Shakespeares Mädchen und Frauen - Heinrich Heine - E-Book

Shakespeares Mädchen und Frauen E-Book

Heinrich Heine

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Beschreibung

Julia, Ophelia, Lady Macbeth oder Helena - Shakespeare hat ihnen und vielen anderen in seinen Theaterstücken eine Stimme verliehen und sie unvergesslich gemacht. Heinrich Heine, ein großer Bewunderer des englischen Dramatikers, befasst sich mit jeder einzelnen und lässt sie in einem neuen Licht erscheinen. Mit zeitgenössischen Illustrationen der Erstausgabe von 1838 und einem Nachwort von Jan-Christoph Hauschild.

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Heinrich Heine

Shakespeares Mädchen und Frauen

Mit einem Nachwort von Jan-Christoph Hauschild

Hoffmann und Campe

Ich kenne einen guten Hamburger Christen, der sich nie darüber zufrieden geben konnte, daß unser Herr und Heiland von Geburt ein Jude war. Ein tiefer Unmut ergriff ihn jedesmal, wenn er sich eingestehen mußte, daß der Mann, der, ein Muster der Vollkommenheit, die höchste Verehrung verdient, dennoch zur Sippschaft jener ungeschnäuzten Langnasen gehörte, die er auf der Straße als Trödler herumhausieren sieht, die er so gründlich verachtet, und die ihm noch fataler sind, wenn sie gar, wie er selber, sich dem Großhandel mit Gewürzen und Farbestoffen zuwenden, und seine eigenen Interessen beeinträchtigen.

Wie es diesem vortrefflichen Sohne Hammonias mit Jesus Christus geht, so geht es mir mit William Shakespeare. Es wird mir flau zu Mute, wenn ich bedenke, daß er am Ende doch ein Engländer ist, und dem widerwärtigsten Volke angehört, das Gott in seinem Zorne erschaffen hat.

Welch ein widerwärtiges Volk, welch ein unerquickliches Land! Wie steifleinen, wie hausbacken, wie selbstsüchtig, wie eng, wie englisch! Ein Land, welches längst der Ozean verschluckt hätte, wenn er nicht befürchtete, daß es ihm Übelkeiten im Magen verursachen möchte … Ein Volk, ein graues, gähnendes Ungeheuer, dessen Atem nichts als Stickluft und Langeweile, und das sich gewiß mit einem kolossalen Schiffstau am Ende selbst aufhängt …

Und in einem solchen Lande, und unter einem solchen Volke, hat William Shakespeare im April 1564 das Licht der Welt erblickt.

Aber das England jener Tage, wo in dem nordischen Bethlehem, welches Stratford upon Avon geheißen, der Mann geboren ward, dem wir das weltliche Evangelium, wie man die Shakespeareschen Dramen nennen möchte, verdanken, das England jener Tage war gewiß von dem heutigen sehr verschieden; auch nannte man es merry England, und es blühete in Farbenglanz, Maskenscherz, tiefsinniger Narretei, sprudelnder Tatenlust, überschwenglicher Leidenschaft … Das Leben war dort noch ein buntes Turnier, wo freilich die edelbürtigen Ritter im Schimpf und Ernst die Hauptrolle spielten, aber der helle Trompetenton auch die bürgerlichen Herzen erschütterte … Und statt des dicken Biers trank man den leichtsinnigen Wein, das demokratische Getränk, welches im Rausche die Menschen gleich macht, die sich eben noch auf den nüchternen Schauplätzen der Wirklichkeit nach Rang und Geburt unterschieden …

All diese farbenreiche Lust ist seitdem erblichen, verschollen sind die freudigen Trompetenklänge, erloschen ist der schöne Rausch … Und das Buch, welches dramatische Werke von William Shakespeare heißt, ist als Trost für schlechte Zeiten, und als Beweis, daß jenes merry England wirklich existiert habe, in den Händen des Volkes zurückgeblieben.

