Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen - Selma Lagerlöf - E-Book

Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen E-Book

Selma Lagerlöf

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Beschreibung

So herrlich verspielt, so wunderbar einfallsreich kann ein Schulbuch sein! Als die spätere Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf 1901 den Auftrag erhielt, ein Lesebuch für den Unterricht an schwedischen Schulen zu schreiben, erfand sie kurzerhand die weltberühmte Geschichte des aufmüpfigfrechen Nils Holgersson: Zur Strafe für einen bösen Streich in ein Wichtelmännchen verwandelt, schließt er sich auf dem Rücken des zahmen Gänserichs Martin einer Gruppe von Wildgänsen an, und nach zahlreichen Abenteuern winkt ihm das Glück wahrer Freundschaft. Lagerlöfs Kinderbuchklassiker ist bis heute ein bezauberndes Lesevergnügen für Jung und Alt.

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Seitenzahl: 1028

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Selma Lagerlöf

NILS HOLGERSSONS WUNDERBAREREISE MIT DEN WILDGÄNSEN

Aus dem Schwedischen von Mathilde Mann

Titel der schwedischen Originalausgabe:Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige (Stockholm 1906/07).Die Übersetzung von Mathilde Mann erschien zuerst 1919 beiHesse & Becker in Leipzig.Textgrundlage dieser Ausgabe:Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgänsen.Zwei Bände. Leipzig: Hesse & Becker Verlag o. J.Orthographie und Interpunktion wurden der neuen deutschenRechtschreibung angepasst. Personen- und Ortsnamen wurden derheutigen Schreibweise angeglichen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sindim Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Cana, »Nils flying with the geese« (1958),Buchillustration aus The Wonderful Adventures of Nils von Selma Lagerlöf,Private Collection / Archives Charmet / bridgemanart.comUmschlaggestaltung: www.katjaholst.deISBN 978-3-86647-615-8E-Book ISBN [email protected]

INHALT

1.Der Junge

2.Akka von Kebnekajse

3.Wildvogelleben

4.Glimmingehus

5.Der große Kranichtanz auf dem Kullaberg

6.Im Regenwetter

7.Die Treppe mit den drei Stufen

8.Am Rönneberger Bach

9.Karlskrona

10.Die Reise nach Öland

11.Die Südspitze von Öland

12.Die Kleine Karlsinsel

13.Zwei Städte

14.Die Sage von Småland

15.Die Krähen

16.Die alte Bauersfrau

17.Vom Taberg bis Husquarna

18.Der große Vogelsee

19.Die Wahrsagung

20.Die Bahn aus Fries

21.Die Geschichte von Karr und Graufell

22.Der wunderschöne Garten

23.In Närke

24.Der Eisbruch

25.Die Erbteilung

26.Im Bergwerksdistrikt

27.Das Eisenwerk

28.Der Dalälv

29.Das Bruderteil

30.Der Walpurgisabend

31.Bei den Kirchen

32.Die Überschwemmung

33.Die Sage von Uppland

34.In Upsala

35.Daunenfein

36.Stockholm

37.Der Adler Gorgo

38.Über Gästrikland dahin

39.Ein Tag in Hälsingland

40.In Medelpad

41.Ein Morgen in Ångermanland

42.Västerbotten und Lappland

43.Das Gänsemädchen Åsa und der kleine Mats

44.Bei den Lappen

45.Gen Süden! Gen Süden!

46.Die Sage vom Härjedalen

47.Värmland und Dalsland

48.Ein kleiner Herrenhof

49.Das Gold auf der Schäre

50.Silber im Meer

51.Ein großer Herrenhof

52.Die Reise nach Vämmenhög

53.Bei Holger Nilssons

54.Der Abschied von den Wildgänsen

1. DER JUNGE

Der Kobold

Sonntag, den 20. März

Es war einmal ein Junge. Er mochte wohl vierzehn Jahre alt sein, war lang aufgeschossen und hatte flachsgelbes Haar. Er war zu nichts recht zu gebrauchen. Am liebsten mochte er schlafen und essen, sein größtes Vergnügen aber war, dumme Streiche zu machen.

Es war an einem Sonntagmorgen. Die Eltern des Jungen waren im Begriff, sich zum Kirchgang anzukleiden. Der Junge selbst saß in Hemdärmeln auf dem Tisch und dachte, wie schön es sei, dass Vater und Mutter beide fortgingen, sodass er ein paar Stunden lang sein eigener Herr sein konnte. »Jetzt kann ich doch Vaters Flinte herunternehmen und ein wenig damit schießen, ohne dass sich gleich jemand dahineinmischt«, sagte er zu sich selbst.

Aber es war fast, als habe der Vater die Gedanken des Knaben erraten, denn gerade als er in der Tür stand und gehen wollte, blieb er stehen und wandte sich nach ihm um.

»Wenn du nicht mit Mutter und mir in die Kirche willst«, sagte er, »so finde ich, du solltest auf alle Fälle eine Predigt hier zu Hause lesen. Willst du mir das versprechen?«

»Ja«, sagte der Junge, »das kann ich gerne tun.« Und er dachte natürlich, dass er nicht mehr lesen würde, als er Lust hatte.

Der Junge meinte, er habe seine Mutter sich noch nie so schnell bewegen sehen. In einem Nu war sie bei dem Wandgesims, nahm Luthers Postille herunter und legte sie auf den Tisch am Fenster, die Predigt des Tages aufgeschlagen. Sie schlug auch das Evangelienbuch auf und legte es neben die Postille. Schließlich zog sie den großen Lehnstuhl an den Tisch heran, der im vorigen Jahr auf der Auktion im Vämmenhöger Pfarrhaus gekauft war, und in dem sonst niemand als der Vater sitzen durfte.

