Serpentinen - Bov Bjerg - E-Book

Serpentinen E-Book

Bov Bjerg

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Beschreibung

Ein Vater unterwegs mit seinem Sohn. Ihre Reise führt zurück in das Hügelland, aus dem der Vater stammt, zu den Schauplätzen seiner Kindheit. Da ist das Geburtshaus, dort die elterliche Hochzeitskirche, hier der Friedhof, auf dem der Freund Frieder begraben liegt. Ständiger Reisebegleiter ist das Schicksal der männlichen Vorfahren, die sich allesamt das Leben nahmen: "Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt." Der Vater muss erkennen, dass sein Wegzug, seine Bildung und sein Aufstieg keine Erlösung gebracht haben. Vielleicht helfen die Rückkehr und das Erinnern. Doch warum bringt er seinen Jungen in Gefahr? Warum hat er keine Antwort auf dessen bange Frage: "Um was geht es?" Er weiß nur: Wer zurückfährt, muss alle Kurven noch einmal nehmen. Wenn er der dunklen Tradition ein Ende setzen will. Bov Bjerg gehört zu den wichtigsten Schriftstellern der deutschen Gegenwart. Nach dem Bestseller "Auerhaus" legt er nun seinen neuen Roman vor. Genau, mutig und lang nachwirkend erzählt er vom Kampf eines Vaters gegen die Dämonen der Vergangenheit. Nur wenn er seinen Sohn so liebt, wie er selbst nie geliebt wurde, kann die Reise der beiden glücken.

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Serpentinen

Der Autor

Bov Bjerg, Jahrgang 1965, ist Schriftsteller und Vorleser. Sein Roman »Auerhaus« wurde auf vielen Theaterbühnen inszeniert, der Film »Auerhaus« kam 2019 in die Kinos. Bov Bjerg ist Hugo-Ball-Preisträger 2020.

Das Buch

»Ich misstraute der Soziologie. Ich misstraute dieser Larmoyanz. Das Individuelle wurde typisiert, wurde zurechtgebogen, bis es ins Klischee passte und ins Ressentiment und in die stimmige, ad hoc einleuchtende Geschichte. Legenden, Lügen, Bla, Theorie. Und wieder: Grobe Pinsel­ striche malten alles schön deutlich und klar. Pop-Art-Lebensläufe . Es war falsch, meine kranke Wahrnehmung mit einer statistisch belegbaren, größeren Ungerechtigkeit zu erklären. Die Fremdheit kam aus meinem eigenen Leben, aus meinem eigenen Scheitern.«

Bov Bjerg

Serpentinen

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

ISBN 978-3-8437-2287-2

© 2020 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinLektorat: Gunnar CynybulkUmschlaggestaltung: Brian BarthAutorenfoto: © Gerald von ForisE-Book Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Cover

Titelseite

Inhalt

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Um was geht es?

Er sei ausgewandert, im Jahr 1900. Habe Frau und Kinder im Havelland gelassen und sei einfach fort. Seine Holzpantinen habe man in der Elbe gefunden.

Die Tantenstimme klirrte aus den Dauerwellen. Sie diktierte.

Name, Beruf, Bekenntnis.

Sternchen, Datum, Ort.

Kreuzchen, AMERIKA, Fragezeichen.

Über die Seite schrieb ich: AHNENTAFEL.

Viel später war ich in Hamburg und ging die Passagierlisten durch. In Bremerhaven. Auf Ellis Island. Ich fand den Urgroßvater nicht.

Er war nicht ausgewandert. Er hatte sich einfach das Leben genommen. Wie der Großvater und wie der Vater.

Holzpantinen im Fluss: Beweis, dass einer ausgewandert war. Diese Familie hatte es nicht so mit Wirklichkeit oder Logik. (Was vielleicht gar nicht das Gleiche war.)

Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere. Ich war noch am Leben. Vor Angst schlief ich ein.

Um was geht es?

Ich rannte los, immer schneller. Das Standbein rutschte weg, ich fiel, ich spürte den Boden am Körper, zog durch und trat mit der Spitze, mit Wucht, gegen den Ball.

Ich erwachte vom Schmerz. Dann ließ der Schmerz nach. Ich hörte den Knall. Dann kam der Schmerz wieder, stärker als vorher.

»Bist du wach?«

Ich öffnete die Augen. Die Wand.

»Hast du gegen die Wand getreten? Warum trittst du gegen die Wand?«

Ich drehte mich um. Große braune Augen. Titelbild eines Elternratgebers. Auf der Stirn die helle Narbe. Er hatte gerade laufen gelernt, da war er losgerannt und hingefallen, mit dem Kopf in die Bierflaschenscherben. Ich hatte nicht gut genug aufgepasst.

