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Ein Toter schreibt an seine geliebte Frau, deren Namen er vergessen hat. Zwei Kinder halten sich mit ihren spielerischen Reimen das Grauen eines Gespensterhauses vom Leib. Die Ermittlungen im Fall eines stepptanzenden Bankräubers führen direkt in die Unterwelt. In diesen elf Erzählungen begegnen wir Diktatoren und Außerirdischen, besuchen einen apokalyptischen Schönheitswettbewerb und lernen zwei Frauen namens Louise kennen. Als Kelly Links erste Storysammlung Seltsame Geschehnisse zu Beginn des neuen Jahrtausends erschien, hielt die literarische Welt den Atem an. Diese Autorin verlieh dem magischen Realismus neue Dimensionen! Jede einzelne ihrer märchenhaften Geschichten ist auf unvergleichliche Weise seltsam und skurril, provokativ und überwältigend. Inzwischen, fast ein Vierteljahrhundert später, gehört Kelly Link längst zu den Großen der angloamerikanischen Literatur. Ihre Werke sind Schullektüre, und sie beeinflusst weiterhin ganze Generationen von Schriftstellerinnen. Es ist Zeit, dass auch die deutschsprachige Welt sie entdeckt.
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aus dem amerikanischen Englisch
übersetzt von Maike Hallmann
Impressum
Titel der Originalausgabe: Stranger Things Happen
Erstmals erschienen 2001 bei Small Beer Press in Brooklyn, New York
© 2001 by Kelly Link
© der einzelnen Übersetzungen 2025 bei den Übersetzer:innen
© dieser Ausgabe 2025 bei Carcosa Verlag, Wittenberge
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Genehmigung von Massie & McQuilkin Literary Agents in New York // Wir danken der literarischen Agentur Gaeb & Eggers in Berlin für die freundliche Vermittlung // Vier der elf Erzählungen wurden übersetzt von Kai Bosse, Martina Cirkel, Melanie Grebing und Dorothea Kallfass // Die Danksagungen übertrug Hannes Riffel // Wir verweisen auf das Quellenverzeichnis am Ende des Bandes
Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von
Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12053 Berlin
www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu
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Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von §44b UrhG behalten wir uns ausdrücklich vor.
Lektorat: Heide Franck & Hannes Riffel
Korrektorat: Anne-Marie Wachs
Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
ISBN: 978-3-910914-40-7 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-910914-41-4 (E-Book)
Inhalt
Impressum
Nelken, Lilien, Lilien, Rosen
Wie Wassertropfen von ihrem Fell
Der Hut des Spezialisten
Flugstunden
Reisen mit der Schneekönigin
Der Verschwindetrick
Tanz der Überlebenden oder Die Donner Party
Von Schuhen und Ehen
Die meisten meiner Freunde bestehen zu zwei Dritteln aus Wasser
Louises Gespenst
Das Detektivmädchen
Danksagungen
Quellenverzeichnis
CARCOSA
Für
Susie Link
und
Jenna A. Felice
Nelken, Lilien, Lilien, Rosen
Liebe Mia (falls das Dein Name ist),
bestimmt bist Du ziemlich erstaunt, von mir zu hören. Ich bin es übrigens wirklich, obwohl ich zugeben muss, dass mir nicht nur Dein Name ständig entfällt – Laura? Susi? Ottilie? –, sondern dass ich auch meinen anscheinend vergessen habe. Ich habe vor, immer wieder verschiedene Kombinationen auszuprobieren: Joey liebt Lola, Willi liebt Suki, Heinrich liebt Dich, Schätzchen, Gabriele?, Zuckermäulchen, Liebling. Kommen Dir davon welche bekannt vor?
Letzte Woche dachte ich andauernd, irgendetwas passiert gleich, so ein Kribbeln, das gar nicht mehr aufhörte. Irgendetwas passiert gleich. Ich unterrichtete, ging nach Hause und ins Bett, und wartete die ganze Woche, dass etwas passieren würde, und dann, am Freitag, bin ich gestorben.
Eines der Dinge, die mir entfallen sind, ist das Wie, oder vielleicht eher das Warum. Wie mit den Namen. Ich erinnere mich, dass wir neun Jahre lang zusammen in einer kleinen, gemütlichen Stadt wohnten, in einem Haus auf einem Hügel, dass wir keine Kinder hatten – außer einmal, beinahe – und dass Deine Kochkünste sehr zu wünschen übrig ließen, o mein Liebling – Corinna? Cordula? –, und die meinen ebenso, weshalb wir außer Haus aßen, sooft wir es uns leisten konnten. Ich unterrichtete an einer guten Universität – Princeton? Berlin? Notre Dame? Ich war ein guter Dozent, und die Studenten mochten mich. Aber ich kann mich nicht an den Namen der Straße erinnern, wo wir wohnten, oder an den Autor des letzten Buches, das ich las, oder an Deinen Nachnamen, der ja auch meiner war, oder wie ich starb. Das ist schon seltsam – Sara? –, aber die einzigen beiden Namen, bei denen ich mir sicher bin, dass es sie gab, sind Luli Bellows, das Mädchen, das mich in der vierten Klasse verprügelte, und der Name Deiner Katze. Den Namen Deiner Katze werde ich jetzt noch nicht zu Papier bringen.
Wir hatten vor, unser Kind Beatrix zu nennen. Das ist mir gerade wieder eingefallen. Wir wollten ihm den Namen Deiner Tante geben – der, die mich nicht leiden kann. Nicht leiden konnte. War sie denn auf meiner Beerdigung?
Ich bin seit drei Tagen hier, und ich tue so, als wäre ich im Urlaub, wie damals, als wir diese Insel in diesem Land besuchten – Santorini? Großbritannien? Die mit den ganzen Klippen. Die mit dem Hotel, wo es nur Etagenbetten gab und kleine rosafarbene Quadrate als Klopapier, wie Taschentücher. Im Fenster lagen Muscheln, nicht wahr, die waren so durchsichtig wie Flaschenglas? Und rochen nach Bleichmittel? Eine wirklich hübsche Insel war das. Keine Bäume. Du hast gesagt, wenn Du sterben solltest, würde der Himmel hoffentlich so einer Insel gleichen. Und jetzt bin ich tot und bin hier.
Ebenfalls auf einer Insel, glaube ich. Es gibt einen Strand, und unten am Strand steht ein Briefkasten, in den ich diesen Brief werfen werde. Außer dem Strand und dem Briefkasten gibt es das Gebäude, in dem ich sitze und diesen Brief schreibe. Es scheint ein wirklich wunderbares Ferienhotel zu sein, ohne Gäste, ohne Empfangspersonal, ohne Maître d’hôtel, ohne Animateur, ohne Pagen. Es gibt nur mich. Und einen Fernseher, einen sehr altmodischen, im Foyer. Ich habe lange an der Antenne herumgespielt, allerdings nie ein Bild hereinbekommen. Nur Schneegestöber. Ich habe versucht, mir darin Bilder und Leute vorzustellen. Es sah aus, als winkten sie mir.
Mein Zimmer befindet sich im zweiten Stock. Mit Meerblick. Alle Zimmer hier haben Meerblick. In meinem Zimmer steht ein Schreibtisch, und in einer Schublade liegt ein großzügig bemessener Vorrat an einfachem, glattgestrichenem weißen Papier und Umschlägen. Leda? Maria? Gertrud?
Bisher habe ich mich noch nicht so weit von dem Hotel entfernt, dass ich es nicht mehr sehen konnte – Lotte? –, weil ich Angst habe, dass es vielleicht nicht mehr da ist, wenn ich zurückkehre.