Der Junge saß da und dachte bei sich, die Mutter mache sich doch gar zu viele Mühe mit den Vorbereitungen, denn er hatte gar nicht die Absicht, mehr als eine Seite hier und da zu lesen. Aber nun war es zum zweiten Mal gerade so, als wenn der Vater ganz durch ihn hindurchsehen könne, denn er sagte streng: »Sieh nur zu, dass du ordentlich liest! Denn wenn wir nach Hause kommen, überhöre ich dir jede Seite, und hast du eine Seite übersprungen, so kannst du mir glauben, ich werd dich lehren.«

»Die Predigt ist vierzehn und eine halbe Seite lang«, sagte die Mutter, wie um das Maß voll zu machen. »Du musst dich wohl gleich hinsetzen und lesen, wenn du hindurchkommen willst.«

Und dann gingen sie endlich, und als der Junge in der Tür stand und ihnen nachsah, fand er, dass sie ihn in einer Falle gefangen hatten. »Die gehen nun dahin und sind stolz darauf, dass sie es so gut gemacht haben und ich hier nun, während der ganzen Zeit, dass sie fort sind, über der Predigt brüten muss«, dachte er bei sich.

Aber sein Vater und seine Mutter waren weit davon entfernt, stolz über irgendetwas zu sein; sie waren im Gegenteil ziemlich betrübt. Sie waren arme Häuslerleute und hatten nicht viel mehr Boden als einen Gartenfleck. In der ersten Zeit, als sie das Haus hatten, konnten sie nur ein Schwein und ein paar Hühner halten, aber sie waren selten strebsame und tüchtige Leute, und jetzt hatten sie sowohl Kühe als auch Gänse. Es war vorzüglich vorwärts gegangen mit ihnen, und hätten sie nicht an den Sohn denken müssen, so wären sie an diesem schönen Sonntagmorgen froh und vergnügt zur Kirche gegangen. Der Vater klagte darüber, dass er faul und nachlässig sei, in der Schule hatte er nichts getan, und er war so untüchtig, dass er ihn nur mit Not und Mühe die Gänse hüten lassen konnte. Und die Mutter bestritt keineswegs, dass das wahr sei, aber sie war am meisten betrübt darüber, dass er ein so wilder und arger Bube war, hart gegen Tiere und boshaft gegen Menschen. »Wenn doch Gott ihn beugen und ihm einen andern Sinn geben wollte«, sagte die Mutter. »Sonst wird er ein Unglück für sich selbst und für uns.«

Der Junge stand lange da und überlegte, ob er die Predigt lesen solle oder nicht. Aber dann wurde er mit sich selbst einig, dass es diesmal am Besten sein würde, wenn er gehorchte. Er setzte sich in den Pfarrhauslehnstuhl und fing an zu lesen. Als er aber eine Weile die Wörter halblaut hergeplappert hatte, war er nahe daran, über seinem eigenen Gemurmel einzuschlafen und er merkte, dass er anfing einzunicken.

Draußen war das schönste Frühlingswetter. Man war zwar nicht weiter im Jahr als am zwanzigsten März, aber der Junge wohnte im West-Vämmenhöger Kirchspiel, weit unten im südlichen Schonen, und da war der Frühling schon im vollen Gange. Es war noch nicht grün, aber es war frisch und im Begriff, Knospen zu treiben. Da war Wasser in allen Gräben, und der Huflattich stand an den Grabenrändern in Blüte. All das kleine Krautwerk, das auf den Steinwällen wuchs, war braun und blank. Die Buchenwälder in der Ferne standen gleichsam da und schwollen und wurden mit jedem Augenblick dichter. Der Himmel war hoch und hellblau. Die Haustür stand angelehnt, sodass man in der Stube hören konnte, wie die Lerche sang. Die Hühner und Gänse gingen draußen im Hof, und die Kühe, die die Frühlingsluft bis ganz in ihre Stände hinein spürten, gaben von Zeit zu Zeit ein Brüllen von sich.

Der Junge las und nickte und kämpfte mit dem Schlaf. »Nein, ich will nicht einschlafen«, dachte er, »denn dann komme ich heute Vormittag nicht durch dies hier hindurch.«

Aber wie es nun kommen mochte, er schlief dennoch ein.

Er wusste nicht, ob er eine kurze oder eine lange Zeit geschlafen hatte, aber er erwachte davon, dass er ein schwaches Geräusch hinter sich hörte.

Auf der Fensterbank, gerade vor dem Jungen, stand ein kleiner Spiegel, und darin konnte man beinahe die ganze Stube sehen. In demselben Augenblick, als nun der Junge den Kopf erhob, fiel sein Blick in den Spiegel, und da sah er, dass der Deckel von der Mutter Truhe geöffnet war.

Die Mutter hatte nämlich eine große, schwere, eisenbeschlagene eichene Truhe, die niemand außer ihr selber öffnen durfte. Dort bewahrte sie all das auf, was sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und womit sie am allereigensten war. Da lagen ein paar alte Bauerntrachten aus rotem Tuch mit kurzem Leibchen und Faltenrock und perlengesticktem Brusttuch. Da waren gesteifte weiße Kopftücher und schwere silberne Spangen und silberne Ketten. Heutzutage wollten die Leute nicht mit dergleichen Sachen gehen, und die Mutter hatte oft daran gedacht, sich von dem alten Kram zu trennen, aber dann hatte sie es doch nicht übers Herz bringen können.

Nun sah der Junge ganz deutlich im Spiegel, dass der Deckel der Truhe offenstand. Er konnte nicht begreifen, wie das zugegangen war, denn die Mutter hatte die Truhe geschlossen, ehe sie fortging. Es sah der Mutter wahrlich nicht ähnlich, sie offenstehen zu lassen, wenn er allein zu Hause war.

Ihm wurde ganz unheimlich zumute. Er war bange, dass sich ein Dieb ins Haus geschlichen hatte. Er wagte nicht, sich zu rühren, sondern saß ganz still da und starrte in den Spiegel hinein.

Während er so dasaß und wartete, dass sich der Dieb zeigen würde, grübelte er darüber nach, was für ein schwarzer Schatten das wohl sein könne, der über den Rand der Truhe fiel. Er sah und sah und wollte seinen eigenen Augen nicht trauen. Aber das, was zu Anfang wie ein Schatten aussah, wurde immer deutlicher und er entdeckte bald, dass es etwas Wirkliches war. Es war weder mehr noch weniger als ein Kobold, der rittlings auf dem Rand der Truhe saß.