Ich streichelte über sein Ohr. So weit waren wir gekommen. Sieben Jahre.

»Was machen wir heute?«

»Mal sehen.«

»Suchen wir Versteinerungen?«

Ich sagte nichts. Ich hasste die Frage.

»Kann ich rausgehen?«

Ich drehte mich wieder zur Wand.

Ich hörte den Jungen rascheln. Das Türschloss klackerte.

Der Schmerz pulsierte in den Zehen, stärker, schwächer, pegelte sich ein.

Ich durfte den Schmerz nicht stören. Ich atmete flacher.

Dass einer irgendwo seine Wurzeln hatte, das Geschwätz kam vom Stammbaum. Jeder Depp ein Wurzelsepp und saugt das Blut aus dem Boden.

Der Vater aus Brandenburg, die Mutter aus Böhmen, ich von der Alb, M. von der Ostsee, der Junge aus Berlin.

Verbinden Sie die Geburtsorte. Betrachten Sie das Bild. Fällt Ihnen etwas dazu ein?

Krickelkrakel.

Und jetzt lassen Sie uns die Generation davor betrachten.

Ach Gott. (Bomben und Trecks. Arbeit. Suche nach Arbeit. Verhungerte Großmütter. Ledige Kinder, Hochzeiten mit steinalten Männern. Bei ledigen Kindern schrieb man das Sternchen in Klammern. Überfälle, keine Räuber. Morde, keine Mörder. Legenden, Lügen, Familienbla.)

Gestern waren wir im Museum gewesen. Vitrinen voller Fossilien, an den Wänden Schieferplatten mit freigelegten Versteinerungen. Alles sehr lehrreich.

Wale waren keine Fische.

Erdnüsse waren keine Nüsse.

Ammoniten keine Schnecken.

Schautafeln mit den Erdzeitaltern: Kreide, Jura, Trias, Perm. Die Schichten gaben den Zeiten die Namen, das hatte ich schon in der Schule nicht verstanden. Feldspat, Quarz und Glimmer, die vergess ich nimmer.

Das Skelett eines Ichthyosaurierweibchens. Im Bauch die Knochen der Embryos.

Eine Wand voller Seelilien, meterhohe Schieferplatten, die Blütenstängel wie eingefroren im Wind.

Ich sagte: »Guck mal, die Pflanzen da, die haben vor ganz langer Zeit gelebt.«

Der Junge sagte: »Seelilien sind keine Pflanzen. Das sind Stachelhäuter. So wie Seeigel.«

Gleich neben dem Museum lag ein Steinbruch. Eine große Tafel an der Straße wies darauf hin mit vermurkster Typografie. Für ein paar Euro bekam man Hammer und Meißel, und dann konnte man selbst Versteinerungen aus den Schieferplatten klopfen. Ammoniten in allen Größen. Ammoniten waren keine Schnecken. Doch es regnete, und ich musste den Jungen vertrösten.

Im Frühstücksraum stand ein kleiner Tisch, eingedeckt mit Tellern, Tassen, Messern. In einem Flaschenhals steckte eine Gerbera, von dunkelgrünem Draht gestützt.

Ich drehte den Griff der Terrassentür und zog sie zur Seite. Die Morgenkälte schlug mir entgegen. Ich trat hinaus und sah auf die rostigen Schienen.

Der Nebel über den Wiesen löste sich bereits auf in der wärmer werdenden Luft.

Unter der Blautanne legte ein Mann den Kopf in den Nacken. Ein Mann im Trachtenjanker. Der Junge stand auf einem Ast, weit oben im Baum. Die Jeans und der Pulli verbargen ihn zwischen den Zweigen, doch die Springseile, mit denen er immer kletterte, leuchteten, aneinandergeknotet, knallrot, knallgelb.

Der Junge unterhielt sich mit dem Mann. Er quatschte mit jedem. Dem Taxifahrer hatte er eine Stunde lang Witze erzählt. Ich hatte sie alle schon mehrmals gehört und wieder vergessen.

Die Blautanne dürfte hier gar nicht stehen, dachte ich, hier waren nicht die Rocky Mountains oder wo die ihre Wurzeln hatte.

Ich winkte den Jungen herunter.

Ich schüttete Müsli aus dem Dispenser in eine kleine Schüssel, streute zur Tarnung Cornflakes darüber und goss Milch darauf.

Die Inhaberin kam aus der Küche und sagte: »Guten Morgen, Herr Höppner!«

Der Junge sah zu mir. Er verstand nicht.