Ganz herzlich,
Du weißt wer
Der Tote liegt im Hotelbett auf dem Rücken; mit den Händen streicht er ruhelos und neugierig über seinen Körper, als gehörte ihm dieser gar nicht. Eine Hand umfasst die Hoden, die andere zieht fest an dem erigierten Penis. Seine Fersen bohren sich in die Matratze, Augen und Mund sind offen. Er versucht, einen Namen auszusprechen.
Draußen scheint der Himmel viel zu nahe zu sein, aus einem grauen Stoff gemacht, der nur widerwillig Licht durchlässt. Der Tote hat bemerkt, dass es nie heller oder dunkler wird, aber manchmal fühlt sich die Luft irgendwie schwerer an, und dann fällt etwas vom Himmel, faustgroße Klumpen weißlich-grauen, teigigen Materials. Es fällt so lange, bis der Strand damit bedeckt ist, und dann löst es sich sofort auf. Der Tote war draußen, als der Himmel das erste Mal einstürzte. Jetzt wartet er immer drinnen, bis der Strand wieder frei ist. Manchmal schaut er fern, obwohl der Empfang schlecht ist.
Das Meer schäumt den Strand herauf und fließt wieder zurück; bei Flut zerrt es spielerisch am Briefkasten. Das Wasser ist dem Toten nicht geheuer. Es riecht nicht nach Salz, wie Meer eigentlich riechen sollte. Cara? Jasmin? Es riecht wie nasses Polster, verbranntes Fell.
Liebe Maja? Juno? Ianthe?
In meinem Zimmer steht ein Bett mit dünnen, schlaffen Laken, und an der Wand hängt das Gemälde eines Anfängers – eine Frau, die unter einem Baum sitzt. Sie hat hübsche Brüste, aber einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht, jedenfalls für eine Frau auf einem Bild in einem Hotelzimmer, auch wenn es ein Hotel wie dieses ist. Sie wirkt verdrossen.
Zu dem Zimmer gehört ein Bad mit fließend heißem und kaltem Wasser, Handtüchern und einem Spiegel. Ich habe lange in den Spiegel geschaut, aber ich kam mir nicht bekannt vor. Es ist das erste Mal, dass ich in Ruhe einen Toten betrachte. Ich habe braunes Haar, das sich an den Schläfen allmählich lichtet, braune Augen und gute Zähne – weiß, ebenmäßig und nicht zu groß. Ich habe eine kleine rote Stelle auf der Schulter – Celeste? –, wo Du mich gebissen hast, als wir uns das letzte Mal liebten. Hast Du irgendwie gespürt, dass es das letzte Mal sein würde? Du wirktest traurig, und auch wütend, wenn ich mich nicht täusche. Ich erinnere mich jetzt an Deinen Gesichtsausdruck, Elisa? Du hast mich beinahe zornig angestarrt, ohne zu blinzeln, und als Du kamst, hast Du meinen Namen gesagt, und obwohl ich mich nicht an meinen Namen erinnern kann, weiß ich noch, dass Du ihn ausgesprochen hast, als hasstest Du mich. Wir hatten uns lange nicht mehr geliebt.
Ich schätze meine Größe auf ein Meter achtzig, und obwohl ich ganz ansehnlich bin, habe ich einen ängstlichen, etwas zu maskenhaften Gesichtsausdruck. Das mag den Umständen geschuldet sein.
Ich habe mich gefragt, ob ich etwa Rüdiger oder Timotheus oder Karl heiße. Als wir einmal in die Ferien fuhren, gerieten irgendwelche Namen auf ähnliche Weise durcheinander, das weiß ich noch, aber es waren nicht unsere. Wir suchten nach einem Namen für sie, für Beatrix, meine ich. Piroschka, Sibylle? Wir schrieben sie alle mit langen Stöcken in den Sand, um sie auf uns wirken zu lassen. Mit den einfachen Namen fingen wir an, mit Jana und Susanne und Laura. Wir probierten es mit praktischen Namen wie Petra und Margarete und Hortense, und dann wurden wir immer verspielter. Wir wirbelten unsere Stöcke durch den Sand und schufen ganze Familien kleiner, quengelnder Mädchen namens Gudrun, Jadwiga, Jakobea, Zenobia, Zdenka. Wie wär’s mit Luli?, sagte ich. Ich kannte mal ein Mädchen namens Luli. Dein Haar hing Dir, steif vom vielen Salz, ganz verdreht und verknotet im Gesicht. Du hattest unzählige Sommersprossen. Du musstest so sehr lachen, dass Du Dich auf Deinen Stock gestützt hast, um nicht umzufallen. Du sagtest, das klänge wie ein Name, den ich mir gerade ausgedacht hätte.
Alles Liebe,
Du weißt wer
Der Tote versucht so zu tun, als wäre er wirklich hier, an diesem Ort. Er versucht, sich ganz normal und den Umständen entsprechend zu verhalten. Soweit das eben geht. Er bemüht sich, ein braver Tourist zu sein.
Ihm ist es nicht gelungen, im Bett einzuschlafen, obwohl er das Gemälde zur Wand gedreht hat. Er ist sich nicht sicher, dass das Bett ein Bett ist. Wenn er die Augen schließt, fühlt es sich nicht wie ein Bett an. Er schläft auf dem Boden, der sich eher wie ein Boden anfühlt als das Bett wie ein Bett. Er liegt ohne Decke auf dem Boden und tut so, als wäre er nicht tot. Er tut so, als läge er mit seiner Frau im Bett und träumte. Er denkt sich einen schönen Traum aus, über eine Party, bei der er die Namen aller Anwesenden vergessen hat. Er streichelt sich. Dann steht er auf und sieht, dass sich das weiße Material, das vom Himmel gefallen ist, am Strand auflöst. Kleine Klumpen türmen sich wie Schaum um den Briefkasten herum auf.
Liebe Elsbeth? Dorothea? Friederike?
Es wird schlimmer. Ganz bestimmt würde es besser gehen, wenn mir nur Dein Name einfiele.
Ich habe Dir geschrieben, dass ich mich auf einer Insel befinde, aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Allmählich zweifle ich sogar an meinem Bett und dem Hotel. Auch das Meer und der Himmel missfallen mir immer mehr. Die Dinge, die ich mit Gewissheit benennen kann – ich bin mir nicht sicher, dass es sich wirklich um diese Dinge handelt, verstehst Du, Malve? Ich bin mir auch nicht sicher, dass ich noch atme. Wenn ich daran denke, hole ich tief Luft. Ich denke nur daran, weil es hier sonst zu leise ist. Wusstest Du, Aloysia?, dass oben in den Bergen – den Berkshires? – die Luft so dünn wird, dass dort sogar echte Menschen, lebende Menschen vergessen zu atmen? Dafür gibt es auch ein Wort. Es ist mir entfallen.
Aber wenn nun das Bett kein Bett ist und der Strand kein Strand, was sind sie dann? Wenn ich den Horizont betrachte, scheint er beinahe eckig zu sein. Wenn ich mich hinlege, habe ich den Eindruck, als verschwänden die Ecken des Betts wie der Horizont in der Ferne.
Dann ist da noch das Problem mit der Post. Gestern habe ich den Brief in einen einfachen Umschlag gesteckt und den Umschlag ohne Anschrift in den Briefkasten geworfen. Heute Morgen war der Brief verschwunden, und als ich eine Hand in den Briefkasten gesteckt habe und dann den ganzen Arm, waren die Innenwände feucht und klebrig. Ich habe mir die Rückseite angeschaut und eine Öffnung entdeckt. Wenn die Flut kommt, geht die Post aufs Meer hinaus. Also habe ich wirklich keine Ahnung, ob Du – Pamela? – oder überhaupt irgendjemand diesen Brief lesen wird.