Es ist ein Glück, daß Shakespeare eben noch zur rechten Zeit kam, daß er ein Zeitgenosse Elisabeths und Jakobs war, als freilich der Protestantismus sich bereits in der ungezügelten Denkfreiheit, aber keineswegs in der Lebensart und Gefühlsweise äußerte, und das Königtum, beleuchtet von den letzten Strahlen des untergehenden Ritterwesens, noch in aller Glorie der Poesie blühte und glänzte. Ja, der Volksglaube des Mittelalters, der Katholizismus, war erst in der Theorie zerstört; aber er lebte noch mit seinem vollen Zauber im Gemüte der Menschen, und erhielt sich noch in ihren Sitten, Gebräuchen und Anschauungen. Erst später, Blume nach Blume, gelang es den Puritanern, die Religion der Vergangenheit gründlich zu entwurzeln, und über das ganze Land, wie eine graue Nebeldecke, jenen öden Trübsinn auszubreiten, der seitdem, entgeistet und entkräftet, zu einem lauwarmen, greinenden, dünnschläfrigen Pietismus sich verwässerte. Wie die Religion, so hatte auch das Königtum in England zu Shakespeares Zeit noch nicht jene matte Umwandlung erlitten, die sich dort heutigen Tags unter dem Namen konstitutioneller Regierungsform, wenn auch zum Besten der europäischen Freiheit, doch keineswegs zum Heile der Kunst geltend macht. Mit dem Blute Karls des Ersten, des großen, wahren, letzten Königs, floß auch alle Poesie aus den Adern Englands; und dreimal glücklich war der Dichter, der dieses kummervolle Ereignis, das er vielleicht im Geiste ahnete, nimmermehr als Zeitgenosse erlebt hat. Shakespeare ward in unsren Tagen sehr oft ein Aristokrat genannt. Ich möchte dieser Anklage keineswegs widersprechen, und seine politischen Neigungen vielmehr entschuldigen, wenn ich bedenke, daß sein Zukunft-schauendes Dichterauge, aus bedeutenden Wahrzeichen, schon jene nivellierende Puritanerzeit voraussah, die mit dem Königtum, so auch aller Lebenslust, aller Poesie und aller heitern Kunst ein Ende machen würde.

Ja, während der Herrschaft der Puritaner ward die Kunst in England geächtet; namentlich wütete der evangelische Eifer gegen das Theater, und sogar der Name Shakespeare erlosch für lange Jahre im Andenken des Volks. Es erregt Erstaunen, wenn man jetzt in den Flugschriften damaliger Zeit, z.B. in dem Histrio-Mastix des famosen Prynne, die Ausbrüche des Zornes liest, womit über die arme Schauspielkunst das Anathema ausgekrächzt wurde. Sollen wir den Puritanern ob solchem Zelotismus allzu ernsthaft zürnen? Wahrlich nein; in der Geschichte hat jeder Recht, der seinem inwohnenden Prinzipe getreu bleibt, und die düstern Stutzköpfe folgten nur den Konsequenzen jenes kunstfeindlichen Geistes, der sich schon während der ersten Jahrhunderte der Kirche kund gab, und sich mehr oder minder bilderstürmend bis auf heutigen Tag geltend machte. Diese alte, unversöhnliche Abneigung gegen das Theater ist nichts als eine Seite jener Feindschaft, die seit achtzehn Jahrhunderten zwischen zwei ganz heterogenen Weltanschauungen waltet, und wovon die eine dem dürren Boden Judäas, die andere dem blühenden Griechenland entsprossen ist. Ja, schon seit achtzehn Jahrhunderten dauert der Groll zwischen Jerusalem und Athen, zwischen dem heiligen Grab und der Wiege der Kunst, zwischen dem Leben im Geiste und dem Geist im Leben; und die Reibungen, öffentliche und heimliche Befehdungen, die dadurch entstanden, offenbaren sich dem esoterischen Leser in der Geschichte der Menschheit. Wenn wir in der heutigen Zeitung finden, daß der Erzbischof von Paris einem armen toten Schauspieler die gebräuchlichen Begräbnisehren verweigert, so liegt solchem Verfahren keine besondere Priesterlaune zum Grunde, und nur der Kurzsichtige erblickt darin eine engsinnige Böswilligkeit. Es waltet hier vielmehr der Eifer eines alten Streites, eines Todeskampfs gegen die Kunst, welche von dem hellenischen Geist oft als Tribüne benutzt wurde, um von da herab das Leben zu predigen gegen den abtötenden Judäismus: die Kirche verfolgte in den Schauspielern die Organe des Griechentums, und diese Verfolgung traf nicht selten auch die Dichter, die ihre Begeisterung nur von Apollo herleiteten, und den proskribierten Heidengöttern eine Zuflucht sicherten im Lande der Poesie. Oder ist gar etwa Ranküne im Spiel? Die unleidlichsten Feinde der gedrückten Kirche, während der zwei ersten Jahrhunderte, waren die Schauspieler, und die Acta Sanctorum erzählen oft, wie diese verruchten Histrionen auf den Theatern in Rom sich dazu hergaben, zur Lust des heidnischen Pöbels, die Lebensart und Mysterien der Nazarener zu parodieren. Oder war es gegenseitige Eifersucht, was zwischen den Dienern des geistlichen und des weltlichen Wortes so bittern Zwiespalt erzeugte?