Ich sagte: »Guten Morgen!«

Ich konnte in den Meldeschein schreiben, was ich wollte. Solange man mich für einen Deutschen hielt, wollte niemand meinen Ausweis sehen.

»Kaffee bitte«, sagte ich.

Der Junge sagte: »Kakao.«

Ich runzelte die Stirn.

Er sagte: »Bitte!«

Ich sagte: »Was machen wir heute?«

»Schlangenlinien!«

Wir fuhren dauernd die Serpentinen hoch auf die Alb, der Junge wollte es so.

»Suchen wir heute Versteinerungen?«

Ich hatte es ihm versprochen, doch das Metaphorische daran kotzte mich an.

»Der Steinbruch hat heute zu«, sagte ich. »Morgen vielleicht.«

Wir gingen zum Auto.

Der Junge rief: »Auf den Schienen steht ein Haus!«

Ich sagte: »Hier fährt kein Zug mehr.«

Das Hotel war mal ein Bahnhof gewesen. Hier hatten die Wandertage begonnen. Senkrecht zum Hang, rauf auf den Kornberg und rüber zum Boßler. Lagerfeuer, Bratwurst am Stecken, Veronika ärgern.

Das Auto war immer noch so dreckig, wie ich es am Flughafen bekommen hatte. Ein kleiner BMW mit einem niederländischen Kennzeichen, einem gelben. Ich hatte vor der Heckklappe gestanden, ratlos. Irgendwann hatte der Junge auf das verdreckte Wappen gedrückt, und die Klappe war aufgesprungen.

Ich sagte: »Hast du deine Wanderstiefel dabei?«

»Im Kofferraum. Soll ich dir zeigen, wie der aufgeht?«

Ich fuhr aus dem Ort raus, im Rückspiegel Nebel, hinter dem Nebel der Schatten der Alb.

Ortseingangsschild, Ortsausgangsschild. Wieder Wiesen, dann der Wald, in dem ich die Nacht verbracht hatte, als ich abgehauen war. Der Schlittenbuckel. Die Mülldeponie. Jetzt standen Reihenhäuser darauf.

Ortseingangsschild.

Ich bog ab, Richtung Fußballplatz. Wir rollten am Haus vorbei.

In der Einfahrt stand ein schwarzer VW-Bus, getönte Scheiben. Dicht am Zaun parkte ein kleiner Mercedes. Aus dem Bus hüpften zwei Kinder, vielleicht vier und sechs Jahre alt. Die Sträucher waren dichter und höher, sie waren jetzt so hoch wie das Haus. Man sah nur den Dachfirst. Ich suchte das kleine runde Loch über dem Dachbodenfenster, durch das immer die Vögel rein- und rausgeflogen waren. Ich konnte es nicht erkennen. Vielleicht hatten sie den Dachboden inzwischen ausgebaut.

Der Junge sagte: »Warum fahren wir so langsam?«

Ich sagte: »In dem Haus bin ich auf die Welt gekommen. Siehst du das Fenster? Das mit dem Kürbis oder was das ist? In dem Zimmer.«

Der Schmerz im Fuß wurde stärker. Ich musste den Schuh ausziehen, doch ich konnte nicht einfach anhalten. Wir waren schon viel zu auffällig mit dem ausländischen Nummernschild.

Der Junge sagte: »An was ist der Opa eigentlich gestorben?«

»Du meinst, mein Papa? Oder der von Mama?«

»Na, deiner.«

»Er war krank.«

Der Junge war jetzt so alt wie ich damals.

»Aber was hatte er denn? Krebs?«

Ich fürchtete, er könnte Angst bekommen, dass ich es auch tun würde. Und ich wusste nicht, wie ich ihm die Angst hätte nehmen können, ohne ihn anzulügen.

Der Junge sagte: »Können wir mal Oma besuchen?«

Ich sagte: »Das Heim hat heute zu. Vielleicht morgen.«

»Um was geht es«, sagte der Junge.

Ich sagte: »Es geht um die Serpentinen.«

»Um was geht es«, sagte der Junge.

Ich sagte: »Um die Serpentinen. Es geht darum, sich in die Kurve zu legen.«

»Um was geht es«, sagte der Junge. Er lachte.

»Ser-pen-ti-nen!«, rief ich. »Dass man sich nach links lehnt, dann nach rechts. Dass man Gas gibt bergauf, in der Kurve!«

Er fragte: »Geht es ums Schalten?«

»Nur ums Schalten. Links treten, am Knüppel schalten.«

Ich hakte einen Gang runter: »Gas geben, dann die Kupplung kommen lassen, so schnell wie möglich, ohne dass er absäuft.«

Gas geben war ein Scheißausdruck.