Ich habe versucht, den Briefkasten ein Stück den Strand hinaufzuziehen. Die Wellen haben mich angezischt und angespuckt, eine hat, kalt und pelzig und schwarz, meinen Fuß überspült, und ich habe es aufgegeben. Ich werde dem örtlichen Postdienst wohl einfach vertrauen müssen.
Ich hoffe, Du erhältst diesen Brief bald,
Du weißt wer
Der Tote macht einen Spaziergang den Strand entlang. Das Meer hält sich von ihm fern, aber das Hotel bleibt immer dicht hinter ihm. Er stellt fest, dass sich das Wasser zurückzieht, sobald er darauf zugeht, was gut ist. Er möchte sich die Schuhe nicht nass machen. Wenn er direkt aufs Meer hinausginge, würde es sich dann vor ihm teilen wie bei dem Typen in der Bibel? Onan?
Er trägt seinen zweitbesten Anzug, den er oft bei Bewerbungsgesprächen und Hochzeiten anhatte. Er überlegt, dass es entweder der Anzug ist, in dem er gestorben ist, oder der, in dem seine Frau ihn hat bestatten lassen. Er trägt ihn, seit er aufgewacht ist und sich auf der Insel wiedergefunden hat, zerzaust und verschwitzt, die Kleidung zerknittert, als hätte er sie schon sehr lange an. Anzug und Schuhe zieht er nur im Hotelzimmer aus. Sobald er hinausgeht, zieht er sie wieder an. Er macht einen Spaziergang den Strand entlang. Sein Hosenschlitz steht offen.
Die kleinen Wellen greifen klatschend nach dem Toten. Unter der Wasseroberfläche kann er Zähne ausmachen, in den schwarzen Glaswänden der größeren Wellen, den Wellen weiter draußen auf dem Meer. Er geht ein ganzes Stück, bleibt öfter stehen, um eine Pause einzulegen, denn er wird schnell müde. Er hält sich in der Nähe der Dünen. Er zieht die Schultern hoch, lässt den Kopf hängen. Als der Himmel sich verfärbt, kehrt er um. Das Hotel ist direkt hinter ihm. Anscheinend überrascht es ihn überhaupt nicht, es dort vorzufinden. Während er unterwegs war, hatte er die ganze Zeit das Gefühl, dass hinter der nächsten Düne jemand auf ihn wartet. Er hofft, dass es vielleicht seine Frau ist. Andererseits wäre sie dann auch tot, und wenn sie tot wäre, könnte er sich an ihren Namen erinnern.
Liebe Matilda? Iris? Alisa?
Ich stelle mir vor, wie meine Briefe zu Dir hinaussegeln, über die bissigen Wellen hinweg, wie kleine weiße Boote. Liebe Leserin – Berit? Flora? –, Du würdest bestimmt gerne wissen, warum ich mir so sicher bin, dass die Briefe Dich erreichen. Ich weiß noch, dass es Dich immer ärgerte, wenn ich alles so selbstverständlich nahm. Aber ich bin ebenso davon überzeugt, dass Du dies liest, wie davon, dass ich tot bin, obwohl ich immer noch herumlaufe und atme (wenn ich daran denke). Ich glaube, dass Dich diese Briefe erreichen, zerknittert, durchnässt, aber noch immer lesbar. Wenn sie Dich auf normalem Wege erreichten, würdest Du sowieso nicht glauben, dass sie von mir stammen.
Heute ist mir ein Name eingefallen, Elvis Presley. Das war dieser Sänger, nicht wahr? Blaue Schuhe, breiter Kussmund, Reibeisenstimme? Er ist tot, stimmt’s? So wie ich. Marilyn Monroe auch, ein weißer Rock, der sich wie ein Segel bläht, Gandhi, Abraham Lincoln, Luli Bellows (weißt Du noch?), die nebenan wohnte, als wir elf waren. Sie hatte das ganze Schuljahr hindurch Migräne und war deswegen ständig schlecht gelaunt. Niemand mochte sie, damals, als wir noch nicht wussten, dass sie krank war. Später mochten wir sie ebenso wenig. Sie hat mir mal das Nasenbein gebrochen, weil ich ihr die Perücke heruntergerissen habe, als Mutprobe. Ihr wurde ein Gehirntumor entfernt, der so groß wie ein Hühnerei war, aber gestorben ist sie trotzdem.
Als ich ihr die Perücke herunterriss, weinte sie nicht. Auf ihrer Kopfhaut waren nur noch ein paar zerbrechlich wirkende Haarbüschel zurückgeblieben, und ihr Gesicht war geschwollen, als hätten Bienen sie gestochen. Sie sah furchtbar alt aus. Sie drohte mir, nach ihrem Tod wiederzukommen und mich zu verfolgen. Als sie dann starb, tat ich so, als könnte ich nicht nur sie sehen, sondern ganze Ansammlungen fetter, fahler, haarloser Geister, die hinter Bäumen lauerten wie aufgedunsene, summende Wespennester. Mit meinen Freunden spielte ich ein ebenso gruseliges wie lustiges Spiel: Wir tauften die Geister Lulis, und wir dachten uns Regeln aus, um uns vor ihnen zu schützen. Eine bestimmte Art zu gehen, sich nur von weißem Essen ernähren – Marshmallows, zu Kugeln gerolltem Weißbrot, einfachem weißen Reis. Als wir von den Lulis genug hatten, brachten wir sie alle um, indem wir ihr Grab mit glasierten Donuts und Wonder Bread schmückten – bis unsere misstrauischen Mütter sich schließlich weigerten, uns mehr davon zu besorgen.
Hast Du mein Grab geschmückt, Felizitas? Gratia? Hast Du mich schon vergessen? Hast Du bereits eine neue Katze, einen neuen Liebhaber? Oder trägst Du meinetwegen noch Trauer? Himmel, ich sehne mich so sehr nach Dir, Elke? Lilli? Lilli? Rosa? Wahrscheinlich ist das das Gegenteil von Nekrophilie – ein Toter, der ein letztes Mal mit seiner Frau vögeln möchte. Aber Du bist nicht hier, und wenn Du hier wärst, würdest Du dann mit mir schlafen wollen?
Ich schreibe Dir die Briefe mit der rechten Hand und mache das andere mit der linken; mit der mache ich das, seit ich vierzehn bin, damals hatte ich nichts anderes zu tun. Ich meine mich zu erinnern, dass es mit vierzehn nichts Besseres zu tun gab. Ich denke an Dich, wie ich Dich berühre, wie Du mich berührst, und ich sehe Dich nackt, und Du starrst mich wütend an, und ich bin kurz davor, Deinen Namen hinauszuschreien, und dann komme ich, auf den Lippen der Name einer Toten oder irgendein Phantasiename.
Stört Dich das, Linda? Doris? Penthesilea? Willst Du wissen, was das Schlimmste ist? Gerade erst habe ich in das Kissen gestoßen, mich darauf gewunden und so getan, als lägst Du da unter mir, Sophia? Verdammt, es war wunderbar, ganz so, als lebte ich noch, und als ich kam, hauchte ich »Beatrix«. Und ich musste daran denken, wie ich Dich nach der Fehlgeburt vom Krankenhaus abholte.
