Sexueller Kindesmissbrauch und Pädophilie -  - E-Book

Sexueller Kindesmissbrauch und Pädophilie E-Book

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Beschreibung

Die Thematik sexueller Kindesmissbrauch wird von der Gesellschaft oftmals ambivalent aufgefasst. Nähe zum Täter kann Wegschauen, Verleumdung oder starke mediale Neugier, die schon beinahe an Voyeurismus grenzt, auslösen, wodurch Täter und Opfer in den Mittelpunkt medial Berichterstattung rutschen. Sexuelle Übergriffe von Erwachsenen auf Kinder bringen außerdem oftmals dramatische Folgen mit, was die Bewahrung wissenschaftlicher Neutralität erschwert. Die Neuauflage bietet einen umfassenden Überblick über den aktuellen Wissensstand zum Themenkreis Sexueller Kindesmissbrauch und Pädophilie. Expertinnen und Experten des Themenfelds informieren in Ihren Beiträgen über Recht, Kunst- und Kulturgeschichte, psychiatrische, psychodynamische, neurobiologische Tätermerkmale und Opfertypologien. Zusätzlich dazu werden Prävention, Begutachtung und Behandlung von Tätern und Opfern sowie die Rechtslage in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Werk wurde umfassend aktualisiert und um die Behandlungsmethode Sexocorporel ergänzt. Das Standardwerk für alle, die sich beruflich mit sexuellem Kindesmissbrauch und Pädophilie auseinandersetzen.

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Seitenzahl: 851

Veröffentlichungsjahr: 2024

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T. Stompe | K. Ritter (Hrsg.)

Sexueller Kindesmissbrauch und Pädophilie

Grundlagen, Begutachtung, Prävention und Intervention – Täter und Opfer

3., aktualisierte und erweiterte Auflage

mit Beiträgen von

W. Berner | K.-H. Danzl | N. Döring | M. Eder-Rieder | F. Fotr | E. Habermeyer | N.C. Hauser | D. Holzer | E. Hübner | H.-P. Kapfhammer | H. Kastner | K. Keckeis | J.F. Kinzl | K. Koschitz | W. Kostenwein | H.-L. Kröber | F. Lackinger | M. Lesky | N. Nedopil | M. Rettenberger | K. Ritter | K. Schiltz | H. Stoffels | T. Stompe | F. de Tribolet-Hardy

Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

Das Herausgeber-Team

Univ.-Prof. Dr. Thomas Stompe

Medizinische Universität Wien

Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Österreich

DDr. Kristina Ritter

Institut für Transkulturelle Psychiatrie und Migrationsforschung

Wien

Österreich

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Unterbaumstr. 4

10117 Berlin

www.mwv-berlin.de

ISBN 978-3-95466-944-8 (eBook: PDF)

ISBN 978-3-95466-945-5 (eBook: ePub)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2025

Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Im vorliegenden Werk wird zur allgemeinen Bezeichnung von Personen nur die männliche Form verwendet, gemeint sind immer alle Geschlechter, sofern nicht gesondert angegeben. Sofern Beitragende in ihren Texten gendergerechte Formulierungen wünschen, übernehmen wir diese in den entsprechenden Beiträgen oder Werken.

Die Verfassenden haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Der Verlag kann insbesondere bei medizinischen Beiträgen keine Gewähr übernehmen für Empfehlungen zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen oder für Dosierungsanweisungen, Applikationsformen oder ähnliches. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden. Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website

Produkt-/Projektmanagement: Meike Daumen, Dennis Roll, Berlin

Lektorat: Monika Laut-Zimmermann, Berlin

Layout & Satz: zweiband.media, Agentur für Mediengestaltung und -produktion GmbH, Berlin

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Zuschriften und Kritik an:

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Unterbaumstr. 4, 10117 Berlin, [email protected]

Vorwort zur ersten Auflage

Wie die letzten medialen Schlagzeilen über Sinn etwa der elektronischen Fußfessel für die Verhinderung weiterer Übergriffe und vor allem über deren mangelnden Strafcharakter zeigen, ist es besonders nach dem Fall Fritzl und den Vorkommnissen in kirchlichen aber auch weltlichen Internaten und Erziehungsheimen schwierig, das Problem des sexuellen Kindesmissbrauchs sachlich und mit der nötigen emotionalen Distanz abzuhandeln, ohne sich dem Vorwurf der politischen Inkorrektheit oder im besten Fall des Mangels an Mitgefühl durch eine aufgebrachte Öffentlichkeit ausgesetzt zu sehen. Anlässlich solcher Ereignisse erschien es umso wichtiger, in zwei Tagungen die zentralen Erkenntnisse über diese Problematik darzustellen. Der hier vorliegende dritte Band der Wiener Schriftenreihe für Forensische Psychiatrie versammelt die Beiträge namhafter Referentinnen und Referenten der 5. Wiener Frühjahrstagung für Forensische Psychiatrie und der Österreichischen Gutachtertagung. Ein weites Spektrum umfasst soziokulturelle, neurobiologische, familiendynamische, psychopathologische sowie therapeutische, rechtliche, kriminologische und viktimologische Aspekte des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Pädophilie. Dabei werden auch Themen wie Kinderpornographie im Internet und Missbrauch in kirchlichen Institutionen behandelt, die in den letzten Jahren für mediale Aufregung sorgten. Allerdings kann dieser breitgefächerte Überblick letztlich nur Stückwerk bleiben, zu viele Fragen sind noch offen. Der vorliegende Band möchte Anstoß geben, das Themenfeld der Pädosexualität bei aller Empathie für die Opfer mit der nötigen objektiven Distanz zu betrachten. Nur so können neue Hexenjagden verhindert und die für eine wirksame Prävention dringend erforderlichen objektiven Daten gewonnen werden.

Die Herausgeber 2013

Vorwort zur zweiten Auflage

Der Erfolg der ersten Auflage ermutigte uns, das bedauerlicherweise anhaltend aktuelle Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs neu zu evaluieren und um wichtige Bereiche zu erweitern. Kapitel aus der ersten Auflage wurden um zahlreiche aktuelle Erkenntnisse ergänzt. Zudem erfuhr das vorliegende Buch eine neue Gliederung – Opfer und Täter, Prävention und Behandlung werden nun gleichermaßen thematisiert. Neu hinzu kamen Kapitel zur deutschen und schweizerischen Rechtslage, über Täter- und Opfertherapie, über die Gruppe der jugendlichen Sexualstraftäter, über Möglichkeiten und Grenzen der Kriminalprognostik und über die Darstellung von sexuellem Kindesmissbrauch im Film und in den Printmedien. Entstanden ist ein nach Ansicht der Herausgeber umfassendes Standardwerk zum Thema sexueller Kindesmissbrauch und Pädophilie. Gewidmet ist dieses Buch Herrn Professor Werner Laubichler, Mitherausgeber der ersten Auflage, der 2016 nach langer, schwerer Erkrankung von uns gegangen ist.

Die Herausgeber im September 2017

Vorwort zur dritten Auflage

Der Fortschritt der Wissenschaft seit der 2. Auflage 2017 und das anhaltende gesellschaftspolitische Interesse an den verschiedensten Facetten des (sexuellen) Kindesmissbrauchs veranlasste die Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, uns die Möglichkeit zu geben, unser Werk über sexuellen Kindesmissbrauch und Pädophilie auf den neuesten Stand des Diskurses zu bringen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Veränderungen der Gesetzgebung erforderten umfangreiche Überarbeitungen und Ergänzungen der Beiträge. Die vorliegende Auflage wurde weiters um einen uns wesentlich erscheinenden Beitrag von Wolfgang Kostenwein über die Konzeptionalisierung von Missbrauchstaten und Behandlung der Täter durch Sexocorporel, einer körperorientierten, sexologischen Therapietechnik, erweitert.

Theoretische Wissenschaft und praktische Therapie sind im Fluss. Auch die nunmehr vorliegende 3. Auflage ist eine Momentaufnahme, die den gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse zusammenfasst. Es ist das Anliegen der Herausgeber, Wissenschaftler zu neuen Anstrengungen zu ermutigen, Therapeuten zur Reflexion über ihre Arbeit mit Tätern und Opfern anzuregen und nicht zuletzt einem interessierten Publikum Einblicke in diese spannende Materie zu geben.

Die Herausgeber im Oktober 2024

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

IDie Täter

1Sexueller Missbrauch – Epidemiologie und PhänomenologieWolfgang Berner

2Anomalien der Gehirnstruktur pädophiler StraftäterKolja Schiltz

3Vom Opfer zum Täter – Welchen Wert hat die Viktimisierungshypothese bei Tätern mit sexuellem Kindesmissbrauch?Norbert Nedopil

4Sexueller Kindesmissbrauch durch Jugendliche und junge ErwachseneThomas Stompe

IIDie Opfer

1Die Bedeutung von „Sexual Abuse Proneness“ bei Opfern und Tätern sexuellen MissbrauchsJohann F. Kinzl

2Psychische und somatische Folgen bei Opfern sexuellen KindesmissbrauchsThomas Stompe

3Über den Zusammenhang frühkindlicher Traumatisierungen und psychotischer Störungen im ErwachsenenalterHans-Peter Kapfhammer

IIIDas Umfeld

1Der innerfamiliäre MissbrauchHeidi Kastner

2Sexuelle Übergriffe auf Kinder außerhalb der Familie – auch in Schulen, Heimen, Vereinen und KircheHans-Ludwig Kröber

IVBehandlung und Prävention – Täter

1Zur psychodynamischen Therapie von pädosexuellen TäternFritz Lackinger

2Verhaltenstherapie und Sex Offender Treatment-Programme bei MissbrauchstäternKatinka Keckeis

3Sexocorporel – sexodynamische Aspekte für die Erklärung, Therapie und Prävention von PädophilieWolfgang Kostenwein

4Medikamentöse Behandlung sexueller PräferenzstörungenThomas Stompe

VBehandlung und Prävention – Opfer

1Die Behandlung von erwachsenen Opfern sexuellen KindesmissbrauchsThomas Stompe und Kristina Ritter