Der Junge hatte freilich von Kobolden reden hören, aber er hatte sich nie gedacht, dass sie so klein seien. Der, der da auf der Truhe saß, war nicht höher als eine Handbreit. Sein Gesicht war alt und runzelig und bartlos, und er hatte einen langen schwarzen Rock und Kniehosen an und einen breitkrempigen schwarzen Hut auf dem Kopf. Er war sehr fein und zierlich, mit weißen Spitzen am Hals und am Handgelenk, Spangen an den Schuhen und Strumpfbändern mit Rosetten. Er hatte ein gesticktes Brusttuch aus der Truhe genommen und saß nun da und betrachtete die altmodische Arbeit mit so großer Andacht, dass er das Erwachen des Jungen nicht bemerkt hatte.

Der Junge war sehr erstaunt, den Kobold zu sehen, aber bange wurde er eigentlich nicht. Man konnte nicht bange vor einem werden, der so klein war. Und da nun der Kobold so von dem in Anspruch genommen war, was er vorhatte, dass er weder sah noch hörte, so dachte der Junge, es würde ein Spaß sein, ihm einen Streich zu spielen, ihn in die Kiste hinunterzustoßen und den Deckel zuzuschlagen oder etwas Ähnliches.

Aber der Junge war doch nicht so mutig, dass er den Kobold mit den Händen zu berühren wagte, und er sah sich deswegen in der Stube nach etwas um, womit er ihn hinunterstoßen könne.

Seine Augen wanderten von der Bettbank nach dem Klapptisch und von dem Klapptisch nach dem Feuerherd. Er sah nach den Kochtöpfen und dem Kaffeekessel, die auf einem Gesims neben dem Feuerherd standen, nach dem Wassereimer an der Tür hinüber und nach den Kellen und Messern und Gabeln und Schüsseln und Tellern, die er durch die halbgeöffnete Schranktür sehen konnte. Er guckte zu des Vaters Flinte hinauf, die an der Wand neben den Bildern der dänischen Königsfamilie hing, und zu den Pelargonien und Fuchsien hinüber, die im Fenster blühten. Schließlich fiel sein Blick auf einen alten Fliegenfänger, der im Fensterrahmen hing.

Kaum hatte er den Fliegenfänger erblickt, als er ihn ergriff und hinlief und ihn am Rand der Truhe entlangschwenkte. Und er war selbst erstaunt über sein Glück. Er begriff kaum, wie es zugegangen war, aber er hatte den Kobold wirklich gefangen. Der Ärmste lag auf dem Grund des tiefen Fliegenfängers, den Kopf nach unten und konnte nicht in die Höhe kommen.

Im ersten Augenblick wusste der Junge gar nicht, was er mit seinem Fang machen sollte. Er sorgte nur dafür, den Fliegenfänger hin und her zu schwingen, damit der Kobold keine Gelegenheit fand, hinaufzuklettern.

Der Kobold begann zu sprechen und bat so flehentlich in Freiheit gesetzt zu werden. Er sagte, er habe ihnen seit vielen Jahren Gutes getan und verdiene eine bessere Behandlung. Wenn der Junge ihn nun freiließ, wollte er ihm einen alten Speziestaler, einen silbernen Löffel und ein Geldstück schenken, das so groß sei wie der Deckel von seines Vaters silberner Uhr.

Der Junge fand ja gerade nicht, dass dies ein großes Anerbieten war, aber seit er den Kobold in seiner Macht hatte, war er bange vor ihm geworden. Er merkte, dass er sich auf etwas eingelassen hatte, was fremd und unheimlich war und daher nicht zu seiner Welt gehörte, und er freute sich nur, ihn loszuwerden.

Deswegen schlug er sofort ein und hielt den Fliegenfänger still, damit der Kobold herauskommen konnte. Aber als der Kobold beinahe oben war, fiel dem Jungen ein, dass er sich größere Reichtümer und alle möglichen Herrlichkeiten hätte ausbedingen sollen. Zum mindesten hätte er die Bedingung stellen sollen, dass ihm der Kobold die Predigt in den Kopf hineingehext hätte. »Wie dumm war ich, dass ich ihn losließ«, dachte er und fing an, den Fliegenfänger zu schütteln, damit der Kobold wieder hinunterfallen sollte.

Aber im selben Augenblick, als der Junge das tat, bekam er eine so gewaltige Ohrfeige, dass er glaubte, sein Kopf müsste zerspringen. Er flog erst nach der einen Wand hinüber und dann nach der andern, schließlich fiel er auf dem Fußboden um, und dort blieb er besinnungslos liegen.

Als er wieder erwachte, war er allein in der Stube. Von dem Kobold war keine Spur zu sehen. Der Deckel der Truhe war geschlossen, und der Fliegenfänger hing an seinem gewohnten Platz am Fenster. Hätte er nicht gefühlt, wie seine rechte Wange infolge der Ohrfeige brannte, so hätte er versucht sein können zu glauben, dass das Ganze ein Traum gewesen. »Aber Vater und Mutter werden doch behaupten, dass es nichts weiter gewesen ist«, dachte er. »Die ziehen aus Rücksicht auf den Kobold gewiss nichts ab. Es wird wohl am Besten sein, wenn ich mich wieder hinsetze und lese.«

Aber als er an den Tisch herantrat, entdeckte er etwas Wunderliches. Es war doch unmöglich, dass die Stube größer geworden war. Woher konnte es denn aber nur kommen, dass er viel mehr Schritte machen musste als sonst, um an den Tisch zu gelangen? Und was war denn in den Stuhl gefahren? Er sah nicht aus, als wenn er größer wäre als früher, aber er musste erst auf die Sprosse zwischen den Stuhlbeinen steigen und dann klettern, um auf den Sitz zu gelangen. Und ebenso war es mit dem Tisch. Er konnte nicht über die Tischplatte sehen, ohne auf die Stuhllehne zu klettern.

»Was in aller Welt ist das nur?«, sagte der Junge. »Der Kobold wird doch nicht den Lehnstuhl und den Tisch und auch das ganze Haus verhext haben!«

Die Postille lag auf dem Tisch, und sie sah so aus wie früher, aber auch damit musste etwas nicht in der Ordnung sein, denn er konnte nicht dazu kommen, ein Wort zu lesen, ohne dass er geradezu mitten auf dem Buch stand.

Er las einige Zeilen, aber dann sah er zufällig auf. Dabei fiel sein Auge in den Spiegel, und da rief er plötzlich ganz laut: »Aber da ist ja noch einer!«

Denn im Spiegel sah er ganz deutlich einen winzig kleinen Burschen in Zipfelmütze und Lederhose. »Der ist ja genauso gekleidet wie ich«, sagte der Junge und schlug die Hände vor Erstaunen zusammen. Aber da sah er, dass der kleine Bursche im Spiegel dasselbe tat.