Da gab es so vieles, was ich sagen wollte. Natürlich waren wir uns beide nicht sicher, ob wir ein Kind wollten. Irgendwie war ich sogar erleichtert, dass ich doch nicht lernen musste, Vater zu sein, aber es gibt immer noch eine Menge Dinge, die ich damals hätte sagen sollen. Es gab so vieles, das ich Dir hätte sagen sollen.
Du weißt wer
Der Tote begibt sich auf eine Wanderung ins Innere der Insel. Irgendwann nach seinem ersten Ausflug hat sich das Hotel wieder heimlich, still und leise an seinen ursprünglichen Standort zurückbewegt, während sich der Tote in seinem Zimmer befand und in den Spiegel blickte, mit forschendem Gesichtsausdruck an die kühlen Fliesen gelehnt. Dieses Fleisch ist tot. Es sollte sich nicht erheben. Es erhebt sich. Jetzt steht das Hotel wieder neben dem Briefkasten; als er hingeht, um hineinzuschauen, findet er ihn leer vor.
Die Inselmitte ist felsig, nichts wächst dort. Hier gibt es keine Bäume, stellt der Tote erleichtert fest. Er muss nicht weit gehen – weniger als drei Kilometer, schätzt er –, bis er das Ufer auf der anderen Seite der Insel erreicht. Vor ihm erstreckt sich ein flacher, weiter Himmel, versinkt hinter dem Horizont. Als der Tote sich umdreht, kann er sein Hotel sehen – es wirkt verloren und verlassen. Aber wenn er die Augen zusammenkneift, verschwimmen die Schatten auf der hinteren Veranda, werden zu einer Gruppe von Menschen, die alle seinen Blick erwidern. Er hat die Hände in den Hosentaschen und streichelt sich. Schließlich zieht er die Hände heraus. Wendet der dunklen Veranda den Rücken zu und schlendert den Strand entlang.
Er duckt sich hinter eine Sanddüne und läuft den langen Abhang eines Hügels hinunter. Er möchte sich von hinten an das Hotel heranpirschen, auch wenn es schwierig ist, sich an etwas heranzupirschen, das sich dauernd an einen selbst heranpirscht. Er schlendert eine Weile weiter, und ein gutes Stück den Strand hinauf findet er etwas, einen Kreis aus glasigen Steinen. Innerhalb des Kreises liegt, schwarz und verkohlt, ein Haufen Treibholz. Der Boden um die Feuerstelle herum ist festgetrampelt, als hätten dort Menschen gestanden und gewartet, als wären sie dort hin und her gegangen. Auf einem Spieß über der Feuerstelle hängen noch Reste von Fleisch und Fell, ungefähr so groß wie eine Katze. Der Tote sieht sich das nicht allzu genau an.
Er umrundet die Feuerstelle und entdeckt Spuren – die Spuren der Leute, die eine Katze gegrillt haben und dann einfach davongegangen sind. Die Spuren sind nicht zu übersehen, sie führen in eine ganz bestimmte Richtung. Diese Leute sind alle gemeinsam aufgebrochen, in einem wildem Durcheinander die Düne hinaufgerannt, barfuß und schwer. Ihre Fußballen haben sich tief in den Sand gegraben, während ihre Fersen ihn kaum berührten. Die Fußabdrücke führen zum Hotel zurück. Er folgt ihnen und entdeckt seine eigene Spur, die zum Feuer hinunterführt. Die Gruppe ist weiter oben entlanggegangen, parallel zu seiner Fährte und dem Ufer, ohne dass er sie gesehen hätte. Ihr Gang wurde vorsichtiger, und er stellt sich vor, wie sie weiterschleichen.
Seine Fußabdrücke enden hier. Dort steht der Briefkasten, und hier hat er sich vom Hotel abgewandt. Das Hotel selbst hat keine Spuren hinterlassen. Die anderen Fußspuren führen zum Hotel, zu seinem derzeitigen Standort. Es ist so weit weg, dass es klein wirkt. Als der Tote es schließlich erreicht, ist der Boden des Foyers ganz sandig, und der Fernseher läuft. Der Empfang ist etwas besser. Aber da ist niemand, obwohl er in jedem Zimmer nachsieht. Als er auf der hinteren Veranda steht und landeinwärts blickt, glaubt er, eine Gruppe von Menschen zu sehen, die ihm zuwinkt, unten an der Küste, in großer Entfernung. Dann stürzt der Himmel wieder ein.
Liebe Araminta? Kiki? Lolita?
Klingt noch immer nicht richtig, oder? Sophie? Ludmilla? Winfrieda?
Ich hatte schon wieder den gleichen traumlosen Traum von der Fachbereichsparty. Sie war auch da, aber dieses Mal warst Du es, die sie erkannte, und ich bemühte mich, ihren Namen zu erraten, sie zuzuordnen. War sie die große Blondine mit dem tollen Hintern oder die kleine Blondine mit den kurzen Haaren, die den Mund nie ganz schloss, ganz so, als lächelte sie unentwegt? Sie sah aus, als wüsste sie etwas, das ich wissen wollte, aber das galt auch für Dich. Merkwürdig, nicht wahr? Ich habe Dir nie erzählt, wer sie war, und jetzt fällt es mir auch nicht mehr ein. Du wusstest es sowieso schon die ganze Zeit, auch wenn Du Dir dessen nicht bewusst warst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es um die kleine Blonde ging, als Du mich dann nach ihr gefragt hast.
Ich muss immer wieder daran denken, wie Du an dem Abend aussahst, an dem wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben. Da hatte ich Dich sittsam vor der Haustür Deiner Mutter geküsst, und dann, bevor Du hineingingst, drehtest Du Dich um und sahst mich an. Niemand hatte mich jemals so angesehen. Du brauchtest überhaupt nichts zu sagen. Ich wartete, bis Deine Mutter unten alle Lichter ausgeschaltet hatte, und kletterte dann über den Zaun, den Baum hinterm Haus hinauf und durch das Fenster in Dein Zimmer. Du hast Dich weit zum Fenster hinausgelehnt und mir beim Klettern zugeschaut, und dann hast Du Dein Oberteil ausgezogen, sodass ich Deine Brüste sehen konnte. Ich bin fast vom Baum gefallen. Schließlich hast Du Deine Jeans ausgezogen, und auf Deinen Schlüpfer war ein Wochentag aufgestickt, Mona?, und dann hast Du auch Deinen Schlüpfer ausgezogen. Du hattest Dir die Haare auf dem Kopf blond aufgehellt, mit roten Strähnen darin, aber Dein Schamhaar war schwarz und weich, als ich es berührte.
Wie legten uns auf Dein Bett, und als ich in Dich eindrang, hast Du mich wieder so angeschaut. Nicht missbilligend, aber doch beinahe als hättest Du etwas anderes erwartet, oder als wolltest Du irgendetwas unbedingt richtig machen. Und dann hast Du gelächelt, einen Seufzer ausgestoßen und Dich unter mir gewunden. In einer fließenden Bewegung hast Du Dich hochgestemmt, und ich dachte, Du würdest Dich jeden Moment in die Luft erheben, und ich mich mit dir, als würdest Du mich tragen, und fast hätte ich Dich da zum ersten Mal geschwängert. Wir hatten es beide nicht so mit der Verhütung, oder, Eliane? Rosmarie? Und dann hörte ich Deine Mutter draußen im Hof rufen, direkt unter der Ulme, die ich gerade hochgeklettert war: »Baum? Baum?«
Bestimmt hatte sie gesehen, wie ich hinaufgeklettert war. Als ich aus dem Fenster blickte, fielen mir als Erstes ihre runden Brüste auf, die sich unter ihrem Nachthemd im Mondschein wölbten, voller als Deine und fast ebenso verheißungsvoll. Das war ziemlich sonderbar, als mir bewusst wurde, dass ich zu den Menschen gehörte, die sich Hals über Kopf in jemanden verlieben konnten, wirklich und wahrhaftig, für immer, das war mir in dem Moment bereits klar – und trotzdem einer älteren Frau auf die Titten starren. Die Titten Deiner Mutter. Auch das hatte ich zuvor nicht gewusst. Und schließlich begriff ich, dass sie gar nicht zu mir hinaufschaute. »Baum?«, rief sie ein letztes Mal, und sie klang ziemlich sauer.
