Septemberschuld - Klara Nordin - E-Book

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Klara Nordin

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Beschreibung

Lappland im Herbst: ein hochspannender Fall für Kommissarin Lundin Der Blick schweift über die sanft ansteigenden Berge des Sarek Nationalparks, über das strahlende Rot der Beerensträucher und das satte Gelb der Birken: Es ist Mitte September, Lappland leuchtet in den kräftigen Farben des Herbstes, und in den Bergen fallen die ersten Schneeflocken. Es ist die Zeit, in der die Einheimischen ihre Rentiere zusammentreiben, um das samische Rentierschlachtfest zu begehen, als plötzlich die Leiche einer Frau gefunden wird: mitten unter den nach traditionellen Riten geschlachteten Tieren, erschossen mit einer Bolzenschusspistole. Hauptkommissarin Linda Lundin und ihre Kollegen müssen auf der Suche nach dem Mörder von Ella Vikström tief in die Vergangenheit eines zerrissenen Dorfes eintauchen, das ein brisantes Geheimnis verbirgt. Vor den faszinierenden Weiten des Polarkreises offenbart sich Kommissarin Lundin ein Netz aus Schuld und Verrat, das bis in die unmittelbare Gegenwart reicht.

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Seitenzahl: 409

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Septemberschuld

Ein Lappland-Krimi

Kurzübersicht

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Inhaltsverzeichnis

MottoKarte LapplandFreitag, 15. September1. Kapitel2. KapitelSamstag, 16. September1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelSonntag, 17. September1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelMontag, 18. September1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelDienstag, 19. September1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelMittwoch, 20. September1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelDonnerstag, 21. September1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelFreitag, 22. September1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelSamstag, 23. September1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. KapitelSonntag, 24. September1. Kapitel2. Kapitel
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Für die Samen – das Volk der Sonne und des Windes

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Freitag, 15. September

1

Die kleine lappländische Grubenstadt erstrahlte in einem betörenden Licht. Vogelbeerbäume leuchteten orangerot, und die letzten Weidenröschensamen flogen mit den Krähen um die Wette. Auf dem schmalen Seeweg, der die Einfahrt nach Gällivare verschönte, spazierten junge Frauen mit Kinderwagen. Unter blauem Himmel und leuchtenden Birkenblättern saßen alte Leute auf Parkbänken, freuten sich an der ungewöhnlich warmen Septembersonne und beobachteten zwei Singschwäne, deren Abflug durch das schöne Herbstwetter verzögert worden war. Am Hang gegenüber dem See lagen ein paar bunte Reihenhäuser mit ausladenden Holzbalkons. Auf der abgegrenzten Grünfläche davor ballerten ein paar Jungs mit ihrem Fußball auf ein etwas in die Jahre gekommenes Holztor, dessen Farbe einst Weiß gewesen sein muss. Sie rannten, lachten und wischten sich den Schweiß von der Stirn.

Es war ein stiller und friedlicher Septembernachmittag, als ein Mann mit seinem Pick-up Richtung Stadtmitte fuhr. Er bog nach links, kurz darauf war er an seinem Ziel angekommen. Er schaute sich um, stellte den Wagen auf dem großen Parkplatz vor dem Städtischen Krankenhaus ab und wartete. Ihr weißer Saab stand nahe der Eingangstür. Seinen verrosteten Pick-up hatte er zwei Reihen weiter hinten geparkt, sie würde den Wagen sicher nicht bemerken. Noch nie hatte sie ihn bemerkt. Sein Pick-up stand perfekt. Er hatte die Eingangstür genau im Blick.

Er beobachtete, wie eine Krankenschwester einer alten Frau mit Rollator die Tür aufhielt. Umständlich mühte diese sich nach draußen und schlurfte dann mit winzigen Schritten ihrer Gehhilfe hinterher. Unmerklich schüttelte er den Kopf. So wollte er nicht enden, so hilfsbedürftig und schwach. Er schaute auf das Armaturenbrett, es war kurz vor 17 Uhr. Sie hatte heute früher Feierabend als sonst, das hatte ihm heute Morgen eine Kollegin verraten, als er sich telefonisch nach ihr erkundigt hatte. Sicher würde es nur noch wenige Minuten dauern, dann würde sie mit ihrem beschwingten Gang Richtung Saab laufen. Energisch würde sie die blonden, gewellten Haare zurückwerfen. Sie würde lachen und eine Reihe ebenmäßiger Zähne zeigen. Sie hatte so wunderschöne weiße Zähne! Dann würde sie sich ins Auto setzen und nach Hause fahren. Doch vorher würde er sie abpassen, heute würde er sich trauen, heute würde er ihr die Blumen überreichen. Und sie? Sie würde endlich begreifen, dass sie ihn liebte. Er lächelte und richtete seinen Rücken auf. So konnte er die Eingangstür noch besser beobachten.

Sie mochte Wiesenmargeriten. Das hatte er herausgefunden und heute Morgen stundenlang gesucht, erst mit dem Auto, dann zu Fuß, viele Kilometer lang, bis er endlich welche entdeckt hatte. Die letzten dieses Jahres, auf einer Bergwiese nahe dem Laddju-See. In dieser Gegend hatte er früher als kleiner Junge gespielt, und er erinnerte sich daran, wie er seiner Mutter einmal einen Blumenstrauß gepflückt hatte, sogar eine wilde Orchidee hatte er gefunden. Aber Mutter hatte vergessen, den Blumen Wasser zu geben, und er hatte am Abend im Bett bitterlich geweint.

Sein Blick fiel auf den Nebensitz. Er hatte zu Hause noch ein Stofftaschentuch mit Wasser getränkt und es sorgfältig um die Stielenden gelegt, aber langsam ließen die Margeriten die Köpfe hängen. Verdammt! Wo blieb sie nur?

Die Sonne blendete ihn, er setzte seine Sonnenbrille auf. Mitte September fielen in Lappland manchmal schon die ersten Schneeflocken in den Bergen. Doch seit zwei Wochen strahlte die Sonne vom Himmel, als würde sie den Bewohnern vor dem kommenden harten Winter nochmals zeigen wollen, wie viel Kraft in ihr steckte. Er schwitzte, öffnete das Fenster seines Pick-ups einen Spalt und rieb sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

Die Fahrt vorhin nach Gällivare hatte er genossen, obwohl er eigentlich lieber in den Bergen bei seinen Rentieren war. Aber heute hatten die Birken am Fahrbahnrand in allen Gelb- und Orangetönen geleuchtet. Der leichte Wind hatte die Blätter in der Sonne tanzen lassen und er hatte sogar vor sich hin gepfiffen, was er selten tat. Doch langsam schlug seine gute Laune um. 17.07 Uhr. Nervös nestelte er ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen aus der Ablage. Er kurbelte die Scheibe weiter nach unten und blies den Rauch aus dem Fenster. Dann richtete er seinen Blick wieder konzentriert auf die Eingangstür.

Sie kam. Er duckte sich abrupt. Sie war in Begleitung, eine junge Frau in weißer Schwesterntracht. Mist! Er musste umdenken, umdisponieren. Niemand sollte ihn sehen, wenn er sie ansprach. Die beiden lachten, die junge Frau hob die Hand zum Gruß und ging wieder zurück, Richtung Eingangstür des Krankenhauses. Sie jedoch setzte sich in ihren Saab. Entschlossen startete er den Pick-up.

2

Jon Henrik Paltto liebte den weiten Blick auf die sanft ansteigenden Berge, die Sicht ins Sarek-Gebirge boten und dazu die leuchtenden Farben des Herbstes. Das Bordeauxrot der Blaubeersträucher, das satte Gelb der Zwergbirkenblättchen und die hellgelben, kurzen Gräser, die auf dem kargen lappländischen Boden wuchsen. Ein Anblick wie auf einer alten, vergilbten Postkarte.

