Shadows of Perl - J. Elle - E-Book

Shadows of Perl E-Book

J. Elle

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Beschreibung

Sie ist die Dunkelheit. Und trotzdem wärmt sie mich wie die Sonne

Quell Marionne ist erneut zur Gejagten geworden. Nachdem sie während ihres Initiationsritus die zerstörerischen Schatten offenbart hat, die sie beherrscht, ist die Bruderschaft der Dragune hinter der jungen Magierin her. Denn ihre dunklen Kräfte sollen angeblich die Quelle der Magie selbst gefährden und sind daher streng verboten. Darum flüchtet Quell zum Haus Perl, wo ihr Unterschlupf gewährt wird. Zu ihren Verfolgern gehört ausgerechnet auch Jordan Wexton: zweiter Kommandant der Dragune und der Mann, dem Quells Herz gehört. Er hat geschworen, jede Bedrohung für die Magie auszuschalten - selbst wenn das bedeutet, die Frau zu töten, die er liebt. Aber werden sich die beiden voneinander fernhalten können, obwohl ihre Entscheidungen sie zu Feinden gemacht haben?

»Eine Forbidden-Love-Story, wie ich sie mir erträumt habe!« ALI HAZELWOOD über HOUSE OF MARIONNE

Band 2 der House-of-Marionne-Trilogie

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Seitenzahl: 676

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Anmerkung der Autorin

Motto

Das unmarkierte Mädchen

Teil eins

1

2

3

4

5

6

7

8

Teil zwei

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

Teil drei

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

Teil vier

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56

57

58

59

60

61

62

63

64

Lexikon

Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von J. Elle bei LYX

J. ELLE

Shadows of Perl

Roman

Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer

ZU DIESEM BUCH

Die junge Magierin Quell Marionne ist erneut zur Gejagten geworden. Nachdem die Erbin von Haus Marionne während ihres Initiationsritus ihre Toushana offenbart hat, ist die Bruderschaft der Dragune hinter ihr her. Denn diese dunkle Kraft soll die Quelle der Magie, die Spähre selbst, gefährden und ist daher streng verboten. Doch Quell hat die mächtigen Schatten inzwischen akzeptiert und ist davon überzeugt, dass die magische High Society, die sie verurteilt, ebenfalls tödliche Geheimnisse hütet. Voller Kampfeswillen flüchtet Quell zum Haus Perl, wo ihr Unterschlupf gewährt wird. Zu ihren Verfolgern gehört ausgerechnet auch Jordan Wexton: zweiter Kommandant der Dragune und der Mann, dem Quell Herz gehört. Er hat geschworen, die Sphäre zu schützen und jede Bedrohung auszuschalten – selbst wenn das bedeutet, die Frau zu töten, die er liebt. Aber auch wenn sie auf verschiedenen Seiten stehen, können die beiden ihre Gefühle füreinander nicht vergessen. Doch was wird bei ihrer nächsten Begegnung geschehen, wenn nicht nur ihr eigenes Glück auf dem Spiel steht sondern die Zukunft der Magie?

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier einen Contenthinweis.

Achtung: Dieser enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Für Naomi,

finde deine Flügel und entfalte deine Kraft.

Anmerkung der Autorin

Die fiktionalen Schauplätze und Ereignisse in Shadows of Perl wurden von diversen Orten der Welt inspiriert. Nichts davon soll eine wahrheitsgetreue Darstellung irgendeines Ereignisses, irgendeiner Kultur oder irgendeines Volkes an irgendeinem Punkt in der Geschichte sein.

HAUS PERL

ANGEBOT DER SPEZIALGEBIETE

ANATOM Umgestalter der Anatomie

AUDIOR Umgestalter der Laute

WANDLER Umgestalter der Materie

RETENTOR Beseitiger der Magie

KULTIVATOR Vermittler von Wissen

DRAGUN Nur auf Einladung;

Bekannte Spezialgebiete: Verfolger, Mementaur

PERL-AUSZEICHNUNGEN FÜR TUGENDEN

Diskretion

Mut

Ehre

Opferbereitschaft

Loyalität

Pflicht

Labor operarii difficile est

DAS UNMARKIERTE MÄDCHEN

Das Einzige, was kälter als die frische Herbstluft war, ließ einen leichten Akkord auf den Rippen des Mädchens anklingen. Es schloss einen Moment lang die Augen, bevor es über die Bergflanke marschierte. Ein warmer Strom von Erinnerungen versuchte, sich in seiner Brust auszubreiten, erstarrte jedoch an seinem kalten, toten Herzen. Einst hatte es pulsiert, wild gepocht vor Hunger auf Dinge, die es für jemanden in seiner Position und Lage/Verfassung nie für möglich gehalten hätte.

Doch der Junge, den es geliebt hatte, war fort.

Und alles, was sie gehabt hatten, verwitterte wie die Namen in den Grabsteinen, die sie umgaben. Es musste ihn vergessen. Seine Faust schloss sich fester um den Strauß schwarzer Rosen, als es tiefer in das Ambrose-Gebiet eindrang. Wo die anderen Häuser wie Kronjuwelen auf üppigem, gepflegtem Rasen standen, war das Dlaminaugh-Anwesen eine Festung, die in eine steile Bergflanke eingelassen und von endlosen Morgen von Friedhöfen umgeben war.

Etwas änderte sich. Das Mädchen blieb stehen, während sich Gänsehaut auf seinen Armen ausbreitete. Der Nebel um es herum waberte wie eine Flagge, die im Wind wogte. Es atmete einen ranzigen Geruch ein, doch beraubte es die Höhenlage der Bestätigung, die es suchte.

Sie waren ebenfalls hier.

Es konnte ihre Anwesenheit wie Nadeln auf seiner Haut spüren. Die Toten von Haus Ambrose lungerten auf dem Anwesen herum, um es vor Eindringlingen zu schützen. Und an diesem Abend waren sie ihm gegenüber zu Recht misstrauisch.

Mit seiner freien Hand zog es eine verzierte Phiole aus seiner Tasche und hielt sie fest in seiner Faust, während es sich zwang, weiterzugehen, um sich warm zu halten und den Mut nicht zu verlieren, doch Angst lähmte es. Das alte Weib, das ihm die Phiole verkauft hatte, hatte gesagt, dass Sonnenstaub in den Augen die Sehfähigkeit dauerhaft beeinträchtige. Sie schien sich dessen sicher zu sein. Sie schien auch dringend Geld zu brauchen.

Das Mädchen schritt energisch voran. Seine Hände waren trotz der Handschuhe ganz steif und eiskalt. Es seufzte. Vielleicht hätte es doch das Pferd nehmen sollen, das ihm der Hausmeister angeboten hatte. Doch es wollte nichts unterschreiben und so dumm sein, seinen Namen preiszugeben. Außerdem war es nur aus einem einzigen Grund dort – um seine Mutter zu zwingen, sein Leiden zu heilen.

Es drehte den Kopf, doch es gab nirgendwo eine Spur der strengen Frau, die es geboren hatte, noch nicht. Seine Oberschenkel brannten, während es einen Fuß vor den anderen setzte. Die Kälte war schon vor Stunden durch seine Lederstiefel gedrungen. Der Anstieg war steil, und so spät im Jahr schneite es mindestens einmal die Woche, sodass nichts schmelzen konnte. Je höher es stieg, desto heftiger flatterten seine Rockzipfel im Wind. So als hätten die Vorfahren der Ambrose die Absicht, es von der Bergflanke zu wehen.

Das Mädchen räusperte sich. »Geht auf euer Anwesen zurück!«, rief es ihnen zu. Die lauernden Schatten rührten sich nicht. »Ich kann euch sehen.« Die Vorfahren neigten dazu, sich vor menschlichen Blicken zu verstecken.

Doch das Zerren an seiner Kleidung wurde immer intensiver. Die Kleine ging weiter und dachte an die Verachtung ihrer Mutter. Sie hatte jetzt ein Druckmittel. Direktorin Isla Ambrose würde zur Abwechslung einmal tun, was sie wollte. Schatten flitzten um sie herum, als könnten sie das verborgene Flüstern ihres Herzens hören. Sie stemmte sich gegen den Wind und griff nach den stärksten Wurzeln, die sie finden konnte, um sich hochzuziehen. Als sie das Plateau erreichte, betrachtete sie die frische Reihe Gräber.

»Dreißigste Reihe, Zweites von rechts, wenn du von Osten kommst«, sagte sie zu sich selbst.

Die Grabsteine waren äußerst merkwürdig. Die Landschaft war hügelig mit flachen Stellen, auf denen hier und da Betontafeln lagen, wie ein Puzzle, das jemand begonnen, aber nicht beendet hatte. Ein paar der Tafeln steckten am Rand des Hügels wie Ziegelsteine, die hastig hingeworfen worden waren, ungleichmäßig und schief. Eine stand auf dem Kopf. Sie wischte ein wenig Schnee weg.

WILMA ERO GHINSON

Sie war noch nicht einmal nah dran. Sie zog ihren Wollmantel fester um sich und ging weiter. Als sie schließlich bei den Ws angekommen war, stieß sie mit dem Fuß gegen einen Grabstein, und ihr Blick schnellte zur Grabinschrift.