Nächst dem asketischen Glaubenseifer, war es der republikanische Fanatismus, welcher die Puritaner beseelte in ihrem Haß gegen die alt-englische Bühne, wo nicht bloß das Heidentum und die heidnische Gesinnung, sondern auch der Royalismus und die adligen Geschlechter verherrlicht wurden. Ich habe an einem andern Orte gezeigt, wie viele Ähnlichkeit in dieser Beziehung zwischen den ehemaligen Puritanern und den heutigen Republikanern waltet. Mögen Apollo und die ewigen Musen uns vor der Herrschaft dieser letztern bewahren!

Im Strudel der angedeuteten kirchlichen und politischen Umwälzungen verlor sich auf lange Zeit der Name Shakespeares, und es dauerte fast ein ganzes Jahrhundert, ehe er wieder zu Ruhm und Ehre gelangte. Seitdem aber stieg sein Ansehen von Tag zu Tag, und gleichsam eine geistige Sonne ward er für jenes Land, welches der wirklichen Sonne fast während zwölf Monate im Jahre entbehrt, für jene Insel der Verdammnis, jenes Botanibay ohne südliches Klima, jenes steinkohlenqualmige, maschinenschnurrende, kirchengängerische und schlecht besoffene England! Die gütige Natur enterbt nie gänzlich ihre Geschöpfe, und indem sie den Engländern alles was schön und lieblich ist versagte, und ihnen weder Stimme zum Gesang, noch Sinne zum Genuß verliehen, und sie vielleicht nur mit ledernen Porterschläuchen, statt mit menschlichen Seelen begabt hat, erteilte sie ihnen zum Ersatz ein groß Stück bürgerlicher Freiheit, das Talent sich häuslich bequem einzurichten, und den William Shakespeare.

Ja, dieser ist die geistige Sonne, die jenes Land verherrlicht mit ihrem holdesten Lichte, mit ihren gnadenreichen Strahlen. Alles mahnt uns dort an Shakespeare, und wie verklärt erscheinen uns dadurch die gewöhnlichsten Gegenstände. Überall umrauscht uns dort der Fittig seines Genius, aus jeder bedeutenden Erscheinung grüßt uns sein klares Auge, und bei großartigen Vorfällen glauben wir ihn manchmal nicken zu sehen, leise nicken, leise und lächelnd.