2Traumafolgestörungen im Kindes- und JugendalterKarin Koschitz

3Präventionsprogramme bei sexuellem Missbrauch von KindernKristina Ritter

VIKindesmissbrauch und Rechtsordnung

1Strafrechtliche Grundlagen des sexuellen Kindesmissbrauchs für die Begutachtung und therapeutische Behandlung in Deutschland und der SchweizFanny de Tribolet-Hardy, Elmar Habermeyer und Nicole Claire Hauser

2Strafrechtliche und strafprozessuale Aspekte bei Anklagen wegen Gewalt und sexuellem Missbrauch eines UnmündigenMaria Eder-Rieder

3Gewalt und sexueller Missbrauch in der Kindheit – zivilrechtliche AspekteKarl-Heinz Danzl

VIIDie Begutachtung von Täter und Opfer

1Die kriminalprognostische Einschätzung und Begutachtung bei KindesmissbrauchMartin Rettenberger

2Computerforensische Untersuchungen im Umfeld von KindesmissbrauchsfällenFranz Fotr und Manuel Lesky

3Was bedeutet „Glaubhaftigkeit“ einer Aussage und wie beurteilt man sie?Eleonora Hübner

4Realität oder Phantasie? Wenn Erinnerungen in der Psychotherapie auftauchenHans Stoffels

VIIIKindesmissbrauch, Pädosexualität, Kultur und Medien

1Sexueller Missbrauch, Pädosexualität und KulturThomas Stompe

2Sexueller Kindesmissbrauch im FilmThomas Stompe

3Sexueller Kindesmissbrauch als Thema in den Medien – Chancen und RisikenNicola Döring

4Sexuelles Missbrauchsmaterial von Kindern (CSAM)David Holzer

I Die Täter

1Sexueller Missbrauch – Epidemiologie und PhänomenologieWolfgang Berner

Über die „Epidemiologie“ des sexuellen Missbrauchs gibt es viel Widersprüchliches zu berichten, da die Anzahl der Missbrauchsdelikte, die der Polizei bekannt werden, offensichtlich nur einen Bruchteil des tatsächlich vorkommenden Missbrauchs ausmachen, wobei sowohl diese offiziellen Zahlen als auch die durch Befragung von repräsentativen Teilen der Bevölkerung ermittelten aus vielen Gründen relativiert werden müssen. Im Folgenden werden zunächst einige dieser Zahlen mitgeteilt und dann dem Problem der Definition gegenübergestellt – wo fängt Missbrauch an, wo können wir von einer sexuellen Vorliebe im Sinne der Pädophilie sprechen. Typologien des Missbrauchs wurden hauptsächlich an Kollektiven von Straffälligen entwickelt. Es wird versucht, Gemeinsamkeiten aus den vielen vorgeschlagenen Typologien zu entwickeln. Abschließend werden noch einige prägnante klinische Erscheinungsformen vorgestellt, jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit, da es viele Misch- und Übergangsformen gibt. Die Ursachenforschung auf diesem Gebiet geht nach wie vor von unterschiedlichen Entstehungsbedingungen und „Pfaden“ aus, die zu Missbrauch führen können – man spricht von einem multifaktoriellen Geschehen –, weshalb man auch therapeutisch in jedem Fall eine multifaktorielle Vorgangsweise mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen wählen muss.

1.1Polizeistatistik und Dunkelfeld

Laut deutscher Kriminalstatistik ist mit 10.000 bis 12.000 bekannt gewordenen Fällen pro Jahr zu rechnen, was gleichzeitig bedeutet, dass etwa 19 bis 20 Männer pro 100.000 Einwohner im Jahr wegen Missbrauch polizeilich auffällig werden. Rechnet man das auf die Gesamtbevölkerung hoch, entspräche das 0,02% der Bevölkerung pro Jahr. Wir wissen, dass nur ein Teil der bekannt gewordenen Fälle zu Gerichtsverhandlungen führt und von den verhandelten Fällen führen keineswegs alle zu Verurteilungen, wobei für den Epidemiologen offen bleibt, ob es sich dabei nur um „Mangel an Beweisen“ gehandelt hat und der Missbrauch dann einer im Dunkelfeld bleibt oder ob es eine falsche Beschuldigung war, die durch das Gericht aufgeklärt wurde. Geht man von den Zahlen aus, die in repräsentativen Kollektiven der Bevölkerung durch Befragung nach „Opfer-Erfahrungen“ gewonnen werden – die dabei angewandten Methoden des Anonymisierens erleichtern Vielen eine Offenbarung, die sie vor der Polizei nicht wagen –, so wird sofort deutlich, dass es ein Vielfaches von Tätern für die so ermittelten Missbrauchsereignisse geben muss.

Berichte über sexuelle Übergriffe in repräsentativen Kollektiven der Bevölkerung

Finkelhor (1986): von sexuellen Übergriffen vor dem 18. Lebensjahr berichten

20%–25% der Frauen

8%–10% der Männer

Finkelhor und Russel (1984): von Missbrauch durch Frauen berichten

25% der Jungen

13% der Mädchen, die missbraucht wurden

Wetzels (1997): Delikte mit Körperkontakt vor dem 16. Lebensjahr (es wurden in Deutschland 1.580 Männer und 1.661 Frauen befragt)

8,6% der Frauen

2,5% der Männer

Wetzels (1997): Delikte mit „erweitertem Missbrauchsbegriff“ (es wurden in Deutschland 1.580 Männer und 1.661 Frauen befragt)

18,1% der Frauen

6,2% der Männer

Diese Zahlen zeigen, dass man größenordnungsmäßig in den USA sowie im deutschsprachigen Raum auf ähnliche Zahlen kommt, dass nämlich, wenn man sich eines relativ unscharfen Missbrauchsbegriffs bedient, etwa 20% der Frauen (ein Fünftel!) und etwas weniger als 10% der Männer solche Erlebnisse berichten (subjektiv Missbrauch erlebt haben). Fragt man etwas genauer nach körperlichen Kontakten vor dem 16. Lebensjahr, wie das Wetzels für Deutschland gemacht hat, halbieren sich diese Zahlen, betreffen aber immer noch einen großen Anteil der Bevölkerung. Auch der Anteil von missbrauchenden Frauen, der nach internationalen Berichten aus polizeilichen Ermittlungen weniger als 1% der Täter ausmacht, wird in diesen Mitteilungen aus Befragungen der Betroffenen wesentlich höher (Berner et al. 2009). Ein Viertel der männlichen Missbrauchten gab an, von Frauen missbraucht worden zu sein, bei den weiblichen waren es etwa 13%. Aufgrund solcher Daten geht man daher davon aus, dass auf einen angezeigten zumindest fünf nicht angezeigte Fälle kommen.

Etwa ein Drittel der Missbrauchsfälle soll im engsten Familienkreis vorkommen, je enger Opfer und Täter bekannt sind, umso seltener kann von einer Anzeige ausgegangen werden. McConaghy hat für Australien geschätzt, dass etwa 5% der Männer und 0,5% der Frauen Mädchen vor dem 14. Lebensjahr sexuell belästigt haben sollen (McConaghy 1998).

1.2Definition des Missbrauchs und der Pädophilie

Eine der ältesten repräsentativen Befragungen der Bevölkerung nach ihrer Sexualität im Allgemeinen ist der Kinsey-Report. Er berichtete 1953 aus der Befragung von 4.441 Frauen, dass 24% von ihnen eine sexuelle Annäherung von Männern vor ihrer eigenen Menarche angaben. Diese „Annäherungen“ wurden von den Autoren, wie in Tabelle 1 dargestellt, differenziert.

Tab. 1 Formen der sexuellen Annäherung an Frauen vor der Menarche (Kinsey 1953)

bloße Annäherung 9% Entblößung des männlichen Genitales 52% Streicheln 31% Manipulation an den weiblichen Genitalien 22% Manipulation an den männlichen Genitalien 5% Cunnilingus 1% Fellatio 1%

Dabei erfasst man bei der Beschreibung des Verhaltens nur eine Ebene des Missbrauchs. Entscheidend für die Folgen von sexuellen Übergriffen ist natürlich – wie bei jedem psychischen Trauma – die Ebene des Erlebens und die ist oft bei nachträglicher Befragung kaum objektivierbar. Es ist dabei an Entstellungen in der Erinnerung zu denken, an Verdrängung aus Scham, an Verzerrungen der Erinnerung in beide Richtungen, auch abhängig von späteren, das Trauma verstärkenden oder auch (z.B. durch positive Beziehungs-Erfahrungen) abschwächenden Erlebnissen.

Saller (1987) hat versucht, Erlebnisse der Betroffenen bestimmten Handlungsweisen zuzuordnen und drei Formen sexueller Ausbeutung unterschieden:

Von eindeutigen Formensexueller Ausbeutung wäre auszugehen, wenn es zu oral-genitalem Verkehr oder dem Eindringen in den After oder die Vagina des Kindes mit dem Finger (den Fingern) dem Penis oder einem Fremdkörper gekommen ist.

Andere ausbeutende Formen der Benutzung des kindlichen Körpers zur Befriedigung des Erwachsenenwären: Berühren oder Manipulation der Genitalien von Kindern, Veranlassen des Kindes, die Genitalien des Erwachsenen zu berühren, Masturbation in Anwesenheit des Kindes, das Kind zum Masturbieren veranlassen, Reiben des Penis am Körper des Kindes, Zeigen von pornographischem Material.

Zu einer dritten Gruppe zählen Verhaltensweisen, die sich oft im Nachhinein als Anbahnung erwiesen haben: Der Erwachsene zeigt sich dem Kind nackt oder zeigt dem Kind seine Genitalien, möchte den Körper des Kindes „begutachten“; Beobachten des Kindes beim Waschen, Ausziehen, auf der Toilette, eventuell Hilfsangebote dazu, Küssen des Kindes auf intime Weise (Zungenkuss), altersunangemessene „Aufklärung des Kindes“ über Sexualität, die nicht den Interessen des Kindes, sondern exhibitionistisch-voyeuristischen Tendenzen des Erwachsenen entspricht.