HIER RUHT RED WILLOW

OHNE NAMEN, OHNE HERKUNFT

SIE IST FREI GESTORBEN, SIE IST GELIEBT GESTORBEN

Sie legte die schwarzen Rosen neben den Grabstein und verweilte dort. Ihre Stimmung sank, während sie die gemeißelten Buchstaben entlangfuhr, immer wieder dieselben. Flache Schatten lungerten zwischen den Ästen – die Vorfahren, die sie noch immer beobachteten. Doch als Pferdegetrappel im Wald erklang, verschwand der Tod. Sie stieß die Luft aus und zog ihre Kapuze ab, unter der ein schlichtes gewölbtes Haarband aus gebürstetem Silber zum Vorschein kam. Sie suchte die Bäume erneut nach den Ahnen ab, bevor sie das Haarband gegen ihren Schädel presste, bis es wehtat, um dafür zu sorgen, dass es nicht rutschte und wie ein echtes Diadem aussah. Um dafür zu sorgen, dass sie wie eine Markierte aussah – jemand, der mit magischen Kräften geboren war.

In der Ferne konnte sie ein Shire Horse mit weißen Fesseln und glänzend schwarzem Fell ausmachen, ähnlich dem von Daring, den sie zum siebten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, die einzige Sache, die ihre Mutter richtig gemacht hatte. Ihre Mutter traute sich nicht in den Wald. Sie hasste Friedhöfe, was seltsam war, wenn man ihre obsessive Faszination für den Tod bedachte.

Das Mädchen verzog den Mund erwartungsvoll, während es blinzelte. Sie erkannte den einseitigen Gang ihres Pferds, den flotten Galopp, mit dem es sich geschickt auf dem unebenen Grund bewegte. Ihn heute hierherzubringen, war ein wenig verzweifelt, aber auf jeden Fall schlau. Es passierte wirklich. Ihre Mutter war wirklich hier. Die Hand, in der das Mädchen die Phiole hielt, zitterte, als sie ihren Plan erneut durchging.

Daring kam schnaubend zum Stehen, und sie ballte die Fäuste. Mutter war komplett in Umhänge in den Farben des Hauses gehüllt, doch eine Dreieckssonne, die in den äußeren Umhang eingenäht war, war auch aus der Ferne zu erkennen. Eine Spitze für jede Gottheit. Sie waren das einzige Haus, das wusste, Sola Sfenti war die Herrscherin, aber nicht die einzige Göttin. Ihre Vorfahren hatten die Herrscherin, den Wandler und den Weisen verehrt, solange ihre Blutlinie existierte, bevor ihr Haus überhaupt existierte, in ihrer finstersten Zeit. Doch die Götter waren ihr vollkommen gleichgültig. Was hatten sie schon für sie getan?

Auf Darings Rücken lag noch ein Umhang ausgebreitet, dieser in Königsblau. Die Lippen des Mädchens zuckten. Ihre Mutter schwang das Bein und sprang herunter, und der Aufprall ihrer Stiefel auf dem Boden dröhnte in der Brust des Mädchens wie eine Kugel. Doch etwas stimmte nicht. Ihre Mutter bewegte sich steif und war zu groß …

Halt …

Ihr Herz machte einen Satz, als die langen braunen Haare ihres Bruders unter der Kapuze hervorquollen und auf seine Schultern fielen. Sein bernsteinfarbener Umhang schimmerte wie Kupfer vor dem Hintergrund des unendlichen Walds, während seine gebürstete Silbermaske mit seiner Haut verschmolz. Sie ballte ihre Fäuste noch fester. Ihre Schultern wollten herabsinken, aber ihr Bruder breitete die Arme aus, und sie fühlte sich wieder wie mit zwölf, als sie auf seinen Rücken gesprungen war, um vom Grundstück geschmuggelt zu werden.

»Ellery!« Sie rannte zu ihm, und er riss sie in eine Umarmung. Es war viele Monate her, dass er ihr dabei geholfen hatte, von Dlaminaugh zu der Farm zu fliehen, die er heimlich für sie gekauft hatte. Sie hatte ihn nicht gesehen, seit sie beinahe von Draguns getötet worden war. Ellery drückte sie fest, und seine Wärme war wie ein beruhigender Anker.

»Kleine Schwester.« Er drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Seine ausgeprägte Ambrose-Kinnpartie; seine Stupsnase, die sie beide hatten; und diese tief liegenden, sanften Augen, ein Spiegel ihrer eigenen. Seine waren blau. Ihre wolkengrau – wie bei allen Frauen in ihrer Familie. Sie strich mit dem Daumen über eine gezackte Narbe auf seiner Wange unterhalb des Ohrläppchens. Narben waren etwas, das nicht einmal die Anatome aus dem Haus Ambrose beseitigen konnten. Sie studierte seine Gesichtszüge. Er war es tatsächlich.

»Ich bin es, leibhaftig.«

Sie drückte ihren Bruder fester. Wenn der Junge, den sie die letzten Monate geliebt hatte, ihr etwas beigebracht hatte, dann dass Familie weniger mit Blutsverwandtschaft als mit Loyalität zu tun hatte. Jetzt, da er nicht mehr da war, war Ell die einzige Familie, die ihr geblieben war. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, blinzelte sie jedoch weg und drehte die Phiole in ihrer Hand. »Bist du allein?«

»Nicht ganz.« Er tätschelte den kräftigen Hals des Pferds. »Er hat dich vermisst.«

Sie kraulte Darings samtene Nüstern, und er rieb sich an ihrer Hand. »Wo ist Mutter?«

Die Heiterkeit verschwand aus Ellerys Miene, so wie der Horizont die Sonne verschluckte. Er packte sie am Handgelenk. »Mach auf.«

Sie wollte die Hand wegziehen, doch der sanfte Griff ihres Bruders war fest. Er war gebaut wie ein typischer Ambrose, untersetzt mit kräftigen Armen und höllisch stark. Er zog an ihren Fingern, um ihre Faust zu öffnen, doch sie gab nicht nach. Bis er ihr einen Fingerknöchel zwischen die Rippen bohrte. Ihre Umklammerung löste sich, und ein missmutiges Lachen kam über ihre Lippen.

»Ellery! Gib das her«, sagte sie und rückte ihr falsches Diadem auf ihren rötlichen Locken zurecht. Er würde ihr nicht die einzige Waffe gegen ihre Mutter wegnehmen. Er musste vernünftig sein.

Er schraubte den Deckel der Phiole ab, und ihr entgingen nicht die Striche auf seinem Handgelenk. Ihr Blick verharrte darauf.

»Eine Phiole mit Sonnenstaub? Du bist wirklich berechenbar. Was hattest du vor damit? Sie zwingen, ihn zu schlucken?«

»Ihr zu drohen, ihn ihr in die Augen zu streuen«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Damit sie das Gift neutralisiert, das sie mir mitgegeben hat.« Jetzt, da sie die Idee laut aussprach, klang sie dumm. Sie errötete.

»Du hast wirklich keine Ahnung von Magie, nicht wahr?« Er schlang einen Arm um ihre Schultern und zerzauste ihr Haar.

»Ich bin clever, ich brauche keine Magie.« Sie suchte nach den passenden Worten, um ihm zu zeigen, dass ihr Plan gut war. Damit er ihr half oder ihr nicht dazwischenfunkte. Doch ihr fiel nichts ein.

»Du bist clever. Meine liebste kleine Schwester.«

»Ich bin deine einzige Schwester.«

Diesmal war er es, der grinste.

»Wieso bist zu hier, Ellery? Raus damit.«

»Um dich dazu zu bringen, klarzusehen.« Er drehte die Phiole zwischen den Fingern hin und her. »Mutter wäre sowieso nicht darauf reingefallen.«

Sie knurrte. »Sie gehört mir. Gib sie her.«

»Eigentlich ist sie Eigentum von Haus Ambrose.« Er zeigte ihr das Siegel, das an ihrer glatten, geschliffenen Seite eingeätzt war. »Drei miteinander verschränkte Eibenblätter, jedes für einen Gott.« Dann warf er die Phiole in die Luft. Sie schnappte danach, doch er war schneller, öffnete seinen Umhang, sodass sie direkt in eine verborgene Tasche fiel.

In einem letzten verzweifelten Versuch, sie zurückzubekommen, zog sie an seinem Arm und sein Ärmel rutschte hoch. Ihr klappte die Kinnlade herunter angesichts der endlosen Reihen von Strichen auf seinen Unterarmen. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, hatten sie nur einen Arm bedeckt. Sie schob seinen Ärmel höher: Fast jeder Zentimeter seiner Haut bis zum Ellbogen war damit bedeckt. Er zog seinen Kragen herunter, es gab noch mehr auf seiner gesamten Brust.

»Bestimmt ist Mutter stolz auf dich«, sagte sie, während sie die Striche betrachtete – jeder für eine neue magische Entdeckung. Als sie klein und ihre Hoffnung noch nicht zerstört war, hatte sie von einem Debüt beim Cotillon mit mehreren Dutzend Strichen geträumt. Das war eine beachtliche Zahl, die meisten Ambrose-Debütanten brachten es nur auf einen Bruchteil davon. Doch kein einziger Strich war je in ihre Haut geritzt worden.

Sie war unmarkiert. Ohne magische Kräfte.

Und jetzt, dank ihrer Mutter, vergiftet.

Sie blickte zu Reds Grab. »Und dazu verdammt, allein zu bleiben«, murmelte sie.

»Ich tue nichts davon für sie«, sagte er. »Das weißt du.« Ellery richtete seinen Umhang, und sie seufzte. Ihr Bruder liebte sie, aber er war genauso stur wie sie. Er gab ihr die Phiole nicht zurück. Er war nicht da, um ihre Mutter zu bedrängen.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie drehte den Stiefel im Schnee hin und her und betrachtete den vergessenen königsblauen Umhang, der auf Darings Rücken ausgebreitet war. Ell war nicht nur da, um sie aufzuhalten. Es war viel schlimmer: Er wollte, dass sie nach Hause kam. Ein Schrei hallte in ihrem Kopf. Die Wut in ihrer Brust wuchs. Dass er hier war, sich weigerte, ihr zu helfen, und sie sogar zurück an diesen Ortbringen wollte … Allein der Gedanke brachte sie auf die Palme.