Diese unaufhörliche Erinnerung an Shakespeare und durch Shakespeare, ward mir recht deutlich während meines Aufenthalts in London, während ich, ein neugieriger Reisender, dort von Morgens bis in die späte Nacht nach den sogenannten Merkwürdigkeiten herumlief. Jeder lyon mahnte an den größern lyon, an Shakespeare. Alle jene Orte, die ich besuchte, leben in seinen historischen Dramen ihr unsterbliches Leben, und waren mir eben dadurch von frühester Jugend bekannt. Diese Dramen kennt aber dort zu Lande nicht bloß der Gebildete, sondern auch jeder im Volke, und sogar der dicke Beefeater, der mit seinem roten Rock und roten Gesicht im Tower als Wegweiser dient, und dir hinter dem Mitteltor das Verlies zeigt, wo Richard seine Neffen, die jungen Prinzen, ermorden lassen, verweist dich an Shakespeare, welcher die nähern Umstände dieser grausamen Geschichte beschrieben habe. Auch der Küster, der dich in der Westminsterabtei herumführt, spricht immer von Shakespeare, in dessen Tragödien jene toten Könige und Königinnen, die hier, in steinernem Konterfei, auf ihren Sarkophagen ausgestreckt liegen, und für einen Schilling sechs Pence gezeigt werden, eine so wilde oder klägliche Rolle spielen. Er selber, die Bildsäule des großen Dichters, steht dort in Lebensgröße, eine erhabene Gestalt mit sinnigem Haupt, in den Händen eine Pergamentrolle … Es stehen vielleicht Zauberworte darauf, und wenn er um Mitternacht die weißen Lippen bewegt und die Toten beschwört, die dort in den Grabmälern ruhen: so steigen sie hervor, mit ihren verrosteten Harnischen und verschollenen Hofgewanden, die Ritter der weißen und der roten Rose, und auch die Damen heben sich seufzend aus ihren Ruhestätten, und ein Schwertergeklirr, und ein Lachen und Fluchen erschallt … Ganz wie zu Drurilane, wo ich die Shakespeareschen Geschichtsdramen so oft tragieren sah, und wo Kean mir so gewaltig die Seele bewegte, wenn er verzweifelnd über die Bühne rannte:

»A horse, a horse, my kingdom for a horse!«

Ich müßte den ganzen Guide of London abschreiben, wenn ich die Orte anführen wollte, wo mir dort Shakespeare in Erinnerung gebracht wurde. Am bedeutungsvollsten geschah dieses im Parlamente, nicht sowohl deshalb, weil das Lokal desselben jenes Westminster-Hall ist, wovon in den Shakespeareschen Dramen so oft die Rede, sondern weil, während ich den dortigen Debatten beiwohnte, einige mal von Shakespeare selber gesprochen wurde, und zwar wurden seine Verse, nicht ihrer poetischen, sondern ihrer historischen Bedeutung wegen, zitiert. Zu meiner Verwunderung merkte ich, daß Shakespeare in England nicht bloß als Dichter gefeiert, sondern auch als Geschichtschreiber von den höchsten Staatsbehörden, von dem Parlamente, anerkannt wird.

Dies führt mich auf die Bemerkung, daß es ungerecht sei, wenn man bei den geschichtlichen Dramen Shakespeares die Ansprüche machen will, die nur ein Dramatiker, dem bloß die Poesie und ihre künstlerische Einkleidung der höchste Zweck ist, befriedigen kann. Die Aufgabe Shakespeares war nicht bloß die Poesie, sondern auch die Geschichte; er konnte die gegebenen Stoffe nicht willkürlich modeln, er konnte nicht die Ereignisse und Charaktere nach Laune gestalten; und eben so wenig, wie Einheit der Zeit und des Ortes, konnte er Einheit des Interesse für eine einzige Person oder für eine einzige Tatsache beobachten. Dennoch in diesen Geschichtsdramen strömt die Poesie reichlicher und gewaltiger und süßer als in den Tragödien jener Dichter, die ihre Fabeln entweder selbst erfinden oder nach Gutdünken umarbeiten, das strengste Ebenmaß der Form erzielen, und in der eigentlichen Kunst, namentlich aber in dem enchaînement des scènes, den armen Shakespeare übertreffen.

Ja, das ist es, der große Brite ist nicht bloß Dichter, sondern auch Historiker; er handhabt nicht bloß Melpomenes Dolch, sondern auch Clios noch schärferen Griffel. In dieser Beziehung gleicht er den frühesten Geschichtschreibern, die ebenfalls keinen Unterschied wußten zwischen Poesie und Historie, und nicht bloß eine Nomenklatur des Geschehenen, ein stäubiges Herbarium der Ereignisse, lieferten, sondern die Wahrheit verklärten durch Gesang, und im Gesange nur die Stimme der Wahrheit tönen ließen. Die sogenannte Objektivität, wovon heut so viel die Rede, ist nichts als eine trockene Lüge; es ist nicht möglich, die Vergangenheit zu schildern, ohne ihr die Färbung unserer eigenen Gefühle zu verleihen. Ja, da der sogenannte objektive Geschichtschreiber doch immer sein Wort an die Gegenwart richtet, so schreibt er unwillkürlich im Geiste seiner eigenen Zeit, und dieser Zeitgeist wird in seinen Schriften sichtbar sein, wie sich in Briefen nicht bloß der Charakter des Schreibers, sondern auch des Empfängers offenbart. Jene sogenannte Objektivität, die, mit ihrer Leblosigkeit sich brüstend, auf der Schädelstätte der Tatsachen thront, ist schon deshalb als unwahr verwerflich, weil zur geschichtlichen Wahrheit nicht bloß die genauen Angaben des Faktums, sondern auch gewisse Mitteilungen über den Eindruck, den jenes Faktum auf seine Zeitgenossen hervorgebracht hat, notwendig sind. Diese Mitteilungen sind aber die schwierigste Aufgabe; denn es gehört dazu nicht bloß eine gewöhnliche Notizenkunde, sondern auch das Anschauungsvermögen des Dichters, dem, wie Shakespeare sagt, »das Wesen und der Körper verschollener Zeiten« sichtbar geworden.

