Setz die Segel mit Hegel -  - E-Book

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Beschreibung

Leinen los zu abenteuerlichen Gedankenreisen ›Setz die Segel mit Hegel‹ ist eine Einladung, den Alltag auszublenden und auf geistige Wanderschaft zu gehen, sei es auf einem sanft schaukelnden Boot, ganz bequem im Liegestuhl oder auf dem Sofa zu Hause. Texte zu zentralen Themen der praktischen Philosophie bieten Anregungen, neue Perspektiven zu entdecken, über Gott und die Welt, die Menschen, die Natur, das Leben in all seinen Facetten nachzusinnen und so den eigenen Horizont ein Stückchen zu erweitern. Mit dabei sind Aristoteles, Buddha, Alexander von Humboldt, Mascha Kaléko, Hegel, Olympe de Gouges, Lichtenberg, Nietzsche, Khalil Gibran, Bertrand Russell und viele andere. Ein handliches Lesebuch für anregende Mußestunden.

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Seitenzahl: 205

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Über das Buch

Eine Einladung, den Alltag auszublenden und in andere Gedankenwelten einzutauchen: das ist die hier präsentierte Auswahl von Texten und Textauszügen. Sie bietet vielfältige Anregungen, neue Perspektiven zu entdecken, über Gott und die Welt, die Menschen, die Natur, das Leben in all seinen Facetten nachzusinnen und dabei den eigenen Horizont Stück für Stück zu erweitern. Mit dabei sind Denker und Denkerinnen, Forscher und Forscherinnen, Dichter und Dichterinnen von Platon bis Olympe de Gouges, von Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis Hannah Arendt, von Khalil Gibran bis Mascha Kaléko und viele andere.

1

WISSEN UND ERKENNTNIS

Darauf kommt es an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Platon

Wissen ist Wahrnehmung

SOKRATES: Fange nun an, und suche das Wesen des Wissens zu bestimmen. Dass du aber dazu nicht imstande seiest, das darfst du nicht wieder hören lassen. Denn wenn Gott will und du dich tapfer hältst, wirst du dazu auch imstande sein.

THEAITETOS: Angesichts deiner so nachdrücklichen Mahnung, lieber Sokrates, würde es wenig ehrenhaft sein, wollte man nicht auf alle Weise bestrebt sein vorzubringen, was man in sich hat. Meine Meinung also geht dahin: Der, welcher etwas weiß, nimmt dasjenige wahr, was er weiß. Demnach ist, wie es jetzt scheint, das Wissen nichts anderes als Wahrnehmung.

SOKRATES: So ist’s recht und wacker, mein Sohn; denn so muss man seine Meinung sagen. Aber wohlan, lass uns gemeinsam prüfen, ob es eine echte oder eine Fehlgeburt ist. Wahrnehmung, behauptest du, sei Wissen?

THEAITETOS: Ja.

SOKRATES: Es scheint, du hast keine schlechte Bestimmung des Wissens gegeben, sondern diejenige, die auch Protagoras gab. Nur sagte er das Nämliche auf eine andere Weise. Er behauptet nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind. Du hast es doch gelesen?

THEAITETOS: Gewiss, und nicht bloß einmal.

SOKRATES: Meint er es also nicht so, dass für mich alles so ist, wie es mir erscheint, und für dich hinwiederum so, wie es dir erscheint? Mensch aber bin ich ebenso wie du?

THEAITETOS: Ja, so meint er es.

SOKRATES: Von einem weisen Mann aber darf man doch nicht annehmen, dass er Albernheiten redet. Wir wollen also seinem Gedanken nachgehen. Kommt es nicht öfters vor, dass beim Wehen des nämlichen Windes der eine von uns friert, der andere nicht, und der eine nur unmerklich, der andere heftig.

THEAITETOS: Gewiss.

SOKRATES: Wollen wir nun dann den Wind an und für sich kalt oder nicht kalt nennen, oder sollen wir mit Protagoras sagen, dass es für den Frierenden kalt, für den anderen aber es nicht sei?