»Hast du die Phiole mit dem Staub gestohlen, bevor du verschwunden bist?«, fragte Ellery.

»Das geht dich nichts an.« Sie musste einen anderen Weg finden, um ihrer Mutter zu drohen. Und um sich ihren Bruder vom Hals zu schaffen.

»Oh, wir haben jetzt also Geheimnisse voreinander?«

Sie verdrehte die Augen. »Erinnerst du dich noch, wie Mutter ihre Transportdose verloren hat?«

Ell zog die Brauen hoch. »Du warst das!«

»Sie sollte wieder aufgefüllt werden, wenn das Anwesen gereinigt wird. Aber Mutter musste in einer dringenden Angelegenheit verreisen. Ich habe sie an mich genommen und sie zum Schutz versteckt.«

Ellerys Blick fiel auf den Grabstein neben ihnen, und seine Wärme kehrte angenehm wie eine Sommerbrise zurück. Seine blauen Augen leuchteten entschuldigend. Sie schüttelte den Kopf. Das liebte sie am meisten an ihrem Bruder: dass sie ohne Worte kommunizieren konnten. Er kannte sie. Er hatte durchlebt, was sie in Dlaminaugh durchlebt hatte. Doch er war mit zahlreichen Markierungen daraus hervorgegangen – der perfekte, überdurchschnittlich begabte Sohn. Sie war froh, dass sie überhaupt lebend herausgekommen war. Ihre Atemzüge wurden kürzer; ein Schluchzen drängte aus ihrer Kehle.

»Es ist nicht deine Schuld«, sagte sie, bevor er ein Wort sagen konnte.

Sein Kiefer verhärtete sich. »Ich bin dein Bruder. Ich hätte dich vor ihr beschützen müssen.«

»Du hast das gut gemacht mit dem Stein und der Inschrift und so. Es sieht alles hübsch aus.« Es war seine Idee, eine Gedenktafel für Red aufzustellen. Sie verschränkte die Arme.

»Ich dachte, es würde dir gefallen.«

Es rumorte in ihrer Brust. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie noch neben Reds Grabstein stehen konnte, bevor sie die Erinnerungen übermannten und brachen, bevor das glückliche Leben, das sie hinter einer Maske verborgen hielt, an die Oberfläche drang und sie erstickte. Sie wandte sich ab, und sie überquerten eine Lichtung im Wald, wo ein Fluss zwischen zwei Bergen entlangführte. Das Mattgrau des Himmels hatte sich gelichtet. Jetzt erstreckte sich ein blassblauer Streifen über ihnen, und die Sonne blitzte durch die Wolken.

»Sie wird das mit dem Gift, das sie mir eingeflößt hat, wieder in Ordnung bringen«, sagte sie, berührt von dem guten Omen.

»Verlass dich nicht darauf.«

Sie ballte die Fäuste. »Dann gehe ich zur Debs Daily und mache die ganzen gesetzeswidrigen Geheimnisse öffentlich. Die krummen Dinger, die sie im Namen der Entdeckung dreht!«

Ihr Bruder drückte ihre Schultern, wobei er über ihr aufragte. Sie fühlte sich klein und noch machtloser. Sie ballte ihre Fäuste fester. Er streichelte ihre Wange. »Du wirst nichts tun, was dich umbringen könnte.«

Sie stürmte davon.

»Ich gehe ein paar Sachen nach. Du musst nach Hause kommen. Es gibt so viel, worüber wir sprechen müssen.« Die Dringlichkeit in der Stimme ihres Bruders verursachte ihr Herzklopfen. Sie spitzte die Ohren, auch wenn sie ihm weiterhin den Rücken zudrehte. »Mutter hat deinen Brief nie zu Gesicht bekommen. Als ich ihn abgefangen habe, habe ich beschlossen, selbst zu kommen. Und …« Seine Stimme brach.

»Du bist gekommen, um mich zur Rückkehr zu überreden, aber du kannst dir die Mühe sparen«, sagte sie ihm ins Gesicht.

»Ich gehe noch immer ein paar Sachen nach, aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es …«, er sah sich um, »… viele Gründe gibt, weshalb du nach Dlaminaugh zurückkehren musst.«

Sie verschränkte die Arme. »Die da wären?«

»Nicht hier.«

»Ellery, versuch nicht, mich aufzuhalten. Hilf mir.«

»Mutter würde es nie zugeben, aber ich glaube nicht, dass sie tatsächlich weiß, wie man das neutralisiert, was sie dir gegeben hat.

»Toushana. Nenn es ruhig beim Namen.«

Er trat zu ihr. »Behalt’s für dich.«

»Ich habe nicht den weiten Weg auf mich genommen, um es für mich zu behalten.« Sie hielt ihm seinen tätowierten Arm vors Gesicht. »In all den Jahrhunderten des Vermächtnisses unseres Hauses und seiner gepriesenen Entdeckungen muss irgendjemand wissen, wie man dieses Zeug aus mir herausbekommt. Ich will keine Ausreden hören. Intellectus secat acutissimum. Der Intellekt hat die schärfste Schneide. Unsere Maezre haben stets gesagt, dass es kein Rätsel gibt, das Magie nicht lösen kann. Stimmt das oder nicht? Sind Ambrose in ihrem Intellekt überlegen, oder sind wir das nicht?«

Ihr Bruder hielt sich tief betroffen das Kinn.

»Sie hat versucht, mich mit dem Staub einzureiben, Ell, und zum millionsten Mal gehofft, es würde etwas in mir wecken. Mir – ihrer unmarkierten Tochter, der Erbin ihres Hauses, ohne Magie. Doch in ihrer Verzweiflung hat sie mich vergiftet!«

Erneut traten ihr Tränen in die Augen. Sie hasste ihre Mutter aus vielerlei Gründen. Doch an erster Stelle, weil sie sie mit Toushana vergiftet hatte. Davor war sie einfach die unmarkierte Tochter der Direktorin eines Hauses gewesen. Doch als die Lügen, die ihre schlechte Performance kaschierten, nicht mehr glaubhaft waren, wurde es langsam verdächtig. Ein eigener Tutor auf dem Anwesen, eine eigene Hütte. Schließlich begannen sich die Leute zu fragen, weshalb sie die Erbin nie hatten Magie ausüben sehen. Doch anstatt zuzugeben, dass ihre Tochter über keine verfügte, hörte Isla Ambrose auf ihre alten staubigen Bücher.

»Sie kann mich für alle Zeit hassen dafür, dass ich nicht so bin, wie sie es sich gewünscht hat, aber sie wird mein Leben nicht kontrollieren.« Ihre Gedanken wanderten zu Yagrin: wie sie ihm ihre wildesten, völlig lächerlichen, so gar nicht magischen Ambitionen gezeigt und er sie kein einziges Mal deswegen ausgelacht hatte. Wie er es genossen hatte, dass sie nicht Teil des Ordens war – wie er zumindest glaubte. Wie er das am meisten an ihr geliebt hatte! Wie sie mit ihm frei und geliebt war in diesem ungezügelten Dasein. Wie er sie nie darum gebeten hatte, auch nur eine Sache zu ändern, nicht ihr Haar, nicht ihre Art, sich zu kleiden, nicht die Dinge, die sie für witzig hielt, oder ihre merkwürdige Art, ihre Eier zu essen – mit Ketchup und Salat. Wie er alles an der Person liebte, die sie in ihrem Innern war. Die Person, die sie sich niemandem sonst zu zeigen traute. Ihr Herz raste in ihrer Brust. Sie sah noch immer vor sich, wie er sie angesehen hatte – ihr unvollkommenes, unmarkiertes Selbst –, so als wäre sie die Sonne selbst. Sie spürte die kleine Ausbuchtung in ihrer Tasche, wo sie ein Geschenk von ihm aufbewahrte.

»Ich schwöre beim Wandler, dem Weisen und Sola Sfenti höchstpersönlich, ich werde ein Leben haben, Ellery. Ein normales Leben, weit weg von Mutters lächerlichen Erwartungen.«

»Macht …« Er senkte seine Stimme »Macht die Toushana Probleme?«

»Nein. Ich habe nur eine kleine Menge in mir. Es hat sich nur ein- oder zweimal bemerkbar gemacht. Aber ich habe recherchiert; irgendwann wird es sich verschlimmern.«

»Wir haben also Zeit.«

»Es sieht so aus.« Sie verschränkte die Arme. »Wenn sie mich doch nur in Ruhe gelassen hätte, ich war glücklich …«

»Mutters Sorge betrifft nicht dein Glück. Deine Fähigkeit, das Haus in Zukunft zu führen, schon.«

»Und du bist damit einverstanden?«

»Du weißt, dass ich nicht damit einverstanden bin«, tadelt er mit gesenkter Stimme. »Aber du bist ihre Erstgeborene. Ihr Platz geht an dich, ob du das nun willst oder nicht!« Furcht flackert in den Augen ihres Bruders auf. »Der Orden ist dabei zu zerbrechen. Hattest du deinen Kopf so tief in den Kornfeldern, dass du das nicht bemerkt hast? Die Sphäre hat Risse.« Er zog ein Exemplar der Debs Daily aus seinen Kleidern und warf es ihr zu. Eine Skizze der Sphäre, die die Balance der gesamten Magie wahrte, nahm beinahe die gesamte Titelseite ein. Die Schlagzeile raubte ihr den Atem.