Die Pädophilie ist als Störung der Sexualpräferenz auf jeden Fall vom gewöhnlichen Missbrauch abzugrenzen. Allerdings gibt es viele Definitionsvorschläge, die kritisch zu diskutieren wären, um damit deutlich zu machen, dass es bisher kaum gelingt, aus den unterschiedlichen Definitionen ein einheitliches Störungsbild mit reliabel wiederholbarer Diagnostik und prognostizierbarem Verlauf abzuleiten.

Definition ICD 11

Im ICD 11 ist die Diagnose Pädophilie unter dem Code 6 D 32 im Kapitel Psychische Störungen und dort im Unterkapitel Paraphile Störung verortet: Sie ist „durch ein anhaltendes, fokussiertes und intensives Muster sexueller Erregung gekennzeichnet, das sich in anhaltenden sexuellen Gedanken, Phantasien, dranghaften Bedürfnissen oder Verhaltensweisen äußert und sich auf vorpubertäre Kinder bezieht. Damit eine pädophile Störung diagnostiziert werden kann, muss die betreffende Person diese Gedanken, Phantasien oder dranghaften Bedürfnisse ausgelebt haben oder durch sie stark belastet sein. Diese Diagnose gilt nicht für sexuelles Verhalten unter prä- oder postpubertären Kindern mit Gleichaltrigen, die dem Alter nach ähnlich sind“.

Im ICD 11 ist in Abgrenzung von anderen Störungen und von der Normalität, dass sexuelles Verhalten unter fast Gleichaltrigen auszuschließen ist und Vorsicht in der Diagnose bei Adoleszenten geboten ist, da bei ihnen sexuelle Aggressivität als Entwicklungsstörung einen anderen Charakter haben kann. Auch pädosexuelle Muster als Symptome anderer Erkrankungen (Demenz, Manie, Substanzmissbrauch) sind auszuschließen, ebenso „Gelegenheits-Delikte“ aufgrund krimineller Impulsivität.

Definition DSM-5

Im DSM 5 ist Pädophilie unter F65.4 als Paraphile Störung klassifiziert, wobei es wichtig ist, zu wissen, dass im DSM Paraphilie grundsätzlich nur dann als Störung gilt, wenn sie zu Leiden oder Beeinträchtigungen der Betroffenen führt oder deren Befriedigung mit persönlichem Schaden oder dem Risiko der Schädigung anderer verbunden ist. Für die Pädophile Störung gilt, (Kriterium A) dass sie „über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten wiederkehrende intensiv sexuell erregende Fantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen, die sexuelle Handlungen mit einem präpubertären Kind oder Kindern (in der Regel 13 Jahre oder jünger) beinhalten.“ Das Kriterium B erfordert, dass Betroffene auch danach gehandelt haben oder unter den angesprochenen Bedürfnissen massiv gelitten haben. Das Kriterium C setzt ein Mindestalter von 16 Jahren beim Betroffenen voraus. Ebenso muss der Betroffene mindestens fünf Jahre älter sein als das Kind. Zu unterscheiden ist außerdem zwischen gleichgeschlechtlicher Pädophilie, gegengeschlechtlicher und bisexueller Pädophilie, weiterhin zwischen ausschließlicher und nicht-ausschließlicher Pädophilie, sowie inzestuöser bzw. nicht-inzestuöser Pädophilie. Nicht einzuschließen ist eine spätadoleszente Person, die in einer Liebesbeziehung mit einem 12- oder 13-jährigen Kind involviert ist. In beiden Diagnosesystemen gibt es die Unterscheidung zwischen ausschließlich pädophil Orientierten und Pädophilen, die in ihrer Sexualität nicht primär auf Kinder ausgerichtet sind.

Es gibt nur sehr wenige Untersuchungen, die Missbrauchsdelikte und die Diagnose Pädophilie ins Verhältnis setzen, da bei Gefängnisinsassen nur selten eine reliable psychiatrische Diagnose gestellt wird. Eine dieser Untersuchungen ist eine Erhebung an 807 Sexualstraftätern, die in der österreichischen Beobachtungsstation für eine differenzierte Platzierung (unterschiedliche Behandlungsvollzüge, Normalvollzug) von verurteilten Straftätern in der Zeit von 2002 bis 2009 gesehen wurden (Eher et al. 2010). Eher und Mitarbeiter bedienten sich einerseits der sehr „weiten“ Pädophilie-Definition des DSM-IV und kamen dabei auf einen Anteil von etwa 70% Pädophiler unter den Missbrauchstätern. Sie verwendeten aber auch die enge Definition der „ausschließlichen Pädophilie“ (Menschen, die sexuell ausschließlich auf Kinder ausgerichtet sind), wodurch sich der Anteil auf 16% verringerte.

Eine neuere Untersuchung versucht, das Verhältnis und die dimensionale Verteilung eines eingeräumten Interesses an kindlichen Körpern als sexuelle Stimuli bis zur pädophilen Orientierung durch eine Internetbefragung an 8.718 deutschen Männern abzuschätzen (Dombert et al. 2016), und kommt dabei zu dem Schluss, dass 5,5% dieser Männer ein pädophiles Fantasieren einräumen, 3,2% auch ein entsprechendes „Verhalten“, aber eine ausgeprägte pädophile Orientierung (mehr Interesse an Kindern als Erwachsenen) nur ein verschwindender Prozentsatz von 0,1%. Auch bei den Konsumenten von Kinderpornographie ist zu beachten, dass 1,7% der Männer einen solchen Konsum (ohne Kontakt zu Kindern) einräumen, weitere 0,7% auch Kontakt zu Kindern aufgenommen haben. Bei aller Vorsicht gegenüber der Repräsentativität der Untersuchung wegen möglicher methodischer Bedenken wird klar, dass man nie sexuelles Fantasieleben mit entsprechender Tendenz, danach zu handeln, gleichsetzen sollte.

1.3Typologie

Krafft-Ebing ging in seiner Psychopathia Sexualis zunächst davon aus, dass sich nur selten „alte, unterlegene und impotent gewordene Männer auf ein so minderwertiges Sexualobjekt (wie ein Kind) verstehen“ (Krafft-Ebing 1890). Diese Formen des sexuellen Missbrauchs unterschied er von der Paedophilia erotica, bei der das erotische Interesse an Kindern schon in der Pubertät erwacht war und die nur „faute de mieux“ mit erwachsenen Frauen kohabitieren. Bei den zuerst beschriebenen Missbrauchsformen wird der reaktive Charakter hervorgehoben, das Ausweichen auf ein Objekt der Begierde, das aus einem Gefühl der Unterlegenheit gegenüber anderen männlichen Rivalen gewählt wird. Hier kann kaum von einer Orientierung im Sinne einer feststehenden Partnerwahl gesprochen werden, sondern viel eher von Ersatzhandlungen. Diese Zweiteilung kann in allen neueren Typologien – ergänzt um einige weitere Elemente – immer wieder gefunden werden, beginnend mit der Unterteilung von Groth et al. (1982) in einen „fixierten“ und einen „regressiven“ Typ, endend mit Cohens (2010) Unterscheidung zwischen „true“ und „opportunistic pedophiles“. Schon 1984 kommt allerdings eine dritte Kategorie der Unterscheidung hinzu, nämlich die Asozialität (Alford et al. 1984). Man kann davon ausgehen, dass es Männer mit einer besonderen Form von Bindungsschwäche (die Asozialen) gibt, bei denen sich überhaupt keine stärker ausgeprägte sexuelle Orientierung entwickelt, da sie einfach jede Möglichkeit sexueller Befriedigung am Objekt ausbeuterisch „nützen“. In Tabelle 2 wird versucht, die unzähligen Typologien, die es seit den 1980er-Jahren nach Untersuchungen an Kollektiven von meist straffällig Gewordenen gibt, zusammenzustellen.

Tab. 2 Drei Grundtypen

AutorenDrei vergleichbare Grundtypen, die sich in verschiedenen Typologien wiederholen„Fixierter Typ“„Regressiver Typ“„Soziopathischer Typ“ Groth (1982) Fixierter Typ Regressiver Typ Nicht benannt Alford et al. (1984) Fixierter Typ Regressiver Typ Soziopathischer Typ Beier (1995) Kernpädophilie Pädophile Nebenströmung Dissoziale Täter Jugendliche, – sexuell – Unerfahrene Schwachsinnige Täter Schorsch (1971) Suchtartig progrediente Verlaufsform (12% der Pädophilen wählen überwiegend junge Kinder oft beiderlei Geschlechts) Kontaktarme retardierte oder sozial randständige Jugendliche Sozial Desintegrierte im mittleren Lebensalter Erotisierte pädagogische Beziehung Alterspädophilie Berner (2002) „Sozial-angepasste“ (zwangsähnliche Störung), Kontakt mit vielen Kindern „Depressive“ (depressiv-neurotische Störung), oft mit Masochismus „Randständig-unkontrollierte“ (antisoziale Persönlichkeitsstörung gelegentlich schizoide Persönlichkeitsstörung) „Autonomie-bestrebte“ (Borderline- und narzisstische Persönlichkeitsstörung) „Sadismus“ (sexueller Sadismus) und/oder sadistische Persönlichkeitsstörung

Etwas näher soll auf die relativ rezente Einteilung von Cohen u. Grebchenko (2009) und Cohen et al. (2008) eingegangen werden, da die Autoren nach ausführlichen Studien der bisherigen Literatur (einschließlich der Arbeiten, die sich um Aufklärung ursächlicher Zusammenhänge bemüht haben) und aufgrund eigener Untersuchungen an relativ großen Kollektiven bei einer Einteilung in zwei Grundtypen – den wahren und den opportunistischen Pädophilen – bleiben, ohne zu verhehlen, dass es sich nur um die zwei Endpunkte einer nicht kategorial sondern eher dimensional zu sehenden Vielfalt handelt. In ihre Typologie fließen sowohl phänomenologische wie auch funktionell-ursächliche Faktoren ein.