Er legte das Fernglas beiseite und setzte sich auf die trockenen Flechten. Nach der anstrengenden Woche, in der er gemeinsam mit anderen Samen die Rentiere aus den Bergen zusammengetrieben hatte, war er müde. Mit Quads und Hunden waren sie unterwegs gewesen. Zuletzt hatten sie noch einen Helikopter eingesetzt, um die Tiere ins Gehege zu treiben. So viele Nächte auf einer harten Holzpritsche, das machte dem durchtrainierten, aber mit seinen knapp sechzig Jahren langsam ins Alter kommenden Jon Henrik zu schaffen. Dennoch, der Same liebte dieses Leben, und er genoss jede Minute davon. In der Natur sein, die Rentiere beobachten, die unermüdlich saftige Flechten und Gräser fraßen und das beste Fleisch gaben, das er kannte. Zart, wenig Fett, mit einem leichten Wildgeschmack. Er schloss die Augen und genoss die Sonnenstrahlen auf dem Gesicht.

Jedes Jahr Mitte September vor der Brunft schlachteten die Samen einige ihrer Rentiere. Die Tiere hatten den ganzen Sommer über gefressen, waren keinem Stress ausgesetzt gewesen und hatten in den Bergen ein gutes Leben geführt. Auch die im Mai geborenen Kälbchen waren dank des herrlichen Sommers zu prächtigen Tieren mit glänzendem Fell herangewachsen. Diesen Sommer hatte Jon Henrik nur wenige Kälber verloren. Sie hatten ausreichend Futter gefunden, das Wetter war gut gewesen und Vielfraß, Luchse und Bären hatten anderweitig Nahrung gefunden und die Rentiere verschont.

Jon Henrik nahm noch einmal sein Fernglas zur Hand und beobachtete den Helikopter, der mit einem riesigen Sack, der unter dem Landegestell hing, Wasser aus einem kleinen Teich schöpfte und über dem Gehege ausleerte, in dem gleich die letzten Rentiere zur Schlachtung aussortiert werden sollten. Seit Tagen hatte es nicht mehr geregnet und die Weidefläche im Gehege war staubtrocken. Manche Rentierzüchter trugen deshalb sogar Mundschutz bei der Arbeit.

Über 7000 Tiere hatten sie gestern Nachmittag in dem großen Gehege zusammengetrieben. Seit heute Morgen hatten sie die Rentierkälber markiert, die im Juli vergessen worden waren oder die sie in den Bergen nicht gefunden hatten. Und sie hatten vor allem mit dem Lasso die Bullen eingefangen, die zur Schlachtung bestimmt waren. Jon Henrik war für heute mit der Arbeit fertig. Er hatte seine Schlachttiere gemeinsam mit seinem Gehilfen Matti bereits aussortiert. Zwei für den Eigenbedarf, eines für Matti, als Lohn für seine Arbeit. Fünfzig Rentiere würde er an eine Schlachterei verkaufen. Sie würde die Tiere morgen Nachmittag abholen. Jon Henrik schloss den Reißverschluss seiner Regenjacke und setzte eine Wollmütze auf. Obwohl die Sonne immer noch strahlte, fröstelte es ihn. Der Wind hatte gedreht, er kam nun von Norden und blies ihm unangenehm in den Nacken. Hinter den Bergen tauchten auch schon die ersten dunklen Wolken auf. Hoffentlich würde es nicht regnen. Sonst würde der Schlachtplatz morgen wie ein Schlachtfeld aussehen. Er schlug die Kapuze über die Mütze. Wurde Zeit, dass er runterging vom Berg, Ella wollte bald kommen. Er sollte seinen Bauwagen heizen und es gemütlich machen für seine Frau. Bevor er vor einer Woche hier hinauf in die Berge nach Kuorpak gefahren war, hatte er sich einen kleinen gusseisernen Ofen gekauft. Mit den abgelagerten Birkenholzscheiten würde er den Wagen sicher schnell warm bekommen. Und das Essen sollte er auch vorbereiten, Rentiergeschnetzeltes mit Kartoffelpüree, das mochte sie so gerne, und auch er hatte nach der anstrengenden Arbeit einen Bärenhunger.

»Wir sind doch hier fertig, oder?«

»Klar.« Jon Henrik nickte Matti zu, der startbereit auf dem Quad saß, dahinter ein Anhänger mit einem toten Rentier.

»Nimm das Tier gleich aus, wenn du an deiner Hütte bist.«

»Mach ich«, sagte Matti, »und danke noch mal.«

Jon Henrik nickte und hob zum Abschied kurz die Hand. Das Rentier hatte sich im Gehege verletzt. Ein Bulle hatte es mit seinen Hörnern aufgespießt, sie hatten es sofort töten müssen. Matti hatte gut gearbeitet, deshalb hatte er ihm das Rentier zusätzlich zum Lohn geschenkt. Sein Gehilfe war zwar nicht der kräftigste, aber er hatte ein Gespür für die Tiere und redete beruhigend auf sie ein, wenn er sie mit dem Lasso einfing und in den Gang zog, in dem die Rentiere nach unten, Richtung Schlachtplatz, laufen mussten. Hoffentlich würde Matti heute Abend nicht so viel trinken. Morgen musste er fit sein, Schlachten war harte Arbeit. Und sie waren nur zu zweit.

»Deine Tasche mit den Klamotten leg ich dir vor den Bauwagen«, rief Matti ihm noch zu und düste los zu der Berghütte, die er sich in diesen Tagen mit zwei anderen Samen als Schlafplatz teilte.

Jon Henrik ging zu seinem Rucksack, den er an einer Stange des Wildzauns abgelegt hatte. Er war leicht, die Thermoskanne mit dem Kaffee war leer, das getrocknete Rentierfleisch und das Fladenbrot hatte er aufgegessen. Einige der zum Schlachten aussortierten Rentiere standen hinter dem Zaun und schauten ihn mit ihren dunklen, sanften Augen an. Rentiere waren klug, sie wussten wahrscheinlich, dass dies ihr letzter Gang werden würde. Drei Kilometer, runter vom Berg, bis sie im unteren Gehege ankommen würden. Morgen würden die Rentierzüchter ihre Tiere dann erneut mit dem Lasso einfangen, ein Bolzenschuss in die Stirn, dann ein Stich in die Kehle, ausbluten. Es würde schnell gehen. Das war das Los der Tiere.

»Na, geht schon«, Jon Henrik klatschte in die Hände. Die Rentiere machten einen Satz, drehten sich um und liefen davon, hinunter, Richtung Schlachtplatz.

Er ging über die bunt gefärbte Hochfläche. An einem Bach schöpfte er mit seiner Trinkschale kaltes, klares Wasser und trank. Er schaute nach oben auf den Berg und sah im untergehenden Sonnenlicht die Silhouetten der Rentiere, die am Zaun entlangliefen. Ein Todesmarsch. Er beobachtete die Tiere, die zögerlich weitergingen, dann wanderte er den ausgetretenen, staubigen Bergpfad nach unten zu den Übernachtungshütten und Bauwagen der Samen. Ab und an überholte ihn ein Geländefahrzeug. Die meisten Rentierzüchter benutzten schwere Quads. Sie fuhren damit auf die Berge, zu ihrem Arbeitsplatz, und am Abend knatterten sie wieder nach unten. Es war ein praktisches Arbeitsgerät, zudem konnte man mit Hänger fahren und Arbeitsutensilien damit transportieren. Jon Henrik war froh, dass heute Matti mit seinem Quad fuhr. Er selbst war die ganze Woche über damit gefahren und sein Rücken war etwas mitgenommen. Gut, dass sein Gehilfe ihm diese lästige Fahrt abnahm und er zu Fuß unterwegs sein konnte.