DIE ZUKUNFT DER MAGIE IST UNGEWISS

Sie schluckte. »Sickert sie heraus?«

»Noch nicht. Aber das ist nur eine Frage der Zeit.«

Wenn sich die Sphäre auflöst, würde die Magie für mindestens ein halbes Jahrhundert verloren gehen. Es stand so geschrieben. Konnte das etwas Gutes sein? Aber was bedeutete das für ihre Familie? Sie wollte mit dem Orden und seinen Problemen nichts zu tun haben. Sie wollte nur die Toushana loswerden, damit sie ihr Leben weiterleben konnte, als würde der Orden nicht existieren.

»Die Mitglieder sind wütend«, fuhr er fort. »Und es geht das Gerücht, dass das Haus Marionne eine einzige Katastrophe ist.« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, und sie kehrten schweigend zu Daring zurück. Er ergriff den glänzend blauen Umhang und legte ihn sich sorgfältig über den Arm, bevor er sich vor sie kniete.

»Bitte, komm nach Hause.«

Einen Moment lang sagte sie nichts. »Mir ist mein Leben wichtig. Deshalb will ich nicht, dass mich irgendetwas an den Orden bindet.«

»Die Bälle der Nebensaison haben begonnen.«

»Das interessiert mich nicht.«

Er stand auf und drapierte die Farbe des Hauses, die ausschließlich vom Erben getragen wurde, über ihren Rücken. »Nicht das kleinste bisschen? Ich muss teilnehmen, und ich würde viel lieber mit dir als mit einer der Hargrove-Töchter hingehen.«

»Versucht Mutter noch immer, dir diese Familie aufzudrängen? Ich meine, sie haben sieben unverheiratete markierte Töchter, willst du ihnen wirklich vorwerfen, dass sie verzweifelt sind?«

Er zog eine Grimasse. »Komm schon. Nenn mir jemanden im gesamten Haus, der einen Walzer besser tanzt als du.«

Sie grinste.

»Die jährliche Erntedank-Gala ist in wenigen Wochen.« Ellery hielt eine Hand vor ihr Gesicht. Sie machte sich auf das vertraute Gefühl gefasst, dass gleich einsetzen würde. Er wandte seine Anatommagie an, und sie empfand Nostalgie, als sich ihr Sichtfeld erweiterte und ihre Wimpern sich mit einem Prickeln verlängerten. Es fühlte sich immer so an, als müsste sie gleich niesen, wenn er ihr Gesicht verwandelte. Nur Haus Ambrose hatte die Grenzen der äußerlichen Verwandlung dahingehend ausgeweitet, dass auch das Aussehen andererund nicht nur das eigene verändert werden konnte. Ihr Haus hatte die Grenzen sämtlicher Bereiche der Magie ausgeweitet. Ihr Kinn bekam weiche Züge, während sich ihre Lippen zu einem Schmollmund formten, wie ihn Red gehabt hatte. Das Haar schlängelte sich in dunkelroten Löckchen über ihren Rücken, als es von ihrem natürlichen Kastanienbraun zu Burgunderrot wechselte. Sie schloss die Augen und holte tief Luft, während sie sich wünschte, dass dieses Aussehen real war. Dass ihre Red-Fassade nicht ebenfalls verschwand.

»Du weißt, dass wir sie nicht mehr benutzen können«, sagte sie. Es ging alles den Bach runter, nachdem ihr die Draguns vom Tidwell-Ball nach Hause gefolgt waren, entschlossen, den Jungen, den sie liebte, leiden zu lassen. Sie hatten beabsichtigt, Red zusammen mit der Farm zu zerstören, doch sie fanden sie nie. Sie versteckte sich unter der Scheune, als sie nach ihr suchten. Als sie den gesamten Hof in Brand setzten, floh sie durch einen Tunnel unter dem Haus, der zu den Maisfeldern führte. Sie hatte den Geheimgang genau aus diesem Grund anlegen lassen. Sie war eigentlich unmarkiert: geboren ohne magische Kräfte. Und eine Unmarkierte durfte keine Magie sehen und weiterleben. Dort in dem Feld fand sie die andere Direktorin Tage später, nicht ihre andere Persona und zitternd vor Angst.

Darragh Marionne bot ihr eine Möglichkeit, tatsächlich zu verschwinden: indem sie ihren Namen aus dem Buch der Namen löschte. Sie konnte ein Leben führen, das keine andere Persona erforderte. »Nore Ambrose wäre – zumindest auf dem Papier – tot«, versprach sie. Nore war augenblicklich einverstanden.

Doch sie hatte sich nicht an ihre Vereinbarung gehalten.

Sie war in dem Orden gefangen. Nore hatte Pflichten und Erwartungen zu erfüllen. Nore hatte eine schreckliche Mutter. Nore war nicht mehr, wer sie sein wollte, aber Red war auch nicht sicher. Dragune waren womöglich noch immer hinter Red her. Auch für Yagrins Sicherheit war Red tot, und so musste es auch bleiben.

»Ich weiß, aber ich weiß auch, wie sehr es dir gefallen hat, sie zu sein«, sagte ihr Bruder.

»Und wie sehr Mutter es gehasst hat.« Sie hatte gehofft, ihre Mutter heute mit Reds Grabstein provozieren zu können. Sie daran zu erinnern, dass sie sie immer überlisten und einen Weg finden würde, frei zu leben. Aber sie würde noch ein wenig warten müssen, um ihren Wunsch zu befriedigen.

Sie löste sich aus der Magie ihres Bruders, und sie verschwand. »Es ist sinnlos, im Unmöglichen zu schwelgen. Das Spiel ist vorbei«, sagte sie. »Red ist tot.« Sie nahm die Robe der Ambrose-Erbin ab und warf sie ihrem Bruder hin, bevor sie Daring erneut streichelte. »Ich gehe mit dir zur Erntedank-Gala, wenn du dafür sorgst, dass Mutter auch da ist.« Sie wandte sich zum Gehen.

Ellery stöhnte.

»Das sind meine Bedingungen«, rief sie ihm über die Schulter hinweg zu.

»Nore!«, rief er ihr nach. »Damit zu drohen, Mutter wehzutun, wird nicht helfen.«

»Dann ist es keine Drohung.«

TEIL EINS

1

QUELL

Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, ist er da.

Ich blinzle das Gesicht des Jungen weg, den ich einst liebte, und konzentriere mich stattdessen auf das Summen der Straßenlaternen, die eine nach der anderen ausgehen. Die Lichter der Stadt erinnern mich stets an meine Mutter, und ich nehme die belebte Straße durch meine Tränen hindurch wahr. Wir hatten nichts. Wir hatten niemanden. Und irgendwie hat sich alles und doch nichts verändert.

Ich schlinge meine Arme um mich. Als sie und ich vor dem Orden davongelaufen sind, bevor wir uns eine Wohnung leisten konnten, bevor meine Mutter eine Arbeit finden konnte. In diesen Wochen schliefen wir, wo wir konnten: in einem nicht abgeschlossenen Fahrzeug, einem verrammelten Gebäude, einer Gasse. Jeden Abend ging sie los, um Essen und andere Dinge zu organisieren, die wir vielleicht brauchten. Ohne ein Kind an der Seite fällt man nicht so auf, sagte sie. Eine Menge Dinge wären ohne mich an ihrer Seite einfacher gewesen. Aber ich bin zurück, bevor die Straßenlaternen ausgehen, das verspreche ich.

Wenn sie nur wüsste, wie stark ich jetzt bin. Wie ich sie beschützen kann, sobald ich sie gefunden habe. Magie prickelt auf meinem Kopf, und vor meinem inneren Auge kann ich mein schwarzes Diadem sehen, das mit dunkelrosafarbenen Edelsteinen verziert ist, die durch die Schwärze beinahe blutrot wirken. Ich wünschte, ich könnte es zeigen. Ich wünschte, ich könnte es allen zeigen. Doch ich halte die Anspannung in meinem Innern, um das Diadem weiterhin zu verbergen, eine Fähigkeit, die ich bei Abby am ersten Tag unseres Kennenlernens gesehen habe und die ich inzwischen ebenfalls beherrsche.

Ich rutsche tiefer auf der Parkbank und sehe Fremden dabei zu, wie sie über die Straße huschen und den Park am East Capitol betreten. Hupen scheucht sie weiter. Ich stöhne und schaue auf die Uhr. Ein letzter Test. Der Himmel wird immer heller, bis sämtliche Laternen, auf die ich in den letzten Stunden gestarrt habe, aus sind.

Octos neben mir räuspert sich, das Gesicht hinter einer riesigen Zeitung versteckt. Die äußeren Seiten sind von The Washington Post; die inneren von der Debs Daily. Vor zwei Monaten bin ich von Château Soleil geflohen, wo ich das Bindungsgeheimnis meiner Großmutter mit Gästen des Cotillon teilte, bevor ich mir den Dolch in die Brust gestoßen habe, um mich mit meiner Toushana zu verbinden. Trotzdem verfolgt mich das Chaos, das Haus Marionne umgibt, noch immer. Öffentlich ließ man gar nichts darüber verlauten – weder über meine Großmutter noch über ihr Haus.

»Schon was gefunden?«, frage ich.

Er beugt sich über die Zeitung, seine blauschwarzen Fingernägel fest an ein Vergrößerungsglas gepresst, das er über ein paar Textzeilen hält. Dann macht er energisch Notizen auf einem Block.