THEAITETOS: Das letztere.

SOKRATES: Und so erscheint es doch auch jedem von beiden?

THEAITETOS: Ja.

SOKRATES: Das »erscheint« ist aber doch so viel wie »er nimmt wahr«.

THEAITETOS: So ist’s.

SOKRATES: Also bei dem Warmen und allem Ähnlichen sind Erscheinung und Wahrnehmung dasselbe. Denn wie jeder etwas wahrnimmt, so scheint es auch für jeden zu sein.

THEAITETOS: Einverstanden.

SOKRATES: Wahrnehmung geht also immer auf das Seiende und ist untrüglich. Das kann aber nur dann der Fall sein, wenn sie Wissen ist.

THEAITETOS: So scheint’s.

SOKRATES: Das hat doch wohl Protagoras, der ja, bei den Charitinnen, ein hochweiser Mann war, uns, als dem großen Haufen, nur in Rätseln angedeutet, während er seinen Schülern im geheimen die Wahrheit mitteilte?

THEAITETOS: Wie meinst du das, mein Sokrates?

SOKRATES: Ich will dir Auskunft geben, und zwar keine schlechte. Nämlich: Nichts ist an und für sich eines, und für nichts sind die Bezeichnungen »etwas« oder »ein irgendwie Beschaffenes«statthaft, sondern wenn du es groß nennst, wird es auch klein erscheinen, und wenn schwer, auch leicht, und so weiter durchgängig, indem nichts weder etwasnoch irgendwie beschaffen ist. Vielmehr wird, und zwar aus Schwung, Bewegung und Mischung miteinander, alles, was wir mit falscher Bezeichnung sein nennen. Denn niemals ist etwas, sondern wird immer. Und darüber sind alle Weisen der Reihe nach, mit einziger Ausnahme des Parmenides, einverstanden, Protagoras und Heraklit und Empedokles, und von den Dichtern die hervorragendsten in beiden Gebieten der Dichtung, in der Komödie Epicharm und in der Tragödie Homer, der mit den Worten (Ilias 14, 201) »Auch der Okeanos, unsre Geburt und Tethys, die Mutter, alles als entstanden aus Strömung und Bewegung« bezeichnete. Oder scheint er es dir nicht so zu meinen?

THEAITETOS: Ja.

SOKRATES: Wer könnte nun gegen ein so gewaltiges Heer mit Homer als Feldherrn an der Spitze Zweifel erheben, ohne sich lächerlich zu machen?

THEAITETOS: Keine leichte Aufgabe, mein Sokrates.

SOKRATES: Nein, gewiss nicht, mein Theaitetos. Der Satz, dass Bewegung die Ursache des scheinbar Seienden und des Werdens ist, die Ruhe dagegen die Ursache des Nichtseins und des Vergehens, wird auch durch folgende Beweise gestützt: Die Wärme nämlich und das Feuer, die doch auch erst alles andere erzeugen und durch ihren Einfluss beherrschen, werden selbst aus Schwung und Reibung erzeugt; das aber sind beides Bewegungen. Oder wären dies nicht die Entstehungsweisen des Feuers?

THEAITETOS: Sie sind es.

SOKRATES: Und was das Geschlecht der lebenden Wesen anlangt, so entsteht es doch aus den nämlichen Ursachen.

THEAITETOS: Unmöglich auf andere Weise.

SOKRATES: Und wie steht’s mit dem körperlichen Wohlbefinden? Wird es nicht durch Ruhe und Trägheit untergraben, dagegen durch Leibesübungen und Bewegungen bedeutend gefördert?

THEAITETOS: Ja.

SOKRATES: Und was die Seelenbeschaffenheit anlangt, steht es da nicht so, dass die Seele durch Lernen und Übung, also Bewegungen, Kenntnisse erwirbt und bewahrt und sich bessert, während die Ruhe, die hier nichts anderes bedeutet als Mangel an Bildungstrieb und Lernbegier, zur Folge hat, dass sie nicht bloß nichts lernt, sondern auch, was sie gelernt hat, vergisst?