Die wahren Pädophilen zeichnen sich bei Cohen et al. durch ein durchgehendes sexuelles Interesse an Kindern unabhängig vom jeweiligen Kontext aus, während die opportunistisch orientierten häufig durch Alkoholkonsum, reduzierte Hemmfunktionen, mangelnde soziale Geschicklichkeit und soziopathische Züge zeigen (s. Tab. 3). Oft käme es bei Letzteren zu Übergriffen auf Kinder, wenn sie von anderen Erwachsenen isoliert sind. Während man nach Cohen bei den wahren Pädophilen häufig ein hohes Maß an sozialer Angst und selbst erlebten Missbrauchs in der eigenen Kindheit findet, sind bei den opportunistischen Pädophilen ein hohes Maß an Impulsivität, viele „kognitive Verzerrungen“ (Selbsttäuschungen, die es ihnen erleichtern, „sich die Erlaubnis zum Handeln zu geben“) und Züge von allgemeiner Antisozialität vorhanden.

Tab. 3 Die „wahren“ und die „opportunistischen“ Pädophilen nach L. Cohen

„ehte“ Pädophile„opportunistische“ Pädophile glauben, Kinder besonders zu verstehen – starke kognitive Verzerrungen eher psychopathisch orientiert wurden selbst häufig als Kinder missbraucht zeigen vor allem erhöhte Impulsivität (exekutive Dysfunktionen) zeigen neurologisch eher temporolimbische Auffälligkeiten zeigen neurologisch eher frontale Auffälligkeiten fragliche Psychopathie hohe Psychopathie-Werte wahrscheinlicher fragliche vermeidende Persönlichkeitsstörung fragliche vermeidende Persönlichkeitsstörung

Die Untersuchungen über mögliche organische Ursachen der Pädophilie haben im neurologischen Bereich tatsächlich zwei Schwerpunkte ergeben:

1. Auffälligkeiten im Frontalbereich, die eher mit Störungen der Impulskontrolle zu tun haben und eher bei den Formen von sexuellem Missbrauch gefunden werden, bei denen eine mangelnde Hemm-Funktion zu Übergriffen führt.

2. Auffälligkeiten im temporolimbischen Bereich, die eher bei feststehenden außergewöhnlichen sexuellen Vorlieben – z.B. auch beim Fetischismus – gefunden werden (Burns u. Swerdlow 2003, Mendez et al. 2000, Schiffer 2006). Es ist aber festzuhalten, dass es sich dabei keineswegs um Befunde handelt, die mit großer Regelmäßigkeit bei den betroffenen Personen auftreten, sondern nur um statistische Häufungen, die besagen, dass organische Veränderungen eine gewisse Rolle spielen, aber keineswegs als Voraussetzung für das Auftreten der „true-“ oder „opportunistic pedophilia“ angesehen werden können.

Erwähnenswert ist auch die Typologie von Knight und Prentky (1990), die mit einer gemischt induktiv-deduktiven statistischen Methode in jahrelangen kontinuierlichen Untersuchungen an Straftätern im Massachusetts Treatment Center für Sexualstraftäter entwickelt wurde. Die Einteilung erfolgte entlang zweier Achsen, die einerseits (Achse 1) die Stärke der Fixiertheit auf Kinder und die soziale Kompetenz der Betroffenen erfasste, andererseits (Achse 2) die Länge und Intensität des Kontaktes, den die Betroffenen mit Kindern suchten und die Schwere der körperlichen Verletzungen, die sie den Kindern zufügten. In einer Follow-up-Studie an 111 Kinder missbrauchenden Tätern aus dem Massachusetts Treatment Center mit Verläufen bis zu 25 Jahren fanden Prentky, Knight und Lee (1997) große Unterschiede in der Rückfälligkeit von Kinder missbrauchenden Tätern bezüglich ihrer Fixiertheit auf Kinder sowie bezüglich den Vorstrafen vor der Anlasstat. Antisoziales Verhalten in der Jugend und im Erwachsenenalter, Verletzungen beim Delikt, wenig Kontakt zu den Kindern aber auch das Vorliegen von Paraphilien war eher für spätere (nicht sexuelle) Gewaltdelikte charakteristisch. Diese Einteilung ist Grundlage der folgenden Beschreibung einiger für die klinische Praxis besonders relevanter Formen von Pädophilie.

1.3.1Der interpersonelle Typ

Nach Knight und Prentky (1990) handelt es sich um Personen, die von sich meinen, Kinder besonders gut verstehen zu können und die meist viele und lange Kontakte mit den Kindern haben, bevor es zum Missbrauch kommt. Oft bleibt es auch lange bei eher oberflächlichen Berührungen und „Streicheln“, Umarmungen und Reiben, manchmal auch bei Versuchen, das Kind am Genitale zu streicheln und zu küssen. Nur selten entblößen sich die Täter vor dem Kind oder versuchen es dazu zu bringen, selbst stimuliert zu werden.

Täter die dem interpersonellen Typ angehören, würden sich etwa folgender Strategie bedienen, um an ein begehrtes Kind heranzukommen:

Strategie bei einem Pädophilen des interpersonellen Typs

Franz (ein Mann mit pädophilen Neigungen) sagt zu seinem Freund Paul (den er in seine Neigung eingeweiht hat): „Ich beweise Dir, dass ich in 10 Minuten den Jungen, der da drüben auf der Straße geht, zu einem Kirschkern-Wettspucken einladen kann!“

Paul sagt: „Wie machst Du das?“

Franz: „Ganz einfach, ich sehe, dass er neue Sneaker trägt, ich frage ihn, wo er die gekauft hat – auch wenn er sie nicht selbst sondern seine Mutter sie gekauft hat – ob er mir das Geschäft zeigen kann, ich möchte auch solche haben … und so weiter, dann verschieben wir den Einkauf und ich lade ihn dafür auf Kirschen ein, die Kerne können wir dann zum ‚Um-die-Wette-Weitspucken‘ verwenden. Wetten das klappt“.

Die Strategie besteht darin, das Kind wie einen Gleichgestellten zu behandeln und damit aufzuwerten. Außerdem zeigt man, dass man genau darüber informiert ist, was Kinder fasziniert und zeigt, dass man diese Faszination teilt. Diese Art des „Werbens“ wird auch „Grooming“ genannt.

Man kann davon ausgehen, dass der interpersonelle Typ auch eine relativ gut ausgeprägte Fähigkeit hat, seine sexuellen Bedürfnisse über lange Zeit zu „sublimieren“ und sich wirklich um Belange der Kinder zu kümmern. Heute geht man davon aus, dass Kinderbuchautoren wie Lewis Caroll („Alice im Wunderland“) oder James Berrie („Peter Pan“) Pädophile vom interpersonellen Typ gewesen sein könnten (Berner 1997).

1.3.2Der narzisstische Typ

Nach Knight und Prentky (1990) handelt es sich dabei um Missbrauchstäter, deren primäres Motiv (im Gegensatz zum interpersonellen Typ) die eigene sexuelle Gratifikation ist. Es kommt viel schneller als im ersten Fall zum Einsatz des „Phallus“ und zum Versuch, sich vom Kind stimulieren zu lassen. Häufig gibt es viele Einzelkontakte ohne besonders spezifisches Eingehen auf das jeweilige Kind. Es besteht meist ein viel geringerer Grad an Planung, um an Kinder heranzukommen bzw. um sie zu sexuellen Handlungen zu motivieren. Allerdings ist der Übergang zum vorher genannten Typ fließend.

1.3.3Der nicht sadistisch-aggressive Typ

Knight und Prentky (1990) gehen davon aus, dass es sich dabei um sozial wenig kompetente Täter handelt, die mit relativ plumpen Mitteln versuchen, an Kinder heranzukommen, um sich an ihnen zu befriedigen. Daher gibt es meist wenig Kontakte vor einem Übergriff auf relativ unbekannte „Opfer“. Verletzungen entstehen eher als Missgeschick als aufgrund von Lust an Gewalttätigkeit. Es erscheint relativ einleuchtend, dass hier auch in Zukunft eher mit allgemeiner Gewalttätigkeit als mit einer spezifischen Rückfälligkeit in das Missbrauchsdelikt zu rechnen ist.

1.3.4Der sadistische Typ

Ihn grenzen Knight und Prentky (1990) vom plump aggressiven Typ ab. Er erlebt Lust, wenn er die Angst des Opfers spürt. Oft fällt dieser Täter durch besonders bizarr oder ritualisiert ablaufende Tathandlungen und einen hohen Grad von Planung auf. Dieser Typ ist theoretisch leicht, in der Praxis allerdings schwer vom vorher genannten abzugrenzen, da er sehr dazu neigt, seine wahre Motivation zu verschleiern.

Dazu ein Beispiel aus der Hamburger Gutachter-Praxis:

Herr U. hat sich krank gemeldet, fährt mit seinem Auto ziellos durch die Stadt. Er hat einen Sitz abmontiert. Bei einem Supermarkt sieht er ein kleines Mädchen (7 Jahre) herauskommen. Mit der geöffneten Autotür sperrt er dem Mädchen den Weg ab und zwingt es unter Drohung mit einem Schraubenzieher, sich im Auto flach auf den Boden zu legen. Dann fesselt er es und fährt los. Das Mädchen versucht ihn während der Fahrt zu fragen, was er wolle, er spricht von seinem Bruder, dem Unrecht geschehen ist. An einer Stelle im Wald packt er das Kind auf die Ladefläche des Caravans, zieht ihm den Pullover über den Kopf, berührt das nackte Genitale und masturbiert. Danach fesselt er es an einen Baum und fährt weg.

Abschließend soll noch ein Typ dargestellt werden, der nicht ganz in die Typologie von Knight und Prentky passt, für die Praxis aber besonders wichtig ist, da er sich gerade bei Lehrern. Erziehern und Kirchenpersonal nicht so selten findet. Er ist weder als eindeutig (von der Pubertät an) pädophiler noch als „opportunistischer“ Typ zu qualifizieren.