»Bin fast so weit«, sagt er. Trotz seines Versuchs, nicht aufzufallen, haben uns seine welke olivfarbene Haut, seine Zählstriche unter den aufgerollten Ärmeln seines abgewetzten Mantels und das fettige glatte Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt, ein paar kritische Blicke eingebracht. »Wie sieht Lincoln aus?«

»Es gibt noch ein paar Nachzügler.«

Octos bildet mich aus, während Abby nach meiner Mom sucht. Wir haben uns in den vergangenen Wochen nach Orten umgesehen, an denen ich meine Toushana bis zum Limit ausreizen kann, ohne Schaden zu nehmen. Heute ist der Abschlusstest. Danach treffe ich Abby, und dann werden wir meine Mom finden.

Ich bewege meine Finger und verscheuche die Kälte, die mir in die Knochen kriechen will. Sie wogt durch mich hindurch wie eine Welle, die ans Ufer spült, bis ein eisiges Gefühl sich unter jedem Zentimeter meiner Haut breitmacht. Ich betrachte die Wirkung meiner Magie, und winzige Rauchwolken dringen aus meinen Poren. Ich spanne mich in meinem Zentrum an und hole tief Luft. Als sich meine Lunge mit Luft füllt, kehren meine Schatten in mein Inneres zurück. Manchmal rufe ich meine Toushana nur, um ihre Nähe zu spüren.

»Spar dir deine Kräfte auf, du wirst sie brauchen«, sagt Octos. Sein Ton ist ruhig. Wie immer.

Meine Ausbildung ist gut verlaufen. Doch er besteht darauf, dass wir meine dunkle, destruktive Magie in diversen Umgebungen und unter unterschiedlicher Stressbelastung ausprobieren.

Einmal hat er mir aufgetragen, ein verlassenes mehrstöckiges Gebäude zum Einsturz zu bringen. Blutergüsse bedeckten meine Arme, weil ich meine Toushana zu lange benutzt hatte, und es dauerte ein paar Tage, bis ich ohne heftige Schmerzen aufstehen konnte.

»Und das sind nur die Blutergüsse, die man sieht«, hatte er gesagt.

Meine Kontrolle über meine dunkle Magie, bei der man einen Zyklus von Aktivierung-Aktivierung-Ruhephase durchläuft, hat sich in den letzten Wochen verbessert. Ich habe noch immer Splitter von den Wänden in mir, die ich habe einstürzen lassen, um einen Einbrecher im Keller in die Falle gehen zu lassen. Aber er wurde verhaftet, und ich bin ohne eine einzige Schramme davongekommen. Ich dachte, meine gemeinsame Zeit mit Octos sei vorüber. Doch heute bestand er auf einem letzten umfassenden Test, um meine Toushana mehr als je zuvor zu beanspruchen. Der einzige Ort in der Stadt mit ausreichend Bäumen, um Magie anzuwenden, ist Lincoln Park, der gestern Abend wegen Bauarbeiten für die Öffentlichkeit gesperrt wurde.

»Bist du dir sicher, was diesen Ort betrifft?«, frage ich argwöhnisch, weil ich in einer großen Stadt bin. Es war seine Idee, Louisiana und sonst jeden Ort weit hinter uns zu lassen, an dem meine Großmutter über mich stolpern könnte. Auf unbekanntes Gebiet zu wechseln war sicherer, und alles an der Ostküste nördlich vom James River ist Territorium von Haus Perl. Wir haben uns in einem Safe House in einem Provinzörtchen mehrere Stunden von Washington, D. C., entfernt mitten im Nirgendwo niedergelassen, aber man darf Magie in oder in der Nähe eines Safe Houses nicht anwenden.

»So sicher, wie ich sein kann.«

Ich lasse Octos seine Zeitung entschlüsseln. Autos brausen vorbei, und ich schaue nach den Fahrern, suche törichterweise nach einem Gesicht, das wie das meiner Mom aussieht. Sie hat mich mitgenommen, um die Straßenlaternen früh am Morgen und am Abend zu timen, damit ich wusste, dass sie gut aufpasste. Dann brachte sie mich dorthin zurück, wo wir gerade wohnten, und ins Bett. Ich machte kaum ein Auge zu. Stattdessen betrachtete ich die Lichter, die draußen auf die Wände fielen, und stellte mir vor, es wäre das Licht auf dem Flur vor meinem Zimmer, irgendwo in einem richtigen Zuhause. Eine Erinnerung daran, dass meine Mutter stets in der Nähe war, immer nur ein paar Schritte entfernt. Das Summen der Laternen ist ihre Stimme, sagte ich mir. Jeden Moment wäre sie zurück, und wir wären wieder vereint.

Was hält sie wohl davon, was ich getan habe? Mich an Toushana zu binden. Haus Marionne in völligem Chaos zurückzulassen.

»Hast du mich gehört?« Octos faltet seine Zeitung in ein ordentliches Rechteck. Der Fedora auf seinem Kopf wirft einen Schatten auf sein dunkles Haar und seine eingefallenen Wangen. Aber die Ringe unter seinen Augen kann ich noch immer erkennen. Die Art, wie er herumhampelt.

»Keine Fehler heute«, wiederholt er.

»Okay.« Ich bin nicht Octos Geisel, aber manchmal fühlt es sich so an. Ich will mehr als jeder andere wissen, wie man diese Magie nutzt, die durch meine Adern fließt. Ohne mir oder Menschen, die ich liebe, zu schaden, aber er scheint das zu vergessen.

Ich dachte, Octos wäre vielleicht wie ich mit Toushana verbunden. Obwohl ich nie erlebt habe, dass er schwarze Magie benutzt, sind seine Anweisungen stets höchst detailgenau. Aber nein, er erzählte mir, er habe sich nur nebenbei damit beschäftigt und es lange Zeit in Haus Ambrose studiert. Was ihm einen Haufen Zählstriche und den Rauswurf einbrachte. Nur Dragune haben die Erlaubnis, Toushana zu nutzen. Alle anderen werden hingerichtet.

Vielleicht ist es Eifersucht. Manchmal liegt über seiner Ermunterung ein Schatten. In seinem Lächeln eine gewisse Erschöpfung. In seinen Augen ein seltsamer Glanz. Ich weiß nicht, warum, aber manchmal fühlt es sich so an, als wäre er zu sehr auf mich fixiert. Ich betrachte meine Hände und Arme, auf denen die Blutergüsse dank seiner Hilfe verblasst sind. Er hat mein schwarzes Diadem auf Château Soleil umgestaltet. Auch wenn er eifersüchtig ist, war Octos der einzige Mensch, der bereit war, mir zu zeigen, wie Toushana funktioniert.

»Danke, dass du mir hilfst.«

Er erwidert meinen Blick. Und sagt einen Moment lang nichts.

»Natürlich.«

»Drei Minuten«, sage ich zu ihm.

Er reicht mir eine Zeitungsseite und tippt auf eine winzige Verfasserzeile.

Ich kenne den Namen nicht, aber ich überfliege den Artikel; es ist eine konfuse Analyse. Mehrere Häuser restrukturieren ihre Führung, verlängern Amtszeitbegrenzungen für Direktorinnen, erneuern ihre Sicherheitsprotokolle.

»Das sagt mir nichts.«

»Dieser Artikel ist von Amelia Brendalin. Sie ist sonst für Unterhaltung und Klatsch zuständig. Doch diese Woche hat sie die Topmeldung verfasst.« Octos blättert zu den Nachrufen und zeigt auf einen Kerl. »Frank war jung und gesund, der Medienstar der Daily, aber jetzt ist er …«

»Tot.«

Er nickt, was mir einen Schauer über den Rücken jagt.

Er zeigt mir seinen Notizblock, wo er in Großbuchstaben die decodierte Nachricht aus der Zeitung aufgeschrieben hat.

ERWUSSTEZUVIEL

»Worüber wusste der Tote zu viel?«

»Ich habe genauso wenig Ahnung wie du.«

Octos legt sein Gesicht in Sorgenfalten. Ich versuche, ein wenig Bedauern für diesen Reporter zu empfinden, den ich nie kennengelernt habe, für diesen Orden, der mich nie akzeptiert hat. Doch das Einzige, was mir in den Sinn kommt, ist, dass meine Mutter und ich wegen meiner Toushana gezwungen waren, permanent auf der Flucht zu sein, und wie meine Großmutter – Direktorin von Haus Marionne – Anwärter in ihrem Haus zu Sklaven gemacht hat. Wie den Jungen, dem ich Teile von mir gezeigt habe, die sonst niemand kennt, und der mein dunkles Geheimnis herausgefunden und mich an meine Hexe von Großmutter verraten hat.

»Es ist mir egal, Octos. Völlig. Wir beenden das Training. Dann suche ich meine Mom.« Falls Abby sie nicht vorher findet.

Er öffnet den Mund, schließt ihn aber wieder, als wir die leere Straße sehen. Ich stehe auf und knöpfe meinen Mantel zu.

»Der Park ist leer. Bringen wir’s hinter uns.«

Lincoln Park ist eine Oase aus Bäumen und eine natürliche Lichtung in der Asphaltwüste von Washington, D.C. Das Rascheln des Laubs begleitet unsere Schritte, als Octos und ich zwischen den Barrikaden hindurchschlüpfen. Es gibt keine Gebäude innerhalb der Parkgrenzen. Nur Toilettenhäuschen, Denkmäler und andere Objekte, die ich im Bruchteil einer Sekunde in sich zusammenfallen lassen könnte.