Da zupfte er sich selber im Haar und kniff sich in den Arm und drehte sich rund herum, und augenblicklich machte der im Spiegel es ihm nach.

Der Junge lief ein paarmal rund um den Spiegel herum, um zu sehen, ob sich ein Männlein dahinter versteckt hielt. Aber da war keins, und da begann er vor Angst zu zittern. Denn nun begriff er, dass der Kobold ihn verhext hatte, und dass der kleine Bursche, dessen Bild er im Spiegel sah, er selber war.

Die wilden Gänse

Der Junge konnte sich nun gar nicht bequemen, zu glauben, dass er in einen Kobold verwandelt war. »Es ist wohl nichts weiter als Traum und Einbildung«, dachte er. »Wenn ich nur ein wenig warte, werde ich wohl wieder ein Mensch.«

Er stellte sich vor den Spiegel und schloss die Augen. Er öffnete sie erst wieder, nachdem ein paar Minuten vergangen waren, und erwartete dann, dass es vorübergegangen sei. Aber das war es nicht; er war und blieb gleich klein. Sonst glich er sich selbst, er war ganz so wie früher. Das flachsgelbe Haar und die Sommersprossen über der Nase und die Flicken an der Hose und die Stopfstelle an dem Strumpf, das war alles genau so, wie es zu sein pflegte, nur dass alles kleiner geworden war.

Nein, es konnte nichts nützen, stillzustehen und zu warten, das merkte er wohl. Er musste etwas anderes versuchen. Und er fand, das Klügste, was er tun konnte, war, dass er versuchte, den Kobold zu finden und Frieden mit ihm zu schließen.

Er sprang an die Erde herab und machte sich daran, zu suchen. Er guckte hinter Stühle und Schränke, und unter die Bettbank und hinter den Herd. Er kroch sogar in ein paar Mauselöcher hinein, aber es war ihm nicht möglich, den Kobold zu finden.

Die ganze Zeit, während er suchte, weinte er und betete und gelobte alle möglichen Dinge. Er wollte nie wieder jemand das Wort brechen, er wollte nie wieder boshaft sein, er wollte nie wieder bei der Predigt einschlafen. Wenn er nur wieder ein Mensch werden könne, dann wollte er auch tüchtig sein und ein guter und gehorsamer Junge. Aber was er auch versprach, es half nicht im Geringsten. Plötzlich fiel ihm ein, dass er die Mutter hatte sagen hören, die Kobolde hielten sich mit Vorliebe im Kuhstall auf, und er beschloss, gleich da hinauszugehen und zu sehen, ob er den Kobold nicht finden könne. Zum Glück stand die Tür nur angelehnt, denn er hätte das Schloss nicht erreichen und sie öffnen können, aber nun gelangte er ohne Schwierigkeit hindurch.

Als er auf den Flur hinauskam, sah er sich nach seinen Holzschuhen um, denn drinnen in der Stube ging er natürlich auf Socken. Er überlegte gerade, was er mit den großen, klotzigen Holzschuhen anfangen sollte, aber im selben Augenblick sah er ein Paar kleine Schuhe auf der Türschwelle stehen. Als er sah, dass der Kobold auch die Holzschuhe verwandelt hatte, wurde ihm noch beklommener zumute. Es sah ja so aus, als wenn dies Elend lange währen sollte.

Auf der alten Eichenplanke, die vor der Haustür lag, hüpfte ein Spatz. Kaum hatte der den Jungen erblickt, als er »Tit, tit! Tit, tit!« rief. »Nein, seht doch nur den Gänsejungen Nils! Seht den Däumling! Seht den Däumling Nils Holgersson!«

Sogleich wandten sowohl die Gänse als auch die Hühner die Köpfe herum und es entstand ein schreckliches Gegacker. »Kickerikih!«, krähte der Hahn, »das ist gut genug für ihn; Kickerikih, er hat mich an meinem Kamm gezupft.« – »Gut, gut, gut, gut, das ist gut genug für ihn!«, riefen die Hühner, und so blieben sie dabei bis ins Unendliche. Die Gänse flogen in einem dichten Haufen zusammen, steckten die Köpfe zusammen und fragten: »Wer kann das doch nur getan haben? Wer kann das doch nur getan haben?«

Aber das Sonderbarste bei dem Ganzen war, dass der Junge verstand, was sie sagten. Er war so erstaunt, dass er still auf der Treppenstufe stehen blieb und lauschte. »Das muss daher kommen, weil ich in einen Kobold verwandelt bin«, sagte er. »Darum kann ich die Sprache der Vögel verstehen.«

Er fand, es war unleidlich, dass die Vögel nicht aufhören wollten zu sagen, dass es gut genug für ihn sei. Er warf einen Stein nach ihnen und rief: »So schweigt doch still, ihr Lumpengesindel!«

Aber er hatte vergessen, dass er nicht so groß war, dass die Hühner bange vor ihm zu sein brauchten. Die ganze Hühnerschar fuhr auf ihn los und stellte sich rund um ihn herum auf und schrie: »Gut, gut, gut, das ist gut genug für dich!«

Der Junge versuchte zu entkommen, aber die Hühner liefen ihm nach und schrien, sodass die Ohren ihm beinahe abgefallen wären. Er wäre ihnen wohl nie entronnen, wenn nicht die Hauskatze des Weges gekommen wäre. Sobald die Hühner die Katze sahen, schwiegen sie still und taten so, als dächten sie an nichts weiter, als nach Würmern in der Erde zu scharren.

Der Junge lief schnell zu der Katze hin. »Liebe kleine Miez«, sagte er, »du kennst ja alle Winkel und Schlupflöcher hier auf dem Hof? Willst du mir nicht erzählen, wo ich den Kobold finden kann?«

Die Katze antwortete nicht sogleich. Sie setzte sich hin, legte den Schwanz hübsch in einen Kranz vor ihre Pfoten und starrte den Jungen an. Es war eine große schwarze Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust. Ihr Haar war glatt und glänzend im Sonnenschein. Die Krallen hatte sie eingezogen, und die Augen waren ganz grau bis auf einen kleinen schmalen Spalt in der Mitte. Die Katze sah aus wie die personifizierte Frömmigkeit.