Und ihm waren sie sichtbar, nicht bloß die Erscheinungen seiner eigenen Landesgeschichte, sondern auch die, wovon die Annalen des Altertums uns Kunde hinterlassen haben, wie wir es mit Erstaunen bemerken in den Dramen, wo er das untergegangene Römertum mit den wahrsten Farben schildert. Wie den Rittergestalten des Mittelalters, hat er auch den Helden der antiken Welt in die Nieren gesehen, und ihnen befohlen, das tiefste Wort ihrer Seele auszusprechen. Und immer wußte er die Wahrheit zur Poesie zu erheben, und sogar die gemütlosen Römer, das harte nüchterne Volk der Prosa, diese Mischlinge von roher Raubsucht und feinem Advokatensinn, diese kasuistische Soldateske, wußte er poetisch zu verklären.

Aber auch in Beziehung auf seine römischen Dramen muß Shakespeare wieder den Vorwurf der Formlosigkeit anhören, und sogar ein höchst begabter Schriftsteller, Diedrich Grabbe, nannte sie »poetisch verzierte Chroniken«, wo aller Mittelpunkt fehle, wo man nicht wisse, wer Hauptperson, wer Nebenperson, und wo, wenn man auch auf Einheit des Orts und der Zeit verzichtet, doch nicht einmal Einheit des Interesse zu finden sei. Sonderbarer Irrtum der schärfsten Kritiker! Nicht sowohl die letztgenannte Einheit, sondern auch die Einheiten von Ort und Zeit mangeln keineswegs unserm großen Dichter. Nur sind bei ihm die Begriffe etwas ausgedehnter als bei uns: Der Schauplatz seiner Dramen ist dieser Erdball, und das ist seine Einheit des Ortes; die Ewigkeit ist die Periode, während welcher seine Stücke spielen, und das ist seine Einheit der Zeit; und beiden angemäß ist der Held seiner Dramen, der dort als Mittelpunkt strahlt, und die Einheit des Interesse repräsentiert … Die Menschheit ist jener Held, jener Held, welcher beständig stirbt und beständig aufersteht – beständig liebt, beständig haßt, doch noch mehr liebt als haßt – sich heute wie ein Wurm krümmt, morgen als ein Adler zur Sonne fliegt – heute eine Narrenkappe, morgen einen Lorbeer verdient, noch öfter beides zu gleicher Zeit – der große Zwerg, der kleine Riese, der homöopathisch zubereitete Gott, in welchem die Göttlichkeit zwar sehr verdünnt, aber doch immer existiert – ach! laßt uns von dem Heldentum dieses Helden nicht zu viel reden, aus Bescheidenheit und Scham!