Das Handy klingelte. Eine SMS von Ella. Sie würde etwas später als vereinbart kommen, sie wolle noch kurz bei Louise, seiner Schwägerin, vorbeifahren.

Er nutzte die Zeit und machte kurz vor der Baumgrenze noch eine Rast. So hatte er noch einmal einen freien Blick ins Sarek-Gebirge. Jon Henrik stopfte sich eine Pfeife und ließ den Blick schweifen. Weit im Norden blitzten weiße Bergspitzen hervor und kündeten vom kommenden Winter. Langsam zog er an seiner Pfeife und lauschte der Stille der Landschaft.

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Samstag, 16. September

1

Margareta Mattsson schreckte auf. Sie hatte tief geschlafen, doch das schrille Läuten ihres Diensthandys hatte sie schließlich doch aus ihren Träumen geholt. Mit geschlossenen Augen versuchte sie das Handy zu ertasten, das sie auf der kleinen Holzablage neben ihrem Bett vermutete. Sie hörte jedoch nur das Aufklatschen eines dicken Buches, das auf dem Holzboden gelandet war.

»Mist!« Sie öffnete die Augen, hörte immer noch das penetrante Läuten, reckte sich und langte in den Kleiderstapel, der auf dem Holzstuhl nahe am Bett lag. In ihrer dunkelblauen Diensthose wurde sie fündig.

»Polizeiinspektorin Margareta Mattsson.« Sie lehnte sich an die mit blauen Holzpaneelen verkleidete Wand. Ihre langen dunklen Locken standen ihr wirr vom Kopf.

»Hier ist Jon Henrik Paltto, tut mir leid, dass ich Sie so früh störe, die Polizeizentrale hat mir Ihre Nummer gegeben, denn meine Frau … sie ist nicht gekommen.«

Margareta Mattsson hatte den Namen des aufgeregten Mannes schon einmal gehört. Aber sie kam nicht drauf, woher sie ihn kannte. Sie ließ ihn ausreden, immer wieder verhaspelte er sich. Schließlich unterbrach sie ihn und fasste kurz zusammen. »Also, Ihre Frau wollte am Abend zu Ihnen nach Kuorpak kommen, aber sie ist nicht aufgetaucht und Sie können sie auch nicht auf ihrem Handy erreichen. Sie haben sie gestern Abend gesucht, dann wieder heute früh und haben gerade ihr Auto entdeckt. Ist das korrekt?«

»Ja.«

»Wo steht das Auto?«

»Nicht weit weg vom Parkplatz, vielleicht hundert Meter weiter unten an der Straße. Der Wagen ist offen, ihre Handtasche ist da, der Schlüssel steckt, aber sie ist weg. Ich verstehe das nicht und … und ihr iPhone ist auch nicht da.«

»Beruhigen Sie sich erst mal. Kann es sein, dass sie sich verlaufen hat?«

»Nein, sie weiß, wo mein Bauwagen steht. Sie hätte um circa neun Uhr gestern Abend da sein müssen. Ella war noch kurz vorher bei meiner Schwägerin in Porjus, und die meinte, sie sei dort gegen sieben Uhr losgefahren.«

Margareta hörte den hektischen Atem des Mannes.

»Haben Sie sie rund um das Gelände gesucht?« Sie schaute auf das Display ihres Handys, es war Viertel vor acht. Seit zwei Stunden musste es bereits hell sein.

»Natürlich, ich konnte ja die ganze Nacht kein Auge zutun. Seit halb sechs laufe ich hier draußen herum. Aber …«

»Könnte es sein, dass sie in einer anderen Hütte übernachtet …?«

»Quatsch!«, fuhr ihr der Mann ins Wort.

»Sind Sie sich ganz sicher?«

»Ja, bin ich!«, kam es empört vom anderen Ende. »Ella und ich sind frisch verheiratet. Nein … sie ist verschwunden. Mein Gott … wenn ihr was passiert ist.«

»Okay, ich komme und schau mich um. Rühren Sie nichts mehr an. In zwei Stunden bin ich bei Ihnen.«

 

Das war es wohl mit ihrem freien Wochenende. Margareta seufzte und stand auf. Hanna, ihre zehnjährige Tochter, war mit ihrem Exmann bei der Schlachtung in Kuorpak, und sie selbst hatte heute eigentlich vorgehabt nach Luleå, in die Kreisstadt, zu fahren. Sie wollte sich eine neue Winterjacke kaufen, die alte war ihr zu klein geworden. Margareta mochte es, durch Luleås Fußgängerzone zu laufen, sich treiben zu lassen, ins Café des Kulturhauses zu gehen und aufs Meer zu schauen. Und das alles alleine, ohne ihre neugierige Tochter, die sie, wenn sie dabei war, immer ungeduldig von einem Laden zum anderen zog. Sie brühte sich starken Kaffee und aß eilig zwei Toasts mit Moltebeermarmelade.

Ihr alter Volvo stand startklar auf dem überdachten Stellplatz vor ihrer Wohnung. Schnell schloss sie die Autotür auf. Gestern Abend war es deutlich kälter geworden und jetzt fing es auch noch an zu regnen.

Jokkmokk war an diesem frühen Samstagmorgen wie ausgestorben. Die beiden Supermärkte, Ica und Coop, waren noch geschlossen, nur im Café an der Hauptstraße sah sie beim Vorbeifahren ein paar Köpfe aufblitzen. Rasch umrundete sie das Rondell und tauschte kurz darauf an der Polizeistation ihren in die Jahre gekommenen Volvo mit dem Dienstwagen. Im Polizeibüro war niemand. Ihr Kollege Bengt Karlsson und die beiden Assistenten hatten frei. In der kleinen, zweieinhalbtausend Einwohner zählenden Stadt war normalerweise nicht viel los, und die üblichen Alkoholkontrollen würden dieses Wochenende die Kollegen aus Gällivare übernehmen.

Margareta fuhr die Landstraße von Jokkmokk nach Norden, Richtung Porjus, nach sieben Kilometern bog sie nach links ab, Richtung Kvikkjokk. Es war trüb heute Morgen. Dunkle Regenwolken verdüsterten den Himmel, der gestern noch strahlend blau gewesen war. Schade, dachte sie, das war es wohl mit dem Herbst. Wenn es noch etwas kälter werden würde, könnte es in den Bergen bereits schneien.

Über neunzig Kilometer lagen noch vor ihr. Gott sei Dank war die Straße erst vor Kurzem neu geteert worden. Zu irgendetwas mussten die in der Nähe geplanten Eisenerzgruben ja gut sein, und wenn sie dem Straßenausbau dienten. Sollte die Gemeinde ihre Pläne verwirklichen, würden die Samen allerdings Schwierigkeiten bekommen, hier weiterhin Rentierzucht zu betreiben. Die Tiere würden kein Futter mehr finden, und die vielen Lastwagen, die das Erz abtransportierten, wären eine große Gefahr für die frei herumlaufenden Rentiere. Aber vielleicht würden sich die Grubenpläne ja in Schall und Rauch auflösen, wie so oft. Margareta hoffte es.

Der Weg zog sich. Hinter Vaikijaure, einem kleinen Dorf mit gerade einmal hundert Einwohnern, tauchten nur noch vereinzelte Häuser am Straßenrand auf. Die Gegend wurde immer einsamer. Fichten und Kiefern bestimmten das Bild, dunkle Schatten, die sich in dem immer stärker werdenden Wind zur Seite bogen. Bei Sonnenschein war diese kilometerlange Strecke am Skalka-See entlang wunderschön. Schon einige Male hatte sie zusammen mit Hanna hier ein Lagerfeuer gemacht und letzten Winter waren sie bei strahlend blauem Himmel mit dem Skooter über den zugefrorenen See gedüst. Doch heute war das sonst so klare blaue Wasser tiefschwarz. Regen peitschte schräg auf die Oberfläche und hohe Wellen schlugen gegen das Ufer. Margareta schaltete die Scheibenwischer eine Stufe höher und drosselte das Tempo.