»Ich weiß recht gut, wo der Kobold wohnt«, sagte sie mit sanfter Stimme, »aber darum ist es nicht gesagt, dass ich es dir erzählen will.«

»Liebe Miez, du musst mir wirklich helfen«, sagte der Junge. »Siehst du denn nicht, dass er mich verhext hat?«

Die Katze öffnete die Augen ein wenig weiter, sodass die grüne Bosheit herauszulugen begann. Sie spann und schnurrte vor Wohlbehagen, ehe sie antwortete: »Soll ich dir vielleicht helfen, weil du mich so oft am Schwanz gezogen hast«, sagte sie schließlich.

Da wurde der Junge wütend und vergaß ganz, wie klein und machtlos er war. »Ich kann dich noch einmal am Schwanz ziehen!«, sagte er und fuhr auf die Katze los.

Im selben Augenblick war die Katze so verändert, dass der Junge kaum glauben konnte, es sei dasselbe Tier. Jedes Haar auf ihrem Leibe sträubte sich. Der Rücken krümmte sich, die Beine streckten sich, die Krallen kratzten in der Erde, der Schwanz wurde kurz und dick, die Ohren legten sich zurück, der Mund fauchte, die Augen standen weit offen und funkelten wie glühende Kohlen.

Der Junge wollte sich nicht von einer Katze bange machen lassen, sondern ging noch einen Schritt vor. Aber da fuhr die Katze mit einem Sprung gerade auf den Jungen los, warf ihn um und stellte sich über ihn, die Vorderpfoten auf seiner Brust und den Rachen über seiner Kehle.

Der Junge fühlte, dass die Krallen ihm durch die Weste und das Hemd in die Haut drangen, während die scharfen Eckzähne seine Kehle kitzelten. Er schrie aus Leibeskräften um Hilfe.

Aber es kam niemand, und er glaubte bestimmt, dass seine letzte Stunde geschlagen habe. Da merkte er, dass die Katze die Krallen einzog und seine Kehle freigab.

»So«, sagte sie, »jetzt mag es genug sein. Diesmal will ich dich um meiner Hausmutter willen loslassen. Ich wollte nur, dass du wissen solltest, wer von uns beiden jetzt der Stärkere ist.«

Damit ging die Katze ihrer Wege und sah ebenso glatt und fromm aus wie vorher, als sie kam. Der Junge war so verlegen, dass er kein Wort sagte, sondern sich nur beeilte, in den Kuhstall hineinzukommen, um nach dem Kobold zu suchen.

Da waren nicht mehr als drei Kühe. Aber als der Knabe in den Stall hineinkam, entstand ein Brüllen und Lärmen, sodass man gern hätte glauben können, da wären wenigstens dreißig.

Muh muh muh!«, brüllte Mairose. »Es ist nur gut, dass es nun Gerechtigkeit in der Welt gibt!« – »Muh muh muh!«, stimmten sie alle drei ein. Er konnte nicht hören, was sie sagten, so riefen sie durcheinander.

Der Junge wollte nach dem Kobold fragen, aber er konnte sich kein Gehör verschaffen, weil die Kühe so loslegten. Sie benahmen sich so, wie sie zu tun pflegten, wenn er einen fremden Hund zu ihnen einließ. Sie schlugen mit den Hinterbeinen aus, rissen und zerrten an ihren Halsketten, drehten die Köpfe nach außen und stießen mit den Hörnern nach ihm.

»Komm du bloß heran!«, sagte Mairose, »dann will ich dir einen Stoß versetzen, den du so bald nicht wieder vergisst!«

»Komm hierher«, sagte Goldlilie, »dann sollst du die Erlaubnis haben, auf meinen Hörnern zu tanzen!«

»Komm nur her, dann sollst du fühlen, wie es schmeckte, wenn du mit deinen Holzschuhen nach mir warfst, wie du es diesen Sommer so oft getan hast!«, brüllte Stern.

»Komm nur her, dann will ich dir die Bremse heimzahlen, die du mir ins Ohr gesetzt hast«, schrie Goldlilie.

Mairose war die Älteste und Klügste von ihnen, und sie war die Allerzornigste. »Komm nur her«, sagte sie, »dann will ich dir alle die Male heimzahlen, wo du deiner Mutter den Milchhocker weggezogen hast, und alle die Male, wo du ihr ein Bein gestellt hast, wenn sie mit dem Milcheimer geschleppt kam, und alle Tränen, die sie hier um dich vergossen hat.«

Der Junge wollte ihnen sagen, er bereue, dass er schlecht gegen sie gewesen war und dass er so etwas nie wieder tun wolle, wenn sie ihm nur sagen wollten, wo der Kobold sei. Aber die Kühe hörten nicht nach ihm hin. Sie wurden so erregt, dass er bange wurde, eine von ihnen könne sich losreißen, und er hielt es für das Beste, sich aus dem Kuhstall herauszuschleichen.

Als er wieder draußen war, befiel ihn eine große Verzagtheit. Er sah ein, dass niemand auf dem Hof ihm helfen wollte, den Kobold zu finden. Und es würde wohl auch nicht viel helfen, wenn er ihn fand.

Er kroch auf den breiten Steinwall hinauf, der das Grundstück umgab und der mit Dornen und Brombeerranken bewachsen war. Da setzte er sich hin, um darüber nachzudenken, wie es werden sollte, wenn er nie wieder ein Mensch würde. Wenn nun der Vater und die Mutter aus der Kirche nach Hause kämen, würde große Verwunderung herrschen. Ja, im ganzen Land würde man sich verwundern, und aus Ost-Vämmenhög und aus Torp und aus Skurup würden Leute kommen; aus der ganzen Vämmenhöger Heide würde man kommen, um ihn zu sehen. Und vielleicht würden der Vater und die Mutter ihn nach dem Kiriker Markt mitnehmen und ihn für Geld sehen lassen.

Nein, das war schrecklich zu denken. Er wollte nur wünschen, dass ihn nie ein Mensch mehr zu sehen bekam.

Es war schrecklich, wie unglücklich er war. Niemand in der ganzen Welt war so unglücklich wie er. Er war kein Mensch mehr, sondern ein Ungetüm.