THEAITETOS: Sicherlich.

SOKRATES: Das eine also, nämlich die Bewegung, ist heilsam für Seele und Körper, das andere gerade umgekehrt.

THEAITETOS: Allerdings.

SOKRATES: Soll ich dir weiter reden von den Windstillen zu Wasser und zu Lande und ähnlichen Erscheinungen, dass nämlich die Ruhe Fäulnis und Verderbnis verursacht, das Gegenteil aber Gedeihen? Und soll ich dem Ganzen die Krone aufsetzen und beweisen, dass Homer mit dem Goldnen Seile nichts anderes meint als die Sonne, und zeigt, dass, solange der Umschwung und die Sonne im Gange sind, alles im Himmel wie auf Erden Bestand hat und gedeiht, wenn aber einmal das Ganze wie gefesselt stillstünde, alle Dinge zugrunde gehen und, wie man zu sagen pflegt, das Unterste zuoberst gekehrt würde?

THEAITETOS: Ja, so ist es wohl, mein Sokrates; Homer will das zeigen, was du ihm beilegst.

SOKRATES: Mache dir nun also, mein Bester, folgende Vorstellung: zunächst, was das Sehen anlangt, sei, was du weiße Farbe nennst, weder etwas Gesondertes außerhalb deiner Augen noch auch in deinen Augen; auch darfst du keinen Ort dafür annehmen. Denn dann wäre es ja schon an bestimmter Stelle und bliebe da und wäre nicht im Werden begriffen.

THEAITETOS: Wie das?

SOKRATES: Lass uns unserer obigen Annahme folgen, dass nichts an und für sich eins sei. So wird sich uns ergeben, dass Schwarz und Weiß und jede andere Farbe aus dem Zusammentreffen der Augen mit der entsprechenden Bewegung entsteht, und das, was wir in jedem einzelnen Fall Farbe nennen, ist weder das auf etwas Treffende noch das, worauf es trifft, sondern ein Mittleres, das sich für jeden besonders gestaltet. Oder würdest du die Meinung verfechten, dass, wie dir jedes Mal eine Farbe erscheint, sie auch einem Hunde und jedem beliebigen Geschöpfe erscheine?

THEAITETOS: Nimmermehr, beim Zeus.

SOKRATES: Und weiter. Erscheint einem anderen Menschen irgendetwas so wie dir? Hast du darüber volle Sicherheit oder nicht vielmehr darüber, dass nicht einmal dir selbst etwas als dasselbe erscheint, weil du dir selbst niemals gleichbleibst?

THEAITETOS: Dies scheint mir richtiger als jenes.

SOKRATES: Wenn nun das, was wir messen oder was wir berühren, groß oder weiß oder warm wäre, so würde es sich auch für einen anderen, der darauf stieße, niemals anders darstellen, solange es sich nicht selbst verändert. Wenn aber anderseits das Messende oder Berührende es wäre, dem diese einzelnen Eigenschaften innewohnten, so würde es seinerseits, wenn ein anderes herantritt oder etwas erleidet, ohne dass es selbst etwas erleidet, nicht ein anderes werden; während wir jetzt, mein Freund, uns genötigt sehen, mit wunderlichen und lächerlichen Behauptungen leichtfertig um uns zu werfen, wie Protagoras sagen würde und jeder, der dessen Meinung zu vertreten suchte.

THEAITETOS: Wie meinst du das?

SOKRATES: Ein einfaches Beispiel wird dir den Sinn meiner Worte völlig klarmachen. Wenn du sechs Würfel mit vieren vergleichst, so sagen wir, es seien mehr als vier und zwar anderthalbmal so viel, wenn aber mit zwölf, es seien weniger, und zwar halb so viel; eine andere Behauptung ist gar nicht möglich. Oder hältst du sie für möglich?