Nach knapp siebzig Kilometern erreichte sie die Abzweigung nach Kuorpak. Jetzt ging es rauf auf den Berg. Ab dem Seitevara-Kraftwerk fuhr sie auf einem unbefestigten, matschigen Waldweg. Margaretas BMW geriet ins Schleudern, sie musste noch langsamer fahren. Das ganze Jahr über war die Straße Richtung Kuorpak gesperrt, doch zur Schlachtung wurde sie geöffnet, damit die Samen ungehindert zu ihrem Arbeitsplatz gelangen konnten. Nur wenige Male im Jahr war die kleine Siedlung bewohnt. Ab und an im Winter, wenn die Samen Rentiere einfingen und in das Winterweidegebiet weiter unten Richtung Jokkmokk brachten, und eben Anfang September zur Schlachtung. Die Samen, die Rentiere besaßen und zur Vereinigung der Sirkas-Samen gehörten, einem der über fünfzig wirtschaftlichen Zusammenschlüsse, die es in Lappland gab, wohnten dann in ihren provisorischen Übernachtungshütten aus Holz oder in ihren Camping- und Bauwagen, um dort oben die Rentiere für den Eigenbedarf zu schlachten oder sie an die Schlachterei zu verkaufen. Früher hatten die Samen dort oben auf dem Berg in Torfkoten gewohnt, heute hatten sie es zumindest etwas bequemer.

Schwarze Abfallsäcke flatterten an den Wegbegrenzungen am Straßenrand, ein Zeichen dafür, dass Rentiere kreuzten. Sie wurden vor allem als Warnung für die Touristen angebracht, die ab und zu auftauchten, um bei der Schlachtung zuzuschauen. Margareta grinste. Bengt kam ihr in den Sinn, ihr älterer Kollege. Er band den Touristen, die fragten, was diese Säcke sollten, immer wieder einen Bären auf.

»Wenn Sie ein Rentier überfahren haben, dann stecken Sie es in einen dieser Säcke«, war seine Antwort, wenn die Touristen nach der Bedeutung der Säcke fragten. Und dabei hüpfte sein Bauch unter der Uniformjacke.

Margareta schaute auf die Kilometeranzeige, sie war fast hundert Kilometer gefahren, gleich müsste sie da sein.

Die Scheibenwischer ihres BMWs bewegten sich immer noch hektisch hin und her. Wegen einer Fahrrille musste sie das Tempo noch mehr drosseln und da fiel ihr das weiße Fahrzeug auf, das etwas verloren am rechten Fahrbahnrand stand. Sie parkte den gelbblauen Dienstwagen ein paar Meter hinter dem Saab, griff ihre Regenjacke und stieg aus. Sofort sank sie im weichen Untergrund ein. Gut, dass sie ihre Stiefel angezogen hatte. Kalter Regen peitschte ihr ins Gesicht. Sie zog Gummihandschuhe über und öffnete den Wagen. Der Autoschlüssel steckte im Schloss, wie Jon Henrik Paltto gesagt hatte. Neben dem Fahrersitz lag eine schwarze Handtasche. Der übliche Inhalt: Kleinkram, Papiertaschentücher, Spiegel, Hausschlüssel, ein Portemonnaie. Kein Bargeld, aber zwei Scheckkarten und ein Pass. Margareta schaute auf das Passfoto. Die Frau hatte leicht gewelltes, schulterlanges Haar, große Augen, eine etwas spitze Nase, dennoch war sie sehr hübsch. Ein Blick auf ihr Geburtsdatum verriet: In zwei Monaten würde sie 48 Jahre alt werden. Margareta durchsuchte die Handtasche noch einmal, nein, kein Handy. Auf der Rückbank lag eine hellbraune Lederreisetasche mit Kleidung, daneben eine Tüte mit Fladenbrot, Birnen und Bananen, zwei Beutel Fertigsuppen und Fazer-Schokolade. Margaretas Magen machte sich bemerkbar, sie hatte Hunger. Der Kofferraum war bis auf ein Paar Gummistiefel leer. Ihr Blick fiel auf den Boden, der Regen hatte bereits tiefe Spurrillen gegraben, die Straße war ein einziger Matsch. Keine Chance, Schuhabdrücke oder Reifenspuren zu erkennen.

Warum hatte die Frau hier, etwa hundert Meter unterhalb des eigentlichen Parkplatzes von Kuorpak, gehalten? Margareta ging ein paar Schritte nach links, über einen Graben, schlug sich eine Schneise durch Weidenbüsche. Danach begann bereits der Wald. Hier standen hohe Birken und unzählige Wacholderbeerbüsche, am Boden wuchsen Blaubeersträucher und Moose, dazwischen lagen einige abgebrochene Birkenholzstämme, deren Wurzeln hoch in die Luft ragten. Wahrscheinlich war dieser Wald noch nie gerodet worden. Auch hier: keine Chance, bei diesem Wetter Spuren zu entdecken.

 

Sie fuhr den matschigen Weg bis ganz nach oben, vorbei am Parkplatz, auf dem dicht gedrängt mindestens fünfzig Fahrzeuge standen, vom kleinsten Fiat bis zu Pick-ups mit Aufsätzen und Kleinlastwagen mit Anhängern. Gleich hinter dem Parkplatz lag der Schlachtplatz. Eigentlich sollte es hier jetzt von Erwachsenen und Kindern nur so wimmeln, aber der unablässige Regen ließ gerade wohl kein Arbeiten zu. Sicherlich warteten die Samen ab, bis der Regen nachlassen würde. Margareta stieg aus und ging am Rentiergehege vorbei, in dem die zur Schlachtung aussortierten Tiere warteten. Sie hatte es immer vermieden, zu Schlachtungen zu gehen, und bisher war ihr das auch fast immer gelungen, obwohl ihr Exmann Same war und Hanna, ihre Tochter, immer voller Begeisterung mit dabei war. Johan hatte Hanna gestern nach der Schule abgeholt und war mit ihr hier herauf, nach Kuorpak gefahren. Margareta schaute sich nach den beiden um, sah jedoch nur zwei ältere Männer in Regenkleidung am Rentiergehege stehen. Sie zückte ihr Handy und rief Jon Henrik Paltto an.

Schon nach wenigen Minuten kam ihr mit Riesenschritten ein großer, drahtig wirkender Mann entgegen. Seine schwarzen Locken waren von grauen Strähnen durchzogen und das wettergegerbte Gesicht zeugte davon, dass er viel draußen war. Margareta schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Eigentlich hatte sie einen jüngeren Mann erwartet, seine Stimme hatte am Telefon eher jugendlich geklungen. Jon Henrik trug eine gegerbte Lederhose, die an den Nähten mit roten Bändern eingefasst war. An seinem samischen Gürtel baumelten zwei Messer in Schäften. Sie sah den tief besorgten Blick in den dunklen Augen des Mannes.

»Margareta Mattsson.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Gibt es etwas Neues?«

Jon Henrik schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich habe hier auf dem Schlachtgelände und auch weiter oben gesucht.« Er deutete mit dem Kopf Richtung Berg. »Wir konnten noch nicht mit der Schlachtung beginnen, weil der Regen zu stark war. Da hatte ich Zeit, mich umzuschauen.« Margareta sah, dass seine Lederhosen völlig durchweicht waren. »Ich habe alle gefragt, die mir über den Weg gelaufen sind, aber niemand hat Ella gesehen. Das gibt’s doch nicht!«

»Wo kam Ihre Frau her?«

»Aus Gällivare. Sie arbeitet dort im Krankenhaus.«

»Als Ärztin?«

Jon Henrik Paltto nickte.