Hinter der letzten Kurve lag ein Wanderparkplatz, hoch genug über den Fichten, da konnten wir hinunterschauen in die Ebene. Ich fuhr rechts ran.

»Gibst du mir ein Bier?«

Der Junge langte in den Fußraum.

»Danke.«

Ich zog ein wenig am Verschluss, es zischte, der Schaum drängte heraus. Als er nachließ, zog ich die Dose ganz auf.

Die Bläschen kitzelten an der Lippe, ich schluckte sie weg und schmeckte das Bier. Das Bier war warm. Das war egal. Das erste Bier schmeckte nie. Schuld und schlechtes Gewissen, danach schmeckte das erste Bier.

Der Junge sah mich an, skeptisch. Er presste die Lippen zusammen. Das war ich auf dem Kommunionfoto, in der Hand die brennende Kerze. Drum herum alles dunkel: der Hintergrund, das Samtjackett. In der Mitte ein helles Gesicht, hellblondes Haar, der Schein der Flamme.

»Gibst du mir noch ein Bier?«

Alpha und Omega.

Das zweite Bier war leichter. Ein großer Schluck, noch einer.

Wir sahen uns an.

Noch einer.

Ich sah mich mit den Augen des Jungen. Wie betrunken war er schon? Wie war er gelaunt? Was hatte er vor?

Mit seinen Augen und seiner Panik vor dem, was passieren würde.

Der Junge hatte einen Knick im Ohr. Die Ohrmuschel war am oberen Rand einfach nach unten geknickt. Wie ein Eselsohr. Ich streichelte seine Wange, streichelte das Ohr. Ein Lesezeichen, von Geburt an. Jedes Mal, wenn es mir wieder auffiel, dachte ich: So weit sind wir gekommen.

Am Tag seiner Geburt hatten wir zu lange gewartet. Am Olympiastadion standen wir im Stau. Ich hatte mich verrechnet. Das Pokalfinale war gerade zu Ende. Das war verrückt, ich hatte das Pokalfinale vergessen.

Wir kamen auf der Station an, und schon begannen die Presswehen. Während jeder Wehe rauschte seine Herzfrequenz in den Keller. Die Hebammen tuschelten, eine rannte raus, der Arzt kam dazu. M. krallte sich an meiner Hand fest, kniff die Augen zusammen, vom unteren Ende des Bettes hörte ich »OP« und »bereit halten«.

Schließlich holten sie ihn mit der Glocke.

Er hatte einen Knoten in der Nabelschnur, und mit jeder Wehe war der Knoten zugezogen worden, sodass ihn kein frisches Blut erreichen konnte.

Die Hebamme gab mir eine dieser gebogenen Scheren.

Sie zeigte auf eine Stelle an der Nabelschnur.

»Kräftig drücken.«

Ich zögerte.

»Das tut keinem weh.«

Die Schnur war fest wie ein Stromkabel.

Ich behielt die Schere in der Hand. Gleich darauf, im Durcheinander, steckte ich sie ein.

Der Junge drückte auf die Tasten der Fensterheber. Die Scheiben summten. Unten in der Ebene war es immer noch diesig.

Ich zog den Schuh aus. Die Zehen waren dunkelrot geschwollen.

In der Ferne hörten wir die Autobahn. Ich wusste, wo sie verlief, doch wir konnten sie kaum erkennen. Tausende von Autowanderern in blitzeblanken Volkskraftwagen, die stolz vorüberrollten und hinaufblickten zur schönen, schönen Alb.

Ich sah eine Autobahn und dachte: Nazis.

Ich sah Gleise und dachte: Deportationen.

Ich wollte weiter hoch zur Baustelle. Die nackte Sohle lag auf dem Pedal, und mir kam es kurz so vor, als sei immer noch Sommer.

Ich wollte sehen, wie sie die Zerstörung bauten. Es waren Österreicher, hatte man mir erzählt, die da oben DIE GROSSE ABKÜRZUNG bohrten.

Wir bogen in das schmale Tal. Unterhalb der Straße lag eine Siedlung aus gestapelten Containern. Neben den Containern hing an einem geschälten Baumstamm tatsächlich eine rot-weiß-rot gestreifte Flagge.

Ich sagte: »Schau mal raus.«

Die Straße führte bergauf, die Kurven waren noch enger als vorher.

»Um was geht es!«, rief der Junge.

»Serpentinen!«, rief ich. »In der Kurve aufs Gas!«

Der Junge klebte am Fenster.

»Da!«

Gegenüber, oben am Hang, glotzten zwei riesige schwarze Löcher.

Ich sah hinunter zum Bach. Erst jetzt erkannte ich die braunen Rechtecke, Waldboden ohne Wald.