Na gut, ich hielt sie also für verrückt. Das Letzte, das, was ich nicht auf die Reihe bekam, war die Sache mit den Namen. Das habe ich erst nach und nach kapiert. Ich bin mir immer noch unsicher, was genau ich nicht herausfand – Alita? Juliuschka? Katalina? –, aber wenigstens gebe ich mir Mühe. Ich meine, ich bin immer noch hier, nicht wahr?
Wenn Du es nur auch wärst …
Du weißt wer
Irgendwann später geht der Tote zum Briefkasten hinunter. Das Wasser ist heute besonders unwasserhaft. Es glänzt samten, wie Haar. Fast meint er, in den Wellen Gestalten zu erkennen. Das Wasser hat noch immer Angst vor ihm, aber es hasst, hasst, hasst ihn auch. Hat ihn nie gemocht, niemals. »Katz und Maus, geh nach Haus«, ruft der Tote dem Wasser verächtlich nach.
Als er zum Hotel zurückkehrt, sind die Lulis da. Sie schauen im Foyer fern. Sie sind viel größer, als er sie in Erinnerung hat.
Liebe Cindy, Cynthia, Clementine,
ich habe Gesellschaft bekommen. Ich weiß nicht, ob ich in ihrem Haus zu Gast bin – ob es ihnen gehört –, oder ob ich sie mitgebracht habe. Es sind Leute, genauer gesagt, eine Person, die ich als Kind kannte. Ich glaube, sie beobachten mich schon länger, aber sie sind schüchtern. Sie reden nicht viel.
Es ist nicht leicht, sich jemandem vorzustellen, wenn man seinen Namen vergessen hat. Als ich sie sah, war ich überrascht. Ich habe mich auf den Boden des Foyers gesetzt. Meine Beine waren wie Wasser. Ein starkes Gefühl wallte in mir auf, so stark, dass ich es nicht benennen konnte. Trauer vielleicht. Oder Erleichterung. Ich glaube, ich habe sie wiedererkannt. Sie kamen näher, bildeten einen Kreis um mich und blickten auf mich herab. »Ich kenne euch«, sagte ich. »Ihr seid Lulis.«
Sie nickten. Einige lächelten. Sie sind so blass, so fett! Wenn sie lächeln, verschwinden ihre Augen in den Speckfalten. Aber sie haben winzige, weiche Füße, wie Kinder. »Du bist der Tote«, sagte eine von ihnen. Ihre Stimme war leise und weich. Dann unterhielten wir uns. Die Hälfte von dem, was sie erzählten, ergab überhaupt keinen Sinn. Sie wissen nicht, wie ich hierhergekommen bin. Sie erinnern sich nicht an Luli Bellows. Sie erinnern sich nicht daran, wie sie gestorben sind. Zuerst hatten sie Angst vor mir, aber sie waren auch sehr neugierig.
Sie wollten meinen Namen wissen. Da ich keinen habe, versuchten sie einen zu finden, der zu mir passt. Ein Vorschlag lautete Walter, wurde aber verworfen. Ich war nicht walterig genug. Samuel, Manfred und Robert. Einige fanden Gefallen an Alfons, aber Alfons kam mir nicht bekannt vor. »Baum«, sagte eine der Lulis.
Baum mochte mich nie besonders. Ich sehe Deine Mutter vor mir, wie sie unter den grünen Blättern stand und sich die Äste zu ihr hinabbeugten. Die Blätter berührten den Boden, wie ein langer Rock. Ach, was für ein Baum das war! Der schönste Baum, den ich je gesehen hatte. Auf halber Höhe saß eine fette schwarze Katze mit langen weißen Barthaaren und einer anmutigen, glänzenden Brust und starrte mich wütend an. Du hattest Dir ein T-Shirt übergezogen, schobst mich beiseite und tratst ans Fenster. »Ich hole ihn«, riefst Du der Frau unter dem Baum zu. »Geh wieder schlafen, Mom. Komm, Baum, na, komm, komm.«
Baum spazierte über den Ast zum Fenster, derselbe breite Ast, der mich zu Dir geführt hatte. Du – Ariadne? Theodora? – hobst ihn vom Fensterbrett und schlossest das Fenster. Als Du ihn auf dem Bett absetztest, machte er es sich am unteren Ende gemütlich und schnurrte. Aber als ich mitten in der Nacht aufwachte, aus einem Traum, in dem ich gerade ertrank, hockte er auf meinem Gesicht, sein Bauch seidig und schwer über meinem Mund.
Ich fand schon immer, dass Baum ein alberner Name für eine Katze war. Als er alt wurde und öfter draußen im Garten schlief, sah er trotzdem nicht wie ein Baum aus. Sondern wie eine Katze. Er lief mir vors Auto, ich hab ihn gesehen, Du hast doch gesehen, dass ich ihn gesehen habe, mir war klar, das würde das Fass zum Überlaufen bringen – die Fehlgeburt, Dein Mann schläft mit einer seiner Studentinnen, und dann überfährt er Deinen Kater –, ich verriss das Steuer, ich versuchte, ihm auszuweichen. Aber ich habe ihn wohl erwischt. Das wollte ich nicht, Liebling, Liebes, Pia? Paula? Petula?
Du weißt wer
Der Tote sieht zusammen mit den Lulis fern. Seifenopern. Die Lulis wissen, wie man die Antenne biegen muss, damit der Empfang einigermaßen gut ist, obwohl es für den Ton nicht reicht. Eine von ihnen steht neben dem Fernseher, um die Antenne in der richtigen Höhe zu halten. Die Seifenoper ist sonderbar altmodisch, denkt sich der Tote, die Kleider darin könnten von seinen Großeltern stammen. Die Frauen tragen Glockenhüte, und ihre Augenlider sind stark geschminkt.
Da findet eine Hochzeit statt. Und auch ein Begräbnis, obwohl dem zuschauenden Toten nicht klar ist, wer der Tote ist. Dann gehen die Beteiligten einen Strand entlang. Die Frau trägt einen schwarzweiß gestreiften Badeanzug, der sie züchtig bedeckt, vom Hals bis über die Oberschenkel. Der Hosenschlitz des Mannes steht offen. Sie halten sich nicht an den Händen. Gemurmel erhebt sich von den Lulis. »Zu dunkel«, sagt eine über die Frau. »Noch am Leben«, sagt eine andere.
»Zu dünn«, sagt eine andere und deutet auf den Mann. »Sollte mehr essen. Sonst pustet ihn der Wind weg.«
»Aufs Meer hinaus.«
»Zu Baum hinaus.« Die Lulis schauen den Toten an. Der Tote geht auf sein Zimmer. Er sperrt die Tür ab. Sein Penis ragt auf, steif wie ein Baum. Der Penis zieht ihn quer durchs Zimmer, zum Bett hin. Der Mann ist tot, aber sein Körper weiß das noch nicht. Sein Körper glaubt, dass er noch am Leben ist. Er spricht die Namen, die ihm einfallen, laut aus – schöne Namen, alberne Namen, schrullige Namen. Die Lulis schleichen den Gang entlang. Sie stehen vor der Tür und lauschen der Namensliste.