1.3.5Typ des pädophilen Lehrers

Ein vierzigjähriger Gymnasiallehrer begibt sich nicht ganz freiwillig in psychoanalytische Behandlung, weil er pubertierende Schülerinnen so auffällig an Busen und Po berührt hatte, dass es zu Interventionen der Eltern, zu einem Disziplinarverfahren und schließlich zur Versetzung gekommen ist, die seinen weiteren direkten Kontakt mit Kindern verhindern sollte. Erst während der Therapie wird ihm ein zunehmendes Fantasieren und Träumen von pubertierenden Mädchen bewusst, ein unerfülltes Sehnen nach Begegnung mit dem „reinen“ Körper des Kindes, der etwas Erlösendes für ihn hat.

Der Mann ist mit einer dominanten, leistungsorientierten Frau verheiratet und hat zwei Töchter, die er liebt. Er gibt an, guten, bis vor kurzem auch sexuell befriedigenden Kontakt zu seiner Frau gehabt zu haben, und benötigt einige Zeit, um einzuräumen, dass er sich von ihr unterdrückt fühlte – wie seinerzeit auch von seiner Mutter, die seinen Vater, einen kleinen Mann mit einer entstellenden Verkürzung des rechten Armes, wohl auch nie richtig geachtet hat. Trotz aller Idealisierung der Elternbeziehung und auch des eigenen Familienlebens wird die einschränkende Angst vor der äußerst mächtig erlebten Mutter deutlich. Bei Nachfragen zeigt sich, dass die Sexualität zwischen den Ehepartnern sehr ritualisiert und eingeschränkt abläuft. Sich selbst erlebt der Patient als nicht männlich und durchsetzungsfähig genug. Eigentlich habe er Mathematiker werden wollen, sich aber eine Universitätskarriere nicht zugetraut. Dann habe er in dem, was zunächst als „Ausweichen“ gedacht gewesen sei (Lehrer an einem Gymnasium zu sein), erstaunlich starke Befriedigung gefunden. Besonders die Bewunderung der jungen Mädchen, die ihn so anstrahlten, habe ihm gut getan. In seiner Liebe zum Skurrilen und versteckt Aggressiv-Witzigen – ablesbar an seiner Begeisterung für Monty-Pythons-Filme – erinnert der Gymnasiallehrer an Lewis Carroll, den Autor von „Alice im Wunderland“, der seine Vorliebe für kleine Mädchen als „nicht gesund“ verstand (Berner 2011). Das Symptom des raschen Ertastens kindlicher Körperlichkeit, das wie ein Einverleiben wirkt, hat deutliche Ersatzfunktion für einen Mangel an befriedigender Intimität in den Erwachsenen-Beziehungen. Tatsächlich ist die Geschichte seiner Liebesbeziehungen gekennzeichnet von Enttäuschungen, auf die er bei der Wahl einer neuen Partnerin reagierte, indem er sich immer jüngere Frauen suchte, die auf den ersten Blick leichter zu beeindrucken schienen. Das Beispiel zeigt, wie schwierig es sein kann, von einer vorwiegend oder fast ausschließlich pädophilen Orientierung auszugehen. Eine vierjährige Psychoanalyse bestätigte bei diesem Patienten, dass die sexuelle Vorliebe für Kinder reversibel war, was sich in Nachuntersuchungen im Abstand von jeweils fünf Jahren bestätigte.

Ein ähnlich gelagertes Muster liegt oft bei Fällen vor, die man im Kirchendienst antrifft, als Lehrer oder Priester oder Erzieher. Bei ihnen besteht selten eine ausschließlich pädophile Orientierung, neben einem oft intensiven Fantasieleben können sexuelle Übergriffe oft auf Berührungen beschränkt bleiben (Berner 2019).

Natürlich gibt es noch eine Reihe weiterer typologischer Differenzierungsmöglichkeiten für Missbrauch bzw. Pädophilie, die auch für den Verlauf der Störung wichtig sind. Beispiel ist das Vorliegen weiterer psychiatrisch relevanter Störungen. Bei 70% der Kindermissbrauchenden findet man begleitende Persönlichkeitsstörungen (Borderline-Störung, antisoziale Störung, manchmal auch eine selbstunsichere oder ein zwanghafte Persönlichkeitsstörung), bei 10% affektive Störungen, bei 11% Angststörungen, bei 7% Störungen der Impulskontrolle etc.). In einem psychodynamischen Ansatz könnte man nach der zugrundeliegenden Persönlichkeitsstruktur fragen und danach einteilen, ob es sich eher um eine neurotisch strukturierte, eine Borderline- oder (sehr selten) um eine psychotische Struktur handelt (Berner u. Briken 2011). Eine weitere Typologie versucht zu erfassen, ob begleitend zur Pädophile (bzw. zum Missbrauch) noch andere Paraphilien oder eine Hypersexualität vorhanden sind, was meist zu einer schlechten Prognose führt bzw. zusätzliche therapeutische Maßnahmen erfordert. Unter Hypersexualität versteht man ein allgemeines, besonders intensives Beschäftigtsein mit Sexualität, gekennzeichnet durch intensiven Pornographie-Konsum, Promiskuität, Benützen von Telefonsex oder besonders intensive und häufige Masturbation (Kafka 2010).

In der ICD-11 wurde dieser Störungskategorie Rechnung getragen und sie wird bei den Störungen der Impulskontrolle als Störung mit zwanghaften Sexualverhalten (6C72) kodiert (im Englischen: Compulsive Sexual Behavior Disorder [CSBD]; siehe auch: Balon und Briken 2021)

Der Konsum von Kinderpornographie kann aber auch ohne Tendenz zu Übergriffen auf Kinder als eine gewissermaßen auf dem voyeuristischen Niveau verbleibende Pädophilie auftreten oder eher dieser Störungskategorie des zwanghaften Sexualverhaltens entsprechen. Die Differentialdiagnose erfordert eine genaue und längere Kenntnis des Falles.

Die Diskussion all dieser Sonderformen und Varianten würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen, daher sei zum Abschluss nur mehr das für die Therapie so wichtige Fünf-Pfad-Modell nach Ward und Siegert (2002) erwähnt. Da viele Untersuchungen an unterschiedlich selektierten Missbrauchstätern eine große Zahl von Korrelationen mit verschiedenen Lebensumständen und Persönlichkeitseigenschaften ergeben hat, die andere Studien kaum oder nur mit vielen Einschränkungen bestätigen konnten, gingen die Autoren davon aus, dass es offensichtlich sehr unterschiedliche Eigenschaften und Lebensumstände geben muss, die zu Missbrauch von Kindern führen und haben mithilfe einer Pfadanalyse versucht, aus den Ergebnissen die häufigsten „Wege“ zu bestimmen, die zum Missbrauch führen können. Die von ihnen dargestellten 5 Pfade sind der Abbildung 1 zu entnehmen.

Abb. 1 Fünf-Pfade-Modell (nach Ward u. Siegert 2002)

Die fünf Pfade erfordern therapeutische Maßnahmen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und sollten daher besonders in Therapieprogrammen, die unterschiedliche Risiken und therapeutische Bedürfnisse der Betroffenen gezielt behandeln wollen, besondere Berücksichtigung finden:

Unter Intimitäts-Defekten versteht man die besondere Schwierigkeit, in emotionell intimen Beziehungen Sicherheit und ein Gefühl von Geborgenheit erleben zu können. Solche Intim-Erlebnisse schützen davor, Sexualität als Coping-Strategie bei Frustration oder Verlusterlebnissen einzusetzen. Man geht davon aus, dass Personen, die in ihrer Kindheit wenig Geborgenheit erlebt haben, einen unsicheren Bindungsstil entwickeln und daher Schwierigkeiten haben, in Beziehungen genug Vertrauen aufzubauen, um affektive Intimität zu verspüren.

Deviante sexuelle Erregungsmuster spielen bei einem Teil der Missbrauchstäter eine so entscheidende Rolle für das Entstehen devianten Begehrens von kindlichen Körpern, dass dieser Umstand im Therapieprogramm besonders berücksichtigt werden muss. Das gilt besonders dann, wenn die sexuelle Vorliebe für Kinder ausschließlich und nicht nur gelegentlich vorhanden ist. Hier muss unter Umständen die Psychotherapie durch eine Medikation ergänzt werden, die das Begehren bzw. die sexuelle Lust begrenzt.

Antisozialität kann die Hemmfunktion so weit beeinträchtigen, dass die Betroffenen keine Rücksicht auf die Interessen der von ihnen Begehrten nehmen können oder wollen. Hier sind alle Maßnahmen angezeigt, mit denen man Antisozialität in sozialtherapeutischen Einrichtungen behandelt.

Emotionale Dysregulation tritt bei den Patienten in den Vordergrund, die unter einer komorbiden affektiven- oder Angst-Störungen leiden. Bei ihnen kann die spezifische (auch medikamentöse) Behandlung entscheidend zur Verhinderung von Rückfällen beitragen.

Multiple Dysfunktionen bezeichnen verschiedene Kombinationen der vorher genannten vier Pfade. Sie sind auch mit entsprechenden Kombinationen von therapeutischen Maßnahmen zu behandeln.

Diese kriterienorientierte und therapierelevante Typologie zeigt die ganz unterschiedlichen Wege auf, die zu einem Missbrauchsdelikt führen können. Die Suche nach dem „einen besonderen Charakter“, an dem man den Missbrauchstäter jederzeit erkennen kann, ist sinnlos. Prävention sollte sich anderer Methoden bedienen.