Sie zogen bereits den ersten Pfeiler hoch.

Ich hatte gleich den Zeitraffer vor Augen, auf ­YouTube oder sonst wo: Die Pfeiler wuchsen aus dem Boden, der Beton schob sich aus dem Berg über das Tal, Stroboskopgezitter über den Bildern, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Frühling, Sommer, bunt, dann weiß, über das Tal und wieder hinein in den anderen Berg. Und schon flitzten die Züge hin und her, als ob es nie anders gewesen wäre.

Die GROSSE ABKÜRZUNG sparte viel Zeit auf der Strecke von Paris nach Bratislava, also von Stuttgart nach Ulm.

Fünf Minuten, zwanzig Sekunden schneller im Osten.

Das war die ganze Zivilisation: Es fing an in der Höhle, ich drillte kleine Löcher in Gänsegeierknochen und flötete Beschwörungen, ich schnitzte aus Mammutzähnen Figuren von Löwenmenschen und kopflosen Frauen mit exorbitanten Brüsten, dann erfand ich das Rad, rodete den Wald und hob Entwässerungskanäle aus, mauerte Aquädukte, asphaltierte Autobahnen und verlegte Schienen, veranstaltete einen Weltkrieg, einen Völkermord und ein Wirtschaftswunder, untertunnelte alles doppelt und dreifach, und wenn ich es geschafft hatte, das letzte Planquadrat bis an den Rand zu erschließen, dann konstruierte ich ein Raumschiff und startete nach Alpha Centauri und ließ den ganzen Quatsch hinter mir und hatte gewonnen, und das Spiel war zu Ende.

Die Vernichtungslager lagen nicht hinter Bratislava, die lagen viel weiter nördlich. Die Tunnel und die Brücke würden sicher sehr schön werden.

Auf der Albhochfläche blies der Wind von der Seite. Ich hatte Mühe, die Böen auszugleichen. Windräder kontrollierten den Himmel über den Äckern. Die einbeinigen Herrscher.

»Was war das?«

»Ein Igel.«

Wir fuhren an Ave Maria vorbei. Wallfahrtskirche, scheußlichster Spätbarock.

»Willst du sehen, wo Oma und Opa geheiratet haben?«

Meine Mutter hatte sich verpflichten müssen, künftige Kinder katholisch taufen zu lassen. Der Vater war evangelisch, es war ihm also egal.

Der Junge stöhnte: »Eine Kirche?«

Ich sah nicht rüber. Wenn er in diesem Tonfall etwas sagte, rollte er dabei mit den Augen.

Ich dachte an Veronika, die von hier oben kam. Die immer so leise gesprochen hatte.

Die Schulbänke aufgestellt wie ein Hufeisen, das hieß: kein Lehrer, der die ganze Zeit redete, sondern Gespräche und Diskussionen. Für Veronika musste das Hufeisen die Hölle gewesen sein.

Wir verarschten sie, wo es ging.

Ein Lehrer verkündete, dass eine Schultheatergruppe gegründet werden würde. Ob jemand Interesse habe, daran teilzunehmen?

Ich rief: »Veronika!«

Alle lachten. Veronika wurde rot und sah nach unten, auf ihre Schulbank am Hufeisenrand.

Ihr Vater wollte nicht, dass sie aufs Gymnasium ging. Sie fuhr jeden Morgen mit dem Bus eine Stunde lang von der Alb die Serpentinen hinunter. Im Winter, wenn zu viel Schnee gefallen war, kam sie nicht. Sie machte ein sehr gutes Abitur, Einskommanochwas, und dann ging sie doch nur auf die Hotelfachschule im Nachbarort.

»Du hast gesagt, es gibt hier eine Höhle.«

Die Höhle war gut ausgeschildert, und trotzdem hätte ich sie fast nicht gefunden. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass der Wegweiser recht hatte, der auf die Einmündung eines verlassenen Feldwegs zeigte.

Der Junge drückte auf das Wappen, die Heckklappe sprang auf.

»Du musst mir die Schuhe binden.«

Das kam von den elenden Klettverschlüssen. Er konnte keine Schleife binden, obwohl er bereits zur Schule ging. Wieder etwas, das ich verpennt hatte, ihm beizubringen.

Ich sagte: »Fest auftreten!«

Er lehnte sich gegen mich.

Ich zog an den Kordeln, sein Fuß rutschte weg. Im Fallen hielt er sich an mir fest.

»Fest auftreten!«

»Du hast so gezogen!«

»Du hast nicht damit gerechnet, dass ich so stark bin, was?«

»Haha, du und stark!«

Er schlang den Arm um meinen Hals. Ich stand auf, er hing an mir herunter und zappelte.