»Kann es sein, dass sie hier oben zu einem Notfall gerufen wurde?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen, dann hätte sie mich sicher angerufen. Und warum sollte sie dann am Abend nicht zu mir gekommen sein?« Auf seiner Stirn zeigte sich eine steile Falte. »Ich verstehe das nicht. Sie kann doch nicht einfach verschwinden?«

2

Zwei Stunden lang durchsuchte Margareta alleine das Gelände. Jon Henrik musste sich zusammen mit seinem Gehilfen um seine Rentiere kümmern. Wenn am Nachmittag der Lastwagen der Schlachterei kommen würde, mussten seine Tiere bereit zum Abtransport sein.

Sie durchstreifte das Dickicht und den Birkenwald in der Nähe des abgestellten Saabs und umrundete alte, stillgelegte Gehege, in denen früher die Schlachtung stattgefunden hatte. Sie waren wohl zu klein geworden, deshalb hatten die Samen weiter oben neue gebaut. Sie lief durch dicht wuchernde Weidenbüsche, über Wiesen mit verblühtem Wollgras und Weidenröschen und nach oben auf den Berg, Richtung Hochfläche. Aber sie entdeckte nichts. Hier gab es auch keine Schlucht oder keinen Bergabsatz, den Ella hätte hinabgestürzt sein können. Der Berg war relativ flach und gut einsehbar. Margareta schaute durch ihr Fernglas, aber sie sah nur Zwergbirken und alte, ausgetretene Wanderpfade. Keine Spur eines menschlichen Wesens.

Schließlich ließ der Regen langsam nach, bis er ganz aufhörte und sogar ab und an die Sonne hinter dichten Wolken hervorblitzte. Nein, hier oben war nichts zu entdecken.

Sie ging den Berg wieder hinunter, vorbei an zerfallenen Torfkoten, in denen die Samen früher übernachtet hatten. Margareta linste durch ein schmutziges Fenster, aber es war zu dunkel, sie konnte kaum etwas erkennen. Früher waren diese Torfkoten mit frischen Birkenblättern ausgelegt gewesen. In der Mitte die Feuerstelle, darum verteilt die Rentierfelle, die damaligen Schlafplätze der Samen. Sie ging weiter und ließ auch die neueren Übernachtungshütten, Bau- und Wohnwagen links liegen, bis sie wieder unten am Schlachtplatz ankam.

Im Gehege waren inzwischen sicherlich um die fünfzig Samen damit beschäftigt, ihre Rentiere mit dem Lasso einzufangen. Das machten meist Männer, aber Margareta sah auch ein paar jüngere Frauen. Das Lasso verfing sich im Geweih und oft mussten die Samen die Tiere zu zweit zum Ausgang ziehen, denn die wehrten sich mit aller Kraft, versuchten das Lasso abzuschütteln und schlugen verzweifelt mit den Hinterbeinen aus. Doch sie hatten keine Chance. Unerbittlich wurden sie in die kleineren Gehege gezogen, in denen der Tod auf sie wartete. In einigen der Umzäunungen sammelte man die Tiere, die am Nachmittag zur Schlachterei gefahren werden sollten, in anderen standen diejenigen Tiere eng aneinandergedrängt, die für die Hausschlachtung bestimmt waren. Ein Rentier nach dem anderen wurde in einen kleinen, mit hohen Holzbrettern versehenen abgetrennten Verschlag gezogen. Dort wurden sie mit einer Bolzenschusspistole erschossen und bluteten dann, nach dem Schnitt in die Kehle, aus.

Margareta vermied es, hinzuschauen, sie konnte das viele Blut nicht sehen. Sicher, die Samen lebten vom Verkauf ihrer Tiere, Rentierfleisch war ihrer aller Grundnahrungsmittel, und es war auch das beste Fleisch, das sie kannte. Sie selbst liebte Rentierfleisch in jeder Form, in der Suppe, als Geschnetzeltes, als Hackfleisch. Trotzdem, das Schlachten der Tiere konnte sie nicht mitansehen.

Sie ging ein paar Schritte weiter. Auf dem Schlachtplatz wimmelte es nun von Kindern, Männern und Frauen. Meist zu zweit nahmen die Samen die Rentiere aus, schabten vorsichtig mit dem Messer das Fell ab, damit es nicht beschädigt wurde, und entfernten die Innereien. Die fertig ausgenommenen Rentiere wurden an einem Haken aufgehängt, die abgeschnittenen Rentierköpfe lagen etwas abseits auf dem Boden. Mit Holzstäben rührten Kinder das in großen Eimern aufgefangene Rentierblut um. Einige ältere Saminnen kümmerten sich um die Kleinkinder, machten Feuer und bereiteten Kochkaffee zu. Margareta schaute sich genauer um. Sie sah keine Touristen, wie sonst üblich. Wahrscheinlich hatte sie das schlechte Wetter abgehalten. Nur zwei Journalisten von TV4 hatte sie vorhin ausmachen können. Einer hatte eine schwere Kamera auf der Schulter getragen, der andere hatte mit einem Mikrofon Interviews geführt. Margareta grüßte einige Bekannte mit Kopfnicken, dennoch bemerkte sie die misstrauischen Blicke der Samen. Sie fragten sich sicher, was eine Polizistin hier zu suchen hatte.

Langsam ging sie weiter durch die arbeitenden Menschen hindurch. Ruhig ging es hier zu, fast gelassen. Es herrschte keinerlei Hektik, niemand schrie herum, die Samen unterhielten sich leise, sie beherrschten ihre Arbeit. Etwas abseits vom Getümmel bemerkte Margareta eine alte Samin an der Schlachtbank. Trotz der blutigen Arbeit trug sie die prachtvolle samische Tracht: eine bunt bestickte Mütze und einen dunkelblauen Wollumhang. Die alte Frau kam Margareta bekannt vor. Sie trat ein paar Schritte näher. Tatsächlich, es war Satu Kuhmunen, deren Enkel vor eineinhalb Jahren seinen besten Freund verloren hatte. Er war ermordet worden. Mit ruhigen Bewegungen schnitt die Samin den Körper des Rentieres auf und nahm konzentriert, ja fast andächtig, das Tier aus. Fasziniert sah Margareta ihr dabei zu. Als die alte Frau den Kopf hob und ihr zulächelte, lächelte Margareta beschämt zurück. Hatte sie die Samin bei ihrer meditativen Arbeit gestört? Sie ging weiter, das alles hatte keinen Sinn, hier war Ella Vikström auch nicht. Sie musste die Suche abbrechen, vielleicht würde sie irgendwann einfach wieder auftauchen. Margareta hoffte es.

 

Sie fand Jon Henrik Paltto in einem der Gehege. Er unterbrach seine Arbeit und lief ihr entgegen.

»Es tut mir sehr leid, aber ich habe sie nicht gefunden. Wir müssen abwarten, vielleicht taucht sie wieder auf und alles war ganz harmlos.« Margareta zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Aber …«

»Wir warten noch einen Tag ab. Wenn sie bis morgen früh nicht auftaucht, werde ich einen Suchtrupp organisieren.« Sie versuchte zu lächeln, merkte aber, dass es ihr misslang. »Im Moment kann ich leider nicht mehr tun. Es verschwinden viele …« Sie verkniff sich den Rest des Satzes, weil sie Jon Henriks wütenden Blick bemerkte.

»Was meinen Sie damit? Sie ist nicht Zigaretten holen gegangen.«

Nein, das hatte sie auch nicht gemeint, doch das konnte sie ihm nicht sagen. Sie hatte an den »Mustang-Mann« gedacht. Vor ein paar Jahren war ein Mann verschwunden, dessen weißer Ford Mustang am Pärlälven, am Perlenfluss, geparkt war. Nicht weit von Jokkmokk entfernt. Zuerst hatte sich niemand etwas dabei gedacht, Wanderer stellten manchmal ihre Autos an den unmöglichsten Stellen ab. Es war auch niemand vermisst gemeldet gewesen. Doch der Wagen hatte wochenlang am Wegesrand gestanden und nach zwei Monaten war eine Vermisstenmeldung aus Polen eingetroffen. Sie hatten damals mit Spürhunden gesucht, hatten sogar private Suchtrupps eingeschaltet, jedoch ohne Erfolg. Der Mann war bis heute verschwunden.