Dieselbe Treue und Wahrheit, welche Shakespeare in Betreff der Geschichte beurkundet, finden wir bei ihm in Betreff der Natur. Man pflegt zu sagen, daß er der Natur den Spiegel vorhalte. Dieser Ausdruck ist tadelhaft, da er über das Verhältnis des Dichters zur Natur irre leitet. In dem Dichtergeiste spiegelt sich nicht die Natur, sondern ein Bild derselben, das dem getreuesten Spiegelbilde ähnlich, ist dem Geiste des Dichters eingeboren; er bringt gleichsam die Welt mit zur Welt, und wenn er, aus dem träumenden Kindesalter erwachend, zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, ist ihm jeder Teil der äußern Erscheinungswelt gleich in seinem ganzen Zusammenhang begreifbar: denn er trägt ja ein Gleichbild des Ganzen in seinem Geiste, er kennt die letzten Gründe aller Phänomene, die dem gewöhnlichen Geiste rätselhaft dünken, und auf dem Wege der gewöhnlichen Forschung nur mühsam, oder auch gar nicht, begriffen werden … Und wie der Mathematiker, wenn man ihm nur das kleinste Fragment eines Kreises gibt, unverzüglich den ganzen Kreis und den Mittelpunkt desselben angeben kann: so auch der Dichter, wenn seiner Anschauung nur das kleinste Bruchstück der Erscheinungswelt von außen geboten wird, offenbart sich ihm gleich der ganze universelle Zusammenhang dieses Bruchstücks; er kennt gleichsam Zirkulatur und Zentrum aller Dinge; er begreift die Dinge in ihrem weitesten Umfang und tiefsten Mittelpunkt.

Aber ein Bruchstück der Erscheinungswelt muß dem Dichter immer von außen geboten werden, ehe jener wunderbare Prozeß der Weltergänzung in ihm statt finden kann; dieses Wahrnehmen eines Stücks der Erscheinungswelt geschieht durch die Sinne, und ist gleichsam das äußere Ereignis, wovon die innern Offenbarungen bedingt sind, denen wir die Kunstwerke des Dichters verdanken. Je größer diese letztern, desto neugieriger sind wir jene äußeren Ereignisse zu kennen, welche dazu die erste Veranlassung gaben. Wir forschen gern nach Notizen über die wirklichen Lebensbeziehungen des Dichters. Diese Neugier ist um so törigter, da, wie aus Obengesagtem schon hervorgeht, die Größe der äußeren Ereignisse in keinem Verhältnisse steht zu der Größe der Schöpfungen, die dadurch hervorgerufen wurden. Jene Ereignisse können sehr klein und scheinlos sein, und sind es gewöhnlich, wie das äußere Leben der Dichter überhaupt gewöhnlich sehr klein und scheinlos ist. Ich sage scheinlos und klein, denn ich will mich keiner betrübsameren Worte bedienen. Die Dichter präsentieren sich der Welt im Glanze ihrer Werke, und besonders wenn man sie aus der Ferne sieht, wird man von den Strahlen geblendet. O laßt uns nie in der Nähe ihren Wandel beobachten! Sie sind wie jene holden Lichter, die, am Sommerabend, aus Rasen und Lauben so prächtig hervorglänzen, daß man glauben sollte, sie seien die Sterne der Erde … daß man glauben sollte, sie seien Diamanten und Smaragde, kostbares Geschmeide, welches die Königskinder, die im Garten spielten, an den Büschen aufgehängt und dort vergaßen … daß man glauben sollte, sie seien glühende Sonnentropfen, welche sich im hohen Grase verloren haben, und jetzt in der kühlen Nacht sich erquicken und freudeblitzen, bis der Morgen kommt und das rote Flammengestirn sie wieder zu sich heraufsaugt … Ach! suche nicht am Tage die Spur jener Sterne, Edelsteine und Sonnentropfen! Statt ihrer siehst du ein armes, mißfarbiges Würmchen, das am Wege kläglich dahinkriecht, dessen Anblick dich anwidert, und das dein Fuß dennoch nicht zertreten will, aus sonderbarem Mitleid!