Nach und nach ward es ihm klar, was es hieß, dass er kein Mensch mehr war. Jetzt war er von allem getrennt: er konnte nicht mit andern Knaben spielen, er konnte das Haus nicht nach den Eltern übernehmen, und er konnte nun gar kein Mädchen bekommen, um sich mit ihr zu verheiraten. Er saß da und betrachtete sein Heim. Es war ein kleines, weißgetünchtes Fachwerkhaus, das unter dem hohen, schrägen Strohdach wie in die Erde hineingedrückt dalag. Die Nebengebäude waren ebenfalls klein, und die Felder waren so schmal, dass ein Pferd nur mit genauer Not darauf umwenden konnte. Aber wie klein und ärmlich das Haus auch war, jetzt war es doch zu gut für ihn. Er konnte kein anderes Haus verlangen, als ein Loch unter dem Fußboden im Stall.

Das Wetter war so wunderbar schön. Es sickerte und es sprosste und es zwitscherte rings um ihn her. Er aber saß in tiefem Kummer da. Er konnte sich nie wieder über irgendetwas freuen.

Nie hatte er den Himmel so blau gesehen wie heute. Und Zugvögel kamen dahergesaust. Sie kamen aus dem Ausland und waren über die Ostsee gereist, sie waren gerade auf Smygehuk zugesteuert, und jetzt waren sie auf dem Weg gen Norden. Da waren sicher viele verschiedene Arten, aber er konnte keine andere erkennen als die wilden Gänse; sie kamen in zwei langen Reihen geflogen, die sich in einem Winkel trafen. Es waren schon mehrere Scharen von wilden Gänsen vorübergeflogen. Sie flogen hoch oben, aber er konnte sie doch rufen hören: »Jetzt geht’s in die Berge! Jetzt geht’s in die Berge!« Als die wilden Gänse die zahmen Gänse sahen, die auf dem Hof herumwatschelten, senkten sie sich zur Erde herab und riefen: Kommt mit! Kommt mit! Die zahmen Gänse konnten sich nicht enthalten, einen langen Hals zu machen und zu horchen. Aber sie antworteten ganz vernünftig: »Wir haben es gut, so wie wir es haben. Wir haben es gut, so wie wir es haben.« Es war, wie gesagt, ein wunderbar schöner Tag mit einer Luft, in der zu fliegen eine wahre Freude sein musste, so frisch und so leicht. Und mit jeder neuen Schar von wilden Gänsen, die vorüberflog, wurden die zahmen Gänse mehr und mehr unruhig. Ein paarmal schlugen sie mit den Flügeln, als hätten sie Lust, mitzufliegen. Aber dann sagte immer eine alte Gänsemutter: »Seid doch nicht verrückt! Die da oben werden noch frieren und hungern.« Einen jungen Gänserich erfasste eine heftige Reiselust bei all dem Rufen. »Wenn noch eine Schar kommt, fliege ich mit«, sagte er. Und dann kam eine neue Schar, die ebenso rief wie die andere. Da schrie der junge Gänserich: »Wartet! Wartet! ich komme.«

Er breitete die Flügel aus und schwang sich in die Luft hinauf, aber das Fliegen war ihm etwas so Ungewohntes, dass er wieder auf die Erde zurücksank.

Die wilden Gänse mussten seinen Ruf aber doch gehört haben. Sie kehrten um und flogen langsam zurück, um zu sehen, ob er kam.

»Wartet! Wartet!«, rief er und machte einen neuen Versuch.

Dies alles hörte der Junge, während er da auf dem Steinwall lag. »Es würde wirklich schlimm sein«, dachte er, »wenn der große Gänserich davonfliegt. Vater und Mutter würden sehr ärgerlich darüber sein, falls er weg wäre, wenn sie aus der Kirche kommen.«

Während er so dachte, vergaß er abermals ganz, dass er klein und ohnmächtig war. Er sprang von dem Steinwall mitten in die Gänseschar hinein und Schlang den Arm um den Gänserich. »Du sollst es schon lassen, fortzufliegen!«, klagte er.

Aber gerade im selben Augenblick hatte der Gänserich entdeckt, wie er es anfangen musste, um sich von der Erde emporzuheben. Er hatte keine Zeit, den Jungen abzuschütteln, der musste mit ihm in die Luft hinauf.

Es ging so schnell aufwärts, dass dem Jungen die Luft wegblieb. Ehe es ihm klar wurde, dass er den Hals des Gänserichs freigeben musste, war er so hoch oben, dass er sich totgefallen hätte, wenn er heruntergestürzt wäre.

Das Einzige, was er tun konnte, um seine Lage ein wenig zu verbessern, war ein Versuch, auf den Rücken des Gänserichs hinaufzukommen. Er arbeitete sich wirklich da hinauf, wenn auch nicht ohne Mühe. Und es war auch keine leichte Sache, auf dem platten Rücken zwischen den beiden schwingenden Flügeln festzusitzen. Er musste mit beiden Händen einen tiefen Griff in Federn und Flaumen hineinmachen, um nicht hinabzufallen.

Das gewürfelte Tuch

Dem Jungen ward es so schwindelig, dass er lange nicht wusste, wie ihm war. Die Luft sauste und pfiff ihm entgegen, die Flügel bewegten sich, und es brauste in den Federn wie ein wahrer Sturm. Dreizehn Gänse flogen um ihn herum, und alle schlugen sie mit den Flügeln und schnatterten. Es flimmerte ihm vor den Augen, und es sauste ihm in den Ohren. Er wusste nicht, ob sie hoch oder niedrig flogen, oder wohin es mit ihnen ging.

Endlich kam er so weit zu sich, dass er begriff, er müsse sich klar darüber werden, wohin die Gänse mit ihm flogen. Aber das war nicht so leicht, denn er wusste nicht, woher er den Mut nehmen sollte, hinabzusehen. Er war fest überzeugt, dass ihn schwindeln würde, wenn er es versuchte.

Die wilden Gänse flogen nicht so sehr hoch, da der neue Reisekamerad nicht in der allerdünnsten Luft atmen konnte. Um seinetwillen flogen sie auch ein wenig langsamer als sonst.

Schließlich zwang der Junge sich doch, einen Blick auf die Erde hinabzuwerfen. Und es schien ihm, als liege unter ihm ein großes Tuch ausgebreitet, das in eine unglaubliche Menge kleiner und großer Würfel eingeteilt war.