»Bitte melden Sie sich bei mir, wenn …«

Doch Jon Henrik Paltto hatte ihr bereits den Rücken zugekehrt und ging zurück zu seinen Tieren.

Sie kramte nach ihrem Autoschlüssel, da fiel ihr Blick auf Johan, ihren Exmann, der weiter hinten auf dem Gelände an einer Schlachtbank beschäftigt war. Sie ging zu ihm und fragte nach Hanna. Er sagte nichts, deutete nur kurz nach links zum Parkplatz, dann widmete er sich wieder seiner Arbeit. Zuerst sah Margareta nur ein Gewusel von Menschen, doch dann stach ihr die türkisfarbene Regenjacke ihrer Tochter in die Augen. Mit Riesenschritten lief Margareta auf den mit Schlachtabfällen gefüllten Container zu, auf dem Hanna mit zwei weiteren Mädchen stand und interessiert zwischen Rentiermägen, Lebern, Nieren, abgeschnittenen Köpfen und Gedärmen herumstocherte.

»Was zum Teufel tust du da oben? Verdammt, Hanna, komm sofort da runter!«

»Was?« Hanna hob sichtlich genervt den Kopf.

»Spinnt ihr? Was soll denn das?« Margareta sah die blutigen Eingeweide, sie musste würgen und sich am Container festhalten, wich jedoch sofort wieder angeekelt zurück.

Die drei Mädchen schauten sie mit großen Augen an.

»Wir suchen nach Abfällen für Mirko. Er mag am liebsten den Schlund von den Rentieren«, sagte Hanna und fuhr unbeirrt damit fort, mit einem Holzstecken in den Gedärmen zu wühlen.

»Runter! Aber sofort!« Margaretas Ton war so scharf, dass Hanna keinen Widerstand mehr leistete. Widerwillig stiegen die drei Mädchen über die Holzrampe aus dem Container.

»Aber Papa hat gesagt, Mirko braucht …«, versuchte es Hanna erneut. Die beiden anderen Mädchen schauten verlegen, doch ihre Tochter wollte immer noch nicht aufgeben. Mit finsterer Miene schaute Hanna ihr direkt ins Gesicht.

Mirko, Johans Lappenhund, ein schwarzer Wirbelwind mit dunklen, treuen Augen. Früher war es mal ihr gemeinsamer Hund gewesen. »Mir egal, was Papa sagt«, unterbrach Margareta ihre Tochter. »Mirko wird sicher noch was anderes zum Fressen finden. Ihr könnt doch nicht blutende Schlachtabfälle durchwühlen. Das ist ja widerlich!«

»Mirko mag das. Mann, bist du blöd!« Abrupt drehte sich Hanna um und rannte davon, hinterdrein ihre Freundinnen.

Margareta schaute den Mädchen nach und schüttelte den Kopf. Ihre gerade mal zehnjährige Tochter, die wochenweise bei ihr oder Johan wohnte, wurde in letzter Zeit immer aufmüpfiger. War das schon der Anfang der Pubertät? »Hanna! Jetzt bleib doch stehen«, rief sie ihr noch nach. Aber die war bereits zwischen abgezogenen und aufgehängten Rentierleibern verschwunden.

Wie konnte Johan sie noch dazu ermuntern, in Schlachtabfällen zu graben? Darüber würde sie mit ihm reden müssen! Und sie hoffte, dass er wenigstens dazu eine Meinung haben würde, wo er sonst so schweigsam war und nur das Nötigste sprach.

Sie lehnte sich an die schräge Holzrampe. Sie spürte, wie ihr Mageninhalt nach oben drängte, und übergab sich schließlich direkt neben dem Container. Als sie sich wieder aufrichtete, fiel ihr Blick auf etwas Glänzendes, das am hinteren Rand des Containers an einer kleinen Ausbuchtung klebte. Sie trat näher. Es war ein blutverschmierter silberner Anhänger mit einem samischen Motiv: ein Krieger mit Pfeil und Bogen. Margareta säuberte ihren Mund notdürftig mit einem Taschentuch, dann rannte sie Richtung Saab. In der Handtasche fand sie, was sie suchte. Ella Vikströms Pass. Sie schaute auf den Hals der Frau auf dem Passfoto. Nur einen kurzen Moment überlegte sie, dann rief sie einen Kollegen aus Kiruna an, einen Hundeführer, dessen Hund menschliches und tierisches Blut unterscheiden konnte.

3

So hatte er sich das gestern nicht vorgestellt. So nicht. Schließlich hatte er ihr eine Freude machen wollen mit den Margeriten. Und dann das. Er schmiss sein Schnitzmesser auf die Werkbank und starrte vor sich hin.

Bei einer ihrer ersten Begegnungen in der Klinik hatte sie ihn verzaubert. Der verrostete Nagel, der ihm im Fuß steckte, hatte eine schreckliche Entzündung verursacht. Sie hatte ihn aufgefordert, an etwas Schönes zu denken, hatte gesagt, er solle sich wegträumen, wenn sie den Nagel herauszog. Ihre Stimme war dabei so sanft gewesen. Er lächelte, als er daran dachte. Ella, seine Liebe. Außer ihr hatte sich noch nie jemand darum gekümmert, wie es ihm ging. Seine Mutter nicht, seine Schwester nicht, niemand. Ja, sein Vater, früher, aber der war schon so lange tot.

Als sie gestern Abend Richtung Porjus gefahren war, hatte er bereits geahnt, dass sie zu diesem Mann wollte. Er wohnte ja in der Nähe. Aber dann hatte sie jemanden besucht, das hatte lange gedauert und danach war sie Richtung Berg gefahren. Und da war es ihm eingefallen: Die Samen, die zum Zusammenschluss der Sirkas gehörten, schlachteten zurzeit da oben, und dieser Mann würde sicher auch da sein.

Mit der flachen Hand schlug er auf die Werkbank, Holzsplitter flogen in die Luft. Er hatte ihr doch nur die Blumen überreichen wollen und hören wollen, dass sie ihn … Er schluckte. Warum hatte sie seine Pläne immer wieder durcheinandergebracht? Er öffnete das Fenster und schaute auf die Margeriten, die er in seiner Wut gestern Abend vor die Holztreppe geworfen hatte. Stängel und Blüten lagen dort, zerdrückt vom Regen und von seinen Stiefeln. Sie boten ein Bild des Elends.

4

Kriminalkommissarin Linda Lundin freute sich, als sie die Stimme ihrer Kollegin aus Jokkmokk am Telefon hörte. Linda hatte Margareta Mattsson sofort erkannt, obwohl es schon fast eineinhalb Jahre her war, dass sie zusammen den Mord an einem jungen Mann in Jokkmokk aufgeklärt hatten.

»Wie schön, dass Sie sich einmal bei mir melden«, sagte Linda und lenkte ihren Dienstwagen an den Fahrbahnrand. »Gibt es einen besonderen An…?«

»Können Sie kommen, Linda? Jetzt sofort?«, unterbrach Margareta sie.

So direkt war ihre Kollegin sonst nie gewesen, und jetzt fiel Linda auch auf, dass Margaretas Stimme nicht nur herzlich, sondern auch hektisch klang. Linda stellte das Autoradio aus.

»Was ist passiert?« Greta, ihre Freundin aus Lund, schaute sie aufmerksam an. »Etwa ein Mord?«

Linda legte den Finger auf den Mund, um anzudeuten, dass sie still sein sollte.