Ich denke an die letzte Nachricht, die ich vor Wochen von Abby bekommen habe. Ich habe sie einhundert Mal gelesen. Leider nichts Neues. Ich sage sofort Bescheid, wenn ich sie sehe, damit du zu uns stoßen kannst. Ich hielt es ehrlicherweise für leichter, Mom zu finden. Dachte, dass sie irgendwo in der Nähe warten würde, darauf, dass die Straßenlaternen ausgingen. Ich habe einen Kloß im Hals, den ich nicht loswerde. Ich beschleunige meine Schritte und eile durch den Park. Damit ich auf diesen Moment vorbereitet bin, hat mich Octos tagelang davon abgehalten, meine Magie zu benutzen.

»Was für ein Test ist das?«

Er zeigt auf eine Lichtung in einiger Entfernung. Ich mache mich bereit und hole tief Luft. Die Toushana erwacht erneut und rührt sich in meiner Brust wie ein zerbrechender Eisblock. Plötzlich kann ich einen Vogel hören, der ein Nest baut, winzige Zweige, die aneinander scheuern, als sie zusammengesteckt werden. Der erdige Geruch vom Regen gestern wird intensiver, und ich rieche ihn stärker als alles andere. Octos’ Herz neben mir schlägt gleichmäßig. Mein Herz pocht gegen meine Rippen.

»Wie kannst du so ruhig sein?«

»Ruhe führt zu einem klaren Verstand. Du solltest es ausprobieren.«

»Ich bin völlig ruhig«, lüge ich.

Er schenkt mir einen wissenden Blick. Die Spur. Er ist besorgt, Jordan erspürt mich und findet uns. Bevor mein Leben auf Château Soleil aus den Fugen geraten ist, hat Jordan ein Stück aus seinem Kor gebrochen und in meine Brust gepflanzt, um uns für immer zu verbinden. Es ermöglicht ihm, jedes intensive Gefühl zu spüren, das ich empfinde, und herauszufinden, wo ich bin, sodass er zu mir kommen kann. Damals diente die Spur dazu, mich zu beschützen.

Wenn er mich jetzt finden würde, würde er mich töten.

Jordan ist ein vollwertiger Dragun.

Und seine einzige Aufgabe ist es, Toushana-Nutzer wie mich zu exekutieren.

Jordan. Mit den Fingern greife ich nach der Ausbuchtung in meiner Innentasche, wo ein alter Zeitungsausschnitt aus der Debs Daily vom Frühherbst steckt, in der einer neuen Schar von Dragunen gedacht wird. Jordan wurde darin in den Mittelpunkt gerückt. Er starrte in die Kamera: Eine Münze mit eingeprägter Kralle war an seinem Hals befestigt. Sogar in Schwarz-Weiß waren seine Augen tiefe Abgründe, und seine Umrisse waren schärfer gezeichnet, als ich sie je zuvor gesehen habe. Reue zerrt an einem Knoten in meiner Brust. Ich hätte nie gedacht, dass es so mit uns enden würde. Octos sieht mich interessiert an. Meine Toushana ist unbeständig und gefährlich, doch irgendwie leichter zu kontrollieren als meine Gefühle für Jordan Wexton.

»Fang an«, sagt er.

»Ich bin mir nicht sicher, ob die Spur noch immer so funktioniert, wie sie sollte.«

Die letzten Monate waren eine emotionale Achterbahnfahrt für mich, und Jordan ist kein einziges Mal aufgetaucht.

»Kann sein.« Er geht schneller, während er seine Tasche auf der Schulter hochschiebt, und ich muss mich beeilen, um Schritt zu halten. Als er schließlich stehen bleibt, zieht er eine silberne Phiole aus seiner Manteltasche.

»Du benutzt deine Toushana, um den Standort der Sphäre über den Sonnenstand zu lokalisieren.«

Ich blinzle. »Was?«

»Etwas über den Sonnenstand zu lokalisieren, ist die anspruchsvollste Art, unsere Magie zu nutzen. Deine Verbindung zur Toushana beschert dir eine einzigartige Beziehung zur Sphäre.«

»Ich mache also nichts kaputt?«

Seine Miene verdüstert sich. »Ja und nein. Ich zeig’s dir.« Er nimmt die Phiole und kippt ein winziges Häuflein schimmerndes gelbes Pulver in seine Hand. »Sonnenstaub. Gerieben aus uralten Sonnensteinen, der eigentlichen Quelle der Magie. Sieh her.« Sein Mund wird zu einem Strich, und sein Gesicht rötet sich, aber bevor ich fragen kann, ob er okay ist, fliegen Schatten durch die Luft und verschwinden in seiner Hand.

Ich blinzle nicht und sehe dabei zu, wie er Toushana von außerhalb seines Körpers in sich hineinzieht. Er wirft die Handvoll Staub hoch, und eine schemenhafte Wolke umgibt uns und verdunkelt alles. Ich blinzle, um klar zu sehen, aber es hilft nicht. Octos verdreht die Augen in den Höhlen. Als er sie wieder öffnet, sind seine Pupillen nur noch Stecknadelköpfe. Ich stöhne.

Die Toushana in seiner Gewalt löst sich plötzlich auf, und die Staubwolke um uns herum verschwindet. Er grunzt verärgert.

»Die wenigen Male, die ich damit erfolgreich war, haben mich einen Haufen Versuche gekostet.«

»Du hast also die Sphäre schon zuvor mithilfe der Sonne lokalisiert?«

Er schluckt schwer. »Deine Fähigkeiten in schwarzer Magie kann man nicht besser testen. Es wird dir viel leichter fallen, wenn du einen stärkeren Zugriff auf deine Toushana hast.«

»Er ist stark genug.«

»Schweben. Zählen. Explodieren. Tarnen. Sag es.«

Ich tue es, und er sieht im Notizbuch nach, wo er etwas aufgeschrieben hat, bevor er mir die Phiole reicht. »Sonnenaufgang war vor vier Minuten. Sie wird in Kürze über diese Baumwipfel kommen. Wenn es so weit ist, sag es erneut.«

»Schweben. Zählen. Explodieren. Tarnen.«

»Du hast nur eine Chance. Wenn du den Sonnenaufgang verpasst, könnte es Wochen dauern, bis sich eine weitere Gelegenheit ergibt.«

Ich umklammere die Phiole fester.

»Wenn der Sonnenstaub in der Luft liegt, aktiviere deine Toushana, bis es sich anfühlt, als würden kalte Nadeln in deine Augen dringen. Wenn du sie öffnest, wird deine Toushana durch den Staubschleier fahren, damit du direkt in die Sonne schauen kannst. Zähle jeden Sonnenfleck, den du sehen kannst.« Er blickt erneut in sein Notizbuch. »Eine hohe Zahl von Sonnenflecken während der letzten Tage weist darauf hin, dass eine Eruption bevorsteht. Wenn du eine Lichtexplosion bemerkst, bedeutet das, dass die Sphäre in Bewegung ist. Verhülle dich augenblicklich, und befiehl deiner Magie, dich dorthin zu bringen, wohin das Licht geht.« Er legt mir eine Hand auf die Schulter und steht mit schulterbreit gespreizten Beinen da.

»Was dann?«

»Dann werden wir die Erhabenheit der Sphäre mit eigenen Augen erblicken.«

Mein Herz pocht in meiner Brust. »Beherrsche ich dann meine Toushana?«

»Beherrschen ist ein starkes Wort. Ich würde sagen, dir wäre es gelungen, dich nicht selbst zu verletzen.«

»Das genügt. Wie viele Minuten noch?«

Er zeigt auf eine Gruppe von Ahornbäumen in warmen Orange- und kräftigen Gelbtönen entsprechend der Jahreszeit. Sonnenlicht schimmerte hinter ihren Zweigen. »Geht gleich los.«

Ich schütte ein Häuflein Staub in meine feuchte Handfläche und halte meine Magie bereit. Kälte durchfährt mich in Schüben. Die warme Magie meiner Großmutter, mit der ich gesalbt wurde, macht sich überhaupt nicht mehr bemerkbar. Toushana ist jetzt die einzige Magie, über die ich verfüge.

Toushana ist, was ich jetzt bin.

Sonnenlicht blitzt zwischen den Bäumen am blassblauen Himmel auf. Ich reibe die feinen Staubkörner in meiner Hand und werfe sie hoch. Sie bleiben in der Luft. Kälte fährt durch mich hindurch und legt sich um mein Herz. Sie bahnt sich Rippe für Rippe ihren Weg nach oben. Druck baut sich in meinem Hals auf, der sich mit einem Rieseln löst, als eisige Kälte meinen Kopf umhüllt. Eiszapfen drücken von innen gegen meine Augen. Ich öffne sie, und die Welt ist schwarz.

»Das ist es.« Octos verstärkt seinen Griff.

Ein gleißender Lichtfleck erscheint, und meine Toushana durchdringt die Dunkelheit. Zuerst ist es nur einer, dann sind es viele.

»Zehn, elf, zwölf.«

Sie leuchten immer schneller auf, erstrahlen in meinem Sichtfeld wie Sterne an einem schwarzen Nachthimmel.

»Siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig.«

Ich zähle stumm, wobei sich die Zahlen in meinem Kopf schneller aneinanderreihen, als ich sie sagen kann. Als ich endlich wieder sprechen kann, platze ich mit »Siebenundfünfzig, achtundfünfzig« heraus.

»Sie kommt«, sagt er atemlos, und seine Finger auf meiner Schulter zittern. »Sieh auf keinen Fall weg. Keine Sekunde.«

Es tauchen keine neuen Punkte auf. Die Schwärze verwandelt sich in ein sanftes Blau. Dann in ein morgendliches Farbmuster. Und mir wird klar, dass ich erneut den realen Himmel anblicke. Die Panik verlässt meine Brust. Schweben. Zählen. Explodieren. Tarnen. Wo ist das Explodieren? Doch bevor ich die Frage überhaupt stellen kann, dämmert es.