Wo in aller Welt bin ich nur hingekommen«, dachte er. Er sah nichts anderes als Würfel an Würfel. Einige waren schief und einige waren länglich, aber überall waren da Ecken und gerade Seiten. Nichts war rund und nichts war gekrümmt.

Was ist das doch für ein großes, gewürfeltes Tuch, das ich da unten sehe?«, sagte der Knabe zu sich selbst, ohne eine Antwort von irgendjemand zu erwarten.

Aber die wilden Gänse, die rings um ihn herumflogen, riefen sogleich: »Äcker und Wiesen. Äcker und Wiesen.«

Da begriff er, dass das große, gewürfelte Tuch das flache schonensche Land war, über das er hinflog. Und es ward ihm nach und nach klar, woher es so vielfarbig und gewürfelt aussah. Die hellgrünen Würfel erkannte er zuerst, das waren die Roggenfelder, die im Herbst besät waren und sich grün unterm Schnee gehalten hatten. Die gelblichgrauen Würfel waren Stoppelfelder, auf denen im letzten Sommer Korn gewachsen war, die bräunlichen waren Kleewiesen, und die schwarzen waren leere Rübenäcker oder umgepflügte Brachfelder. Die braunen Würfel mit den gelben Rändern waren wohl Buchenwälder, denn in denen sind die großen Bäume, die mitten im Wald stehen, im Winter kahl, die kleinen Buchen aber, die am Waldrand wachsen, behalten die trockenen gelben Blätter bis ganz in den Frühling hinein. Da waren auch dunkle Würfel mit Grau in der Mitte: das waren die großen, zusammengebauten Gehöfte mit den dunklen Strohdächern und den gepflasterten Höfen. Und dann waren da Würfel, die in der Mitte grün schimmerten und, eine Kante von Braun hatten; das waren die Gärten, in denen die Rasenplätze schon zu grünen anfingen, obwohl die Büsche und die Bäume rings um sie herum noch mit der kahlen braunen Rinde dastanden.

Der Junge konnte sich eines Lachens nicht enthalten, als er sah, wie gewürfelt alles war.

Aber als die wilden Gänse hörten, dass er lachte, riefen sie gleichsam tadelnd: »Fruchtbares, gutes Land. Fruchtbares, gutes, Land.«

Der Junge war schon wieder ernsthaft geworden. »Dass du lachen kannst!«, dachte er, »du, dem das Allerschrecklichste widerfahren ist, was einem Menschen widerfahren kann!«

Er hielt sich eine Weile ernsthaft, bald musste er aber wieder lachen.

Allmählich, als er sich an den Sitz und die Fahrt gewöhnt hatte, sodass er an etwas anderes denken konnte, als nur daran, wie er sich auf dem Rücken des Gänserichs festhalten sollte, fiel es ihm auf, wie voll die Luft von Vogelscharen war, die nordwärts flogen. Und da war ein Schreien und Rufen von einem Schwarm zum andern. »Also ihr seid heute auch übers Wasser gekommen«, riefen einige. – »Ja, das sind wir«, antworteten die Gänse. »Wie denkt ihr, dass es mit dem Frühling steht?« – »Nicht ein Blatt an den Bäumen und kaltes Wasser in den Seen«, lautete die Antwort.

Wenn die Gänse über einen Ort dahinflogen, wo zahmes Federvieh draußen war, riefen sie: »Wie heißt der Hof? Wie heißt der Hof?« Und der Hahn machte einen langen Hals und antwortete: »Der Hof heißt Kleinhof, heut wie vorm Jahr, heut wie vorm Jahr.«

Die meisten Häuser hatten ja ihren Namen nach dem Besitzer, wie das in Schonen Sitte und Gebrauch ist, aber statt zu antworten, dass es Per Matssons oder Ola Bossons Haus sei, gaben ihnen die Hähne andere Namen, die sie passend fanden. Hähne, die auf ärmliche Anwesen der Häuslereien gehörten, riefen: »Dieser Hof heißt Grützlos.« Und andere, die zu den allerärmsten Hütten gehörten, riefen: »Dies Haus heißt: Kauewenig, Kauewenig, Kauewenig.«

Die großen, wohlhabenden Bauernhöfe bekamen feine Namen von den Hähnen, wie Glücksfeld, Eierberg und Geldheim.

Aber die Hähne auf den Rittergütern waren viel zu hochmütig, um sich etwas Amüsantes auszudenken. Einer von ihnen krähte und schrie mit einer Kraft, als wolle er, dass man ihn ganz bis zur Sonne hinauf hören sollte: »Dies ist das Rittergut Dybeck. Heut wie vorm Jahr. Heut wie vorm Jahr.«

Und ein wenig weiter hin stand einer und rief: »Dies ist Svaneholm. Das müssen doch Gott und alle Welt wissen.«

Der Junge beobachtete, dass die Gänse nicht geradeaus flogen. Sie schwebten hierhin und dorthin über die ganze schonensche Ebene, als freuten sie sich, wieder da zu sein und hätten die größte Lust, jedes einzelne Gehöft zu besuchen.

Sie kamen an eine Stelle, wo einige mächtige Gebäude mit hohen Schornsteinen und rings um sie herum eine Menge kleinerer Häuser lagen. »Das ist die Jordberger Zuckerfabrik«, riefen die Hähne. »Das ist die Jordberger Zuckerfabrik.«

Der Junge schrak zusammen. Den Ort sollte er doch wohl kennen. Der lag nicht weit von seinem Heim, und im letzten Jahr hatte er dort als Hirtenbube gedient. Aber es schien, als wenn nichts sich so recht gleich sah, wenn man es so von oben betrachtete.

Aber nein, aber nein! Das Gänsemädchen Åsa und der kleine Mats, die im vorigen Jahr seine Kameraden waren. Der Junge hätte gern gewusst, ob sie noch dort waren. Was würden sie wohl sagen, wenn sie ahnten, dass er hoch oben über ihrem Kopf dahinflog?

Dann verloren sie Jordberga aus den Augen und flogen auf Svedala und Skabersjö zu und zurück über Börringekloster und Häckeberga. Der Junge bekam an dem einen Tag mehr von Schonen zusehen, als während aller der Jahre, die er gelebt hatte.