THEAITETOS: Ich nicht.

SOKRATES: Wie nun, wenn Protagoras oder sonst jemand dich fragte: Lieber Theaitetos, kann etwas größer oder mehr werden anders als durch Vermehrung? Was würdest du antworten?

THEAITETOS: Wenn ich, mein Sokrates, die mir richtig scheinende Antwort auf die letzte Frage geben soll, so würde ich sagen: Nein! Wenn ich aber mit Rücksicht auf die frühere Frage antworten soll, so werde ich sagen: Ja! Denn sonst würde ich mir widersprechen.

SOKRATES: Vortrefflich, bei der Hera, mein Freund, und göttlich! Allein wenn du mit Ja antwortest, so dürfte wohl etwas vorgehen, was an das Wort des Euripides erinnert: Unsere Zunge nämlich wird zwar unwiderlegt bleiben, aber nicht unser Gedanke.

THEAITETOS: So ist’s.

SOKRATES: Wären wir nun, ich und du, geistesmächtige und weise Männer und hätten das ganze Reich der Gedanken durchforscht, so würden wir nunmehr uns allerhand Fallen stellen und als streitbare Sophisten, uns im Kampfe messend, Rede gegen Rede triumphieren lassen. So aber sind wir einfache Leute, und darum wollen wir zunächst ganz schlicht unsere Gedanken für sich daraufhin prüfen, ob sie uns miteinander übereinstimmen oder ob das gerade Gegenteil der Fall ist.

THEAITETOS: Das ist mein aufrichtiger Wunsch.

SOKRATES: Und erst recht der meinige. Da es sich nun so verhält, wollen wir da nicht in aller Ruhe als Leute, die reichliche Zeit haben, die Untersuchung nochmals beginnen und nicht ärgerlich werden, sondern uns selbst aufrichtig daraufhin prüfen, was es mit diesen Erscheinungen in uns auf sich hat. Erstens nämlich werden wir bei solcher Selbstbeobachtung wohl den Satz aufstellen, dass niemals irgendetwas größer oder kleiner wird weder an Masse noch an Zahl, solange es sich selbst gleich ist.

THEAITETOS: Ja.

SOKRATES: Zweitens: dass ein Ding, dem weder etwas hinzugesetzt noch abgezogen wird, weder je zunimmt noch abnimmt, sondern immer sich gleich ist.

THEAITETOS: Zweifellos.

SOKRATES: Nicht auch drittens, dass, was früher nicht war, später aber ist, dazu unmöglich gelangen kann, ohne geworden zu sein und zu werden?

THEAITETOS: Auch das scheint richtig.

SOKRATES: Diese drei Sätze widersprechen sich nun, glaube ich, in unserer Seele. Wir brauchen nur an das Beispiel mit den Würfeln zu denken oder auch an folgenden Fall: Ich, ein Mann in diesem Alter, werde, ohne gewachsen zu sein oder abgenommen zu haben, innerhalb eines Jahres, während ich jetzt noch größer bin als du, der Jüngling, weiterhin kleiner sein, ohne dass meine Körpermasse sich verringert hätte, sondern dadurch, dass du gewachsen bist. Denn ich bin ja doch später, was ich früher nicht war (nämlich kleiner), ohne es geworden zu sein; und dies letztere müsste doch der Fall sein; denn ohne das Werden ist das Gewordensein unmöglich, kleiner aber würde ich nur dann, wenn (bis dahin, wo Theaitetos mich an Größe übertreffen wird) ich etwas von meiner Körpermasse verlöre. Und noch tausend und abertausend Fälle dieser Art lassen sich anführen, wenn wir dieses zulassen.

Du folgst mir doch, lieber Theaitetos? Wenigstens scheinst du mir in solchen Dingen nicht unerfahren zu sein.

