sie ihrer Tochter noch an Gutem mitgeben könnte. Sie hat sich stets darum bemüht, mit Mia im Gespräch zu bleiben. Im Lauf der Zeit sei es ihr gelungen, ihr zuzuhören, ohne einzugreifen. Für Andrea ist dies eine sehr wichtige Botschaft für andere betroffene Eltern: zuhören, ohne zu bewerten oder dem Kind das Selbstverletzende Verhalten zu verbieten, auch für die Geschwister da sein, den normalen Alltag aufrechterhalten, mit Freundinnen und Freunden über das Selbstverletzende Verhalten sprechen und nie die Hoffnung auf ein Ende des Selbstverletzenden Verhaltens verlieren.

SARAH ist ebenfalls eine selbstständige junge Frau, die sich während ihrer Jugend selbst verletzt hat, indem sie Zigaretten auf ihren Armen ausdrückte. Ihre Eltern hatten sich damals getrennt, sie blieb bei ihrem Vater und zog mit ihm in ein anderes Bundesland. Der Vater war beruflich häufig unterwegs. So kam es, dass Sarah auf ein Internat ging und ihren Vater nur an den Wochenenden sah. In der neuen Schule kannte sie niemanden, den anderen Dialekt verstand sie nicht so gut, sie fühlte sich fremd und einsam und begann dann, sich zu verletzen. Inzwischen hat sie viel mit ihrem Vater darüber gesprochen, wie er sich dabei gefühlt hat. Da sei wohl ebenfalls eine große Rat- und Hilflosigkeit und Unverständnis über ihr Verhalten gewesen. Sie erinnert sich, dass ihr Vater überall nach Informationen zu Selbstverletzendem Verhalten gesucht hat.

Für sich selbst und ihre eigene Entwicklung ist Sarah dem Vater dankbar, dass er sich nicht von dem Erschrecken und Befremden anderer Menschen in ihrem Umfeld anstecken ließ, obwohl die Selbstverletzungen auch auf ihn schockierend und dramatisierend gewirkt haben. Im Gegenteil: Er zeigte immer großen Respekt für die Autonomie seiner Tochter und ließ sie z. B. wählen, zu welchem Arzt sie gehen wollte. So etwas sei wichtig gewesen. Auch dass sie mitentscheiden durfte, mit wem über ihr Selbstverletzendes Verhalten gesprochen werden muss. Eine Lehrerin sprach Sarah auf ihre Verletzungen an und fragte nach. Da schämte sie sich zwar sehr, es machte ihr aber auch deutlich, dass dieses Verhalten nicht normal ist, und sie sah sich gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. Im Rückblick ist sie dafür sehr dankbar.

Selbstverletzendes Verhalten ist nicht nur für die Betroffenen, sondern für alle, die damit in Kontakt kommen, ein heikles Thema, denn es hinterlässt eindrückliche, manchmal auch traumatische Spuren. Deshalb lassen wir in unserem Buch sowohl die Jugendlichen selbst als auch Eltern und Lehrpersonen zu Wort kommen. In diesem Kapitel zeigen wir Ihnen, was die aktuelle Forschung zum Erleben von Angehörigen betroffener Kinder und Jugendlicher herausgefunden hat, bevor wir in den nächsten Kapiteln darauf eingehen, was Selbstverletzendes Verhalten überhaupt ist und wie Sie betroffene Jugendliche unterstützen können.

Gefühlschaos bei Eltern

Das Selbstverletzende Verhalten der eigenen Kinder zu bemerken ist gar nicht so selbstverständlich. In einer groß angelegten Untersuchung in Belgien (BAETENS u. a. 2015) wurden 1.400 Eltern befragt: Nur etwa ein Drittel der Eltern wusste vom Selbstverletzenden Verhalten ihrer Kinder. Andrea und der Vater von Sarah haben sich beide nicht vom Befremden ihres Umfeldes anstecken lassen, sondern die Autonomie ihrer Töchter weiterhin respektiert. Allerdings waren beide auch erschrocken, waren rat- und hilflos und hätten viel darum gegeben, zu verstehen, warum die eigene Tochter das tut. Und damit sind sie nicht allein! In Australien haben drei Wissenschaftlerinnen (MCDONALD u. a. 2007) Interviews mit Müttern geführt. Diese waren durch die Entdeckung des Selbstverletzenden Verhaltens ihrer eigenen Kinder stark belastet. Sie hatten Schuldgefühle und schämten sich. Die Schuldgefühle hatten damit zu tun, dass sie sich für das Leid ihrer Kinder verantwortlich fühlten, sie stellten die Beziehung zu ihren Kindern infrage und hatten den Eindruck, als Eltern alles falsch gemacht zu haben. Eine der Mütter drückte das folgendermaßen aus:

»Es war wie, was habe ich getan? […] Du neigst dazu, dich selbst anzuklagen. Du hast sie nicht genug beobachtet, ich habe mich nicht genug um sie gekümmert, ich habe ihr nicht genug Liebe gegeben, ich habe sie nicht genug gelobt. […] Wie konnte es nur so schlimm werden, ohne dass ich es bemerkte? Ich fühlte mich wie eine schlechte Mutter.« (MCDONALD u. a. 2007, S. 303, Übersetzung S. Sch.)