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2Anomalien der Gehirnstruktur pädophiler StraftäterKolja Schiltz

Sexueller Kindesmissbrauch ist ein Delikt, das in der Öffentlichkeit immer wieder großes Aufsehen erregt. Hierbei sind es meist einzelne besonders drastische Straftaten, häufig in Verknüpfung mit Entführungen oder Kindstötungen, die das Interesse der Medien erregen und in der Öffentlichkeit breit diskutiert werden. Die große Masse der Delikte im Bereich des sexuellen Kindesmissbrauchs kommt jedoch nicht an die Öffentlichkeit, sondern findet im Verborgenen statt und gerät allenfalls in den Fokus der Strafermittlungsbehörden. Nach Berichten des Bundeskriminalamtes wurden 2023 mehr als 16.000 Fälle sexueller Übergriffe auf Kinder zur Anzeige gebracht (Polizeiliche Kriminalstatistik 2023). Hierbei ist festzustellen, dass die Anzahl der jährlich erfassten Straftaten jedoch – wie es beim Verfolgen der Medienberichte den Anschein hat – nicht deutlich ansteigt, sondern im Wesentlichen konstant bleibt (2013: 14.800 angezeigte Fälle). Hinzu kommen 42.000 Anzeigen wegen Gebrauchs von Missbrauchsdarstellungen (Kinderpornographie). Schätzungen aus den Vereinigten Staaten von Amerika aus den 1980er-Jahren besagen, dass die jährliche Inzidenz sexueller Übergriffe auf Kinder bei etwa 500.000 liegt (American Medical Association 1985). Befragungen aus den 1990er-Jahren ergaben, dass ein Siebtel der erwachsenen amerikanischen Bevölkerung angibt, als Kind Opfer sexueller Gewalt gewesen zu sein, wobei Frauen etwas häufiger betroffen waren als Männer (Laumann 1994).

2.1Sexueller Missbrauch von Kindern: Pädophilie, Pädosexualität und „pädophile Störung“

Die Täter haben allerdings sehr unterschiedliche Motive. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich hier nicht zwangsläufig um pädophile Täter handeln muss. Sexuelle Handlungen an Kindern, insbesondere auch gewalttätige sexuelle Handlungen, müssen nicht notwendig mit einer pädophilen Sexualpräferenz im psychiatrisch-wissenschaftlichen Sinne verbunden sein. Vielmehr ist nur in einem Drittel bis zur Hälfte der Fälle von Kindesmissbrauch davon auszugehen, dass bei dem Täter eine pädophile Sexualpräferenz vorliegt (Seto 2018). Daher bietet es sich an, wie in der wissenschaftlichen Literatur seit einigen Jahren üblich, in Verbindung mit sexuellen Handlungen an Kindern nicht von „Pädophilie“, sondern vielmehr von „Pädosexualität“, noch eindeutiger von „sexuellem Kindesmissbrauch“ zu sprechen. In den modernen Klassifikationssystem ICD-11 und DSM 5 wird hingegen von einer „pädophilen Störung“ als psychiatrischer Erkrankungsdiagnose ausgegangen, während von der Pädophilie im DSM 5 nur bezüglich der sexuellen Präferenz gesprochen wird. Nach den Kriterien des DSM 5 der American Psychiatric Association (APA) liegt eine pädophile Störung dann vor, wenn anhaltendes sexuelles Interesse an präpubertären Kindern Jahren besteht, der Betreffende mindestens 16 Jahre alt und mindestens fünf Jahre älter als das betroffene Kind ist und nach diesen Interessen gehandelt hat oder wenigstens durch sie erheblich beeinträchtigt wird (American Psychiatric Association 2022). Nach der ICD-11 wird ein überdauerndes und intensives Muster sexueller Erregung für die Diagnose gefordert, das präpubertäre Kinder einschließt und sich in anhaltenden sexuellen Gedanken, Fantasien und Verhaltensweisen äußert. Dies soll sich nicht auf Sexualverhalten zwischen prä- oder postoperativen Kindern und Jugendlichen ähnlichen Alters beziehen. Darüber hinaus wird gefordert, dass die Personen sich durch diese Impulse massiv beeinträchtigt fühlen oder nach ihnen gehandelt haben. Nach diesen Definitionen wird deutlich, dass für die Diagnose einer „Pädophilie“ vor allem die sexuelle Präferenz, d.h. das primär sexuelle Erregung auslösende Sexualobjekt von Bedeutung ist, nicht aber der Kindesmissbrauch an sich. Von der „pädophilen Störung“ ist hingegen dann die Rede, wenn Personen durch die Impulse Leid erfahren oder Übergriffe/Delikte begangen haben.

2.1.1Einteilungen

Personen, die sexuellen Kindesmissbrauch begehen, wurden in mehrere Klassen eingeteilt. Eine wichtige Klassifikation ist die von Simkins (Simkins et al. 1990a; Simkins et al. 1990b), nach welcher im Wesentlichen drei Klassen von Tätern unterschieden werden. Bei Typ I, den sogenannten Kernpädophilen oder Fixierten, handelt es sich um Täter, die schon während ihrer Adoleszenz pädosexuelle Delikte begehen. Sie empfinden die Beziehungen zu Kindern im Allgemeinen als emotional befriedigend und von ihrer Seite aus als kognitiv adäquat. Im Allgemeinen handelt es sich um junge Opfer von unter zehn Jahren. Diese Täter zeigen häufiger Anzeichen kognitiver und emotionaler Unreife. Sie zeigen häufig psychopathische (antisoziale) Züge, eine Neigung zu kognitiven Verzerrungen (Cohen et al. 2008) sowie eine erhöhte Neigung, Wahrnehmungen paranoid zu verarbeiten. Die Befunde gleichen denen bei Opiatabhängigen, sodass eine Ähnlichkeit zum Suchtverhalten (behavioral addiction) angenommen wird (Cohen et al. 2008). Die im Rahmen psychopathischer Züge bestehenden Defizite im Bereich der Empathie wurden in anderen Studien ebenfalls untersucht. Marshall et al. (2001) konnten zeigen, dass sich bei pädophilen Probanden die Empathiedefizite im Fall von Unfallopfern, verletzten Personen oder anderen nicht in sexuelle Handlungen verwickelten Opfern nicht nachweisen lassen. Im Fall von Kindern, die Opfer eines Sexualdelikts waren, war die Empathie jedoch deutlich vermindert (Marshall et al. 2001).

Nur kurz erwähnt werden sollen die beiden weiteren pädosexuellen Tätertypen, die „regressiven“ und die „psychopathischen“ Täter (Schiltz et al. 2006). Bei ersteren handelt es sich um Täter, die aufgrund von intellektuellen und sozialen Unzulänglichkeiten keinen Zugang zu ihren bevorzugten Sexualobjekten haben und deshalb auf Kinder zurückgreifen, die als mehr oder weniger wehrlose Opfer zur Verfügung stehen (Schiltz et al. 2006). Bei den „psychopathischen“ Tätern sind in erster Linie die Abwesenheit von Schuldgefühlen oder Bedauern hinsichtlich des Missbrauchs die kennzeichnenden Merkmale. Häufig bestehen aggressive und sadistische Tatmuster, die Opfer werden ausgebeutet und manipuliert. Die Täter sind nicht daran interessiert, eine Beziehung zum Opfer aufzubauen, und treten oft durch polytrope Sexualdelikte in Erscheinung, beispielsweise auch als Vergewaltiger von erwachsenen Frauen.

2.2Sexualität mit Kindern in der Geschichte

2.3Biologische Hypothesen

In der Vergangenheit wurden mehrfach biologische Hypothesen zum Ursprung pädophiler Sexualorientierung formuliert. Bislang existiert jedoch keine eindeutige biologische Erklärung für die Entwicklung einer Pädophilie, wenngleich in Zusammenhang mit deren Entwicklung biologische Auffälligkeiten beobachtet werden konnten.

2.3.1Genetik

Einige Studien haben Hinweise geliefert, dass möglicherweise auch genetische Faktoren eine Rolle bei der Entstehung der Pädophilie spielen können. So wurde ein Hinweis auf einen genetischen Beitrag in einer Studie identifiziert, der auf mehrere Einzel-Nukleotid-Polymorphismen (single nucleotide polymorphisms, SNP) zurückzuführen war. Diese Ergebnisse waren jedoch nach einer Korrektur für multiples Testen nicht mehr signifikant (Alanko et al. 2016). Auch die spezifische Suche nach genetischen Polymorphismen, die Bedeutung im Dopamin- und Serotonin-System haben, ergab in einer weiteren Studie keine signifikanten Hinweise auf Beiträge dieser Polymorphismen (Jakubczyk et al. 2017). Eine große Studie im Rahmen eines Verbundprojekts untersuchte 194 Probanden, von denen 102 eine pädophile Sexualpräferenz hatten. Hier wurden genetische Faktoren untersucht. Es fanden sich Hinweise auf Veränderungen des Androgen-Systems auf einem pränatalen, eben genetischen und endokrinen Level, die allerdings nicht für die pädophile Sexualpräferenz spezifisch waren, sondern für das Begehen von Kindesmissbrauch (Kruger et al. 2019).

2.3.2Endokrinium

Untersuchungen der Serumspiegel mehrerer Hormone pädophiler Probanden ergaben systematische Abweichungen gegenüber gesunden Kontrollprobanden. So zeigte sich in diesen Untersuchungen zum einen, dass pädophile Probanden signifikant erniedrigte Basis-Plasma-Cortison- und Prolaktin-Spiegel in Verbindung mit einer höheren Körpertemperatur aufwiesen als gesunde Probanden, darüber hinaus eine vermehrte Kortisonausschüttung in Provokationstests (Maes et al. 2001a) und unter Provokation mit meta-Chlorophenylpiperazin eine verstärkte Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin, was die Autoren auf eine verstärkte Aktivität des Sympatho-adrenalen Systems zurückführen (Maes et al. 2001b). Replikationen dieser Befunde stehen noch aus, sodass deren Aussagekraft noch nicht abschließend beurteilt werden kann.