THEAITETOS: Wahrhaftig bei den Göttern, mein Sokrates, ich komme nicht aus der Verwunderung heraus über die Bedeutung dieser Dinge, und zuweilen wird mir’s beim Blick auf sie geradezu schwindelig.

SOKRATES: Ja, hier zeigt sich, mein Freund, dass Theodoros bei seinem Urteil über dich von einem ganz richtigen Gefühl geleitet wurde. Denn gerade den Philosophen kennzeichnet diese Gemütsverfassung, die Verwunderung. Denn diese, und nichts anderes, ist der Anfang der Philosophie.

Khalil Gibran

Das Feld von Zaad

Auf der Straße von Zaad begegnete ein Reisender einem Mann, der in einem nahe gelegenen Dorf wohnte, und der Reisende deutete mit der Hand auf ein ausgedehntes Feld und fragte den Mann: »War dies nicht das Schlachtfeld, auf dem König Ahlam seine Feinde überwand?«

Und der Mann antwortete und sagte: »Das ist niemals ein Schlachtfeld gewesen. Auf diesem Feld stand einst die große Stadt Zaad, und sie wurde in Schutt und Asche gelegt. Aber jetzt ist es ein gutes Feld, nicht wahr?«

Und der Reisende und der Mann schieden voneinander.

Kurz darauf begegnete der Reisende einem anderen Mann, und wieder auf das Feld deutend, fragte er: »Das also ist der Ort, an dem einst die große Stadt Zaad stand?«

Und der Mann sagte: »Hier hat es noch nie eine Stadt Zaad gegeben. Aber früher einmal stand hier ein Kloster, und es wurde von den Leuten des Südlands zerstört.«

Darauf begegnete der Reisende auf derselben Straße von Zaad einem dritten Mann, und er deutete noch einmal auf das ausgedehnte Feld und sagte: »Ist es wahr, dass dies der Ort ist, an dem einst ein bedeutendes Kloster stand?«

Doch der Mann antwortete: »In dieser Gegend hat es noch niemals ein Kloster gegeben, aber unsere Väter und unsere Vorväter erzählten uns, einst sei ein gewaltiger Meteor in dieses Feld eingeschlagen.«

Da ging der Reisende weiter und wunderte sich in seinem Herzen. Und er begegnete einem sehr alten Mann, und er begrüßte ihn und sagte: »Herr, ich bin auf dieser Straße drei Männern begegnet, die alle hier in der Nähe wohnen, und habe jeden von ihnen nach diesem Feld gefragt. Und jeder von ihnen bestritt, was der andre zuvor gesagt hatte, und jeder von ihnen erzählte mir eine neue Geschichte, die der andere nicht erzählt hatte.«

Der Alte hob den Kopf und antwortete: »Mein Freund, jeder Einzelne von ihnen hat dir erzählt, was tatsächlich der Fall war; doch nur wenige von uns sind imstande, verschiedene Tatsachen zusammenzufügen und daraus eine Wahrheit zu bilden.«

René Descartes

Über die Natur des menschlichen Geistes

Die gestrige Untersuchung hat mich in so viele Zweifel gestürzt, dass ich sie nicht mehr vergessen kann, noch weiß, wie ich sie lösen soll. Als wäre ich unversehens in einen tiefen Strudel gestürzt, bin ich so verstört, dass ich weder auf dem Grunde Fuß fassen, noch zur Oberfläche mich emporbewegen kann. Dennoch will ich ausharren und nochmals den gestern eingeschlagenen Weg betreten, indem ich Alles fern halte, was dem geringsten Zweifel unterliegt, so als hätte ich es für ganz falsch erkannt, und ich will fortfahren, bis ich etwas Gewisses erreiche, wäre es auch nichts Anderes als die Gewissheit, dass es nichts Gewisses gibt. Archimedes verlangte nur einen festen und unbeweglichen Punkt, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen; und ich kann auf Großes hoffen, wenn ich nur etwas, wäre es auch noch so klein, fände, was gewiss und unerschütterlich wäre.