Liebe Bobbi? Billie?
Ich wünschte, Du würdest mir antworten.
Du weißt wer
Als sich der Himmel verfärbt, gehen die Lulis nach draußen. Der Tote beobachtet, wie sie das Zeug vom Strand aufsammeln. Sie essen es systematisch, zerkauen es zu einer Paste, um es dann zu schlucken. Und sammeln dann noch mehr davon auf. Der Tote geht hinaus. Er hebt etwas von dem Zeug. Engelskuchen? Manna? Er schnuppert daran. Es riecht nach Blumen: wie Nelken, Lilien, wie Lilien, wie Rosen. Er steckt sich etwas davon in den Mund. Es schmeckt nach rein gar nichts. Der Tote versetzt dem Briefkasten einen Tritt.
Liebe Diana? Palomina? Rapunzel?
Gibt es nicht ein Märchen, in dem ein kleiner Mann etwas erraten muss? Den Namen einer Frau? Ich habe mir Geschichten über meinen Tod ausgedacht. In einer steige ich zur U-Bahn hinunter, dann kommt ein starker Wind auf, und die bewegliche Skulptur am Eingang, die sich im Wind dreht, wird hochgerissen und fällt auf mich. In einer anderen fliegen Du und ich in ein anderes Land – Kanada vielleicht? –, das Flugzeug ist voll, und Du sitzt eine Reihe vor mir. Es knackt laut, und das Flugzeug bricht entzwei, wie ein geknickter Strohhalm. Deine Hälfte schwebt nach oben weg, meine stürzt nach unten. Du drehst Dich um und siehst mich an. Ich reiße die Arme hoch. Weingläser und Zeitungen und Stofffetzen fallen aufwärts. Der Himmel entzündet sich. Vielleicht habe ich mich vor einen fahrenden Zug geworfen. Oder ich bin Fahrrad gefahren, und jemand hat die Autotür geöffnet. Oder ich war auf einem Boot, und es ist gesunken.
Eines weiß ich. Ich war auf dem Weg irgendwohin. Das ist die Geschichte, die mir am besten gefällt. Wir hatten uns geliebt, Du und ich, und danach standst Du auf, bliebst neben dem Bett stehen und sahst mich an. Ich dachte, Du hättest mir verziehen, und unser Leben könnte jetzt weitergehen, so wie bisher. Bonnita?, sagtest du. Gloria? Patrizia? Juthe? Rosemarie? Laura? Laura? Henriette? Joy? Nora? Rowena? Anthea?
Ich stand ebenfalls auf, zog mich an und ging hinaus. Du folgtest mir. Marlitt? Genoveva? Karla? Katka? Sylvana? Marina? Linde? Theresa? Du sagtest die Namen rasch hintereinander auf, einen nach dem anderen, wie Dolchstöße. Ich mied Deinen Blick, schnappte mir meine Autoschlüssel und verließ das Haus. Deine Lippen bewegten sich noch immer, aber ich konnte nichts mehr hören.
Baum hockte vor dem Auto, und als ich ihn sah, riss ich das Steuer herum. Aber ich fuhr bereits zu schnell, war schon halb aus der Einfahrt heraus. Ich drückte ihn gegen den Briefkasten, und dann rammte das Auto den Flieder. Weiße Blüten regneten herab. Du hast einen Schrei ausgestoßen. Was danach geschah, ist mir entfallen.
Ich weiß nicht, ob ich so gestorben bin. Vielleicht bin ich mehr als einmal gestorben, doch schließlich war es dann so weit. Ich glaube nicht, dass das hier eine Insel ist. Ich glaube, ich bin ein Toter, der in eine Kiste gestopft wurde. Wenn ich ganz still bin, kann ich fast hören, wie die anderen Toten an den Wänden ihrer Kisten kratzen.
Aber vielleicht bin ich ja auch ein Geist. Vielleicht sind die Wellen, die so pelzig aussehen, wirklich Pelz, und vielleicht ist das Wasser, das mich anzischt und anspuckt, in Wirklichkeit eine Katze, und die Katze ist auch ein Geist.
Vielleicht bin ich hier, um etwas zu lernen, um Buße zu tun. Die Lulis haben mir vergeben. Vielleicht vergibst Du mir ja auch irgendwann. Sollte sich das Meer jemals meiner Hand nähern, sollte es mich anschnurren, werde ich wissen, dass Du mir vergeben hast. Dass ich dich, hinterher, verlassen habe.
Vielleicht bin ich aber auch nur ein Tourist und stecke mit den Lulis auf dieser Insel fest, bis es Zeit ist, nach Hause zu gehen, oder bis Du hierherkommst und mich abholst – Priska? Irene? Dolores? Deshalb hoffe ich inständig, dass Du diesen Brief bekommst.
Du weißt wer
Wie Wassertropfen von ihrem Fell
»Worauf könntest du eher verzichten, auf Liebe oder auf Wasser?«
»Wie meinst du das?«
»Ich will wissen, ob du dich für die Liebe entscheidest oder für das Wasser.«
»Warum kann ich nicht beides haben?«
Zwei Monate nachdem sie zum ersten Mal mit ihm geschlafen hatte, nahm Rachel Rook Carroll mit nach Hause zu ihren Eltern. Für ein offenherziges Mädchen, das sich hemmungslos seiner Kleidung entledigte, war sie in mancher Hinsicht bemerkenswert verschlossen. In den zwei Monaten hatte Carroll lediglich erfahren, dass ihre Eltern auf einem Hof einige Kilometer außerhalb der Stadt lebten, dass sie im Sommer Erdbeeren verkauften und im Winter Tannenbäume. Er wusste, dass sie den Hof nie verließen und stattdessen die Welt zu ihnen kam: Wochenendausflügler und Touristen auf der Durchfahrt.
»Glaubst du, deine Eltern werden mich mögen?«, fragte er. Den ganzen Nachmittag hatte er sich so sorgfältig auf den Besuch vorbereitet wie auf ein Examen. Er war beim Friseur gewesen, hatte sich die Nägel geschnitten und sich am Hals und hinter den Ohren gewaschen. Die Kleider, die er ausgewählt hatte, Khakihosen und ein blaues Hemd mit verdeckter Knopfleiste am Kragen – keine Krawatte –, lagen ordentlich gefaltet auf dem Bett. In seiner schlichten weißen Unterhose und den weißen Socken stand er vor Rachel und betrachtete sie, als sei sie ein Spiegel.
»Nein«, sagte sie. Sie war gerade zum allerersten Mal in seiner Wohnung und stand mit verschränkten Armen mitten in seinem Schlafzimmer, als wollte sie sich auf keinen Fall hinsetzen oder irgendetwas berühren.
»Warum nicht?«
»Mein Vater wird dich mögen«, sagte sie. »Aber er mag jeden. Meine Mutter ist ein bisschen wählerischer – sie hält dich für unernst.«
Carroll zog die Hose an und bewunderte die Bügelfalte. »Also hast du mit ihr über mich geredet.«
»Ja.«
»Aber du hast nicht mit mir über sie geredet.«
»Nein.«
»Schämst du dich für sie?«
Rachel schnaubte. Dann seufzte sie, und es klang, als würde sie die Entscheidung bereuen, ihn ihren Eltern vorzustellen. »Du schämst dich für mich«, vermutete er, und Rachel küsste ihn, lächelte und schwieg.