»Etwas ist passiert.«

»Eine Explosion«, sagt er.

Der Himmel verfärbt sich orange, dann violett. Ein helles Licht leuchtet auf und zuckt über den Himmel.

»Tarnen, jetzt!« Er schlingt beide Arme um mich.

Ich stemme die Beine in den Boden, tauche in die kältesten Tiefen meiner selbst und bringe meine Toushana dazu, uns in Materiebruchstücke zu verwandeln. Kalte Magie dringt aus meinen Poren und hüllt uns in die Dunkelheit, löst sämtliche Teile von mir auf, bis ich nur noch ein schwebendes Gefühl bin, eine dunkle Wolke aus Luft. Obwohl ich schwerelos bin, kann ich noch spüren, dass Octos mit mir verbunden ist. Die Explosion habe ich noch immer vor meinem inneren Auge. Folge dem Licht. Die Welt wird dunkel, und mir wird flau, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Bring mich zu der Sphäre!

Druck baut sich auf, und meine Magie pulsiert. Einen Augenblick lang ist das alles, was ich empfinde. Dann füllt schwere salzige Luft meine Nase. Meine Füße prallen auf die Erde, und ich stoße mit Octos zusammen, kann aber mein Gleichgewicht wiedererlangen. Ich betrachte zuerst meine Handrücken, dann meine Handflächen. Kein Violett, kein Schmerz.

»Keine Prellungen!«, stottere ich.

Doch Octos dreht den Kopf in alle Richtungen. »Die Sphäre. Sie sollte hier sein.«

Es gibt nur den Nachthimmel und eine hügelige Graslandschaft. Das schimmernde Gestirn, das die Magie des Ordens zusammenhält, ist nirgendwo zu sehen.

»Schweben. Zählen. Explodieren. Tarnen. Ich habe getan, was du gesagt hast.«

»Das hast du«, sagt er, noch immer auf der Suche. Ich halte ihm meine Hände hin. Aber Octos schaut direkt an ihnen vorbei, bevor er in Richtung Küstenlinie davonstürmt. »Wir sollten zumindest näher dran sein.«

»Octos!« Ich beeile mich, um mit ihm Schritt zu halten. Auf einmal geht es jäh hinab. Unter uns klatschen Wellen an Felswände, in Mondlicht getaucht. »Ich weiß nicht, weshalb die Sphäre nicht hier ist, aber das ist nicht mein Fehler.«

Er betrachtet mich mit einem Anflug von Enttäuschung. »Nein, ist es nicht. Der Sonne zu folgen, ist eine ungenaue Wissenschaft. Die Schritte hast du allerdings wunderbar vollzogen.«

Ich straffe den Rücken und zeige ihm erneut meine Hände, die er endlich in Augenschein nimmt. Er dreht sie um.

»Irgendwelche Schmerzen?«

»Keine.«

»Sehr gute Arbeit, aber wir müssen es noch einmal versuchen.«

Mein Herz setzt aus. »Was meinst du mit es noch einmal versuchen?«

»Wir werden die Suche per Sonnenstand noch einmal vornehmen, in einer anderen Nacht oder so. Vielleicht in einem Monat.«

Etwas wallt in meiner Brust auf. »Ich habe keinen Monat mehr.«

»Wir gewinnen nichts, indem wir dein Training beschleunigen.« Er tätschelt meine Schulter. »Na komm, bei Sonnenaufgang versuchen wir es erneut.«

»Nein, Octos.« Ich balle meine Fäuste.

»Was soll das heißen, nein?«

»Ich bin fertig mit dem Training. Ich muss meine Mom finden.«

»Du weiß, dass du das nicht tun kannst. Die Dragune rechnen damit. Abby wird mehr Erfolg haben, wenn du nicht bei ihr bist.«

»Ich habe keine Angst vor ihnen.«

»Das ist ganz schön überheblich. Du überschätzt deine Fähigkeiten, etwas, was wir ebenfalls in unser Training einbeziehen können.« Er geht weg. Ich folge ihm nicht.

Er bleibt stehen und lässt sein Kinn über die Schulter gleiten, um mich anzustarren. »Los. Komm.«

»Ich habe gesagt, kein Training mehr.«

»Quell, du musst mir vertrauen.«

»Das habe ich. Jetzt musst du mir vertrauen. Ich habe es geschafft, mich nicht zu verletzen, das hast du selbst gesagt. Ich habe den letzten Test bestanden.« Ich reiche Octos seine Phiole mit Sonnenstaub und schnalle mir den Rucksack um. »Ich gehe zurück ins Safe House, um herauszufinden, ob es eine Nachricht von Abby gibt. Von dort aus plane ich weiter.«

»Quell, bitte. Ein paar Abende noch.«

»Kann sein, dass Dragune meine Mutter inzwischen gefunden haben! Hast du eine Vorstellung davon, welche Informationen sie über mich preisgeben könnte? Ich kann an nichts anderes denken, wenn ich nachts wach liege!«

»Du musst Ruhe bewahren.«

»Ich tue mein Bestes!«

»Die Spur«, flüstert er, als könnten die Worte allein Jordan herbeirufen.

»Er kommt nicht.« Ich lege mir die Hand auf die Brust und denke an die silberne Flamme, die in mir brennt. Jordans Flamme. »Ich habe in diesen letzten Wochen einen emotionalen Aufruhr erlebt, aber Jordan hat mich nicht gefunden. Entweder hat die Verbindung mit meiner Toushana die Spur ruiniert, oder er hat sich entschlossen, nicht zu reagieren. Falls ich Jordan Wexton treffen sollte, bin ich bereit, ihn zu beseitigen, bevor er mich beseitigt.« Ich lasse meine Toushana los, und sie hüllt uns in einen dunklen Nebel. Meine Finger pochen schmerzhaft, was ich schon hinter mir zu haben glaubte.

Octos versucht, sich mir zu nähern, aber mein Schatten stößt ihn weg. Er wird mich diesmal nicht aufhalten. Anfangs hat er mir befohlen, im Safe House zu bleiben, bis er da ist. Einen Monat habe ich gewartet, während die Aufsicht, Knox, und ihr Helfer Willam jede meiner Bewegungen überwacht haben. Ich weiß nicht, welche Lügen Octos ihnen aufgetischt hat, damit ich dortbleiben konnte. Ich wusste nicht, was ich sagen oder nicht sagen sollte. Jeden Abend hatte ich Sorge, dass sie mich im Schlaf strangulieren würde. Dann tauchte er auf und begann schließlich mit der Unterweisung. Doch das nahm mehrere Wochen in Anspruch. Ich habe genug von der Warterei. Ich muss meine Mom finden, mit seiner Hilfe oder ohne sie. Mit einem tiefen Atemzug hole ich meine Schatten wieder zu mir zurück, und Octos starrt auf meine größer werdenden Blutergüsse.

»Ich komme klar damit.« Ich gehe weg.

»Quell!« Bei dem ungewohnten Anflug von Zorn in seiner Stimme bleibe ich wie angewurzelt stehen. Er kommt zu mir und legt mir die Phiole in die Hand. »Noch. Eine. Nacht!«

Dann macht er große Augen.

Und wird blass.

»Wir müssen beide auf der Stelle verschwinden.« Er packt mich am Ärmel.

»Sag mir nicht immer, was ich tun soll, und hör endlich zu!« Ich reiße mich los und reiche ihm die Phiole, doch seine Hände verfehlen das Metall. Er stöhnt. Ich sehe, wie die Phiole mit dem Sonnenstaub herabfällt. Er greift danach, doch sie knallt auf den Boden. Sonnenstaub schießt aus der Öffnung heraus, verteilt sich im Gras und bedeckt es mit einem strahlenden Schimmer.

»Nein, nein, nein«, wimmert Octos und versucht vergeblich, mit den Händen den feinen Staub zu erhaschen, bevor er im Boden verschwindet.

»Vielleicht hörst du mir jetzt endlich zu.«

Er reißt die Augen auf.

»Ich gehe. Jetzt.«

Er folgt mir wortlos.

2

JORDAN

Unmarkierte Touristen drängen sich wie die Fliegen in Yaäuper Rea.

Was einst eine Universität im Operationszentrum des Ordens war, tarnt sich jetzt als Museum. Ich bin innerlich höchst angespannt; hier eine Razzia durchzuführen, fühlt sich an wie ein Sakrileg. Trotzdem gehe ich einen Schritt voraus und gebe meinem Team ein Zeichen, sich zu sammeln. Das Oberhaupt der Dragune will mich zum Stellvertreter des Kommandanten ernennen, aber wenn ich an einer so großen Aufgabe scheitere, und das an einem so wichtigen Ort, werde ich keinen weiteren Einbruch mehr erleben. Alles, worauf ich hingearbeitet habe, alles, was ich geopfert habe, alles, was ich verloren habe, wird umsonst gewesen sein.

Ich drehe einen Rubinring an meinem Finger und rufe mir die Notizen über das Ziel ins Gedächtnis. Er wird als jung, groß, schlank, mit dunkelbraunem Haar beschrieben, in Jeans und einer Windjacke und mit einer roten Baseballkappe. Zum ersten Mal wurde er dabei beobachtet, wie er mit einem Händler in New Jersey mithilfe seiner Toushana Waren ausgetauscht hat, wodurch er auf den Radar der Bruderschaft geraten ist. Von dort sind wir ihm nach London gefolgt: Er hatte flüssiges Kor in großen Mengen bei sich, genug, um einen Block kleinerer Häuser dem Erdboden gleichzumachen.