Es gilt mir daher Alles, was ich sehe, für falsch; ich lasse nichts von dem gelten, was das trügerische Gedächtnis mir von dem Früheren vorführt; ich habe gar keine Sinne; mein Körper, meine Gestalt, Größe, Bewegung, Ort sind Chimären. Was bleibt da Wahres übrig? Vielleicht das Eine, dass es nichts Gewisses gibt.

Aber woher weiß ich, dass es Nichts gibt, was, im Unterschied von allem bisher Aufgezählten, nicht den mindesten Anlass zum Zweifeln gibt? Ist es nicht ein Gott, oder wie sonst ich den nennen will, der mir diesen Gedanken einflößt? – Weshalb soll ich aber dies glauben, da ich vielleicht selbst der Urheber desselben sein kann? – Bin ich selbst also wenigstens nicht Etwas? – Aber ich habe schon geleugnet, dass ich irgendeinen Sinn, irgendeinen Körper habe. Doch ich stocke; denn was folgt daraus? Bin ich denn so an den Körper und die Sinne gefesselt, dass ich ohne sie nicht sein kann? – Aber ich habe mich selbst überredet, dass es nichts in der Welt gibt, keinen Himmel, keine Erde, keine denkenden Wesen, keine Körper; weshalb also nicht auch, dass ich selbst nicht bin? – Gewiss aber war ich, wenn ich mich selbst überredet habe. – Aber es gibt einen, ich weiß nicht welchen höchst mächtigen und listigen Betrüger, der mich absichtlich immer täuscht. – Aber unzweifelhaft bin ich auch dann, wenn er mich täuscht; und mag er mich täuschen, so viel er vermag, nimmer wird er es erreichen, dass ich nicht bin, solange ich denke, dass ich etwas bin. Alles in Allem reiflich erwogen, muss zuletzt der Satz: »Ich bin, ich existiere«, notwendig wahr sein, so oft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse.

Aber noch erkenne ich nicht genügend, wer denn der ist, der ich bin, und ich muss mich vorsehen, damit ich nicht etwa voreilig etwas Anderes statt meiner aufnehme und so selbst in jenem Gedanken auf Abwege gerate, welchen ich als den gewissesten und offenbarsten von allen behaupte. Ich werde deshalb nochmals überlegen, wofür ich mich früher gehalten habe, ehe ich auf diesen Gedanken geriet. Davon will ich dann Alles abziehen, was durch beizubringende Gründe im Geringsten erschüttert werden kann, so dass zuletzt nur genau das übrig bleibt, was gewiss und unerschütterlich ist.

Wofür also habe ich mich bisher gehalten? – Für einen Menschen. – Aber was ist der Mensch? Soll ich sagen: ein vernünftiges Tier? – Nein; denn ich müsste dann untersuchen, was ein Tier und was vernünftig ist, und so geriete ich aus einer Frage in mehrere und schwierigere. Auch habe ich nicht so viel Zeit, um sie mit solchen Spitzfindigkeiten zu vergeuden; vielmehr will ich lieber betrachten, was sich von selbst und naturgemäß meinem Denken bisher darbot, so oft ich mich selbst betrachtete. Also zuerst bemerkte ich, dass ich ein Gesicht, Hände, Arme und jene ganze Gliedermaschine habe, wie man sie auch an einem Leichnam sieht, und die ich mit dem Namen »Körper« bezeichnete. Ich bemerkte ferner, dass ich mich ernähre, gehe, fühle und denke; ich bezog diese Tätigkeiten auf den Geist; aber was dieser »Geist« sei, nahm ich nicht wahr, oder ich stellte sie mir als ein feines Etwas vor, nach Art eines Windes oder Feuers oder Äthers, welcher meinen gröberen Bestandteilen eingeflößt sei. Über meinen Körper hatte ich nicht den mindesten Zweifel, sondern meinte, dessen Natur bestimmt zu kennen, und wenn ich versucht hätte, diese Natur so zu beschreiben, wie ich sie mir vorstellte, würde ich gesagt haben: »Unter Körper verstehe ich Alles, was durch eine Gestalt begrenzt ist und örtlich umschrieben werden kann; was den Raum so erfüllt, dass es jeden anderen Körper davon ausschließt; was durch Gefühl, Gesicht, Gehör, Geschmack oder Geruch wahrgenommen werden und sich auf verschiedene Weise bewegen kann; zwar nicht von selbst, aber von etwas Anderem, von dem es angestoßen wird.« Denn ich nahm an, dass die Fähigkeit, sich selbst zu bewegen, zu empfinden und zu denken, auf keine Weise zur Natur des Körpers gehöre; vielmehr staunte ich, dass dergleichen Vermögen in manchen Körpern angetroffen werden können.