»Wir haben die Leiche einer Frau gefunden. Sie wurde …« Linda bemerkte das Zögern in Margaretas Stimme, »… sie wurde mit einer Bolzenschusspistole erschossen und danach … in einen Container mit Schlachtabfällen geworfen.«

Linda richtete sich auf. »Wo haben Sie die Leiche entdeckt?«

»In Kuorpak, bei einer der Rentiersammelstellen.«

»Ich kenne die Gegend. Geht nicht in der Nähe der Weg Richtung Aktse ab?«

»Ja, genau. Sie dürfen nur nicht nach links zum Wanderparkplatz fahren, sondern müssen sich rechts halten. Die Absperrung ist offen und nach sieben Kilometern kommen Sie nach Kuorpak. Gerade findet die Schlachtung statt.«

»Ich bin in zwei Stunden bei Ihnen«, Linda Lundin schaute auf die Uhr, »so gegen 17 Uhr. Ich fahre gerade durch Porjus, war auf dem Weg nach Luleå.« Sie bemerkte die Runzeln auf der Stirn ihrer Freundin. »Haben Sie den Platz abgesperrt? Ist die Spurensicherung schon vor Ort und der Rechtsmediziner?«

»Ich habe rund um den Fundort alles abgesperrt und die Sanitäter in Jokkmokk informiert, sie müssten bald da sein. Die Techniker kommen aus Luleå und der Rechtsmediziner muss aus Umeå eingeflogen werden. Sie wissen doch, es ist noch genauso wie damals.«

Ja, Linda kannte das Problem. In Jokkmokk arbeiteten nur zwei Polizeiinspektoren, Margareta Mattsson und ihr Kollege Bengt Karlsson, sowie zwei wechselnde Polizeiassistenten in Ausbildung, die aber ständig unterwegs waren. Nur zwei ausgebildete Polizisten, und das in der zweitgrößten Gemeinde Schwedens. Lindas Dienststelle lag in der an Jokkmokk angrenzenden Gemeinde Gällivare, aber als Hauptkommissarin war sie auch für Jokkmokk zuständig, wenn ein Mord geschah. »Ist noch jemand bei Ihnen, Margareta?«

»Ja, der Hundeführer aus Kiruna. Sein Hund hat die Leiche entdeckt. Bengt habe ich auch angerufen, er hat eigentlich frei, aber er kommt so schnell er kann. Die beiden Assistenten konnte ich leider bis jetzt nicht erreichen. Könnten Sie vielleicht noch ein paar Ihrer Kollegen …?« Linda spürte Margaretas Verzweiflung. »Hier wimmelt es von samischen Familien. Es sind sicher an die hundert Menschen hier. Wir müssen sie alle befragen.«

»Bin schon unterwegs, und was die Verstärkung angeht, ich tue, was ich kann.« Linda legte auf.

»Ein Mord in den Bergen? Während der Rentierschlachtung?« Die Augen Gretas leuchteten. »Spannend! Da komme ich mit!«

»Auf keinen Fall!«

»Warum denn nicht? Ich hatte eh keine Lust auf Luleå. Stadt habe ich zur Genüge, zu Hause in Lund. Schließlich wollte ich dich besuchen, um Lapplands Natur kennenzulernen. Jetzt komm! Oder willst du mich in dieser Einöde rauswerfen?« Greta deutete nach draußen.

Linda fuhr los und betrachtete die Umgebung. Greta hatte recht. Außerhalb von Porjus gab es nur Wald und Landstraße. Sie könnte sie zurückfahren, zu einer Bushaltestelle, aber da müsste sie heute, am Samstag, ewig warten, und was sollte sie überhaupt alleine in Gällivare machen?

»Ich bringe dich nach Jokkmokk, da gibt es ein nettes Hotel und …«

»Was soll ich denn da? Alleine Billard spielen oder mit dem Barkeeper flirten? Das würde meinem Freund sicher nicht gefallen.« Sie grinste Linda an.

»Okay«, Linda gab auf. »Aber du hältst dich völlig raus! Keinerlei Einmischungen, du bleibst weg vom Tatort, gehst auf den Berg, auch wenn es regnet …«

»Klar, kein Problem. Endlich passiert mal was. Hätte ich nicht gedacht, hier oben im einsamen Norden. Und meine Outdoor-Klamotten hab ich auch dabei, vom Feinsten, ganz neu gekauft, sogar neue Bergstiefel hab ich«, sie deutete nach hinten Richtung Kofferraum.

Linda seufzte. Eigentlich hätte sie gerne ein Wochenende mit ihrem Mann Sebastiano und ihrer Freundin verbracht. Greta hatte eine so wunderbar positive Ausstrahlung, war immer gut gelaunt, immer unternehmungslustig. Zusammen mit ihr hätte sich die ungute Stimmung zwischen Sebastiano und ihr vielleicht gebessert. Und ausgerechnet heute geschieht ein Mord. Seit eineinhalb Jahren war außer Kleinkriminalität nicht viel in der Gemeinde Jokkmokk passiert, und das schafften Margareta und ihr Kollege alleine. Aber Mord, nein, darin hatten die beiden keine Routine. Sie musste Margareta so schnell wie möglich unterstützen, und Greta würde sie einfach mitnehmen. Linda Lundin drückte aufs Gaspedal.

Ihren Chef, Staatsanwalt Kurt Dahlberg, erreichte sie erst, als sie bereits kurz vor der Abzweigung nach Kvikkjokk waren. Dahlberg war auf der Jagd und spähte, wie er Linda berichtete, auf einem Hochsitz nach Elchen.

»Ich habe kaum Empfang hier«, flüsterte er ins Telefon. »Und ich kann nicht so laut reden, sonst verscheuche ich das Wild.«

Linda erklärte ihm die Sachlage. »Ich brauche noch ein paar Leute. Dort oben findet gerade die Schlachtung statt, da werden zig Samen sein. Wir müssen sie alle vernehmen.«

»Von mir aus«, hörte sie Dahlbergs flüsternde Stimme. »Aber die meisten der Kollegen werden heute wie ich versuchen, Elche und Bären zu schießen. Versuchen Sie noch ein paar Kollegen zusammenzutrommeln, aber ich fürchte, das wird schwierig werden.« Es knackte in der Leitung. »Sie haben Glück, dass Sie mich erwischt haben.«

Mist, dachte Linda, ein denkbar ungünstiger Moment für einen Mordfall. Ende August hatte die Jagdsaison in Norrbotten begonnen. Da befanden sich die meisten Männer am Wochenende auf der Jagd. Linda schüttelte verständnislos den Kopf. Sie konnte bis heute nicht begreifen, warum sich fast sämtliche Männer Norrbottens für das Töten von Vögeln, Elchen und Bären begeisterten. Warum konnten diese Männer nicht einfach die Natur genießen, anstatt alle möglichen Tiere zu töten? Nein, das konnte und wollte sie nicht verstehen. Wäre es nicht alles so viel besser, wenn die Menschen der Natur ihren Lauf lassen würden?

»Alles gut?«, fragte Greta.

Linda spürte den besorgten Blick ihrer Freundin, nickte und griff noch einmal zu ihrem Handy. Vielleicht könnte eine ihrer Assistentinnen noch vier, fünf Kollegen aus Gällivare zusammentrommeln, die bereit wären, ihr Wochenende zu unterbrechen.

 

»Bitte, verlassen Sie den Fundort!« Energisch drückte Linda einen jungen Journalisten zur Seite, der ihr ein riesiges Mikrofon unter die Nase hielt und nicht aufhörte, Fragen zu stellen. Sie winkte Greta kurz zu, die sich endlich aufmachte, den Berg zu besteigen, und wandte sich wieder an den jungen Mann. »Wir geben noch keine Auskünfte. Also bitte!« Linda setzte ihren einschüchternden Blick auf, und der junge Mann verließ den Platz, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und ihr zuzurufen, dass er wiederkommen werde. Linda grinste in sich hinein. Hartnäckige Menschen mochte sie.