2.3.3Neuropsychiatrische Erkrankungen

Überlegungen bezüglich der neuronalen Grundlage pädophiler Sexualpräferenz wurden durch Fallberichte angeregt, die die Entwicklung sexueller Interessen und Handlungen gegenüber Kindern nach hirnstrukturellen Schädigungen beschrieben. So berichteten Burns und Swerdlow (2003) das plötzliche Auftreten von sexuellem Interesse an Kindern und Beschäftigung mit Kinderpornographie bei einem 40 -jährigen Mann, der zuvor vollkommen gesund gewesen war und keine sexuellen Auffälligkeiten gezeigt hatte. Es kam dann plötzlich zu sexuellen Avancen gegenüber der Stieftochter, die dies der Mutter berichtete. Im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen stellte sich heraus, dass der Patient offensichtlich bereits einige Zeit zuvor begonnen hatte, in zunehmendem Maße kinderpornographisches Material zu konsumieren. Nach seiner Verurteilung fiel im Zuge von Rehabilitationsmaßnahmen auf, dass er sich auch anderen Personen in inadäquater Form sexuell näherte. Im Rahmen einer organischen Abklärung fand sich dann ein rechts-frontaler Tumor.

Zwei weitere Fallberichte, bei denen pädophile Handlungen bei Männern höheren Alters beschrieben wurden, stammen von Mendez et al. (2000). Sie berichteten über zwei Fälle, bei denen organische Hirnerkrankungen mit dem Auftreten pädophiler Handlungen verbunden waren. Im einen Fall handelte es sich um einen 60-jährigen Patienten, der etwa 18 Monate vor der Aufnahme begann, sexuelles Interesse an präpubertären Kindern zu entwickeln. Er hatte einen zehnjährigen Jungen angesprochen und versucht, mit diesem sexuellen Kontakt aufzunehmen und die Abwehr des Jungen mit Schlägen beantwortet. In der Klinik wurde eine frontotemporale Demenz festgestellt. Die ausführliche Anamnese ergab, dass er schon zuvor den eigenen Sohn sexuell belästigt hatte, als dieser noch ein Kind gewesen war. Beim zweiten Fall handelte es sich um einen 67-jährigen Mann, der wegen sexueller Belästigung von Kindern 18 Monate Gefängnisstrafe absolviert hatte. Bei der neuropsychologischen Untersuchung wurden starke Gedächtnisschwierigkeiten verifiziert, die der Patient im Vorfeld beklagt hatte. Diagnostisch lag eine beidseitige Hippocampussklerose vor. Auch hier ergab die genaue Anamnese, dass er seinen bereits erwachsenen Sohn im Kindesalter sexuell missbraucht hatte. In beiden Fällen zeigte sich im FDG-PET eine Minderaktivität im Bereich des rechten Temporallappens. Gemeinsam ist den beiden Fällen also, dass die Täter schon früher, Jahrzehnte zuvor, gegenüber den eigenen Söhnen auffällig geworden waren. Insofern ist nicht davon auszugehen, dass das sexuelle Interesse an Kindern ein im höheren Alter neu aufgetretenes Phänomen war, das direkt auf Auswirkungen der Hirnerkrankungen zurückzuführen ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass eine pädophile Neigung schon früher bestand, die sich in den gut verdeckten Straftaten gegen die Kinder auswirkte. Diese Neigung könnte unter dem Einfluss der Hirnerkrankungen im höheren Lebensalter demaskiert worden sein. Inwiefern die rechts-temporale Minderaktivierung der später aufgetretenen Hirnerkrankung zuzuordnen ist oder mit der pädophilen Neigung in Zusammenhang steht, muss offen bleiben. Hinweise auf eine wichtige Rolle frontaler Disinhibition bei der Entwicklung pädosexuellen Verhaltens im Rahmen von Herrnerkrankungen zeigt eine weitere Studie von Mendez (Mendez u. Shapira 2011).

2.3.4Hinweise auf neuronale Grundlagen der Pädophilie

Vermehrte Nicht-Rechtshändigkeit

Eine weitere biologische Auffälligkeit bei pädophilen Probanden ist eine erhöhte Rate von Nicht-Rechtshängigkeit (Cantor et al. 2005b). Deren Ausbildung wird häufig als Ausdruck früher neuronaler Entwicklungsstörungen gesehen, die zu einer abnormen Ausbildung der neuronalen Lateralität führen. Diese Ergebnisse konnten in einer Folgestudie mit 1.800 Probanden weiter unterstützt werden (Fazio et al. 2014).

Angeborene körperliche Auffälligkeiten

In einigen Studien konnte gezeigt werden, dass angeborene körperliche Auffälligkeiten minimalen Ausmaßes in der Tat statistisch bei Personen mit pädophiler Sexualpräferenz vermehrt anzutreffen waren. Derartige Auffälligkeiten sind häufig mit Problemen in der pränatalen Entwicklung verbunden und können auf Entwicklungsstörungen hinweisen. Solche Hinweise auf pränatale Entwicklungsstörungen sind mit einer erhöhten Inzidenz von Kindesmissbrauch, nicht jedoch von sexuellem Missbrauch Erwachsener verbunden (Babchishin et al. 2017; Dyshniku et al. 2015).

Vermehrte Schädel-Hirn-Traumata vor der Pubertät

Die Tatsache der im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden erhöhten Rate von Schädel-Hirn-Traumata vor, aber nicht nach der Pubertät (Blanchard et al. 2003) hat zu der Hypothese geführt, dass möglicherweise Hirnstrukturen, die für die normale Sexualentwicklung von entscheidender Bedeutung sind, bei solchen Verletzungen geschädigt werden, was die physiologischen Entwicklungsabläufe behindert.

Niedrigere IQ-Werte

Neuronale Funktionsstörungen als Auslöser pädophiler Entwicklungen werden von Befunden gestützt, die Cantor und Mitarbeiter an einer großen Gruppe von Straftätern erhoben (Cantor et al. 2005a). Die Analyse der Daten von insgesamt 25.146 Sexualverbrechern ergab einen statistisch signifikant erniedrigten IQ. Die Autoren diskutieren mehrere mögliche Erklärungen für diese Beobachtung. Zum einen erwägen sie die Möglichkeit, dass ein niedriger IQ ein Risikofaktor für die Entdeckung von Sexualstraftätern und deren Verurteilung ist, da sie sich aufgrund mangelnder Ressourcen kognitiver und finanzieller Art weniger effektiv der Strafverfolgung entziehen oder sich während dieser verteidigen können. Allerdings spricht gegen diese Erklärung, dass in dieser Studie auch Straftäter untersucht wurden, die nicht Sexualdelikte, sondern andere Delikte begangen hatten. Bei diesen fand sich kein signifikanter Unterschied der IQ-Werte im Vergleich zur Normalbevölkerung, sodass eine spezifische Wirkung des IQ auf die Fähigkeit, sich der Strafverfolgung zu entziehen oder sich zu verteidigen, als Erklärung unwahrscheinlich erscheint. Eine zweite Möglichkeit wäre, dass verminderte kognitive Funktionen Auswirkungen auf eine Desinhibition während exekutiver Entscheidungsprozesse oder auf eine reduzierte Fähigkeit, die Bedeutung und die Folgen von Entscheidungen abzuschätzen, haben. Auch hier ist einzuwenden, dass eine generelle Verminderung der kognitiven Funktion nicht nur bei Sexualstraftätern, sondern auch bei anderen Straftätern zu finden sein müsste, was in der Studie nicht der Fall war. Die dritte und von den Autoren favorisierte Theorie besagt, dass eine indirekte Verbindung zwischen niedrigen IQ-Werten und Pädophilie besteht. Die Autoren vermuten, dass eine Störung der pränatalen oder perinatalen neuronalen Entwicklung sowohl zur Pädophilie als auch zu niedrigen IQ-Werten führt. Dies wird gestützt durch den Befund, dass niedrige IQ-Werte mit Pädophilie-Scores korrelieren, sodass die Erklärung nahe liegt, dass beides auf einen gemeinsamen ätiologischen Faktor zurückzuführen ist (Blanchard et al. 2007; Cantor et al. 2004). Zu dieser Metaanalyse ist jedoch aus methodischer Sicht kritisch anzumerken, dass bei der großen Anzahl inkludierter Studien sehr heterogene Maßstäbe für die diagnostische Zuordnung der untersuchten Probanden angelegt wurden. Hier ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass nicht alle untersuchten Personen, die sexuelle Straftaten gegen Kinder verübt hatten, den strikten Kriterien für Pädophilie nach ICD-10 oder DSM IV genügen.

2.3.5Neuronale Grundlagen der Ausbildung des Sexualverhaltens

Sexualverhalten wird maßgeblich durch Strukturen der Temporallappen gesteuert. Schädigungen in diesem Bereich führen zu dem Syndrom von Hypersexualität, Hyperoralität und psychischer Blindheit. Dieses Syndrom wurde erstmals von Klüver und Bucy im Jahre 1939 beschrieben, nachdem sie bei Affen eine komplette bilaterale temporale Lobektomie durchgeführt hatten (Klüver u. Bucy 1997). Ein analoges Syndrom wurde auch bei Menschen beschrieben (Lilly et al. 1983). Allerdings handelt es sich hierbei um Enthemmungsprozesse nach bereits erfolgter Ausprägung des speziesspezifischen sozialen Verhaltens und Sexualverhaltens.

Extended Amygdala und Sexualprägung

Für die sexuelle Entwicklung entscheidend sind neuronale Strukturen, deren Einfluss durch Studien an Tieren genauer charakterisiert werden konnte. Von besonderer Bedeutung sind Regionen, die unter dem Oberbegriff „extended Amygdala“, d.h. „erweiterter Mandelkern“, zusammengefasst worden sind (Newman 1999). Zu der extended Amygdala werden im Wesentlichen sechs Strukturen gezählt, die neuronal eng miteinander verknüpft sind. Dies sind die centromediale Amygdala mit dem Nucleus interstitialis striaeterminalis (bed nucleus striae terminalis, BNST), das laterale Septum, das Mittelhirn, der ventromediale Hypothalamus, der anteriore Hypothalamus sowie die mediale Area praeoptica, die wiederum eng mit Zellgruppen in der Substantia innominata verknüpft sind. Diese Regionen weisen geschlechtsspezifische strukturelle und funktionelle Eigenschaften auf und werden unter dem Einfluss von Steroidhormonen, die in den Keimdrüsen zur Zeit der Pubertät in besonderer Menge synthetisiert werden, geschlechtsspezifisch ausgebildet (Swann et al. 2003). Insbesondere die großzelligen Anteile des medialen präoptischen Areals spielen hier eine wichtige Rolle. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass sie von zentraler Bedeutung für die Weiterleitung der Signale sind, die durch Pheromone über die olfaktorischen Sinneszellen aufgenommen werden (Swann et al. 2003). Aufgrund der seit Geburt bestehenden Sensitivität dieser Areale für Steroidhormone wird die Entwicklung durch deren Konzentration gesteuert.