Was war das Privatleben von Shakespeare? Trotz aller Forschungen hat man fast gar nichts davon ermitteln können, und das ist ein Glück. Nur allerlei unbewiesene läppische Sagen haben sich über die Jugend und das Leben des Dichters fortgepflanzt. Da soll er bei seinem Vater, welcher Metzger gewesen, selber die Ochsen abgeschlachtet haben … Diese letztern waren vielleicht die Ahnen jener englischen Kommentatoren, die wahrscheinlich aus Nachgroll ihm überall Unwissenheit und Kunstfehler nachwiesen. Dann soll er Wollhändler geworden sein und schlechte Geschäfte gemacht haben … Armer Schelm! er meinte, wenn er Wollhändler würde, könne er endlich in der Wolle sitzen. Ich glaube nichts von der ganzen Geschichte; viel Geschrei und wenig Wolle. Geneigter bin ich zu glauben, daß unser Dichter wirklich Wilddieb geworden, und wegen eines Hirschkalbs in gerichtliche Bedrängnis geriet; weshalb ich ihn aber dennoch nicht ganz verdamme. »Auch Ehrlich hat einmal ein Kalb gestohlen,« sagt ein deutsches Sprichwort. Hierauf soll er nach London entflohen sein und dort, für ein Trinkgeld, die Pferde der großen Herrn vor der Türe des Theaters beaufsichtigt haben … So ungefähr lauten die Fabeln, die in der Literaturgeschichte ein altes Weib dem andern nachklatscht.

Authentische Urkunden über die Lebensverhältnisse Shakespeares sind seine Sonette, die ich jedoch nicht besprechen möchte, und die eben, ob der tiefen menschlichen Misere, die sich darin offenbart, zu obigen Betrachtungen über das Privatleben der Poeten mich verleiteten.

Der Mangel an bestimmteren Nachrichten über Shakespeares Leben ist leicht erklärbar, wenn man die politischen und religiösen Stürme bedenkt, die bald nach seinem Tode ausbrachen, für einige Zeit eine völlige Puritanerherrschaft hervorriefen, auch später noch unerquicklich nachwirkten, und die goldene Elisabethperiode der englischen Literatur nicht bloß vernichteten, sondern auch in gänzliche Vergessenheit brachten. Als man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts die Werke von Shakespeare wieder ans große Tageslicht zog, fehlten alle jene Traditionen, welche zur Auslegung des Textes fördersam gewesen wären, und die Kommentatoren mußten zu einer Kritik ihre Zuflucht nehmen, die in einem flachen Empirismus, und noch kläglicheren Materialismus, ihre letzten Gründe schöpfte. Nur mit Ausnahme von William Hazlitt hat England keinen einzigen bedeutenden Kommentator Shakespeares hervorgebracht; überall Kleinigkeitskrämerei, selbstbespiegelnde Seichtigkeit, enthusiastisch tuender Dünkel, gelehrte Aufgeblasenheit, die vor Wonne fast zu platzen droht, wenn sie dem armen Dichter irgend einen antiquarischen, geographischen oder chronologischen Schnitzer nachweisen und dabei bedauern kann, daß er leider die Alten nicht in der Ursprache studiert, und auch sonst wenige Schulkenntnisse besessen habe. Er läßt ja die Römer Hüte tragen, läßt Schiffe landen in Böhmen, und zur Zeit Troyas läßt er den Aristoteles zitieren! Das war mehr als ein englischer Gelehrter, der in Oxford zum Magister Artium graduiert worden, vertragen konnte! Der einzige Kommentator Shakespeares, den ich als Ausnahme bezeichnet, und der auch in jeder Hinsicht einzig zu nennen ist, war der selige Hazlitt, ein Geist eben so glänzend wie tief, eine Mischung von Diderot und Börne, flammende Begeisterung für die Revolution neben dem glühendsten Kunstsinn, immer sprudelnd von Verve und Esprit.

Besser als die Engländer haben die Deutschen den Shakespeare begriffen. Und hier muß wieder zuerst jener teure Name genannt werden, den wir überall antreffen, wo es bei uns eine große Initiative galt. Gotthold Ephraim Lessing war der erste, welcher in Deutschland seine Stimme für Shakespeare erhob. Er trug den schwersten Baustein herbei zu einem Tempel für den größten aller Dichter, und, was noch preisenswerter, er gab sich die Mühe, den Boden, worauf dieser Tempel erbaut werden sollte, von dem alten Schutte zu reinigen. Die leichten französischen Schaubuden, die sich breit machten auf jenem Boden, riß er unbarmherzig nieder in seinem freudigen Baueifer. Gottsched schüttelte so verzweiflungsvoll die Locken seiner Perücke, daß ganz Leipzig erbebte, und die Wangen seiner Gattin vor Angst, oder auch von Puderstaub, erbleichten. Man könnte behaupten, die ganze Lessingsche Dramaturgie sei im Interesse Shakespeares geschrieben.