Ich röchelte: »Na? Bin ich stark? Bin ich stark?«

Ich setzte ihn ab. Er drehte mir wieder den Rücken zu, ich kniete mich hinter ihn und schnürte die Stiefel. Ich musste sie von hinten schnüren, als ob es meine wären, sonst hätte ich keine Schleife hinbekommen.

Vorm Eingang der Höhle saßen an einem Biertisch ein Mann und eine Frau. Die Frau trug ein schwarzes Kopftuch. Sie nickten uns zu. Der Mann lächelte, die Frau sah gleich wieder hinunter auf die Tischplatte.

Die Kassiererin sagte: »Das sind Unsere. Die kommen jeden Tag hierher. Die helfen hier aufräumen. Machen die Abfallkörbe leer und so. Dann sitzen sie auf der Terrasse und kriegen einen Kaffee.«

Ich erwartete eine abfällige Bemerkung. Es kam keine.

Ich sagte: »Grüß Gott. Salam aleikum. Where do you come from?«

Der Mann antwortete: »Aleikum salam. We are from …«

Die Frau: »… aus Laichingen.«

Eine Stahltreppe führte steil nach unten. Ich schloss die Augen. Der Handlauf war nass und kalt. Ich hörte unsere Tritte und das Geplapper der Tropfen. Die Noppen der Stufen fühlten sich gut an auf der nackten Fußsohle. Kälte und Nässe betäubten den Schmerz.

Ich hatte die Jacken vergessen.

»Frierst du?«

»Geht.«

Der Junge zählte die Stufen. Es ging immer tiefer.

Der Junge sagte: »304.«

Ich machte die Augen auf. Hier war es trocken. Ich versuchte mir vorzustellen, wo genau wir waren, wie tief und wie weit vom Ausgang entfernt, doch es gelang mir nicht.

Eine Treppe führte nach oben.

Eine Stimme aus dem Lautsprecher sagte: »… verabschieden wir uns mit dem Gruß der Höhlenforscher: Glück tief!«

Ich dachte: Du mich auch.

An einer Bushaltestelle hielten wir noch einmal an. Die Haltestelle lag oben am Berg, weitab von jedem Wohnhaus. Eine Landstraße mündete in eine andere, und auf dem Fahrplan hieß die Haltestelle einfach »Kreuzung«, schon immer.

Der Dunst war fort, der Blick nach unten war frei.

»Gibst du mir noch ein Bier, bitte?«

Unter uns am Hang stand eine dunkelbraun gebeizte Scheuer. Sie hatte schon immer da gestanden. Um einen alten Tränkewagen lagen Kühe, weiter unten begann die Ebene.

»Weißt du, wie der Berg hier heißt? Galgenbuckel.«

»Gibt es hier Galgen?«

Der Junge öffnete den Verschluss seiner Wasserflasche, setzte sie an den Mund, und während er schluckte, suchte er mit den Augen den Hang ab.

Unter uns lagen Wäldchen und Äcker und Wiesen, zukünftiges Bauland. Hinten der große Betonwürfel vom Müllheizkraftwerk, der dünne Schlot daneben. Ein weißer Riegel, das Kreiskrankenhaus.

Rotbraune Ziegeldächerflecken, darin ragten die Stacheln der Kirchen auf. Damit sich der Allmächtige nicht hinpflanzte hier mit seinem breiten Arsch.

In der Dämmerung sahen wir die Lichter der Flugzeuge im Anflug auf Stuttgart, sie kamen von Norden, sie waren nur Millimeter voneinander entfernt. Sobald ein Lichtpunkt am Boden verschwand, erschien ein neuer am Horizont.

Die Angestellten kehrten zu ihren Familien zurück. Ein Blick auf das schlafende Kind, ein Kuss auf die Wange der Frau, die noch am Computer saß und das Familienleben organisierte. Das Protokoll vom Elternabend, Schuhe bestellen, Fotos vom Kind an die lieben Verwandten.

Morgen früh würden die Männer wieder losfliegen.

Am liebsten würde ich immer hier sitzen bleiben, an der Bushaltestelle, dachte ich. Und dann kamen die Erdzeitalter und legten sich auf mich. Das Präteritum, das Präsens, das Futur. Diese Versteinerung da, im Präteritum, schau mal, das bin ich.

Der Alkohol flutete jetzt meinen Körper. Die Anspannung ließ nach.

Unten trieb ein Heißluftballon. Langsam zog er vorüber. Ich sah von oben auf den Ballon, auf seine ungeschützte Schädeldecke, und das gab mir den Rest.