Wir sind ihm bis nach Wales gefolgt. Er ist am frühen Morgen hier gelandet, hat sich aber erst mittags außerhalb seines Hotels gezeigt und einen Zug nach Yaäuper genommen – zufälligerweise zur belebtesten Zeit für das Museum. Ich bin mir nicht ganz sicher, was er vorhat, doch ich habe meine Vermutungen. Wenn ich recht habe, könnte das Blut von Hunderten an meinen Händen kleben.

»Es ist eine Schande, was sie aus dem Ort gemacht haben«, sagt Charlie an meiner Seite. Er ist der erfahrenste in dem heutigen Trupp von Dragunen. Sein kurzer schwarzer Bart ist sichtbar grauer gesprenkelt als bei unserer letzten Begegnung vor einem Monat. Seine ehemals gedrungene Gestalt ist schmaler geworden, seine kräftigen Arme in seinem Oberteil kaum sichtbar. Bevor ich Haus Perl verlassen habe, hat mich Charlie angeleitet, Beaulahs Regeln zu befolgen. Seit ich fort bin, haben wir uns nur bekämpft. Doch diesmal teile ich seine Meinung.

»Eine verdammte Schande.«

Schaulustige sammeln sich in der Nähe, trunken vom Anblick von Yaäupers kunstvoll verzierter Architektur, den endlosen Bogenfenstern und dem Strebewerk. Charlie streicht ununterbrochen über seine Münze, die silbern geprägt ist und eine zerbrochene Säule zeigt. Mein Kiefer verkrampft sich. Es müsste eine Kralle sein.

Charlie bemerkt meinen Blick und grinst amüsiert. »Arbeitet er allein?«, fragt er und lässt die Münze in seine Tasche gleiten.

»Sieht ganz so aus. Aber wir müssen ihm folgen, müssen zusehen, wie er seine Pläne umsetzt, um einen Beweis zu haben.« Das Team stellt sich um mich herum, und ich zähle. Fünf hier plus einer am Eingang, der die Umgebung beobachtet. Viel zu viele für eine Razzia am helllichten Tag, aber dem Oberhaupt der Dragune widerspricht man nicht. Ich erkenne ein paar vertraute Gesichter: meinen früheren Mentor und Yaniselle, meine Erste in vielerlei Hinsicht, beide aus Hartsboro, dem Sitz von Haus Perl. Beide sind Dragune mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Trotz unserer Vergangenheit waren sie unbestritten die Besten. Ich hatte noch ein paar andere mit beeindruckender Razziaerfahrung ausgewählt, die in verschiedenen Häusern ihren Abschluss gemacht haben.

Der Kleinste von ihnen, der mir lediglich bis zum Ellbogen reicht, hat dunkles ungepflegtes Haar, blassrote Wangen und große haselnussförmige Augen. Das Oberhaupt hat darauf bestanden, dass er mitkommt.

»Wie alt bist du?«, frage ich den Jungen, dessen Kragen von einer Münze mit zerbrochener Säule zusammengehalten wird, die auf magische Weise die Form seiner Nase in die Spiegelung einer Pfütze verändert.

»Zu jung«, sagt einer der anderen, während er sich mit den Fingernägeln über die gut sichtbaren Strichtattoos auf seinem Kahlkopf fährt – Markierungen seiner Erfolge. Prahlerisch wie ein typischer Ambroser. »So geht das eigentlich nicht.«

Charlie nimmt seine Münze heraus und dreht sie um, bevor er Zählstrich einen Kuss zuhaucht.

»Er ist ein Kind«, sage ich.

»Er ist eine Ausgeburt der Perl-Perversion. Das ist ein weiteres Training, um die Klaue als Kostüm zu tragen.«

Die Augen des Jungen weiten sich.

»Du klingst eifersüchtig.« Charlie grinst.

»Genug«, sage ich.

»Ihr Perls denkt, ihr seid über alles erhaben.«

Ich zucke bei dem Nachnamen, mit dem ich geboren bin. Ein Schandfleck auf allem, wofür ich stehe. Mein Vater hat unseren Familiennamen abgelegt, als ich noch klein war. Das Einzige, was er je getan hat, wofür ich mich bei ihm bedanken wollte.

»Der Junge ist ein Wexton«, sagt Charlie.

Ich trete näher zu Zählstrich, und das pulsierende Organ in seiner Brust schlägt gegen seine Rippen.

»Noch ein kritisches Wort während meiner Razzia, und …«

Zählstrich verschränkt seine kräftigen Arme. Ich kann den Hass und die Ablehnung spüren, die er verströmt: für das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, für das Privileg, als Neffe einer Direktorin so schnell aufgestiegen zu sein. Ein Krater bebt in meiner Brust. Worte steigen wie Galle in mir auf. Ich hasse mein Haus, aber ich darf es nicht sagen. Ich darf nicht verraten, wie groß die Machtbesessenheit meiner Tante geworden ist, dass es keine Vorschrift gibt, die sie nicht umgangen hätte, und wenige, die sie nicht gebrochen hat. Sie und mein Vater sind aus demselben Holz geschnitzt.

Das Oberhaupt der Dragune ist der Einzige, dem es wichtig ist, die Magie zu beschützen. Doch manche Dinge sind zu schädlich, um sie laut auszusprechen. Das Gesicht des Mädchens, das ich töten soll, kommt mir in den Sinn wie ein gerufener Geist. Viele Dinge.

Ich gehe ein wenig auf Distanz zu Zählstrich.

»Trotz deiner Abneigung meinem Namen gegenüber wirst du tun, was ich sage, wenn ich es sage. Und ich habe gesagt, genug.« Ich brauche seine Zustimmung nicht. Ich muss diese Razzia beenden, die Zielperson festnehmen und dafür sorgen, dass keine Unmarkierten verletzt werden. Das bringt mich dem Ruf und Einfluss einen Schritt näher, den ich brauchen werde, um die Korruption in diesem Orden zu beseitigen.

Der Junge blickt mich mit angsterfüllten Augen an. Ich gehe vor ihm in die Hocke. »Was wolltest du sagen?«

»Sie haben nach meinem Alter gefragt, Sir. Ich bin neun.«

Beaulah schickt sie immer jünger.

»Mutter sagt, ich hätte eine bessere Chance, in die Bruderschaft aufgenommen zu werden, wenn ich Erfahrungen bei Razzien gesammelt habe.« Das stimmt. Ich hatte im Alter von siebzehn so viele Razzien mitgemacht, dass eine Aufnahme in die Bruderschaft selbstverständlich erschien. Perl-Debütanten, die Dragune werden, übersteigen die anderer Häuser um das Zehnfache. Meine Tante ist genauso raffiniert wie strategisch klug.

»Ziel gesichtet, aber er ist weit von den Türen entfernt«, sagt Yani über den Lautsprecher in meiner Hand. »Mehr Informationen folgen.«

»Verstanden.«

Das Team unterhält sich weiter, aber der Junge ist wie erstarrt und sein Blick auf Zählstrich gerichtet.

»Ignorier ihn.« Ich drücke seine Schulter. »Sag mir noch mal deinen Namen.«

»Stryker, Sir. Aber meine Freunde nennen mich Stryk.«

»Ich bin kein Sir.«

»Sie sind ein Razzia-Anführer. Mutter sagt, wir müssen bei Razzien gehorchen, ohne Fragen zu stellen. Damit niemand Schaden nimmt.«

»Schau dir das Jüngelchen an.« Charlie gibt ihm einen Klaps auf den Arm. »Kennt schon alle Regeln.«

»Nun, dein erster Befehl ist, mich nicht mehr Sir zu nennen«, sage ich.

Stryk nickt und beißt sich dann auf die Lippe. Ich schaue in die Runde und verteile Aufgaben, bevor ich mich wieder an Zählstrich wende, der noch immer vor Wut schäumt.

»Welche Personen kannst heute darstellen?« frage ich.

»Einen Restaurator und einen schlechten Musiker.«

»Nimm den Musiker, drück dich am Eingang herum.«

»Haben wir einen Ausführungsbefehl?«, fragt er, während er einen Hut aufsetzt, um seine Strichtattoos zu verbergen.

»Heute sind unsere Ohren unsere stärkste Waffe, Zählstrich.« Ich gebe ihm einen Klaps auf den Rücken.

Er knirscht bei dem Spitznamen mit den Zähnen.

»Konzentrier dich auf das Wesentliche: Magie darf nur heimlich angewendet werden. Das Ganze hier wird in einer blutigen Katastrophe enden, wenn man uns erwischt. Keiner soll sein Gewissen mit einem solchen Tod belasten.«

Zählstrich gibt den anderen, die ebenfalls im Haus Ambrose ihre Ausbildung erhalten haben, Zeichen, und gemeinsam sprechen sie ein Gebet. »Herrscherin, zeige uns die Dunkelheit. Weiser, segne unsere Hände mit Geschicklichkeit. Wandler, lass den Wind des Schicksals in unsere Richtung wehen.«

»Hoffen wir, dass die falschen Götter euch hören können, Jungs.« Charlie klopft Zählstrich auf den Nacken und wirft dann Stryk seine Tasche zu, damit er sie trägt.

»Zielperson nähert sich dem Eingang«, sagt Yani durch den Lautsprecher. »Sie kommt auf der Südseite auf das Gebäude zu. Ich wiederhole, eine rote Baseballmütze ist im Spiel.«