Da ich aber jetzt annehme, dass ein mächtiger und, wenn es zu sagen erlaubt ist, boshafter Betrüger absichtlich mich in Allem möglichst getäuscht habe, kann ich da auch nur das Kleinste von Alledem noch festhalten, was ich zur Natur des Körpers gerechnet habe? Ich merke auf, ich denke nach, ich überlege; ich finde nichts; ich ermüde, indem ich den Versuch vergeblich wiederhole. – Was soll aber von dem gelten, was sich der Geist zuteilte, von dem Sich-Ernähren und Gehen? Da ich keinen Körper habe, so sind auch dies nur Einbildungen. – Was aber ist mit dem Wahrnehmen, dem Empfinden? – Auch dies ist ohne Körper unmöglich, und auch glaubte ich Vieles im Traum wahrzunehmen, von dem sich später ergab, dass ich es nicht wahrgenommen habe. – Was aber ist Denken? – Hier treffe ich es: Das Denken ist; dies allein kann von mir nicht abgetrennt werden; es ist sicher, ich bin, ich bestehe. Wie lange aber? Offenbar solange ich denke; denn es könnte vielleicht kommen, dass, wenn ich mit dem Denken ganz aufhörte, ich alsbald auch zu sein ganz aufhörte. Ich lasse jetzt nur das zu, was notwendig wahr ist. Ich bin also genau nur ein denkendes Wesen, d. h. ein Geist oder ein Verstand oder eine Vernunft, Worte von einer mir früher unbekannten Bedeutung. Aber ich bin ein wirkliches Wesen, das wahrhaft existiert. – Aber welches Ding? Ich habe bereits gesagt: ein denkendes.

Was weiter? – Ich will annehmen, dass ich nicht jenes Gebilde von Gliedern bin, welches man menschlichen Körper nennt; ich bin auch nicht ein feiner Äther, der diese Glieder durchdringt; kein Wind, kein Feuer, kein Dampf, kein Hauch, nicht, was ich sonst mir einbilde; denn ich habe angenommen, dass dies Alles nichts ist. Aber der Satz bleibt: Trotzdem bin ich Etwas. – Vielleicht aber trifft es sich, dass selbst das, von dem ich annahm, es sei nichts, weil es mir unbekannt ist, in Wahrheit von dem Ich das, ich kenne, nicht unterschieden ist. – Ich weiß es nicht und streite darüber nicht; ich kann nur über das urteilen, was mir bekannt ist. Ich weiß, dass ich da bin; ich frage, wer bin ich, dieses Ich, von dem ich weiß? Offenbar kann die Erkenntnis dieses so genau aufgefassten Ich nicht von etwas abhängen, von dem ich noch nicht weiß, dass es da ist, mithin auch nicht von Alledem, was ich mir eingebildet habe. Aber dieses Wort »eingebildet« erinnert mich an meinen Irrtum; denn ich würde in Wahrheit mir Etwas einbilden, wenn ich mir vorstellte, dass ich Etwas sei; denn Vorstellen ist nichts Anderes, als die Gestalt oder das Bild eines körperlichen Gegenstandes betrachten. Nun weiß ich aber doch gewiss, dass ich bin, und zugleich, dass alle jene Bilder und überhaupt Alles, was sich auf die Natur des Körpers bezieht, möglicherweise nur Traumbilder sind. Hiernach erscheint es nicht minder verkehrt, wenn ich sage, »Ich will meine Einbildungskraft anstrengen, um genauer zu erfahren, wer ich bin«, als wenn ich sagte: »Ich bin zwar erwacht und sehe etwas Wirkliches; allein, weil ich es noch nicht klar genug sehe, will ich mich bemühen, wieder einzuschlafen, damit die Träume mir es wahrhafter und überzeugender vorstellen sollen.« Ich erkenne also, dass nichts von dem, was ich durch die Einbildungskraft erfassen kann, zu diesem Wissen gehört, was ich von mir habe, und dass ich meinen Geist mit Sorgfalt davon abhalten muss, wenn ich seine Natur genau erkennen will.