Wenn die wilden Gänse zahme Gänse antrafen, amüsierten sie sich am allerbesten. Dann flogen sie ganz langsam und riefen hinab: »Jetzt geht es in die Berge. Wollt ihr mit? Wollt ihr mit?«

Aber die zahmen Gänse antworteten: »Es ist noch Winter. Ihr seid zu früh draußen. Kehrt um! Kehrt um!«

Die wilden Gänse flogen tiefer hinab, sodass man sie besser hören konnte, und riefen: »Kommt mit, dann wollen wir euch fliegen und schwimmen lehren.« Dann wurden die zahmen Gänse böse und antworteten nicht mehr mit einem einzigen »Gack«.

Aber die wilden Gänse flogen noch tiefer hinab, sodass sie fast den Boden streiften, und dann stiegen sie wieder langsam, als seien sie sehr bange geworden. »Uha, uha!«, riefen sie. »Das waren gar keine Gänse. Das waren nur Schafe. Das waren nur Schafe.«

Die Gänse auf dem Felde gerieten ganz außer sich und schrien: »Möchtet ihr erschossen werden, alle miteinander, alle miteinander!«

Wenn der Junge alle diese Scherze hörte, lachte er. Aber dann musste er daran denken, welch ein Unglück er über sich selbst gebracht hatte, und dann weinte er. Aber nach einer Weile lachte er wieder.

Nie zuvor hatte er sich mit einer solchen Geschwindigkeit vorwärts bewegt, und er hatte doch immer so gern schnell und wild reiten mögen. Und er hatte natürlich nie geahnt, dass es da oben in der Luft so frisch sein konnte, wie es war, und dass ein so herrlicher Geruch von fetter Erde und Harz vom Erdboden aufstieg. Und er hatte auch gar nicht darüber nachgedacht, wie es wohl sein müsste, wenn man sich so hoch oben in der Luft bewegte. Aber es war, als flöge man fort von allem Leid und allen Sorgen und Verdrießlichkeiten, die man sich nur denken konnte.

2. AKKA VON KEBNEKAJSE

Der Abend

Der große, zahme Gänserich, der mit in die Luft aufgestiegen war, fühlte sich sehr stolz, so mit den wilden Gänsen über Schonen hin und her zu fliegen und mit den zahmen Vögeln Scherz zu treiben. Aber wie glücklich er auch war, konnte er nicht umhin, am Nachmittag müde zu werden. Er versuchte, tiefer zu atmen und stärker mit den Flügeln zu schlagen, aber trotzdem blieb er mehrere Gänselängen hinter den andern zurück.

Als die wilden Gänse, die zu hinterst flogen, merkten, dass die zahme nicht mitkommen konnte, riefen sie der Gans, die an der Spitze des Keiles flog und den Zug anführte, zu: »Akka von Kebnekajse! Akka von Kebnekajse!« – »Was wollt ihr von mir?«, fragte die Führergans. »Der Weiße bleibt zurück. Der Weiße bleibt zurück.« – »Sagt ihm, dass es leichter ist, schnell zu fliegen als langsam!«, rief die Führergans und streckte die Flügel wie bisher.

Der Gänserich versuchte, dem Rat zu folgen und die Schnelligkeit zu erhöhen, davon wurde er aber so ermattet, dass er ganz bis zu den gestutzten Weiden hinabsank, die Äcker und Wiesen einfriedeten.

»Akka! Akka! Akka von Kebnekajse!«, riefen von neuem die, die zu hinterst flogen und sahen, wie schwer es für den Gänserich war. – »Was wollt ihr denn schon wieder?«, fragte die Führergans und schien sehr verstimmt.

»Der Weiße sinkt auf die Erde nieder. Der Weiße sinkt auf die Erde nieder.« – »Sagt ihm, dass es leichter ist, hoch zu fliegen als niedrig!«, rief die Führergans. Und sie mäßigte ihre Geschwindigkeit nicht im Geringsten, sondern streckte die Flügel wie bisher.

Der Gänserich versuchte auch diesen Rat, als er aber in die Höhe aufsteigen wollte, wurde er so atemlos, dass es war, als müsse ihm die Brust zerspringen.

»Akka! Akka!«, riefen dann die, die zu hinterst flogen. – »Könnt ihr mich denn nicht in Frieden fliegen lassen?«, fragte die Führergans und tat noch ungeduldiger als vorhin. – »Der Weiße ist nahe daran herunterzustürzen. Der Weiße ist nahe daran herunterzustürzen.« – »Sagt ihm, dass, wer der Schar nicht folgen kann, am besten wieder heimkehrt!«, rief die Führergans. Und es kam ihr nicht im Geringsten in den Sinn, die Geschwindigkeit zu mäßigen, sondern sie streckte die Flügel wie bisher.

»Steht es so!«, sagte der Gänserich. Es ward ihm plötzlich klar, dass die wilden Gänse nie daran gedacht hatten, ihn mit nach Lappland hinaufzunehmen. Sie hatten ihn nur des Scherzes halber mitgelockt.

Nein, wie er sich ärgerte, dass ihn die Kräfte jetzt im Stich ließen, sodass er den Landstreichern nicht zeigen konnte, dass eine zahme Gans auch zu etwas zu gebrauchen ist. Und das Allerärgerlichste war, dass er in Akka von Kebnekajses Schar hineingeraten war. Denn wenn er auch nur eine zahme Gans war, hatte er doch von einer Führergans gehört, die Akka hieß und fast hundert Jahre alt war. Sie war so angesehen, dass sich die besten wilden Gänse, die es nur gab, ihr anzuschließen pflegten. Niemand aber verachtete zahme Gänse so sehr wie Akka und ihre Schar, und er hätte ihr gern gezeigt, dass er ihnen ebenbürtig sei.

Er flog langsam hinter den andern drein, während er sich mit sich selbst beriet, ob er umkehren oder weiterfliegen sollte. Da sagte plötzlich der kleine Knirps, den er auf dem Rücken hatte: »Lieber Gänserich Martin, du kannst doch wohl begreifen, dass es für dich, der du nie geflogen hast, unmöglich ist, mit den wilden Gänsen ganz bis nach Lappland hinaufzukommen. Willst du nicht lieber umkehren, ehe du dich ganz zuschanden machst?«

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