Sie lebte immer noch auf dem Bauernhof ihrer Eltern, weshalb es umso bemerkenswerter war, dass sie das Zusammentreffen ihrer Eltern mit Carroll so lange hinausgezögert hatte. Was wiederum dafür sprach, dass sie über großes Organisationstalent verfügte. Carroll bewunderte und begehrte sie dafür umso mehr. Sie war neunzehn, zwei Jahre jünger als er, studierte am Jellicoh College, und unter der Woche stand sie jeden Morgen um sieben Uhr auf und radelte sechseinhalb Kilometer in die Stadt, und auf dem Rückweg sechseinhalb Kilometer bergauf zum Hof.
Carroll hatte Rachel in der Bibliothek des Jellicoh College kennengelernt, wo er jobbte. Er hatte am Ausgabetresen gesessen, Bücher gestempelt und für ein Graduiertenseminar Tristram Shandy gelesen; er war beinahe eingeschlafen, da hörte er jemanden sagen: »Entschuldigung.«
Er blickte auf. Vor dem großen Tresen stand ein rothaariges Mädchen. Das Sonnenlicht, das durch das hohe Fenster gegenüber hereinfiel, ließ den feinen Flaum an ihren Armen und die gestickten Blumen am Ausschnitt des weißen T-Shirts aufleuchten. Ihr Kopf schien in Flammen zu stehen, und Carroll fiel es schwer, sie direkt anzuschauen. »Kann ich etwas für dich tun?«, fragte er.
Sie legte ein zerfleddertes Rechteck auf den Tisch, und Carroll hob es mit Daumen und Zeigefinger hoch. Zerfetzte Seiten hingen in Streifen von dem durchweichten blauen Buchrücken. Titel, Einband und Buchdeckel waren offenbar angenagt worden. »Ich müsste da mal ein beschädigtes Buch bezahlen«, sagte sie.
»Was ist passiert? Hat dein Hund es gefressen?«, scherzte er.
»Ja.« Sie lächelte.
»Wie heißt du?«, fragte Carroll. Schon jetzt hatte er den Verdacht, sich verliebt zu haben.
Das Gehöft der Rooks hatte eine umlaufende Veranda, die an eine Schürze erinnerte. Es war auf einem Hügel erbaut worden und blickte über einen weitläufigen grünen Hang voller Tannenbäume hinweg Richtung Stadt und Universität. Es wirkte altmodisch und ein wenig verloren.
Auf einer Seite des Hauses stand eine kleine Scheune, und dahinter lag, dunkel und von Tannen umringt, ein ovaler Teich, der im Dämmerlicht zu blinzeln schien wie ein glänzendes, lidloses Auge. Die Sonne rollte den grasbewachsenen Saum des Hügels hinunter, und die verzerrten Schatten der Tannenbäume webten, lang und spitz wie Hexenhüte, schwarze Dreiecke in die purpurgraue Fläche der Wiese. Haus, Scheune und Hügel leuchteten im darüber hinwegflutenden purpurroten Licht.
Carroll parkte vor der Scheune, ging zur Beifahrerseite und hielt Rachel den Arm hin. Gedämpft drang wildes Schnaufen aus der Scheune, und die Türen erzitterten, als würde sich dort, wo es bestimmt dunkel und stickig war, etwas immer wieder dagegenwerfen. Es stank nach Tier. »Was ist denn da drin?«, fragte Carroll.
»Die Hunde. Sie dürfen nicht ins Haus, und es gefällt ihnen nicht, von meiner Mutter getrennt zu sein.«
»Ich mag Hunde«, sagte er.
Auf der Veranda saß ein Mann, der sich alsbald erhob und ihnen entgegenkam. Er war mittelgroß und hatte das gleiche rotbraune Haar wie seine Tochter. »Daddy«, sagte Rachel, »das ist Carroll Murtaugh. Carroll, das ist mein Vater.«
Mr. Rook hatte keine Nase. Er und Carroll gaben einander die Hand. Seine Haut fühlte sich warm und trocken und sehr robust an. Carroll versuchte, ihm nicht ins Gesicht zu starren.
Genau genommen hatte Rachels Vater sehr wohl eine Nase, und diese war offenbar aus Kiefernholz geschnitzt. Die Nasenlöcher waren leicht geweitet, als nähme er gerade einen angenehmen Geruch wahr. Die Nase war mit Kupferdraht am Gestell einer Brille befestigt; schutzsuchend schmiegte sie sich zwischen die Gläser wie eine schlafende Maus.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Carroll«, sagte er. »Sie sind Bibliothekar drüben an der Uni, richtig? Dann mögen Sie wohl Bücher?« Er hatte eine tiefe, volltönende Stimme, die klang, als dränge sie vom Grund eines Brunnens herauf. Später stellte Carroll fest, dass Mr. Rooks Stimme sich, je nachdem, welche Nase er gerade trug, immer ein wenig anders anhörte.
»Das ist richtig, Sir«, antwortete Carroll. Sicherheitshalber sah er sich nach Rachel um. Ja, ihre Nase war unzweifelhaft echt. Er bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. Warum hast du mich nicht vorgewarnt? Sie zuckte mit den Achseln.
»Ich habe ja nichts gegen Bücher«, sagte Mr. Rook, »aber meine Frau kann sie nicht leiden. Hat ihr fast das Herz gebrochen, als Rachel beschlossen hat zu studieren.« Rachel schob die Unterlippe vor. »Rachel, geh doch deiner Mutter zur Hand und deck den Tisch, während Carroll und ich uns ein bisschen besser kennenlernen, hm?«
»Na schön.« Rachel verschwand im Haus.
Mr. Rook nahm auf der Verandatreppe Platz, und Carroll setzte sich neben ihn. »Sie ist ein hübsches Mädchen«, sagte Mr. Rook. »Wie ihre Mutter.«
»O ja, Sir«, erwiderte Carroll. »Sehr sogar.« Er starrte geradeaus und sprach mit Nachdruck, als wäre ihm gar nicht aufgefallen, dass er sich mit einem Mann mit Holznase unterhielt.
»Wahrscheinlich kommt es Ihnen komisch vor, dass ein Mädchen in ihrem Alter noch zu Hause wohnt?«
Carroll zuckte mit den Achseln. »Sie scheint sehr an Ihnen beiden zu hängen. Sie verkaufen Tannenbäume, nicht wahr?«
»Und Erdbeeren«, sagte Mr. Rook. »Das ist recht eigenartig mit Erdbeeren und Nadelbäumen – die Leute bezahlen dafür, dass sie sie eigenhändig ernten oder ausbuddeln dürfen. Sie machen die ganze Arbeit, und dann bezahlen sie dafür. Sie behaupten, so schmecken die Erdbeeren besser, und vielleicht haben sie ja auch recht. Ich selbst schmecke kaum etwas.«
Carroll lehnte sich gegen das Verandageländer und warf einen verstohlenen Blick auf Mr. Rooks Profil. Aus der Nähe und im Schummerlicht der Verandalampe betrachtet hatte die Nase einen unansehnlichen Höcker, der Mr. Rook etwas Nachdenkliches verlieh – eine Philosophennase, eine neugierige Nase. Bleiche Nachtfalter, so groß wie Carrolls Hand, umflatterten die Lampe und warfen kleine kreisförmige Schatten; ihr Flügelschlag verursachte einen leichten Lufthauch. Wenn sie sich auf der Fensterscheibe niederließen, falteten sie sich fächergleich zusammen, wurden unvermittelt reglos. Nachtfalter haben auch keine Nase, dachte Carroll.