Zusätzlich hatten einige der Mütter den Eindruck, Ereignisse aus ihrem eigenen Leben hätten dazu geführt, dass ihre Kinder so unglücklich waren. Zu diesen Ereignissen zählte besonders der Verlust von Beziehungen zu nahestehenden Menschen. Hierbei konnte es sich um Großeltern handeln, mit denen sich Eltern überworfen hatten. Eine Mutter hatte eine Liebesbeziehung beendet und dachte nun, dass der Verlust des Kontakts zu ihrem früheren Partner zum emotionalen Schmerz der Tochter beigetragen hätte. All diese Eltern fühlten sich durchaus verantwortlich für das Selbstverletzende Verhalten ihrer Kinder.

Eine andere Mutter beschrieb, dass ihre Tochter durch belastende Ereignisse in der Familie angegriffen war: So waren Familienmitglieder ernsthaft erkrankt und verstorben, zeitgleich waren die beiden Brüder in einen schlimmen Autounfall verwickelt. Sie selbst war sehr damit beschäftigt gewesen, diese Familienkrise zu managen, und habe ihrer Tochter nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet. Weil die emotionalen Ressourcen der Familie so dezimiert gewesen seien, habe ihre Tochter das Gefühl gehabt, dass ihre Probleme nicht wichtig seien, und sich bedeutungslos gefühlt.

Gleichzeitig stellten sich die befragten Mütter auch vor, was andere Menschen von ihnen denken würden, wenn die Narben auf den Armen der Töchter beim gemeinsamen Kleidereinkauf sichtbar seien. Sie fürchteten sich davor, von anderen be- oder sogar verurteilt zu werden. Es ging ihnen aber nicht nur darum, sich selbst vor den Urteilen anderer zu schützen, sondern auch die betroffenen Kinder und möglicherweise weitere Angehörige. So hat sich eine Mutter mit ihrem Partner sehr gut abgesprochen, wem sie wie viel über das Selbstverletzende Verhalten ihres Kindes mitteilte, auch innerhalb der erweiterten Familie. Sie wollte weder, dass entfernte Verwandte ihre Tochter für eine »Psycho« halten, noch wollte sie, dass die Großeltern etwas über das Selbstverletzende Verhalten ihrer Tochter erfuhren, weil sie befürchtete, dass dies für sie zu belastend sei.

Dieses Überwältigtsein von den Problemen und den damit verbundenen Gefühlen im Zusammenhang mit dem Selbstverletzenden Verhalten eines Kindes kann dazu führen, dass die betroffenen Eltern das jugendliche Kind nicht altersgemäß unabhängiger werden lassen, sondern es mehr kontrollieren und beobachten. Eine der befragten Mütter sagte dazu Folgendes:

»Das bedeutet, dass du andauernd wachsam bist, sie auf Anzeichen hin beobachtest […] Das ist schrecklich. Du fühlst dich, als würdest du die ganze Zeit herumschnüffeln.« (MCDONALD u. a. 2007, S. 305, Übersetzung S. Sch.)

Eltern fühlen sich aufgrund ihrer Sorge um ihr Kind dazu getrieben, entgegen ihren eigenen Wertvorstellungen zu handeln: Anstatt ihrem Kind zu vertrauen und seine Privatsphäre zu respektieren, werden sie kontrollierender, z. B. indem sie in Tagebüchern lesen oder Gespräche mit den Freunden belauschen. Anschließend fühlen sich die Eltern dadurch noch schlechter.

Auswirkungen auf die ganze Familie

Auch in Großbritannien haben Forschende (FERREY u. a. 2016) den Einfluss von Selbstverletzendem Verhalten junger Leute auf Eltern und Familie untersucht. Die Ergebnisse dieser Untersuchung bestätigen in weiten Teilen die Erkenntnisse der australischen Forschenden. Allerdings standen in dieser Untersuchung nicht nur die Eltern, sondern die gesamte Familie im Fokus, sodass sich noch weitere Themen ergaben. So zeigte sich, dass das Selbstverletzende Verhalten der Kinder auch Einfluss auf die Paarbeziehung der Eltern hatte. Diese wurde teilweise einer Belastungsprobe unterzogen: So hielten einige der Befragten Informationen zum Selbstverletzenden Verhalten ihres Kindes vor der Partnerin oder dem Partner geheim, um die Paarbeziehung nicht noch mehr zu belasten. Andere Elternpaare fuhren getrennt in die Ferien, damit ein Elternteil bei dem betroffenen Jugendlichen bleiben und der andere Elternteil sich erholen konnte.

Auf Geschwister hatte das Selbstverletzende Verhalten einer Schwester oder eines Bruders ebenfalls Einfluss. Die Störung oder Unterbrechung des alltäglichen Familienlebens, die das Selbstverletzende Verhalten auslöst, war sehr schwierig. Einige Geschwister reagierten verärgert oder wütend und vergriffen sich im Ton gegenüber der Betroffenen. Andere Geschwister waren sehr unterstützend, z. B. indem sie lange Wege in Kauf nahmen, um an einer Familientherapie teilzunehmen, den Betroffenen sehr einfühlsam begegneten oder aber indem sie sich verhielten wie immer und auch mit den Betroffenen zankten, um damit zu signalisieren, dass alles ganz normal sei. So erzählten Eltern von ihrem Sohn:

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