Auf einmal rann mir Wasser übers Gesicht.

Der Junge erzählte einen Witz, den ich sofort wieder vergaß.

Veronika traf ich zufällig wieder in Kalifornien, lange nach unserer Schulzeit. Ein großes Konferenzhotel, fünf Sterne, Blick auf den Pazifik. Ich wollte auschecken.

Sie stand hinter der Rezeption und gab den Empfangsdamen Anweisungen. Dann wandte sie sich zu mir. Sie tippte die Zimmernummer und sah auf. Woher kannte ich das Gesicht? Sie nannte meinen alten Spitznamen, fragend.

Wir wechselten in den Dialekt. Das war keine bewusste Entscheidung.

Wie ein Maler den Pinsel, ohne lange nachzudenken, in die richtige Farbe am Rand der Palette tauchte.

Wir ließen die erste Fremdsprache einfach aus, das Hochdeutsche, die Zwangssprache der Oberschule. Auf dem Weg vom Dialekt zum Englischen war es überflüssig und auf dem Weg zurück erst recht.

Ihr Vater war schon lange tot. Sie sagte im Dialekt »well« und »like« und »kind of« und »you know«, Tröpfchen der Farbe von eben.

Nein, bei der Beerdigung sei sie nicht gewesen. Zu viel zu tun.

Sie sah mir ins Gesicht.

Sie war hier die Chefin. Ihr gehörte der Laden.

Sie sprach so leise wie früher, doch jetzt klang es nicht mehr verzagt. Jetzt klang es bestimmt.

Sie sah mich ernst an, als wollte sie zu verstehen geben: Es ist lange her, doch ich habe nichts vergessen.

Es war also möglich, sich zu befreien, dachte ich später, nicht nur in Romanen und Filmen und Songs, sondern auch im richtigen Leben.

Ich freute mich tagelang. Eine ganz einfache feministische, sozialistische Freude. Eine ganz kindische Freude.

Veronika hatte sich befreien können von ihrem Vater, von ihrem Dorf und von Arschlöchern wie mir.

»Um was geht es?«, fragte der Junge.

Ich antwortete: »Es geht um die Serpentinen. Möglichst spät bremsen, runterschalten, in der Kurve Gas geben.«

»Was war das?«

»Ein Fuchs, glaube ich, ein kleiner. Oder eine rote Katze.«

Nach dem Abendessen standen wir auf den Schienen und sahen nach oben. Der Große Wagen mal wieder.

Der Junge: »Und das daneben? Was sind das für Sterne?«

»Hab ich vergessen.«

»Du hast doch so eine App, auf dem Telefon. Die Sterne erkennt.«

»Das Telefon bleibt in der Dose.«

Ich kam mir blöd vor dabei, doch jeder behauptete etwas anderes, was man tun musste, damit man nicht zu orten war.

Ich legte den Arm um die Schulter des Jungen und zog ihn an mich heran, fest. Ich küsste ihn auf die Stirn. Er drehte sich aus meinem Griff heraus.

Ich versuchte es noch einmal. Jetzt wehrte er sich nicht.

Er sagte: »Ich bin traurig.«

Ich sagte: »Du bist müde. Das ist was anderes, oder?«

2

Der Junge stapfte den Kreuzweg im Zickzack hoch. Er rannte in Zeitlupe, als ob der Asphalt eingeleimt wäre.

Ich hatte den Weg nicht so steil in Erinnerung.

»Um was geht es!«, rief der Junge und klebte in der Kurve mit schiefem Oberkörper.

Ich humpelte hinterher.

Die Kirche hockte oben am Hang. Vor ihr die Wiesen, ein paar Obstbäume mit rotgelben Blättern, hinter ihr der Wald. Ein geschwungener Giebel, ocker, darauf das Glockentürmchen, näher am Himmel die schwarze Zwiebel, noch näher am Himmel das goldene Kreuz.

Ich tippte die Fingerspitzen ins Weihwasser, als ob ich es nie anders gemacht hätte.

»Was machst du?«

Es war eine Kindergewohnheit. Ich hatte sie abgelegt, als ich nicht mehr an Gott, Jesus Christus, den Heiligen Geist und schon gar nicht an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben glauben konnte. Abgelegt für lange Zeit.

Dann nahm ich die Gewohnheit wieder an. Ein verlorener Sohn, der in der vertrauten Geste Geborgenheit fand. Wenn ich eine Kirche betrat, bekreuzigte ich mich wieder, als ob es die Zeit dazwischen nicht gegeben hätte. Ich tat, als ob ich dazugehörte.