Gerade eben hatte sie den abgestellten Saab inspiziert. Im Auto waren keine Blutspuren zu sehen gewesen. Die Tote musste durch irgendetwas überrascht worden und dann ausgestiegen sein. Ärgerlich, dass es so stark geregnet hatte. Überall Spurrillen, aber keinerlei Spuren.

Besorgt betrachtete Linda ihre jüngere Kollegin, die mit bleichem Gesicht an einem Lastenhänger nahe dem Fundort lehnte. »Sind Sie wieder okay?«

Margareta nickte.

Mit ihren 36 Jahren war ihre Kollegin zwar auch eine erfahrene Polizistin, aber sie hatte schon damals, als sie den toten jungen Mann in Jokkmokk gefunden hatten, kein Blut sehen können. Und diesmal sah es am Fundort der Leiche noch schlimmer aus. Neben dem Container lag ein Berg voller Innereien. Prall gefüllte Rentiermägen, glitschige Gedärme, blutende Nieren, Lebern und Schlünde. Verstreut daneben abgeschnittene Hufe und Rentierköpfe, deren stumpfe Augen Linda anzustarren schienen. Überreste des Schlachtens, die nicht verwertet wurden. Linda schloss kurz die Augen und versuchte sich den Ekel nicht anmerken zu lassen. Sie ging ein paar Schritte Richtung Container. Die Tote lag auf dem Boden des rostigen Gestells, neben ihr ein blutverschmierter, schwarzer Müllsack. Die Frau lag auf der linken Seite, die Beine waren unnatürlich verdreht, ihr rechter Arm war ausgestreckt, der andere verbarg sich eingequetscht unter der linken Schulter. Linda ging auf die andere Seite des Containers und starrte in die aufgerissenen Augen der toten Frau, auf deren Stirn ein riesiges Loch klaffte.

»Der Sack hat auf der Leiche gelegen. Sie ist nicht darin eingewickelt gewesen. Als ob sie der Mörder damit zudecken wollte.« Margareta war neben sie getreten.

»Oder er hat nicht viel Zeit gehabt und die Leiche darunter verstecken wollen.« Linda schaute ihre Kollegin an. »Kann der Fundort auch der Tatort gewesen sein?«

Margareta schüttelte den Kopf. »Ich habe mit dem Mann der Toten geredet. Er sagte, der Container habe gestern Abend noch nicht hier gestanden.«

»Okay. Wir werden den Tatort finden.« Linda lächelte. »Sie haben ja auch die Leiche entdeckt.«

»Ja, das stimmt. Timi, der Spürhund, hat sofort angeschlagen, als er Richtung Container gelaufen war. Und da haben wir gemeinsam …« Margareta zeigte auf den Hundeführer, der seinem Hund ein paar Meter weiter hinten gerade ein paar Leckerlis zusteckte, »… wir haben gemeinsam den Container ausgeräumt. Es war so … so eklig.«

Linda betrachtete die blutverschmierte Dienstuniform ihrer Kollegin. Gut, dass sie aus dunklem Stoff war.

Bengt Karlsson, der gleichzeitig mit Linda am Fundort eingetroffen war, schenkte Margareta einen Becher Tee aus seiner Thermoskanne ein. »Gut für den Magen.« Er lächelte Margareta an.

»Die Frau wurde durch einen Bolzenschuss getötet. Direkt in die Stirn. Die beiden Sanitäter, die vorhin aus Jokkmokk gekommen waren, haben ihren Tod bestätigt. Können Sie sich das vorstellen?« Margareta wandte sich Linda zu. »Mit solch einer Pistole tötet man Rentiere. Nicht mal das, man betäubt sie damit und schneidet ihnen danach die Kehle durch, damit sie auch wirklich tot sind. Aber einen Menschen mit einer Bolzenschusspistole umzubringen, das ist so … grausam.« Sie trank einen Schluck Tee. »Und … vielleicht ist die Frau gar nicht tödlich getroffen worden, vielleicht hat sie noch eine Weile gelebt.« Margareta senkte die Augen. »Ich habe dem Ehemann der Toten Bescheid gegeben. Er hat sie schon identifiziert.«

Linda legte Margareta die Hand auf die Schulter. Sie selbst war seit bereits 15 Jahren Kriminalkommissarin und hatte während ihres Berufslebens in Lund und seit eineinhalb Jahren in Lappland schon viele Leichen gesehen und auch oft den Angehörigen die furchtbare Nachricht überbringen müssen. Sie wusste, wie schwer das war. »Bengt«, Linda wandte sich an ihren Jokkmokker Kollegen und schaute auf die Uhr. »In eineinhalb Stunden wird es dunkel sein. Wir brauchen Flutlicht. Wer weiß, wann die Spurensicherung mit ihrer Ausrüstung kommt. Sie kennen doch sicher Samen, die sich darum kümmern können.«

Bengt nickte.

»Gut. Und keiner verlässt den Ort, der nicht verhört wurde. Der Weg unterhalb des Saabs ist ja bereits abgesperrt. Da kommt keiner raus. Zudem müssen wir die ganze Gegend noch weitläufiger absperren.« Sie zeigte nach oben, Richtung Berg. »Das werden die Techniker machen, wenn sie da sind. Drei meiner Mitarbeiterinnen werden gleich aus Gällivare kommen und mit der Befragung der Samen beginnen. Konnten Sie Ihre Assistenten aus Jokkmokk erreichen?«, fragte sie Margareta.

»Ja, sie müssten jeden Augenblick eintreffen.«

»Gut. Wir müssen die Personalien von allen Leuten aufnehmen, die gestern und heute hier gearbeitet haben. Genauso die der Besucher, wenn es welche gegeben hat. Wir brauchen bis morgen früh eine vollständige Liste. Auch wenn es die ganze Nacht dauert. Okay?«

Bengt und Margareta nickten.

»Einige Samen sind sicher schon nach Hause gefahren«, sagte Margareta. »Aber da hier jeder jeden kennt, werden wir schon herausbekommen, wer gestern und heute da war. Mit den Besuchern wird’s vielleicht schwieriger werden.«

»Das kriegen wir schon hin. Haben wir das letzte Mal ja auch.« Linda lächelte ihre beiden Kollegen aufmunternd an. »Schön, wieder mit Ihnen zu arbeiten.« Zu Bengt gewandt sagte sie: »Sie sehen anders aus, irgendwie … gesünder.« Linda betrachtete ihren Kollegen genauer. Er war schlanker geworden, sein Gesicht war nicht mehr so gerötet wie früher, sondern hatte eine Bräune, die ihm gut stand.

Bengt strich an seinem Bauch entlang. »Hab zehn Kilo abgenommen. Wurde auch Zeit.« Er schmunzelte. »Mir geht’s gut.«

»Das freut mich.« Vor eineinhalb Jahren hatte Linda gemeinsam mit Bengt und Margareta den Mord an einem jungen Jokkmokker aufgeklärt. Dabei hatte Bengt erfahren, dass der Getötete sein Sohn war. Die Mutter des Toten hatte Bengt die Existenz seines Sohnes verschwiegen, und er hatte erst erfahren, dass er der Vater war, als der Junge bereits tot war. Linda erinnerte sich noch genau daran, wie sehr Bengt das damals mitgenommen hatte. Er hatte sich eine Zeit lang beurlauben lassen. Aber er schien diese schreckliche Sache gut überstanden zu haben.

»Margareta, Sie bleiben hier, bis die Techniker und der Rechtsmediziner vor Ort sind, danach helfen Sie bitte Bengt und den Kolleginnen mit den Befragungen.« Margareta stellte den Teebecher zur Seite und nickte.

»Haben Sie Kleidung zum Wechseln dabei? Ich hätte in meinem Wagen …«