Aber was bin ich also? – Ein denkendes Ding. – Was heißt dies? – Es ist ein Wesen, was zweifelt, bejaht, verneint, begehrt, verabscheut, auch vorstellt und wahrnimmt.

Dies ist fürwahr nicht wenig, wenn das Alles mir zugehört. Aber weshalb sollte dies nicht sein? Bin ich es nicht selbst, der beinahe Alles bezweifelt, der dennoch Einiges einsieht, der behauptet, das Eine sei wahr, das Übrige leugnet, der mehr wissen will, der nicht betrogen sein will, der sich Vieles selbst unwillkürlich vorstellt und Vieles als solches bemerkt, was nicht von den Sinnen ihm zugeführt worden? Ist nicht all dies, wenn ich auch noch träumen sollte, wenn auch der, welcher mich geschaffen hat, nach Möglichkeit mich täuschen sollte, nicht ebenso wahr wie mein Dasein, der Satz, dass ich bin? Was davon ist von meinem Denken unterscheidbar? Weshalb kann es als von mir unterschieden gesetzt werden? – Denn dass ich es bin, der zweifelt, der einsieht, der will, ist so offenbar, dass es nichts gibt, was dies deutlicher machen könnte. – Aber ich bin doch auch derselbe, der sich etwas vorstellt. Denn wenn auch vielleicht nichts von dem, was ich mir vorstelle, nach meiner Voraussetzung wahr ist, so besteht doch in Wahrheit die Einbildungskraft und macht einen Teil meiner Gedanken aus; ebenso bin ich es, der wahrnimmt, d. h. die körperlichen Dinge gleichsam durch die Sinne bemerkt. Ich sehe doch offenbar das Licht, höre ein Geräusch, fühle die Wärme; aber dies ist Täuschung, denn ich träume. Aber ich meine doch zu sehen, zu hören, mich zu erwärmen; dies kann nicht falsch sein; das ist eigentlich das, was in mir das Empfinden genannt wird. Mithin ist dieses, genau genommen, nichts anderes als Bewusstsein.

Hiernach beginne ich schon etwas besser zu wissen, was ich bin. Allein dennoch scheint es mir, und ich kann mich der Meinung nicht erwehren, dass ich die körperlichen Dinge, deren Bilder im Denken geformt werden, und welche die Sinne erforschen, viel genauer kenne als jenes, ich weiß nicht etwas von mir, das ich mir nicht vorstellen kann. Es ist fürwahr wunderbar, dass ich die Dinge, die mir als zweifelhaft, unbekannt, fremd gelten, deutlicher erfasst werden als das, was wahr, was erkannt ist, ja als ich selbst. Aber ich sehe, wie es sich verhält; mein Denken freut sich des Verirrens und lässt sich nicht in den Schranken der Wahrheit festhalten. Sei es also! Wir wollen ihm noch einmal die Zügel schießen lassen, damit, wenn sie später zur passenden Zeit angezogen werden, es umso geduldiger sich lenken lasse.