»Die Kiefern kann ich ebenso wenig riechen«, sagte Mr. Rook. »Zugegebenermaßen entbehrt das nicht einer gewissen Ironie. Bitte sehen Sie es meiner Frau nach, falls sie anfangs ein bisschen hilflos wirkt. Sie ist fremde Menschen nicht gewohnt.«
Rachel kam auf die Veranda getänzelt. »Das Essen ist gleich fertig. Hat Daddy dich gut unterhalten?«
»Er hat mir von eurem Hof erzählt.«
Rachel und ihr Vater sahen einander vielsagend an. »Prima«, erwiderte Rachel. »Du weißt aber, was er für sein Leben gern fragen möchte, Daddy. Erzähl ihm von deiner Nasensammlung.«
»O nein«, wehrte Carroll ab. »Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn …«
Aber Mr. Rook stand schon auf und klopfte sich den Hosenboden ab. »Ich hole sie runter. Eigentlich wollte ich heute Abend ein etwas ausgefalleneres Stück tragen, aber es ist so windig und ganz schön feucht. Wer weiß, ob es nicht noch regnet.« Er eilte ins Haus.
Carroll beugte sich zu Rachel hinüber. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, fragte er und blickte vom Verandageländer auf.
»Was denn?«
»Dass dein Vater eine Holznase hat.«
»Er hat mehrere Nasen, aber du hast ihn ja gehört: Es könnte heute noch regnen. Manche der Nasen sind empfindlich und rostanfällig.«
»Weshalb hat er eine Holznase?«, flüsterte Carroll.
»Ein Bengel namens Biederbecke hat sie ihm abgebissen, als sie sich balgten.« An der Alliteration schien sie Gefallen zu finden, denn sie sagte, dieses Mal lauter: »Biederbecke biss sie dir beim Balgen ab, da warst du noch ein Bengel. Stimmt’s, Daddy?«
Die Verandatür schwang auf. »Ja«, sagte Mr. Rook, »aber ich nehm’s ihm nicht krumm, wirklich nicht. Wir waren kleine Jungs, und ich habe ihn einen dreckigen Kraut geschimpft. Das war im Krieg, und später hat es ihm wirklich leidgetan. Man muss alles immer möglichst positiv sehen – ohne meine Nase wäre ich deiner Mutter damals bestimmt nicht aufgefallen. Eine prächtige Nase war das. Ich habe sie Abraham Lincolns Nase nachempfunden und sie aus dunklem Nussholz geschnitzt.« Er stellte eine verbeulte schwarze Angelkiste neben Carroll auf die Planken und ging in die Hocke. »Schauen Sie mal.«
Die Kiste war mit rotem Samt ausgekleidet, und im sanften Schein des Oktobermonds schimmerten die Nasen wie im Licht einer Juwelierlampe: Nasen aus Holz und gehämmertem Kupfer, aus Zinn und aus Messing. Eine schien aus Silber zu sein, mit eingearbeiteten Perlen aus Türkis. Es gab Adlernasen, manche liefen spitz zu wie gotische Türme, wieder andere waren gerümpft, was Carroll an winzige Vogelkrallen denken ließ. »Wer hat die gemacht?«, fragte er.
Mr. Rook räusperte sich bescheiden. »Ist ein Hobby von mir. Sie können sie gern herausnehmen.«
»Mach ruhig«, sagte Rachel.
Carroll suchte sich eine Nase aus, die mit blauen und rosaroten Blumen bemalt war. Glatt und leicht lag sie in seiner Hand wie eine ausgeblasene Eierschale. »Die hier ist wunderschön«, sagte er. »Aus was für einem Material besteht sie?«
»Pappmaché. Ich habe für jeden Tag der Woche eine andere.«
»Wie sah das … Original aus?«
»Daran kann ich mich wirklich kaum noch erinnern. Es war keine besondere Nase. Damals.«
»Zurück zur eigentlichen Frage bitte«, sagte Rachel. »Wofür entscheidest du dich, für die Liebe oder für das Wasser?«
»Was passiert, wenn ich die falsche Antwort gebe?«
»Das wirst du dann schon herausfinden.«
»Wofür würdest du dich entscheiden?«
»Das ist meine Frage, Carroll. Du hast deine schon gestellt.«
»Ja, aber die hast du auch noch nicht beantwortet. Na schön, okay, lass mich kurz überlegen.«
Rachels glattes, rotbraunes Haar reichte ihr genau bis zu den Schultern. Ihre Augen waren fuchsfarben, und sie hatte kleine, gerade Zähne, allerdings mehr, als es Carroll wirklich notwendig erschien. Sie lächelte ihn an und beugte sich über die Schachtel voller Nasen; unter dem dünnen Baumwollshirt zeichneten sich ihre Schulterblätter ab und dazwischen wie gezackte Korallen die Linie ihres Rückgrats. Als sie zum Essen hineingingen, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Meine Mutter hat ein Holzbein.«
Sie führte ihn in die Küche, um ihn ihrer Mutter vorzustellen. In der Küche war es heiß und feucht, und auf Mrs. Rooks Stirn standen kleine Schweißperlen. Rachels Mutter ähnelte Rachel auf dieselbe Weise, wie Mr. Rooks hölzerne Nase einer echten Nase ähnelte – als hätte jemand Mrs. Rook aus Holz geschnitzt oder aus Granit gemeißelt. Sie hatte große Hände mit langen, gelblichen Nägeln, und ihr schwarzes Kleid war mit kurzen schwarzen Hundehaaren übersät. »Sie sind also Bibliothekar«, sagte sie.
»Nebenberuflich«, erwiderte Carroll. »Das ist richtig, Ma’am.«
»Und was machen Sie in der übrigen Zeit?«
»Ich studiere.«
Mrs. Rook starrte ihn an, ohne zu blinzeln. »Leben Ihre Eltern noch?«
»Meine Mutter, ja«, antwortete Carroll. »In Florida. Sie spielt gern Bridge.«
Rachel nahm ihn am Arm. »Na komm, das Essen wird kalt.«
Sie zog ihn mit sich in ein dunkel getäfeltes Esszimmer, wo ein langer Tisch für vier Personen gedeckt war. Als Mrs. Rook ihren Stuhl an den Tisch rückte, strich der Saum ihres langen schwarzen Kleids fauchend über den Boden. Carroll nahm neben ihr Platz. War es das rechte oder das linke? Er zog die Füße unter den Stuhl. Beide Frauen schwiegen, und Carroll saß schweigend zwischen ihnen. Aber Mr. Rook füllte die unbehagliche Stille, und Carroll war froh, dass der Bengel Biederbecke ihm die Nase und nicht die Zunge abgebissen hatte.
Wie hatte sie wohl ihr Bein verloren? Während er aß, nahm Mrs. Rook ihn kühl und systematisch in Augenschein, und unter dem Tisch hielt er zur Beruhigung Rachels Hand, was ihre Mutter bestimmt bemerkte und missbilligte. Er aß seinen Schweinebraten, balancierte die Erbsen auf der Messerklinge. Erbsen waren ihm zuwider. Zwischendurch stürzte er den rosa Wein hinunter. Er war süß und stark und schmeckte nach Karamell. »Ist das Apfelwein?«, fragte er. »Schmeckt ausgezeichnet.«
»Erdbeerwein«, antwortete Mr. Rook geschmeichelt. »Nur keine Zurückhaltung. Wir setzen jedes Jahr welchen an. Ich kann seinen Geschmack nicht beurteilen, aber er ist ziemlich stark.«