Dementsprechend wird durch die in der Pubertät einsetzende verstärkte Hormonausschüttung diese Reifung eingeleitet und die Zellen werden durch die Hormone LH, FSH sowie vor allem GnRH stimuliert (Sisk u. Foster 2004). Der Mechanismus der Reifung wird nicht allein durch den Einfluss dieser Hormone getragen, sie bereiten den Einfluss, den Umgebungsreize auf die neuronale Netzwerke haben, auch vor. Im Tierversuch zeigte sich, dass die Blockade von Steroidhormonenrezeptoren genauso wie die Abwesenheit gonadaler Steroidhormone während der Pubertätsphase negative Auswirkungen auf die Ausbildung des normalen Sexualverhaltens hat. Solcherart behandelte Tiere bilden ein qualitativ verändertes Sexualverhalten aus (Sisk u. Foster 2004). Eine nach der Adoleszenz erfolgende Zufuhr des mangelnden Hormons behebt diese Fehlentwicklung jedoch nicht mehr, da es sich bei diesen Reifungsvorgängen offensichtlich um später nicht mehr kompensierbare neuronale Prozesse handelt, die prägend das Sexualverhalten organisieren (Bogerts u. Schiltz 2005).

Eine besondere Rolle in diesem Zusammenhang spielt die mediale Amygdala. Studien an Ratten ergaben, dass eine Läsion dieser Struktur unterschiedliche Auswirkungen hat, die davon abhängen, ob die Läsion zeitlich vor oder nach ersten heterosexuellen Erfahrungen des Tieres gesetzt wird (Harris u. Sachs 1975; Stark 2005). Werden sexuell unerfahrene Ratten kastriert und dann Läsionen der medialen Amygdala durchgeführt, so zeigen diese Tiere unter Testosteron-Substitution und Stimulation mit östrulierenden Weibchen ein schwer gestörtes Kopulationsverhalten (Kondo 1992). Wird hingegen eine entsprechende Läsion erst nach der ersten sexuellen Erfahrungen mit Weibchen gesetzt, so zeigen die Tiere zwar eine Reduktion ihrer Libido, qualitativ tritt jedoch ein normales Sexualverhalten auf (Stark 2005). Durch diese differenzierte Rolle der medialen Amygdala in Abhängigkeit von der sexuellen Erfahrung wird die kritische Relevanz dieser Struktur für Prozesse der Sexualprägung deutlich.

2.2.6Biologie des Sexualverhaltens bei Menschen

Mithilfe der funktionellen Bildgebung wurde eine wichtige Funktion dieser beschriebenen Areale, insbesondere der Amygdala, auch bei der sexuellen Aktivität des Menschen nachgewiesen (Beauregard et al. 2001). Sie sind nicht nur an der Verarbeitung sexueller Information beteiligt, die Aktivität unterscheidet auch zwischen den Geschlechtern. So zeigen Männer eine stärkere Aktivierung der Amygdala und des Hypothalamus als Frauen, auch wenn sie angeben, weniger sexuell angesprochen zu werden (Hamann et al. 2004).

Darüber hinaus gibt es eine Fülle von Literatur zur Biologie des Sexualerlebens bei Menschen. Untersuchungen mit funktioneller Bildgebung konnten zwischen verschiedenen Komponenten des sexuellen Erlebens unterscheiden (Fromberger et al. 2009). So wurde von Redoute et al. (2000) vorgeschlagen, zwischen emotionaler und kognitiver Motivation und autonomen Komponenten des Sexualerlebens zu unterscheiden. Hinsichtlich der Spezifität bestimmter Areale für diese Komponenten konnten sie mithilfe von PET-Untersuchungen zeigen, dass emotionale Komponenten der sexuellen Verarbeitung von Reizen vor allem mit einer Aktivierung der neuronalen Strukturen des Thalamus, des primären somatosensorischen Kortex, des ventralen Striatum und der Amygdala verbunden waren, autonome Komponenten hingegen mit einer Aktivierung des anterioren cingulären Kortex (ACC), der Insula und des Thalamus, kognitive Komponenten mit Aktivierung des orbitofrontalen Kortex, des inferioren temporalen Kortex sowie des parietalen Kortex. Die motivationalen Komponenten des Sexualerlebens stehen mit einer Aktivität im Bereich der Basalganglien sowie des für exekutive Kontrolle zuständigen ACC in Verbindung (Redoute et al. 2000). Walter und Mitarbeiter differenzierten in einer fMRI-Studie zwischen Regionen, die auf emotionale und spezifische sexuelle Erregung mit neuronaler Aktivität reagierten (Walter et al. 2008). So fand sich, dass sexuelle Erregung mit einer Aktivität im ventralen Striatum und Hypothalamus exklusiv verbunden war, während Aktivierung des dorsalen präfrontalen Kortex, des dorsalen Thalamus und der Amygdala exklusiv mit emotionaler Erregung in Verbindung standen. Reize, die sowohl mit sexueller Erregung verbunden waren als auch eine emotionale Wertigkeit besaßen, führten zu einer Aktivierung des ACC.

2.3.7Mögliche Rolle einer neuronalen Reifungsstörung bei der Pädophilie

Insbesondere Pädophile mit einem fixierten Interesse für präpubertäre Kinder fallen durch das häufige Vorliegen von auffälligen Persönlichkeitsmerkmalen auf. Solche Patienten, die nach der gebräuchlichen Klassifikation von Simkins (Simkins et al. 1990a) zum Typ I der Pädophilie gerechnet werden, weisen überdurchschnittlich häufig Auffälligkeiten wie emotionale Unreife, Beziehungsunfähigkeit mit anderen Erwachsenen und weitere soziale Hemmungen auf (Bogerts u. Schiltz 2005; Cohen u. Galynker 2002; Cohen et al. 2002a), die Ausdruck einer neuronalen Schädigung oder Entwicklungsstörung sein können. Diese neuropsychologischen Störungen weisen zusammen mit der erhöhten Rate an Schädel-Hirn-Traumata vor der Pubertät sowie der erhöhten Rate an Nicht-Rechtshändigkeit auf die Möglichkeit einer wichtigen Rolle gestörter neuronaler Entwicklung bei der Entstehung pädophiler Neigungen hin. Freund und Kuban (1993) untersuchten eine große Gruppe von Heranwachsenden und stellten fest, dass das bei Kindern auf Gleichaltrige gerichtete sexuelle Interesse während der Pubertät zunehmend auf adulte sexuelle Reize umorientiert wird. In der Studie verlor die Mehrzahl der untersuchten Probanden das sexuelle Interesse an Kindern bis zum Ablauf des 13. Lebensjahres. Sollte durch eine vor der Pubertät stattfindende neuronale Schädigung die physiologische neuronale Grundlage für diesen sexuellen Umorientierungsprozess gestört sein, wäre vorstellbar, dass ein fortbestehendes sexuelles Interesse an Kindern in Zusammenhang mit einem durch Sexualhormone erhöhten Sexualtrieb besteht, wie es für pädophile Täter anzunehmen ist (Bogerts u. Schiltz 2005; Schiltz et al. 2007).

2.4Hirnstrukturelle Befunde bei Personen mit Pädophilie

2.4.1CT-Untersuchungen

Bereits in den 1980er-Jahren gab es Studien zu neuropsychiatrischen Auffälligkeiten bei pädophilen Probanden. Hucker et al. (1986) fanden in einer Untersuchung an 14 homosexuellen und zehn bisexuellen männlichen pädophilen Probanden im Vergleich mit gematchten Kontrollprobanden zum einen niedrigere IQ-Werte in allen Dimensionen der Intelligenz, zum anderen häufiger temporoparietale Pathologien. Bereits in dieser Studie wurde empfohlen, eine neuropsychologische Untersuchung einschließlich einer CT-Untersuchung bei pädophilen Delinquenten regelhaft durchzuführen. Die Befunde dieser Studie wurden jedoch von anderen Untersuchungen nicht repliziert. So stellten Hendricks et al. (1988) zwar eine Verschmächtigung und Dichteminderung des Schädels sowie generalisiert verminderte Hirndurchblutung fest, jedoch keine spezifische temporale Pathologie. Ähnliches fanden Langevin et al. (1989) in einer Studie an 160 pädophilen Probanden, 108 Sexualdelinquenten mit erwachsenen Frauen als Opfer und 123 Inzesttätern, die mit 36 unauffälligen Kontrollprobanden verglichen wurden. In dieser Studie wurden die Probanden mittels der neuropsychologischen Halstead-Reitan-Testbatterie auf neuropsychologische Ausfälle untersucht, auch wurde ein CT durchgeführt (Langevin et al. 1989). Die verbalen Funktionen bei den pädophilen Probanden mit homosexueller Sexualorientierung waren im Vergleich zur Kontrollgruppe eingeschränkt, während bisexuell orientierte Pädophile eher im Bereich der visuo-spatialen Funktionen Defizite aufwiesen, jedoch keine spezifische temporale Pathologie.

2.4.2Kernspinuntersuchungen

Mithilfe der Kernspintomographie ist es möglich, in vivo Veränderungen neuronaler Strukturen wesentlich genauer als mit der CT abzubilden. Mittlerweile wurde in mehreren Studien festgestellt, dass bei pädophilen Probanden Veränderungen der Hirnstruktur bestehen.

Frontostriatale Anomalien