Die Geste wirkte vermutlich wie das Ritual eines gläubigen Kindes. In Wirklichkeit war es die Schauspielerei des Apostaten, der die Gemeinschaft der Gläubigen längst verlassen hatte. Eine Unterschrift in einem Sachbearbeiterbüro auf dem Amtsgericht Wedding hatte genügt. Ein Dutzend Leute nebeneinander auf Plastikschalenstühlen im Flur, Tür auf, der Nächste!, Tür zu. Das Formular, r.-k. / ev., Nichtzutreffendes streichen, Unterschrift, und damit war das Christentum in diesem Zweig der Familie zu Ende.

»Ein Kreuz.«

Ich tippte die Finger noch einmal in die kleine Schale neben dem Tor.

»Stirn im Namen des Vaters, Brust und des Sohnes, links und des Heiligen, rechts Geistes.«

»Das ist eklig.«

Im Rücken der letzten Kirchenbank war das Gotteslob gestapelt. Der Einband war jetzt grau. Aus den Büchern hingen Lesebändchen heraus. Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod.

Im Inneren der Kirche war alles weiß und golden und geschnörkelt. Sie hatten dem lieben Gott ein riesiges Mädchenzimmer hingestellt.

Die Wände waren so verrammelt mit Stuck und Gipsfigürchen und Bommeln, dass fast nichts mehr zu erkennen war.

Jede freie Stelle musste ausgemalt, jede Lücke musste mit einer Botschaft gestopft werden. Der Chor hing voller Engel, noch in der letzten Ecke flatterte einer, damit nur niemand auf die Idee kam, die Leere anders zu füllen.

Das war die Kunst von Geisteskranken, dachte ich. Barock brut. Die Botschaft des Künstlers musste in den letzten Winkel hineingeschrieben werden: »Ich war hier. Und hier war ich auch. Und hier. Und hier und hier und überall. Es gibt mich! Ich bin! Ich bin!«

Die Decke gefiel mir. Goldene Ranken und Pünktchen und Linien, dazwischen sogar kleine Flächen von schlichtem Weiß. Raum für private Notizen.

Die Kuppel sah aus wie eine Tischdecke, die eine Riesenkuchenoma nur am Sonntag aus dem Schrank holte.

Der Junge sagte: »Das sieht aus wie eine Tischdecke.«

Ich sagte: »Zwischen dem Tisch und der Tischdecke, da stehen wir. Und darüber, also darauf, da steht der Gugelhupf.«

Der Junge: »Gugelhupf?«

Vor diesem Altar hatten die Eltern geheiratet. Als der Vater bereits tot war, fiel mir die Fotografie entgegen, als ich eines der Bücher aus der Schrankwand nahm. »Götter, Gräber und Gelehrte«, Bertelsmann Lesering. Auf dem Titel des Buches waren Hieroglyphen zu sehen und eine Frau mit einem mürrischen Mund und einem seltsamen Turm auf dem Kopf. Der Mann neben ihr war senkrecht abgeschnitten. Sie hielten einander an ganz schlecht gezeichneten Händen, die Finger alle gleich lang und parallel wie Buntstifte in einem Federmäppchen.

Ich wusste nicht, wie das Hochzeitsfoto in das Buch geraten war. Fotos wurden sonst im Album aufbewahrt, mit Klarsichtecken auf die Seiten aus Karton geklebt. Fotos wurden nicht als Lesezeichen eingesetzt.

Die Fotografie war winzig, wenig größer als ein Passbild, schwarz-weiß mit einem dünnen, weiß gezackten Rand.

Der Hochaltar nahm den größten Teil des Fotos ein, klein vor dem Altar konnte ich, wenn ich eine Lupe nahm, die Rücken der Eltern sehen. Sie saßen auf Stühlen, schwarz der Vaterrücken, weiß der Mutterrücken, beide ungefähr drei Millimeter hoch, ich hatte es mit dem Lineal nachgemessen. Die Kirchenbänke waren fast leer.

Am Tag der Hochzeit sagte die Mutter des Bräutigams, die Selbstmörderwitwe, zur Braut, der zukünftigen Selbstmörderwitwe: »Das mit dem Trinken wird besser, wenn er verheiratet ist. Wenn er für Kinder sorgen muss, wird das besser.«

(Das hatte mir die Braut selbst erzählt, viel später, als sie schon klüger war.)

»Was ist ein Gugelhupf?«

»Marmorkuchen.«

Eine der böhmischen Urgroßmütter sei während der Trauung verschwunden. Ein Evangelischer in der Familie, das habe ihr nicht gefallen. Noch vor dem Jawort sei sie aufgestanden, aus der Bank getreten, habe sich bekreuzigt und die Kirche eilig verlassen.

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